Читать книгу O du fröhliche Weibernacht - Heike Wanner - Страница 7

1

Оглавление

Montag, 16. Dezember: Morgen, Kinder, wird’s was geben!

»Liebe Kolleginnen und Kollegen, darf ich kurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten?« Andreas Sonnenberg schlug mit einem Löffel an seine Kaffeetasse.

Augenblicklich ebbte das lebhafte Stimmengewirr, das im Blauen Salon des Seebäderschiffes Jan Petersen geherrscht hatte, ab. Hier und da war leises Husten zu hören, ein paar Tassen wurden vorsichtig auf den adventlich geschmückten Tischen abgestellt, und die Weihnachtsmusik aus den Lautsprechern verstummte.

»Unser Kapitän hat mir gerade mitgeteilt, dass wir fünfundvierzig Minuten vor Helgoland sind. Ich hoffe, Sie haben die Überfahrt bislang genossen«, begann Andreas seine kleine Ansprache. Heute hatte er seinen Anzug gegen Jeans und eine schwarze Strickjacke getauscht und wirkte ungewohnt lässig und entspannt. »Bevor wir aber gleich alle nach draußen gehen, um die Einfahrt in den Hafen zu beobachten, möchte ich ein paar Punkte ansprechen. Als Erstes wünsche ich uns allen ein paar schöne, besinnliche Stunden auf der Insel. Die haben wir uns redlich verdient!«

Sein warmer, dankbarer Blick streifte die Runde. Viele seiner Mitarbeiter lächelten zurück oder nickten leicht. Andere blieben still und warteten neugierig auf das, was noch kommen würde.

»Sie haben sich bestimmt schon gefragt, was wir während der nächsten beiden Tage unternehmen und wo wir übernachten werden. Heute möchte ich das Geheimnis lüften: Nach unserer Ankunft beziehen wir unsere Zimmer in der Jugendherberge der Insel!«

Ein überraschtes Raunen ging durch den Blauen Salon. Damit hatte wohl keiner gerechnet.

»Wir haben uns bewusst für diese einfache Unterkunft entschieden, weil wir möglichst wenig Zeit in den Zimmern, sondern lieber miteinander verbringen wollen. Außerdem konnten wir das gesamte Haus für uns mieten. In den nächsten beiden Tagen werden wir deshalb völlig ungestört und unter uns sein. Das ist wichtig, denn – jetzt kommt die zweite Überraschung – morgen werden wir einen Teamwettkampf veranstalten …«

Wieder war erstauntes Gemurmel zu hören.

»Wir werden uns in kleinen Teams einer Reihe von Aufgaben stellen, die wir nur miteinander lösen können. Keine Angst, das tut nicht weh, sondern soll Spaß machen und gleichzeitig die Kommunikation fördern.«

»Die Gössner-Riechel sieht aus, als müsse sie sich gleich übergeben«, wisperte Cordula und deutete auf die Sekretärin, die am selben Tisch wie ihr Chef Platz genommen hatte und das Geschehen mit gequältem Gesichtsausdruck verfolgte. »Und ich wette, das liegt nicht am Wellengang!«

Miriam legte einen Zeigefinger an die Lippen. Sie saß neben Cordula an einem der riesigen Panoramafenster, die einen wunderschönen Ausblick auf das im fahlen Sonnenlicht glitzernde Meer und den eisblauen Himmel boten. »Sei still, sonst verpassen wir noch etwas Wichtiges!«

»Heute, nach dem Auspacken, kann jeder tun und lassen, was er will«, fuhr Andreas Sonnenberg fort. »Gegen sechs Uhr treffen wir uns im Speisesaal zum Abendessen. Was uns morgen erwartet, erfahren Sie beim Frühstück. Aber ich möchte Ihnen jetzt schon Herrn Steffen Altmann vorstellen, der mit uns das Teamevent durchführen wird. Er ist ausgebildeter Sozialpädagoge und wird unser Teamcoach sein. Herzlich willkommen, Herr Altmann!«

Zögernder Applaus brandete auf, als ein großer, sehr schlanker Mann mit Halbglatze zu Andreas an den Tisch trat. »Hallo zusammen«, grüßte er mit tiefer Stimme.

»Ich habe Herrn Altmann zu mir gebeten, weil wir eine wichtige Frage klären müssen, bevor wir von Bord gehen«, sagte Andreas Sonnenberg. »Nämlich: Wer teilt mit wem das Zimmer?«

»Ich dachte, das machen wir unter uns aus?«, flüsterte Miriam überrascht.

»Das dachte ich auch«, gab Cordula zurück.

»Wir werden die Zimmereinteilung auslosen, um Sie möglichst bunt zu mischen«, erklärte Steffen Altmann. »Schließlich wollen wir diesen Ausflug nutzen, um viele neue Kontakte zu knüpfen und über unseren Tellerrand hinwegzuschauen.«

»Wollen wir das wirklich?«, sagte Miriam leise und schüttelte kaum merklich den Kopf. Auch an anderen Tischen waren kritische Bemerkungen zu hören.

»Die Zimmereinteilung entspricht der Gruppe, in der Sie morgen beim Teamevent um den Sieg kämpfen werden«, fuhr Steffen Altmann fort, ohne auf die Kommentare einzugehen. »Insgesamt sind Sie achtzig Teilnehmer, davon sechzig Frauen und zwanzig Männer. Das passt wunderbar!«

»Ach ja?«, murmelte Cordula. »Mich würde interessieren, ob er hier an Bord schon mal aufs Klo musste. Zumindest bei uns Frauen ist es nämlich ständig besetzt.«

»Psst!« Erneut legte Miriam ihren Zeigefinger auf die Lippen. »Ich glaube, jetzt geht es los.«

Der Teamtrainer winkte einen Kellner heran, der zwei große Glasvasen auf den Tisch stellte. In einem der Behälter lagen kleine, zusammengefaltete rosafarbene Loszettel, in dem anderen Gefäß war das Papier blau.

»Die Jugendherberge hat Viererzimmer, deshalb bilden wir Vierergruppen. Männlein und Weiblein werden getrennt voneinander ausgelost. Die Damen nehmen bitte einen rosa Zettel, die Herren einen blauen.«

»Wie schade«, flüsterte Cordula Miriam ins Ohr. »Die Gössner-Riechel ist jetzt bestimmt total enttäuscht. Ich wette, die hätte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um im Zimmer von Herrn Sonnenberg zu landen.«

Miriam kicherte. »Also wirklich, Cordula!«

Inzwischen hatte Steffen Altmann damit begonnen, das Auslosungsverfahren zu erklären. »Auf den Losen steht der Name eines typischen Weihnachtsgebäcks. Es gibt zum Beispiel Kokosmakrone, Vanillekipferl, Christstollen oder Zitronenherz … hmm! Da läuft mir doch das Wasser im Munde zusammen.« Er lachte als Einziger über diese Bemerkung, und als er das bemerkte, beeilte er sich, mit seinen Erläuterungen fortzufahren. »Jedes Gebäck kommt viermal vor und ist gleichzeitig der Name des Teams, dem Sie angehören. Also dann, viel Spaß beim Auslosen!«

Langsam wanderte der Glasbehälter von Tisch zu Tisch. Ulrike Gössner-Riechel wollte die Lose weiterreichen, ohne selbst eines genommen zu haben, wurde jedoch sofort von Andreas Sonnenberg dazu aufgefordert, einen Zettel zu ziehen. Für einen Moment wirkte die Sekretärin bestürzt, hatte sich jedoch schnell wieder im Griff. Sie nahm einen Zettel, warf einen kurzen Blick darauf und zerknüllte ihn achtlos in der Hand. Dann beobachtete sie das weitere Geschehen mit gelangweilter Miene.

Aber nur bis zu dem Moment, in dem Jana Flemming rief: »Team Zimtstern! Ich liebe Zimtsterne! Wer ist noch in meinem Team?«

Ulrike wurde blass und schaute nach links und rechts. Im Blauen Salon wurde während der Auslosung lebhaft geredet und gelacht, und niemand achtete darauf, was am Nebentisch vor sich ging. Deshalb stopfte sie den Zettel unauffällig in den Ärmel ihrer hellgrauen Angora-Strickjacke.

»Ich wette, sie ist ebenfalls ein Zimtstern!«, grinste Cordula und stupste Miriam gut gelaunt in die Seite.

Diese faltete gerade ihr eigenes Los auseinander. »Bloß nicht!«

»Warum?«

»Weil ich auch einer bin. Schau hier!«

»Mal sehen, wo ich lande.« Cordula griff ins Glas, zog ein Papier heraus und gab den Behälter weiter.

»Und?«, fragte Miriam.

Cordula antwortete nicht, sondern schielte zu Tine, ihrer Nachbarin auf der rechten Seite, die gerade ihr zweites Lehrjahr bei Sonne & Seife absolvierte. Umständlich faltete das Mädchen seinen Zettel auseinander. Aber noch bevor es verkünden konnte, in welcher Gruppe es gelandet war, griff Cordula zu ihrer Kaffeetasse und stieß dabei eine Blumenvase mit Tannenzweigen um. Wasser ergoss sich auf den Tisch und tropfte von dort aus auf Tines Hose.

»Oh, wie dumm von mir!«, rief Cordula und begann, mit einer Serviette den Fleck auf der Hose des Mädchens zu bearbeiten.

»Tut mir echt leid. Wie bekommst du das nur trocken, bevor wir aussteigen? Draußen ist es eiskalt. Ach, weißt du was? Auf der Toilette gibt es einen Handföhn. Wenn du dich da für ein paar Minuten drunterstellst, ist die Hose wie neu.«

»Ist schon okay, ist ja nur Wasser.« Achtlos warf Tine ihr Los auf den Tisch und verschwand auf die Damentoilette.

Cordula sammelte den Zettel ein und wirkte sehr zufrieden mit dem Verlauf der Dinge.

»Was sollte das denn?«, wollte Miriam wissen.

»Was meinst du?«

»Du hast die Vase absichtlich umgeworfen.«

»Habe ich nicht.«

»Doch. Deine Kaffeetasse ist leer, es gab gar keinen Grund, sie noch einmal in die Hand zu nehmen.«

»Und wennschon! Ich habe das nur für dich getan.«

»Wie bitte?«

»Ich bin nämlich jetzt auch ein Zimtstern.«

»Aber Cordula, du kannst doch nicht einfach die Zettel vertauschen!«

»Ich vertausche sie nicht, ich verwechsele sie. Das kann doch in der Aufregung mal passieren.«

»Sie wird es merken.«

»Bis dahin haben sich alle Teams gebildet, dann wird sie nichts mehr sagen. Erst recht nicht, wenn sie sieht, was ihr erspart geblieben ist.«

Herr Altmann beendete die Diskussion, indem er verkündete, dass nun alle Gruppen ausgelost seien. »Ich habe Schilder auf den Tischen verteilt und bitte Sie, sich zu Ihren Teammitgliedern zu setzen. Und vergessen Sie nicht: Das sind für die nächsten zwei Nächte auch Ihre Zimmergenossen.«

»Hast du das bedacht? Willst du tatsächlich lieber ohne meine Unterstützung zwischen der Schönen und dem Biest schlafen?«, fragte Cordula, während sie sich erhob und auf Jana Flemming zusteuerte.

Miriam folgte ihr widerstrebend. »Nein, eigentlich nicht.«

»Dann komm schon!«

Jana lächelte ihnen entgegen und machte bereitwillig Platz, als die beiden Frauen vor ihrem Tisch standen.

»Seid ihr auch Zimtsterne? Das ist ja schön!«, freute sie sich. Sie meinte es ehrlich, denn sie mochte die lebhafte Cordula, die jeden Morgen mit der Post etwas frischen Wind in ihr Büro brachte und immer zum Scherzen aufgelegt war. Auch die schüchterne Kollegin aus der Buchhaltung war ihr sympathisch. Ein nettes, ausgesprochen hübsches Mädchen, das leider viel zu wenig aus sich machte. Wie hieß sie noch gleich? Müller? Ja, richtig, Miriam Müller.

»Wir haben noch nicht viel Gelegenheit gehabt, miteinander zu reden.« Jana streckte eine Hand aus. »Du bist Miriam, nicht wahr? Mein Name ist Jana, und ich schlage vor, wir sagen ›du‹.«

Miriam errötete und schüttelte Janas Hand. »Gern.«

»Wir beide kennen uns ja schon.« Cordula rutschte zu Jana auf die Sitzbank. »Und ich finde es prima, dass wir zusammengelost wurden.«

Aus den Augenwinkeln konnte sie beobachten, wie Tine von der Toilette zurückkam. Das Mädchen nahm mehrere Loszettel vom Tisch, schüttelte verwirrt den Kopf und ließ ihre Augen suchend über ihre Kolleginnen gleiten. Unauffällig deutete Cordula auf einen Tisch, an dem sich die Zitronenherzen zusammengefunden hatten: eine Mitarbeiterin der Personalabteilung, die Kantinenköchin sowie eine weitere Auszubildende. Offensichtlich war Tine mit der Entwicklung der Dinge einverstanden, denn sie nickte zufrieden und ließ sich neben den anderen Zitronenherzen nieder.

Cordula wandte sich wieder Miriam und Jana zu. »Und jetzt wollen wir uns mal auf die Suche nach unserem letzten Zimtstern machen!«

»Merkwürdig, dass noch niemand aufgetaucht ist.« Jana erhob sich und legte ihre Hände wie einen Trichter um den Mund. »Wir suchen einen Zimtstern!«, rief sie in das Stimmengewirr hinein.

Keine Antwort.

»Zimtstern, bitte melden!«

Dieses Mal verstummte das Gemurmel, und alle Blicke richteten sich auf Jana. Etwas ratlos zuckte die junge Frau mit den Schultern. »Es kann doch nicht sein, dass eine fehlt!«

»Natürlich nicht. Das haben wir gleich«, beeilte sich Steffen Altmann zu versichern und zählte die Teams durch. Sein prüfender Blick blieb schließlich am Tisch von Andreas Sonnenberg hängen, an dem fünf Personen saßen: Andreas und drei weitere Männer sowie ein wenig abseits Ulrike Gössner-Riechel.

»Wir sind die Bethmännchen!«, rief einer der Männer gut gelaunt.

»Die … was?« Miriam kicherte.

»Das ist eine Frankfurter Spezialität aus Marzipan«, erklärte ihr Jana leise.

»Und zu wem gehören Sie?«, wollte Steffen Altmann von Ulrike wissen.

»Keine Ahnung.« Aus Ulrikes Miene sprachen gleichzeitig Verzweiflung, Trotz und Ablehnung. »Vielleicht kann ich das fünfte Bethmännchen sein?«

»Das geht nicht. Wo ist Ihr Loszettel?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ich glaube, der ist Ihnen vorhin in die Jackentasche gerutscht«, meldete sich Cordula zu Wort. »Das kann ja mal passieren. Wie gut, dass ich es zufällig beobachtet habe!« Sie hatte Mühe, ihr schadenfrohes Grinsen zu verbergen.

»Sie müssen unser fehlender Zimtstern sein!«, rief Jana. Sie klang wenig begeistert.

Ulrike startete einen letzten Versuch, sich der Auslosung zu widersetzen. »Muss ich unbedingt mitmachen? Kann ich nicht einfach bei der Organisation helfen?«

»Nein.« Steffen Altmann schüttelte den Kopf. »Dafür bin ich zuständig. Sie sind Teil eines Teams, und die Spielregeln gelten für alle.«

»Außer für Sie. Soviel ich weiß, haben Sie ein Einzelzimmer.«

»Wie ich schon sagte: Ich bin der Organisator.«

»Das war ich auch, viele Jahre lang.« Ulrike ballte ihre Hände zu Fäusten. »Und dann kamen Sie … Sie und Ihresgleichen.« Ulrikes giftiger Blick traf Jana. »Jetzt soll ich auf einmal Mitglied in einem Team sein, das wie ein blöder Weihnachtskeks heißt. Das ist völlig lächerlich!«

Plötzlich legte sich eine Hand auf Ulrikes rechte Faust.

»Bitte«, sagte Andreas Sonnenberg leise. »Es soll eine schöne, friedliche Veranstaltung werden, auf die ich mich schon lange gefreut habe. Warum genießen Sie es nicht, dass Sie endlich einmal für gar nichts zuständig sind? Sie haben die letzten Jahre Hervorragendes geleistet. Jetzt ist es mal an der Zeit, andere arbeiten zu lassen. Können Sie das versuchen? Mir zuliebe?«

Ulrike starrte auf seine Hand und hob dann ihre Augen. Doch der kurze, vertrauliche Moment war bereits vorüber. Andreas lehnte sich zurück, verschränkte die Hände vor sich auf dem Tisch und sah sie auffordernd an.

Sie nickte schweigend und erhob sich.

Verwundert stellte sie fest, dass ihre Knie tatsächlich ein wenig zitterten und ihr Gang schwankte. Oder lag das an den Bewegungen des Bootes, das in diesem Moment seine Fahrt verlangsamte und zu einer Linkskurve ansetzte? Langsam steuerte sie auf den Tisch der Zimtsterne zu und erreichte ihn genau in dem Moment, als Jana aufgeregt aus dem Fenster deutete. »Da ist die Insel! Da ist Helgoland!«

Zunächst sah man nur einen dunklen Schatten, der aus dem Dunst ragte. Beim Näherkommen waren dann die mächtigen Sandsteinfelsen zu erkennen, die sich steil aus der Nordsee erhoben. Schließlich lichtete sich der Nebel, und weitere Einzelheiten kamen in Sicht: der einsame Leuchtturm, die beiden Häuserreihen in der Unter- und Oberstadt, der Hafen mit den bunten Hummerbuden, ein Sandstrand neben der Landungsbrücke und ein paar kleinere Boote, die auf den Wellen schaukelten. Die ersten Möwen hatten die Ankunft des Bäderschiffes bemerkt und zogen nun darüber laut kreischend ihre Runden.

»Puh, ist das kalt!« Jana stand auf dem vorderen Deck, wickelte sich den Angoraschal noch ein wenig fester um den Hals und schob die Hände in die Seitentaschen ihres wollweißen Wintermantels.

»Aber traumhaft schön!« Sorgfältig stopfte Miriam ihre langen Haare unter eine grüne Bommelmütze und streckte ihr Gesicht der Sonne entgegen.

»Es riecht nach Schnee«, sagte Cordula.

»Schnee riecht nicht«, widersprach Ulrike. Sie war der Gruppe nur widerwillig gefolgt und schloss nun fröstelnd den Reißverschluss ihrer Daunenjacke. »Und wenn doch, dann stinkt er heute nach Meer und Möwenkacke.«

»Der Wetterbericht hat Schnee vorausgesagt«, erzählte Miriam. »Schnee und schwere Stürme. Hoffentlich wird es nicht so schlimm!«

Cordula legte ihr einen Arm um die Schultern. »Das schlechte Wetter soll erst Ende der Woche kommen. Bis dahin sind wir längst wieder zu Hause am warmen Ofen …«

»… oder wir rennen los, um Geschenke zu kaufen.«

»Bist du immer noch nicht fertig?«

»Nein, ich habe noch nicht mal richtig angefangen. Erinnerst du dich an die pädagogisch wertvollen Geschenke, von denen ich dir erzählt habe? Die, die es nur auf dem Weihnachtsmarkt gibt?«

»Der Markt hat seit Anfang Dezember geöffnet. Warum hast du es bis jetzt hinausgeschoben?«

»Ich habe überhaupt nichts geschoben, aber meine liebe Schwägerin hatte es bis jetzt nicht nötig, mich über ihre Auswahl zu informieren.«

»Arme Kleine!« Cordula verstärkte ihre Umarmung noch einmal, bevor sie sich ein Paar dicke Wollhandschuhe überstreifte und sich zu Jana und Ulrike umdrehte. »Ab jetzt sind wir also Zimtsterne«, stellte sie fest und ließ den Blick über ihre Teammitglieder gleiten. »Zimtsterne sind klein und zackig, aber sehr süß und gehaltvoll. Das passt irgendwie zu uns, findet ihr nicht?«

Jana nickte amüsiert, während Ulrike die Augen verdrehte und sich wortlos an Cordula vorbeidrängelte. Einen Moment später hatte sie Andreas Sonnenberg erreicht und redete heftig auf ihn ein.

Verwundert starrte ihr Jana hinterher. »Was hat sie denn jetzt schon wieder?«

»Das Übliche«, antwortete Cordula. »Sie will nicht mit uns spielen. Vermutlich erklärt sie unserem Chef gerade, dass sie auf keinen Fall ein Zimmer mit drei fremden Frauen teilen kann. Aber von so etwas sollten wir uns unsere gute Laune nicht verderben lassen. Schaut mal! Wir sind gleich da!«

Vorsichtig balancierte Ulrike Gössner-Riechel über den Steg, der das Schiff mit dem Schiffsanleger verband. Sie atmete erleichtert auf, als sie wieder festen Boden unter den Füßen spürte. Es reichte schon, dass ihre Stimmung gründlich verdorben war. Das Letzte, was sie jetzt noch gebrauchen konnte, waren Übelkeit oder sonstige körperliche Beschwerden!

Langsam schoben sich die Passagiere voran. Ulrike achtete kaum auf ihre Umgebung, sondern lief mit der Menge und hielt den Blick gesenkt – aber nur, damit man ihr die Verärgerung nicht ansehen konnte.

Was hatte Andreas vorhin auf dem Schiff zu ihr gesagt, als sie sich bei ihm beschweren wollte? Sie solle sich nicht so anstellen und den Spaß mitmachen. Welchen Spaß denn, bitte schön? Fand er es tatsächlich so lustig, mit drei anderen Männern in einem Zimmer zu schlafen? Und – was in ihren Augen noch schlimmer war – ein Bad zu teilen? Es waren ja nicht einmal gute Freunde von ihm, sondern lediglich Mitarbeiter, die schon in ein paar Tagen wieder höflich seine Anweisungen entgegennehmen würden. Dieses Gerede vom gemeinsamen Teamerlebnis war völliger Blödsinn!

Aber er hatte das nicht hören wollen, schon vor ein paar Wochen nicht, als Frau Dr. Flemming mit der dummen Idee angekommen war. Es erschien Ulrike wie ein grausamer Scherz des Schicksals, dass sie jetzt ausgerechnet mit dieser Frau ein Zimmer teilen musste.

Und, nicht zu vergessen, das Bad …

Eigentlich hatte sie gar nicht mitfahren wollen. Aber der Gedanke, ein paar Tage mit Andreas Sonnenberg außerhalb der gewohnten Umgebung verbringen zu können, hatte trotz aller widrigen Umstände seinen Reiz. Allein schon sein bittender Blick vorhin auf dem Boot war es wert gewesen: flehend und gleichzeitig verschmitzt und jungenhaft. So hatte er sie noch nie angeschaut. Wer konnte schon wissen, welche Situationen sich noch ergeben würden? Deshalb hatte sie beschlossen, ihren Ärger vorerst hinunterzuschlucken und die Zähne zusammenzubeißen. Schließlich musste sie nur zwei Tage durchhalten. Das würde sie schaffen!

»Entschuldigen Sie bitte!« Plötzlich stand ein junger Mann vor ihr, in den sie fast hineingelaufen wäre. Gerade noch rechtzeitig verlangsamte sie ihren Schritt. Der Mann deutete auf den Rollkoffer, den sie hinter sich herzog. »Darf ich Ihnen den abnehmen?«

»Wieso?« Verwundert blickte Ulrike sich um. Die meisten ihrer Kollegen hatten kein Gepäck dabei. Hatte sie etwas verpasst? »Ich brauche keinen Träger, vielen Dank!«, wollte sie gerade sagen, als der Mann auch schon ihren Koffer nahm.

»Sie gehören doch auch zur Sonne & Seife-Gruppe, oder? Haben Sie nicht gehört, dass Sie das Gepäck auf dem Schiff lassen sollten?«, fragt er freundlich lächelnd, während er den Koffer auf den Anhänger eines kleinen Elektrowagens hob. »Wir kümmern uns um den Transport zur Jugendherberge.«

»Tja, das habe ich wohl tatsächlich nicht mitbekommen«, murmelte Ulrike.

Wie denn auch, setzte sie in Gedanken hinzu. Nach dem unerfreulichen Gespräch mit Andreas hatte sie die restlichen Minuten der Fahrt auf der Damentoilette verbracht, weil sie es nicht ertragen hätte, dass man ihr die Enttäuschung vom Gesicht ablesen konnte.

»Und wohin gehen wir jetzt?«

»Ich bleibe hier und sammele die anderen Koffer ein. Und Sie gehen am besten einfach Ihren Kollegen nach.« Sein Lächeln war irgendwie nett. Nett und … charmant. Ulrikes Miene hellte sich etwas auf. »Danke!«

»Gerne.« Er hatte sich bereits zu den nächsten beiden Passagieren umgedreht. Ausgerechnet Frau Dr. Flemming und die kleine Buchhalterin! Ulrike setzte sich schnell wieder in Bewegung. Auf eine gemeinsame Wanderung mit diesen beiden Frauen hatte sie keine Lust.

So gut war ihre Stimmung nun auch wieder nicht!

»Haben Sie noch Taschen, die Sie abgeben wollen?« Der Blick des Gepäckträgers fiel auf den großen Rucksack, den Miriam sich über die Schulter gehängt hatte.

»Der gehört mir nicht.« Schützend legte Miriam ihren Arm über den Rucksack.

»Warum tragen Sie ihn dann vom Schiff?«

»Weil … äh … meine Kollegin etwas sucht …«

Er lächelte amüsiert. »Vielleicht den Rucksack?«

»Nein.« Miriams Gesicht lief vor Verlegenheit dunkelrot an. Schnell kam Jana ihr zu Hilfe. »Unsere Kollegin hat ihre Handtasche im Blauen Salon liegen lassen«, erklärte sie. »Sie kommt gleich nach, hat uns aber gebeten, schon mal ihren Rucksack mit von Bord zu nehmen.«

»Der sieht ziemlich schwer aus.«

»Ist er aber nicht.« Auch Miriams zweiter Arm legte sich jetzt um den Rucksack.

»Wollen Sie ihn nicht doch abgeben? Immerhin müssen Sie zu Fuß bis zur Jugendherberge laufen.«

»Zu Fuß?«, wiederholte Jana überrascht. »Ich dachte, wir werden von einem Bus abgeholt.«

»Hier fahren keine Personenbusse. Sie müssen laufen.«

»Ist es weit?«

»Die Jugendherberge liegt am anderen Ende der Insel.«

»Am anderen Ende?«, fragte Jana entgeistert.

»Ja, ungefähr fünfzehn Minuten von hier aus, immer an der Kurpromenade entlang.«

»Fünfzehn Minuten nur? Helgoland ist kleiner, als ich dachte.«

»Sie können das Haus gar nicht verfehlen. Und falls doch, merken Sie es früh genug. Wenn Ihre Füße nass werden, sind Sie zu weit gelaufen und stehen im Meer«, scherzte er. »Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muss weiter.«

Begeistert schaute Jana ihm hinterher. »Wow! Hast du bemerkt, wie der aussah?«

»Ja. Gelbe Regenjacke, gelber Schal und gelbe Gummistiefel.«

»Das meine ich nicht.«

»Was dann?«

»Seine Augen! Ich habe selten so strahlend graue Augen gesehen. Dazu dunkle Haare, und dieses Gesicht – so herrlich unrasiert!«

»Ist mir gar nicht aufgefallen.«

»Also wirklich, Miriam! Schaust du dir immer nur die Verpackung an und nie den Inhalt?«

»Lohnt sich das?« Vorsichtig blickte Miriam zurück, konnte jedoch nicht mehr viel erkennen, da der Mann inzwischen mit seinem Elektrowagen beim Schiff angelangt war. »Was soll’s!« Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn die Insel tatsächlich so klein ist, wie er behauptet, werde ich ihn bestimmt noch einmal zu sehen bekommen.«

Cordula musste sich beeilen, um die anderen einzuholen. Sie hatte ihre Tasche wiedergefunden und die verbleibende Zeit genutzt, um kurz mit ihrer Familie zu telefonieren.

Ihre Söhne versicherten ihr, dass zu Hause alles bestens sei. »Der Papa kann nicht ans Telefon kommen, weil er gerade Nudeln fürs Mittagessen kocht«, erzählte Nico, ihr Jüngster, während im Hintergrund Radiomusik und laute Küchengeräusche zu hören waren. »Gut, dass er schon Weihnachtsurlaub hat! Am Nachmittag besorgen wir nämlich dein Geschenk, und dann gehen wir noch in den Computershop und kaufen einen neuen Wireless Controller.«

Keine seiner Mitteilungen hatte Cordula besonders erfreut. Natürlich war es gut, dass ihr Mann die Jungs bekochte, aber er hinterließ regelmäßig ein Chaos in der Küche, das er selbst nie zu bemerken schien und deshalb auch nicht beseitigte. Das Putzen würde nach ihrer Rückkehr an ihr hängen bleiben.

Was das Weihnachtsgeschenk betraf, so erwartete sie keine Überraschungen. Sie hatte sich damit abgefunden, dass ihre Söhne ihr jedes Jahr einen Bildkalender überreichten. Die Motive wechselten von »Niedliche Katzen« über »Süße Welpen« bis zum vorläufigen Höhepunkt im letzten Jahr: »Himmlische Liebesboten« mit kitschigen Bildern von kleinen, dicken Engeln. Was dieses Mal auf sie zukam, wollte sie sich lieber nicht vorstellen.

Blieb noch der Wireless Controller. Sie hatte zwar nur unklare Vorstellungen davon, was das eigentlich war. Aber warum musste Bernd dieses Ding ausgerechnet jetzt kaufen, so kurz vor Weihnachten? Hätte er nicht warten können? Alles, auch ein völlig überflüssiger Wireless Controller, war als Geschenk verpackt besser als ein langweiliger Geldumschlag für jedes Kind!

Verärgert beschleunigte sie ihre Schritte noch einmal. Wenn sie nach Hause kam, musste sie unbedingt für Ordnung sorgen – nicht nur in der Küche. Auch ihr Familienleben musste mal wieder dringend aufgefrischt werden. Aber erst einmal wollte sie hier auf der Insel ein wenig entspannen. Die Weihnachtsausflüge mit der Firma waren nämlich die einzigen Tage im Jahr, an denen Cordula sich um nichts kümmern musste.

Das gefiel ihr.

Sie hielt inne, verschnaufte und blickte sich suchend um. Waren ihre Kolleginnen schon so weit vorausgelaufen? Schließlich entdeckte sie die Frauen in einer kleinen Geschäftsstraße am Fuße der Treppen, die vom Unterland ins fünfzig Meter höher gelegene Oberland führten. Völlig außer Atem erreichte sie den Aufgang und blickte skeptisch den Hügel hinauf.

»Ach du lieber Himmel! Wie viele Stufen mögen das sein?«

»Genau einhundertvierundachtzig«, antwortete Miriam. »Ich habe das nachgelesen.«

»So viele? Das schaffe ich nicht!«

»Es gibt einen Aufzug.« Ihre Kollegin deutete auf ein Schild mit der Aufschrift »Fahrstuhl zum Oberland«.

»Prima! Kommt ihr mit?«

Jana schüttelte den Kopf. »Ich laufe. Ein bisschen Bewegung nach der Bootsfahrt kann nicht schaden.«

»Ich steige auch lieber die Treppen hoch«, stimmte ihr Miriam zu. Sie schirmte ihre Augen vor der Sonne ab und blickte die Stufen hinauf. Einige Kollegen, darunter auch Andreas Sonnenberg, waren bereits vorausgelaufen und hatten in der Mitte der Treppe angehalten, um Fotos zu machen. »Die Aussicht muss toll sein.«

»Aber der Wind ist eisig.«

»Das macht nichts. Wenn wir uns bewegen, wird uns warm.«

»Na gut, dann sehen wir uns oben wieder.« Cordula nahm Miriam den Rucksack ab und lief langsam die Straße hinauf Richtung Aufzug.

Nur wenige Tagesausflügler waren unterwegs und bummelten an den weihnachtlich dekorierten Schaufenstern vorbei, ansonsten lag die kleine Gasse ruhig und friedlich da. Nicht einmal die Möwen hatten sich bis hierher verirrt, so dass man bis auf das entfernte Rauschen des Meeres kaum etwas hören konnte.

Vor dem Aufzug allerdings ging es lebhafter zu. Cordula stellte sich in der Warteschlange an, die größtenteils aus ihren Kollegen von Sonne & Seife bestand.

»Passen Sie doch mit Ihren Rucksack auf!«, ertönte auf einmal eine ihr wohlbekannte Stimme. »Beinahe hätten Sie mich mit diesem Ungetüm erschlagen.«

»Hallo, Frau Gössner-Riechel! Schön, Sie wiederzusehen. Ich dachte schon, wir hätten Sie auf dem Boot verloren. Wo waren Sie denn beim Anlegen?«

»Ich war … beschäftigt.« Verlegen klappte Ulrike den Kragen ihrer Winterjacke hoch.

»Wie ich sehe, haben Sie sich auch für die bequemere Variante der Fortbewegung entschieden.«

»Ja.«

»Unser Chef läuft.« Cordula konnte sich diesen Hinweis nicht verkneifen.

»Ach wirklich?«

»Ja, man kommt ihm kaum hinterher …«

In diesem Moment öffnete sich die Tür des Lifts. Ein junges Ehepaar mit einem Kinderwagen trat heraus und bahnte sich seinen Weg durch die wartende Menge Richtung Hafen. Gleich darauf setzte sich die Schlange vor dem Aufzug in Bewegung. Es waren an die dreißig Personen, die mitfahren wollten, und längst nicht jeder fand Platz in der kleinen Kabine. Ulrike gelang es, an Cordula vorbeizuschlüpfen. Entschuldigend zuckte sie mit den Schultern, als die Türen sich hinter ihr schlossen. »Sie und Ihr Rucksack hätten hier drin sowieso keinen Platz mehr gehabt«, war das Letzte, was Cordula noch hören konnte.

Die Helgoländer Jugendherberge lag im Norden der Insel inmitten von Dünen, Heidekraut und Sanddornbüschen. Das Empfangsgebäude war aus rotem Backstein gebaut. Von dort aus gingen mehrere Gebäudeflügel ab, deren Holzwände in Gelb und Blau gestrichen waren. Jetzt, zur Mittagszeit, glänzten die Farben in der kalten Wintersonne. Nur wenige Meter hinter den Häusern begann ein langer Sandstrand.

»Schön«, freute sich Jana. »Wir werden nachts das Meer hören können.«

Sie stand zusammen mit Miriam und Cordula im Foyer der Jugendherberge und wärmte ihre Finger an der Heizung. Inzwischen hatten alle Kollegen von Sonne & Seife die Jugendherberge erreicht, und im Empfangsraum herrschte lebhaftes Gedränge. Auch das Gepäck war bereits angekommen und stapelte sich neben einer breiten Holztreppe.

»Ruhe bitte!«, rief Steffen Altmann. Er stand ein paar Treppenstufen höher, hatte die Arme in die Seiten gestemmt und wirkte äußerst respekteinflößend. »Ruhe!«, brüllte er noch einmal.

Schlagartig wurde es leise, und Herr Altmann nickte zufrieden. »Herzlich willkommen in der Jugendherberge hier auf Helgoland. Sie haben Ihr heutiges Tagesziel erreicht. Spätestens jetzt sollten Sie Ihren Alltag hinter sich lassen und bereit sein für neue Erfahrungen und Erkenntnisse …«

»Ich hätte lieber zuerst eine Toilette, bevor ich mich auf neue Erfahrungen einlasse!«, flüsterte Cordula für alle gut hörbar.

Herr Altmann ließ sich dadurch nicht stören. »Nutzen Sie den Nachmittag, um sich mit Ihren Teamkollegen anzufreunden«, fuhr er fort. »Sie können einen Strandspaziergang unternehmen, ins Dorf gehen oder hier im Gemeinschaftsraum ein paar Gesellschaftspiele machen.«

Cordula hob die Hand. »Ich müsste wirklich mal dringend …«

»Schon gut. Die Toiletten befindet sich rechts neben der Rezeption.«

»Passt ihr auf meinen Rucksack auf? Danke!« Erleichtert verschwand Cordula um die Ecke. Als sie nach einigen Minuten zurückkam, stand Steffen Altmann immer noch auf den Stufen, war aber inzwischen bei der Zimmereinteilung angelangt.

»Habe ich etwas verpasst?«, wollte Cordula von Jana wissen. Diese schüttelte den Kopf.

»Die Bethmännchen haben Zimmer achtzehn im Erdgeschoss«, las der Teamtrainer gerade vor. »Die Butterkringel sind im blauen Flügel, in Zimmer sieben, und die Elisenlebkuchen gehen bitte …«

»Wenn das alphabetisch ist, wird das noch etwas dauern«, stöhnte Cordula. »Aber wir können ja so lange unseren vierten Stern suchen. Wo ist denn die gute Ulrike?«

Miriam zuckte mit den Schultern, aber Jana deutete unauffällig mit dem Kopf auf die Gruppe der Bethmännchen um Andreas Sonnenberg, die gerade ihr Gepäck einsammelte. Wie ein Hündchen folgte Ulrike Gössner-Riechel ihrem Chef und schien ihn in ein Gespräch verwickeln zu wollen. Geduldig lauschte er ihren Ausführungen, nickte ein paarmal und verabschiedete sich schließlich freundlich, aber bestimmt von ihr, um mit seinen Kollegen aufs Zimmer zu gehen.

Traurig starrte Ulrike den Bethmännchen hinterher und zog den Kopf zwischen die Schultern. Trotz ihrer Daunenjacke schien sie zu frösteln.

»Irgendwie tut sie mir leid«, murmelte Miriam.

»Ohne ihn wirkt sie unvollständig, fast ein wenig fehl am Platz«, stellte Jana verwundert fest. »Das ist mir bislang noch gar nicht aufgefallen.«

»Normalerweise kommt sie ja auch nicht aus ihrem Zauberturm in der Chefetage heraus«, meinte Cordula. »Es sei denn, er geht. Dann geht sie natürlich mit.«

Jana nickte. »Jetzt, wo du es sagst … sie ist tatsächlich so etwas wie sein allgegenwärtiger Schatten.«

»Und ich wette, das gefällt ihr.«

»Ich weiß nicht. Besonders glücklich sieht sie eigentlich nicht aus.«

»Besonders freundlich auch nicht. Aber wen interessiert das schon?«

»Mich zum Beispiel! Ich frage mich, warum sie so feindselig ist. Liegt das an ihrem Privatleben? Ich weiß überhaupt nichts von ihr. Lebt sie allein oder hat sie Familie? Was macht sie so in ihrer Freizeit? Hat sie einen Freundeskreis? Wohin fährt sie in den Urlaub?«

»Hat sie überhaupt jemals Urlaub?«, gab Cordula zurück. »Sie ist eine der Kolleginnen, die gefühlt irgendwie immer da sind.«

»Seid mal leise!«, verlangte Miriam, denn in diesem Moment hatte Steffen Altmann das Ende der Belegungsliste erreicht.

»… und die Zimtsterne gehen in den ersten Stock ins Zimmer einundzwanzig. So, das war es dann erst einmal. Viel Spaß beim Kofferauspacken! Wir sehen uns um sechs Uhr zum Abendessen.«

Gemeinsam gingen Cordula, Jana und Miriam zur Treppe. Die beiden jüngeren Frauen holten ihr Gepäck, während Cordula den Rucksack schulterte und vor Ulrike stehen blieb.

»Was ist mit Ihnen? Kommen Sie mit?«

»Natürlich.« Die Chefsekretärin seufzte. »Es bleibt mir ja wohl nichts anderes übrig.«

Zimmer einundzwanzig entpuppte sich als ein schlichter, weiß gestrichener Raum mit zwei Stockbetten, einem Waschbecken und einem zweitürigen Kleiderschrank. In der Mitte zwischen den Betten, direkt unter dem Fenster, stand ein grüner Tisch mit vier einfachen Plastikstühlen. Diese Sitzgruppe und die roten Stoffvorhänge am Fenster waren die einzigen Farbtupfer im Zimmer. Es gab ansonsten weder Bilder noch Pflanzen, nicht einmal eine Tischdecke.

»Wow!« Cordula trat einen Schritt vor und musterte die Einrichtung. »Das sieht ja irrsinnig gemütlich aus.«

»Sehr … übersichtlich«, bemerkte Miriam.

»Aber wenigstens kann man das Meer sehen.« Jana zeigte aus dem Fenster. »Und die Heizung funktioniert.«

Ulrike Gössner-Riechel sagte erst einmal gar nichts, sondern starrte einen Moment lang entgeistert auf das spärliche Mobiliar. Dann blickte sie sich um. »Wo ist das Bad?«

»Draußen im Gang« entgegnete Miriam. »Haben Sie das nicht gesehen? Gleich links von der Treppe.«

»Wie bitte?«

»Links von der Treppe«, wiederholte Miriam. »Es ist ein Gemeinschaftsbad.«

»Ein Gemeinschaftsbad? Bedeutet das, dass wir uns das Bad mit noch mehr Leuten teilen müssen?«

»Ich glaube, so definiert man Gemeinschaft«, bestätigte Cordula gut gelaunt. »Weckt das nicht schöne Erinnerungen an Plantschpartys unter Reihenduschen mit ganz viel Shampooschaum und glitschigen Seifenstücken?«

»Plantschpartys?« Ulrike ließ sich auf ihren Koffer sinken und schloss die Augen. »Das darf doch alles nicht wahr sein!«, stöhnte sie.

»So schlimm ist es heutzutage nicht mehr«, versuchte Miriam sie zu besänftigen. »Ich habe gesehen, dass die Duschen Einzelkabinen haben.«

»Die Toiletten auch«, ergänzte Cordula. »Falls das Ihre nächste Sorge gewesen sein sollte.«

Ulrike atmete ein paarmal tief durch und öffnete die Augen wieder. »Ich muss mir einfach immer wieder sagen, dass es nur zwei Tage sind«, flüsterte sie. »Ich schaffe das, und ich werde das Beste daraus machen!« Während die anderen ans Fenster traten, um die Aussicht zu bewundern, ließ sie ihren Blick zwischen den vier Matratzen hin und her wandern. Dann sprang sie auf und stellte ihren Koffer auf das rechte untere Bett. »Ich schlafe hier.«

»Schön«, meinte Cordula, etwas überrumpelt von dieser Aktion. »Dann wäre das ja schon mal geklärt. Und wo wollen wir schlafen?«

»Mir ist das egal«, antwortete Jana.

»Mir auch.«

»Sie da!« Ulrike zeigte mit dem Finger auf Miriam. »Miriam, nicht wahr?«

»Ja.«

»Sie schlafen über mir. Sie sind die Kleinste von uns und werden keine Schwierigkeiten haben, ins obere Bett zu klettern.«

»Okay …«

»Und Sie!« Ulrikes Zeigefinger wanderte weiter in Richtung Cordulas Bauch. »Sie sollten lieber unten schlafen. Sie sind nicht mehr die Jüngste, und besonders leicht sehen Sie auch nicht aus.«

»Wie bitte?«

»Damit hätten wir die Betten verteilt.« Die Chefsekretärin vermied es, Jana anzusprechen. Stattdessen erhob sie sich und lief zum Kleiderschrank.

Cordula suchte noch immer nach einer passenden Erwiderung, doch Jana warf ihr einen warnenden Blick zu und zog sie mit sich zum anderen Bett. »Komm schon! Wir machen es uns hier drüben gemütlich. Ich gehe gern ins obere Bett. Das bin ich gewohnt, schließlich bin ich mit vier Geschwistern aufgewachsen.«

Vor Überraschung vergaß Cordula ihren Ärger. »Wirklich? Ihr seid zu Hause fünf Kinder?«

»Ja.«

»Und wo sortierst du dich altersmäßig ein?«

»Ich bin die Mittlere.«

»Oje, du Arme! Das ist bestimmt nicht immer leicht.«

Für einen kurzen Moment wirkte Jana gedankenverloren. »Nein, leicht ist das nicht«, wiederholte sie dann gedehnt.

»Aber wenigstens ist bei euch zu Weihnachten etwas los.«

»Das kannst du laut sagen.«

Janas Stimme klang fast ein wenig niedergeschlagen, doch gleich darauf schüttelte sie den Kopf und wechselte das Thema.

»Ach, lassen wir das jetzt. Sonst verpassen wir hier das Wichtigste.«

Ulrike hatte nämlich damit begonnen, das Innere des Kleiderschranks zu untersuchen.

»Es gibt zwei Hälften«, teilte sie den anderen mit. »Ich schlage vor, wir regeln das genauso wie bei den Betten. Ich nehme wieder die rechte untere Hälfte.«

»Aber da sind alle Kleiderbügel«, protestierte Miriam schüchtern. »Wohin soll ich meine Sachen hängen?«

»Soviel ich weiß, Kindchen, tragen Sie sowieso nur Jeans und Strickpullis. Die können Sie im Koffer lassen.«

»Moment mal!«, mischte sich Cordula ein. »Wer gibt Ihnen eigentlich das Recht, über die Verteilung von Betten und Kleiderbügeln zu entscheiden?«

»Sonst kümmert sich ja anscheinend niemand darum.«

»Wir sind noch gar nicht so weit.«

»Ich aber. Apropos: Wir müssen auch noch die Belegung des Waschbeckens absprechen.«

»Nehmen Sie da wieder den rechten unteren Teil? Das wäre dann wohl das Abflussrohr.«

»Ich bitte Sie! Ich meine natürlich eine zeitliche Regelung.«

»Und was ist mit der Toilette? Dürfen wir die benutzen, ohne vorher einen schriftlichen Antrag zu stellen?«

»Das ist eine Gemeinschaftstoilette. Seien Sie nicht albern!«

»Albern? Ich bin albern? Ich sage Ihnen mal etwas …«

»Es ist schon in Ordnung, Cordula!« Miriam war der Wortwechsel sichtlich unangenehm. »Im Grunde hat Frau Gössner-Riechel recht, ich brauche wirklich keine Kleiderbügel für meine Pullis.«

»Und die anderen Vorschläge sind gut gemeint und praktisch«, versuchte nun auch Jana zu vermitteln, was ihr einen überraschten Seitenblick von Ulrike einbrachte. Offensichtlich hatte sie mit dieser Unterstützung nicht gerechnet.

»Wie wäre es jetzt mit einem Kaffee für uns alle?«, fuhr Jana fort. »Sozusagen als Startschuss für unsere gemeinsame Zeit, was meint ihr?«

»Ich würde lieber zuerst meinen Koffer auspacken«, entgegnete Ulrike. »Ich wette, meine Blusen sind schon völlig zerknittert.«

»Und ich muss einen dickeren Pulli anziehen«, sagte Miriam und öffnete den Reißverschluss ihres Koffers. »Mir ist nämlich kalt.«

»Na gut, dann gehen wir beide schon mal vor und bestellen.« Jana hakte sich bei Cordula unter. »Was hältst du davon?«

»Von mir aus.«

»Ich verstehe nicht, warum wir nett zu ihr sein sollen«, schimpfte Cordula, sobald sie den Speisesaal der Jugendherberge erreicht hatten.

Im Gegensatz zu den zweckmäßig eingerichteten Schlafzimmern strahlte dieser Raum trotz seiner Größe eine behagliche Atmosphäre aus. Eine raumhohe Fensterfront öffnete sich zur Meerseite hin und ließ das blasse Licht der Wintersonne hineinscheinen. Die Wände waren in hellem Holz vertäfelt und mit Tannenkränzen, roten Schleifen und Lichterketten dekoriert. In der Ecke neben der Eingangstür stand ein großer Tannenbaum mit bunten Kugeln und unzähligen kleinen, elektrischen Kerzen.

»Sprich nicht so laut!«, warnte Jana.

»Wir sind hier nicht allein.« Tatsächlich waren einige der Esstische von ihren Kollegen belegt. »Anscheinend waren nicht nur wir der Meinung, dass ein Kaffee jetzt guttut.«

Sie nahm ein Tablett und vier Tassen aus dem Regal am Buffet und stellte die erste Tasse unter die Kaffeeausgabe des Getränkeautomaten.

»Warum nimmst du sie in Schutz?« Cordula schmollte noch immer. »Ausgerechnet du!«

»Was meinst du damit?«

»Ihr würdigt euch in der Firma keines Blickes. Ich dachte immer, ihr könnt euch nicht leiden.«

»Irrtum! Ich habe nichts gegen sie. Aber sie mag mich nicht, und ich wüsste zu gern, warum.« Jana füllte die zweite Tasse.

»Das kann ich dir sagen. Du bist jung, intelligent und sehr hübsch.«

»Danke für das Kompliment! Aber das allein ist noch keine Begründung.«

»Sie hat Angst vor dir.«

»Wie bitte?« Überrascht sah Jana von der Kaffeemaschine auf und folgte Cordulas Blick zu einem Tisch am Fenster, an dem Andreas Sonnenberg mit seinen Bethmännchen saß. »Ich verstehe nicht.«

»Du bist jung und hübsch«, wiederholte Cordula. »Das ist auch schon unserem Chef aufgefallen.«

»So ein Blödsinn!« Kopfschüttelnd platzierte Jana die dritte Tasse unter die Kaffeeausgabe. »Ich will nichts von ihm.«

»Weiß er das?«

»Ich hoffe es.«

In diesem Moment hatte Andreas Sonnenberg die beiden Frauen an der Kaffeemaschine entdeckt und winkte ihnen enthusiastisch zu.

»Ich hoffe es«, wiederholte Jana, dieses Mal schon etwas weniger überzeugt.

Cordula grinste. »Sind dir seine kleinen Aufmerksamkeiten etwa noch nicht aufgefallen?«, erkundigte sie sich.

»Doch. Aber ich habe das für kollegiale Freundlichkeit gehalten.«

»Nun, die Gössner-Riechel befürchtet wohl schon das Schlimmste.«

»Aber das kann ihr doch egal sein. Es sei denn …«

»Es sei denn, sie hat es selbst auf unseren Chef abgesehen«, beendete Cordula den Satz und reichte Jana die vierte Tasse an.

Sichtlich verwirrt drückte diese auf den Ausgabeknopf. »Bist du sicher? Das hätte ich nie gedacht! Aber jetzt wird mir so manches klar … o nein!« Stöhnend, so als hätte sie plötzlich Kopfschmerzen bekommen, legte sie sich ihre freie Hand auf die Stirn. »Weißt du, was das Schlimmste ist? Ich habe dafür gesorgt, dass ihr die Organisation der Weihnachtsfeier weggenommen wurde. Dabei habe ich es gar nicht böse gemeint, sondern wollte nur helfen. Aber sie wird mich dafür hassen!«

»Höchstwahrscheinlich schon.«

»Ich muss das unbedingt aufklären!«

»Jetzt?«

»Natürlich jetzt. Wann denn sonst? Morgen sollen wir als Team gemeinsam um den Sieg kämpfen. Da müssen vorher alle Missklänge aus dem Weg geräumt werden.«

»Ich fürchte, du stellst dir das zu einfach vor. In zwei Tagen lassen sich nicht alle Konflikte lösen, die sich über lange Zeit angestaut haben.«

»Ich muss es zumindest versuchen.« Jana packte Löffel, Zuckertüten und Servietten auf das Kaffeetablett und steuerte zielstrebig einen Tisch neben dem Tannenbaum an. Sie setzte sich bewusst so, dass sie keinen Augenkontakt zu Andreas Sonnenberg haben konnte. Cordula hockte sich ihr gegenüber, und die beiden Frauen begannen damit, ihren Kaffee zu trinken.

Wenige Minuten später stießen Miriam und Ulrike zu ihnen. Die junge Buchhalterin trug eine dicke, graue Fleecejacke und hatte ihre langen Haare zu einem Zopf gebunden.

»Und?«, wollte Cordula wissen. »Habt ihr euch vertragen?«

»Natürlich«, entgegnete Miriam. Die Viertelstunde, die sie allein mit Ulrike im Zimmer verbracht hatte, war zwar fast wortlos, dafür aber friedlich verlaufen.

»Entschuldigen Sie mich!« Ulrike Gössner-Riechel hatte Andreas Sonnenberg entdeckt und ging nun eilig auf ihn zu.

»Was macht sie denn jetzt schon wieder?« Jana musste sich umdrehen, um ihre Kollegin beobachten zu können.

»Was wohl?« Cordula grinste.

Ulrike hatte ihr Smartphone gezückt und redete heftig auf Andreas ein. Dieser schüttelte jedoch den Kopf, nahm ihr das Telefon ab und schaltete es aus, bevor er es ihr mit einem entschuldigenden Lächeln zurückgab.

»Für mich sieht es so aus, als ob sie arbeiten möchte, er aber nicht«, kommentierte Cordula das Geschehen.

»Sie hat vorhin auf dem Zimmer ihre Nachrichten abgerufen. Wahrscheinlich war etwas Wichtiges dabei«, erzählte Miriam.

»Glaubt sie.« Cordula hob eine Augenbraue. »Er sieht das anders.«

Mit versteinerter Miene stopfte die Sekretärin das Handy in ihre Hosentasche und kehrte an den Tisch der Zimtsterne zurück. Miriam reichte ihr eine Tasse Kaffee. Schweigend öffnete Ulrike vier Zuckertüten und schüttete den Inhalt in ihr Getränk. Dann begann sie, die leeren Tüten in winzig kleine Stücke zu zerreißen.

»Trinken Sie Ihren Kaffee immer so süß?«, wollte Cordula wissen.

»Manchmal.«

»Zucker soll angeblich die Nerven beruhigen.«

»Ach wirklich?« Sorgfältig schob Ulrike die Papierfetzen mit ihren Fingernägeln zusammen und begann, kleine Kügelchen zu drehen.

Jana räusperte sich. Jetzt mussten dringend ein paar versöhnliche Worte her.

»Ich kann verstehen, dass nicht alle hier am Tisch Lust auf den Teamwettkampf haben«, begann sie. »Aber da es nun mal nicht zu ändern ist, sollten wir das Beste daraus machen.«

Niemand antwortete. Ulrike drehte weiter an ihren Papierkügelchen, Cordula beobachtete sie abschätzig, und Miriam schaute betreten in ihre Kaffeetasse.

»Für das Teamevent ist gute Stimmung wichtig«, fuhr Jana fort. »Deshalb sollten wir uns zuerst einmal aussprechen. Gibt es etwas, das wir klären müssen? Eine Frage, ein Problem oder …« – ihr Blick fiel auf Ulrike – »… ein Missverständnis?«

Wieder reagierte keiner.

»Na gut, dann eben nicht«, murmelte Jana enttäuscht. Um die Chefsekretärin ein wenig aus der Reserve zu locken, wandte sie sich direkt an Ulrike. »Ihr Kaffee wird kalt, Frau Gössner-Riechel.«

»Das lassen Sie mal meine Sorge sein.«

»Ich meine es doch nur gut.«

»Darauf kann ich verzichten«, schnaubte Ulrike. Die Papierteilchen flogen auseinander und verteilten sich über die gesamte Tischdecke.

»Na toll!«, schimpfte Cordula. »Wie wäre es, wenn Sie sich an einen anderen Tisch setzen? Und nehmen Sie bitte Ihre schlechte Laune und Ihren Papiermüll mit!«

»Cordula!«, warnte Jana.

»Ist schon gut.« Ulrike nahm ihre Tasse. »Ich gehe.«

»Bitte nicht!« Jana warf der Sekretärin einen flehentlichen Blick zu. Diese Unterhaltung war ganz und gar nicht so verlaufen, wie sie es sich erhofft hatte. Es fehlte gerade noch, dass ihr Team zu streiten begann, bevor der Wettkampf überhaupt losging.

»Bitte nicht«, wiederholte sie eindringlich.

Verwundert hielt Ulrike inne.

»Überlegen Sie doch mal, welchen Eindruck es macht, wenn wir jetzt schon getrennte Wege gehen«, fuhr Jana fort. »Was sollen die anderen von uns denken?«

»Wieso muss mich das interessieren?«

Jana seufzte. Jetzt würde nur noch ein Argument helfen. Es war nicht ganz fair, aber anscheinend das Einzige, was Ulrike zum Nachdenken bringen konnte.

»Was wird Andreas davon halten, wenn Sie nicht mitspielen?«

»Was Herr Sonnenberg glaubt oder nicht glaubt, ist allein seine Sache.« Ulrikes Stimme klang nicht so fest, wie sie es sich gewünscht hätte. Zum einen versetzte es ihr immer noch einen kleinen Stich, dass Frau Flemming Andreas sagen durfte. Zum anderen hatte sie sich tatsächlich noch keine Gedanken darüber gemacht, wie ihr ablehnendes Verhalten auf ihn wirken musste.

»Er wird meinen, dass Sie eine Spielverderberin sind«, stichelte Cordula.

»Es würde ihn auf jeden Fall enttäuschen«, formulierte es Jana wesentlich vorsichtiger. »Wollen Sie das?«

Ulrike zögerte. Dann schüttelte sie den Kopf und stellte ihre Tasse zurück auf den Tisch. Jana atmete auf, und auch Miriam wirkte erleichtert.

Sie lächelte der Sekretärin aufmunternd zu. »Schön, dass Sie bei uns bleiben!«

»Wollen wir nicht mal langsam dieses alberne Sie ablegen?«, schlug Cordula vor. »Es ist leichter, wenn wir uns alle duzen.« Sie betonte das Wort alle und stupste Ulrike leicht in die Seite. »Was meinst du?«

Die Angesprochene zuckte zusammen. Sie hatte sich gerade erst dazu durchgerungen, am Teamwettkampf teilzunehmen, notfalls auch mit diesen seltsamen Frauen. Aber dass sie sich jetzt auch noch von einer einfachen Postverteilerin mit Du ansprechen lassen sollte, ging ihr eindeutig zu weit! Doch bevor sie protestieren konnte, trat auf einmal Andreas Sonnenberg an ihren Tisch.

»Wie ich sehe, amüsieren Sie sich gut, oder?«

Cordula nickte. »Prächtig. Wir wollten gerade miteinander Brüderschaft trinken.«

»Das ist eine schöne Idee!«, freute er sich. »Steffen Altmann hat mir sowieso nahegelegt, in unserer Firma das Duzen einzuführen. Er sagt, das fördere Nähe und Vertrauen. Also, wenn ihr sowieso gerade dabei seid, dann fange ich mit meinem guten Vorsatz an diesem Tisch an: Ich bin Andreas, und ab heute dürft ihr mich duzen!«

Sein Angebot sorgte für die unterschiedlichsten Reaktionen am Tisch: Ulrike sah aus, als hätte sie einen Schlag auf den Hinterkopf erhalten, Cordula klatschte begeistert in die Hände, Miriam wurde feuerrot, und Jana grinste amüsiert.

»Ich werde allerdings einige Zeit brauchen, bis mir alle Vornamen vertraut sind«, meinte Andreas.

»Macht nichts!«, versicherte Cordula ihm. »Ich bin übrigens Cordula.«

»Ich heiße Miriam.«

Andreas’ Blick wanderte weiter zu Ulrike. »Besonders bei uns beiden wird es längst mal Zeit für das Du, oder nicht?«

Schlagartig erwachte Ulrike aus ihrer Erstarrung, brachte jedoch keinen Ton heraus. Stattdessen nickte sie nur und wurde dabei fast so rot wie Miriam.

Andreas Sonnenberg bedachte sie mit einem liebenswürdigen Lächeln und wandte sich dann an Jana. »Die Idee mit dem Teamevent war super. Ich kann dir gar nicht genug danken.«

»Das ist schon okay.« Jana winkte ab.

»Nein, wirklich. Das hier wird mit Sicherheit der beste Weihnachtsausflug, den wir je hatten.«

»O nein, bestimmt nicht«, widersprach Jana schnell und schielte zu Ulrike hinüber, doch die Sekretärin schien mit sich selbst beschäftigt zu sein. Mit etwas Glück hatte sie Andreas’ Bemerkung gar nicht gehört. Trotzdem konnte es nicht schaden, ein paar Dinge richtigzustellen. »Ich bin mir sicher, dass eure früheren Weihnachtsausflüge auch alle sehr gelungen waren. Ulrike hat sie bestimmt perfekt organisiert.«

»Natürlich«, versicherte Andreas.

»Und sie wird das in Zukunft auch wieder tun. Ich habe nämlich nicht vor, mich in ihre Arbeit einzumischen. Das hier ist eine einmalige Sache.«

»Klar.« Er nickte, auch wenn er sich über Janas plötzliche Begeisterung für seine Sekretärin zu wundern schien.

»Gibt es eigentlich morgen beim Wettkampf etwas zu gewinnen?«, wollte Cordula plötzlich wissen.

»Ja. Die Sieger erhalten eine Überraschung, die ich euch aber jetzt noch nicht verraten darf. Ich kann nur so viel sagen: Es wird himmlisch.« Er grinste. »Und jetzt entschuldigt mich bitte, ich muss zurück zu meinen Bethmännchen.«

»Eine himmlische Überraschung«, wiederholte Cordula, nachdem er den Tisch verlassen hatte. »Was könnte das sein?«

»Keine Ahnung«, entgegnete Jana.

»Vielleicht ein Abendessen mit ihm, hoch über den Dächern von Hamburg? Oder ein Himmelbett?«

»Cordula!« Miriam verdrehte die Augen. »Deine Fantasie geht mal wieder mit dir durch.«

Jana lachte. »Ich denke, es wird etwas sein, was das Teamgefühl stärken soll. Zum Beispiel ein gemeinsamer Theaterabend oder ein Kinobesuch.«

»Das hat aber gar nichts mit dem Himmel zu tun.«

»Wahrscheinlich war das nicht wörtlich gemeint.«

»Ich hasse Kinos«, sagte Cordula. »Die Sitze sind unbequem, die Werbung dauert ewig, und das Popcorn wird auch immer teurer.«

»Ich liebe es, ins Kino zu gehen«, widersprach Miriam. »Ich möchte unbedingt vor Weihnachten noch in den Hobbit

»Fantasy? Damit kann ich nichts anfangen.«

»Ich eigentlich auch nicht. Aber die Tolkien-Filme sind super.«

»Ich stehe eher auf Liebeskomödien.«

»Und ich mag Agentenfilme.«

Und schon waren Jana, Cordula und Miriam mitten in einer hitzigen Diskussion über die besten Kinofilme.

Nur Ulrike beteiligte sich nicht an dieser Unterhaltung, sie hing ihren eigenen Gedanken nach. Doch das fröhliche Geplauder ihrer Kolleginnen störte sie nicht. Im Gegenteil, es beruhigte sie sogar ein wenig. Denn in ihrem Inneren tobten die widersprüchlichsten Gefühle.

Da war zunächst einmal das Wichtigste – die unbändige Freude darüber, dass Andreas ihr endlich das Du angeboten hatte! Zwar hatte er das Gleiche auch zu Miriam und Cordula gesagt, aber bei ihr, Ulrike, hatte es irgendwie anders geklungen.

Vertraulicher.

Und dann der liebevolle Tonfall, mit dem er »bei uns beiden« gesagt hatte. Das hatte sie dermaßen verzaubert, dass es ihr vorübergehend die Sprache verschlagen hatte.

Uns beide.

Aus seinem Mund klang das fast schon wie ein Versprechen.

Nur – wofür eigentlich? Hatte sie sich jemals Gedanken darüber gemacht, wie es weitergehen könnte mit ihnen beiden, jenseits von Büro und Kantine?

Und als ob diese Fragen nicht schon ausgereicht hätten, um sie völlig durcheinanderzubringen, kam auch noch die irritierende Tatsache hinzu, dass Frau Dr. Flemming sich offenbar mit ihr anfreunden wollte. Denn trotz ihrer Verwirrung hatte Ulrike Janas Bemerkungen sehr wohl gehört. Nun musste sie sich selbst eingestehen, dass die Werbeleiterin vielleicht doch nicht ganz so schrecklich war, wie sie immer angenommen hatte.

Möglicherweise war sie nicht einmal eine Rivalin um Andreas’ Gunst. Jana benahm sich ihm gegenüber jedenfalls bislang völlig normal und wirkte keinesfalls verliebt. In den nächsten beiden Tagen würde Ulrike bestimmt noch genug Gelegenheit bekommen, die beiden zu beobachten. Deswegen war es eigentlich ganz praktisch, dass sie im gleichen Team wie Frau Dr. Flemming war.

Gut – auf diesen blöden Wettkampf hätte sie liebend gern verzichtet. Aber sie würde sich keine Blöße geben und gute Miene zum bösen Spiel machen. Mit den anderen beiden Zimmergenossinnen würde sie sich auch schon irgendwie arrangieren. Die kleine Buchhalterin, Miriam Müller, schien ein liebes Mädchen zu sein, sehr angenehm und ruhig. Und diese schrecklich schrille Cordula Hartwig musste man einfach so gut wie möglich ignorieren.

Auf keinen Fall jedoch würde sie die Kolleginnen duzen! So glücklich sie auch über die vertrauliche Anrede von Andreas war, so sehr verabscheute sie diese Geste im Berufsleben. Sie glaubte nicht daran, dass sich das Du im Firmenalltag durchsetzen würde. Schon im neuen Jahr würde alles wieder beim Alten sein. Und bis dahin wollte sie die Anrede einfach irgendwie umgehen.

Sie hoffte nur, dass das Du zwischen Andreas und ihr erhalten bleiben würde. Denn das war etwas ganz anderes, viel ehrlicher und vertraulicher …

Oje, jetzt waren ihre Gedanken schon wieder bei ihm angelangt! Um sich von ihren Überlegungen abzulenken, nahm Ulrike einen kräftigen Schluck aus ihrer Kaffeetasse und verzog gleich darauf das Gesicht. Ihr Kaffee war inzwischen kalt geworden – und außerdem viel zu süß.

An diesem Abend konnte Miriam nicht einschlafen.

Das lag zum einen daran, dass sie viel zu viel gegessen hatte. Aber wann bekam man schon mal gegrillten Hummer und andere Köstlichkeiten serviert, alles fangfrisch aus dem Helgoländer Meer?

Zum anderen störte es ihre Nachtruhe, dass sie den Abend nicht wie üblich beschließen konnte. Normalerweise las sie nämlich vor dem Schlafengehen noch eine halbe Stunde. Doch aus Rücksicht auf ihre Zimmergenossinnen hatte sie das Buch heute im Koffer gelassen.

Nun starrte sie mit offenen Augen in die Dunkelheit und lauschte den Geräuschen der Nacht. Vom Strand her tönte das regelmäßige Rauschen der Brandung. Im Haus war es still, nur gelegentlich hörte man leise Schritte oder das Klappern einer Tür. Cordula schnarchte, nachdem sie sich ächzend auf den Rücken gedreht hatte. Jana musste einen sehr tiefen Schlaf haben, weil sie selbst durch das Quietschen der Matratze im unteren Bett nicht aufgewacht war.

Ulrike hatte vor dem Zubettgehen noch für allgemeine Heiterkeit gesorgt, als sie eine Schlafmaske und Ohrenstöpsel aus ihrer Handtasche zog. Jetzt beneidete Miriam sie allerdings um diese Hilfsmittel. Sie wäre auch gern schnell eingeschlafen, um morgen fit zu sein.

Ach ja – morgen …

Zum ersten Mal in ihrem noch jungen Berufsleben sollte sie an einem Teamwettkampf teilnehmen. Und das, wo sie schon als Kind jegliche Art von Mannschaftsspielen gehasst hatte. Sie war alles andere als sportlich gewesen und hatte ihre Gruppe des Öfteren um den Sieg gebracht. Allerdings hatte sie angenommen, dass diese blamablen Auftritte nach der Schule für immer vorbei waren.

Tja, falsch gedacht!

Sie seufzte, drehte sich auf die rechte Seite und stopfte das Kissen unter den Nacken. Ihre Gedanken wanderten zurück zum heutigen Abendessen, das überraschend friedlich verlaufen war. Es schien, als hätten ihre Zimmergenossinnen, ohne darüber zu reden, so etwas wie einen Waffenstillstand geschlossen.

Besonders Jana hatte sich um gute Stimmung bemüht. Sie hatte alle gleichermaßen ins Gespräch mit einbezogen und dafür gesorgt, dass Streitthemen erst gar nicht auf den Tisch kamen. Cordula und Ulrike hatten sich erstaunlicherweise zusammengerissen und waren friedlich miteinander umgegangen. Na ja, eigentlich hatten sie sich eher gegenseitig ignoriert. Mehr konnte man wohl nicht erwarten, aber es war immerhin ein Fortschritt. Ob die neue Harmonie bei Tisch an der festlichen Stimmung lag? Oder vielleicht an dieser besonderen Zeit im Jahr? Sozusagen am Geist der Weihnacht?

Sie musste über ihre eigenen sonderbaren Ideen lächeln. Wie üblich machte sie sich zu viele Gedanken. Alex, ihr Exfreund, hatte sie immer damit aufgezogen, dass sie sich zu sehr um alles sorgte. Letztes Jahr hatte er sie nach der verunglückten Weihnachtsfeier in die Arme gezogen und sie getröstet. »Jetzt ärgere dich doch nicht länger über deine blöde Schwägerin! Dein Bruder muss mit ihr leben und nicht du. Bis zum nächsten Fest ist alles wieder vergessen.«

Danach war seine Umarmung zärtlicher und intensiver geworden, und sie hatte sich tatsächlich von ihrem Kummer ablenken lassen.

Miriam seufzte noch einmal und drehte sich auf die linke Seite. Dieses Jahr an Heiligabend würde niemand auf sie warten, wenn sie nach der Familienfeier in ihre kleine Wohnung zurückkehrte. Die Beziehung zu Alex war im letzten Sommer zerbrochen. Nicht laut und dramatisch, sondern leise und im gegenseitigen Einvernehmen. Sie trauerte ihrem Exfreund nicht nach, sie vermisste jedoch die Nähe eines anderen Menschen und die abendlichen Gespräche. Ein spannender Roman vor dem Zubettgehen war nur ein unzureichender Ersatz für eine Unterhaltung. Aber immerhin besser, als ins Dunkle zu starren, vor sich hin zu grübeln und auf die Atemzüge der anderen Frauen zu lauschen.

Sie hätte doch ihr Buch aus dem Koffer holen sollen! Allerdings gab es für das obere Bett kein eigenes Licht. Und noch während sie darüber nachdachte, ob sie eventuell mit Taschenlampe unter der Bettdecke lesen konnte, schlummerte sie endlich ein.

O du fröhliche Weibernacht

Подняться наверх