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Carl Ridder

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Die Weise von Hannes und seiner alten Stadt

Märztage. Jubelnder Finkenruf. Das erste Gemurre der erwachenden Luft läuft den Himmel entlang. Weiße Wolken wehen wie weiße Fahnen. Ein seliger Wind wiegt die drängenden, schwellenden Knospen. Aus den Hecken schaut hier und da ein Tupfen Grün. Am Schölzbach blutet der Weidenbaum. Ein weicher, wundersamer Glanz liegt über dem weiten Land. Pastellfarbig. Die Erde ist wie eine junge Braut. Sie hat ihr seidenes Kleid angezogen und schreitet wie eine Königin in den rufenden Morgen. Die Ferne ist dunstig. Eine Unrast fällt in die Welt. Die Sterne stehen nicht mehr still und der Mond putzt seine silberne Scheibe. Alles will Licht. Gott hat es angesteckt.

Auf die alte Stadt streut die Sonne flimmerndes Gold. Sie wird ganz wach. Der Winter mit Schnee und Eis ist vergessen. Das große Reinemachen beginnt. Des Jahres schönste Zeit wird kommen. In den Straßen und Gassen frohe, leuchtende Blicke. Schwatzige Frauen lauern in den Türen. Vor ihrem Blumenladen fröstelt die spinndürre Liese. Die Hände unter der Schürze. Sie weiß mit klapperndem Augenschlag kostbare Neuheiten zu erzählen. Taufrisch. Wie sie sich freut und weidet. Von Stunde zu Stunde weitet sich der Kranz neugieriger Weiber. Es wird getuschelt und gekichert. Morgen weiß es die ganze Stadt. Frau Dreyer rüstet zum Hochzeitsschmaus. Sie kocht nur bei vornehmen Herrschaften und erzählt nichts weiter. Aus den Fenstern winken die Mädchen. Hellauf lachen die Buben.

Am speckigen Geländer der hölzernen Brücke scheuern sich die Fischer die Knöpfe blank. Sie stieren großäugig über das Wasser weg. Sie sprechen nicht viel, priemen und spucken aber meisterhaft. Besser als die Fuhrleute. Freitags glatthaariger Fox steht wie ein Zolleinnehmer am frisch gekälkten Brückenhaus. Er ist blank geschrubbt und wartet mit bebenden Flanken auf Mantau, die struppige Töle von jenseits des Ufers. Die Silberpappeln im Flusstal rauschen mächtig auf. Ihr altes und neues Lied hebt an.

An der Stadtmauer recken die Türme die steifen Glieder. Grauer Mörtel rieselt über ihre Leiber. Sie werden nicht recht froh. Das Alter plagt sie. Zu ihren Füßen blühen Krokus und Schneeglocken. Um den himmelstürmenden Kirchturm von St. Agatha fliegen schreiend die Dohlen. Und eine Amsel flötet aus einer Linde am Patersgarten. Frühling!

Spitzweg hätte die alte Stadt malen müssen. Er hätte all den Zauber hineingepinselt, den sie besaß. Auch ihren Humor hätte er eingefangen, der in den Gassen zu Hause war. In jedem Winkel fing sich das Glück. Nichts war an ihr lieblos. Sie war sehr alt, aber sie hatte von dem Blutrot ihrer Jugend nichts eingebüßt. Ihre Augen waren spiegelblank. Sie kannte kein Sündenregister. Wie ein treuer Hund lag sie da. Ganz nahe an den Fluss geschmiegt. Wie war sie froh, wenn die Sonne höher stieg und die Stare und Spatzen in ihr laut wurden. Nie wurde es zu laut. Sie hatte ein mütterliches Herz. Sie schmiss keinen hinaus. Im Blauen des Sommers rührte sie sich nicht, der Herbst aber goss ihr Gold auf den Buckel.

Still wurde sie, wenn der Winter kam. Der brachte ihr einen Bart aus Eiszapfen und machte sie bitterkalt. Gern ließ sie sich einschneien. Und beim Fallen der Flocken duckte sie sich wie ein junger Vogel im Nest. Gott war sie schön, wenn der Mond ihr „Gute Nacht“ sagte. Dann war ihr Zauber erst vollends. Silber floss um ihre Schläfen, und um ihr müdes Haupt flochten die Sterne einen schimmernden Kranz. Hannes war dann häufiger bei ihr. Er strich durch Gassen und Gräben. Den Zeichenblock in der Hand. Und wenn auch alles nichts wurde, so war er doch reich geworden. Er hatte die schlafende Stadt belauscht. In der Stille und Weltvergessenheit der Nacht war sie ihm noch mehr als am rufenden Tag, und wie ein Schäfer mit traumverlorenem Blick seine Herde, so schaute er trunken die Schönheiten ihres nackten Leibes. Was der helle Tag an kleinen Unwahrheiten und Lieblosigkeiten zuließ, verdeckte schweigend und milde die Nacht und alles schien an ihr alt und wahr. Von den Türmen der Kirchen und Kapellen und von den Giebeldächern rann es hinauf und hinab, und der Friede der Welt schien in ihren Mauern geborgen.

Die Sonne zog sich die Schuhe aus. Sie wollte schlafen gehen. Den ganzen Tag hatte sie ein feuriges Köpfchen gehabt. Gott hatte es glühend geschürt. Der Sommer sollte es gut haben. Die Gärten waren buntkariert. Leuchten und Sterben standen nebeneinander. Seit dem frühen Morgen lag Goldflimmern über der alten Stadt. Sie mochte die Augen nicht öffnen. Ihr war es recht. Die Sonne konnte gar nicht heiß genug scheinen. Sie sperrte den Mund weit auf und ließ den Sommer tief bis ins Herz strömen. O seliges Leben. Sie überdachte die vielen Jahrhunderte. Wohl war ihr Rock ein wenig abgeschabt, auch wohl zerrissen, aber darinnen tropfte ein goldener Born. Der hielt sie jung. Wie ein großer Schutzengel erwachte sie über die, die in ihr ein- und ausgingen. Sie hatte ihre Art. Man merkte es nicht. Nur wenn man fort wollte, war sie auf einmal da. Sie war eine schöne Stadt. Es gab nicht viele ihresgleichen. Sie hielt auf sich. Wie eine Taube putzte sie sich jeden Morgen. Alles war an ihr blank. Nicht nur der Marktplatz und die breiten Straßen. Auch die kleinen Gassen, holprigen Gräben und Winkel waren sauber gescheuert.

Dort kannten sie viele nicht. Und doch lag da ihre ganze Glückseligkeit. Da war alles echt. Die bunt getünchten Leiber der kleinen Fachwerkhäuser und Hütten waren so alt wie sie. So zäh und so wahr wie sie. Ein Stück ihrer selbst. Hier „achtern Grawen“ war sie ganz zu Hause. Hannes hatte da oft hineingeschaut. In dieses wunderbare Leben und Treiben.

Hier waren die Wiegen immer voll. Man konnte kommen, wann man wollte. An den Brunnen und unter den alten Laternen spürte man den seligen Hauch. Von da nahm alles seinen Ausgang. Hier war sie besonders fruchtbar. Hier atmete sie ganz tief. Und alles, was sie so besonders reich machte, drang hier ans Licht. Die Sonne versank. Es war die Stunde des Schweigens draußen und drinnen.

Eine Hand voll Gold hatte die Sonne in jedes Herz gelegt. Keiner wusste recht, woher diese warme Freude gekommen. Die kleine alte Stadt hatte einen silbernen Reif um jeden gelegt. Ihre Glocken klangen aus Jahrhunderte über Jahrhunderte hinweg. Und aus dem Bronnen der Seele stieg die Heimat hoch.

Die alte Stadt hatte alle geformt. Hier auf dem kleinen Raum mussten sie vierschrötig und wunderlich werden. Das ewige Einerlei schnitt sich in ihre Rinde und prägte sie zu seltsamen Käuzen. Sanft wurde der eine, feurig der andere. Aber alle hatten sie das gleiche Dach über dem Kopf, und in der Geborgenheit der Heimat trabten sie alle ihrem und der sterbenden Zeit Ende zu.

Diese kleine Stadt nahm alle gefangen. Die, die in ihr schreiend ins erste Licht blickten und die, die als Wanderer gekommen waren. Eine wunderbare Weise ging von ihr aus. Traumhaft schritt alles Leben seinen Pfad. So unbewusst und doch so klar. So tiefgeliebt. Über Kirchtürme, Kapellen und Giebeldächer lief eine selige Melodie in ihr Herz. Dieses so mächtig schlagende Herz. Wo immer das grüne Moos sich an Gemäuer und Brunnen schmiegte, da sann sie über die alte Zeit nach. Oder sie dachte an ihren Tod. Einmal würde er kommen. Sie war vorbereitet.

Die Welt hatte sich nicht besonnen. Die Saat, die gelegt war, ging auf. Sie war mit Feuer und Schwert getränkt. Sie verschonte keinen. Auf der weiten Erde ging ein Morden an. Der Sensenmann flog durch die Luft. Er warf die Menschen tot. Die Großen wie die Kleinen. Er erstickte sie in ihren Löchern. Städte und Dörfer steckte er in Brand oder zerschlug sie mit dem Hammer.

Die kleine alte Stadt hatte den Winter überstanden. Eine wonnige Frühlingssonne strahlte ihr erstes Licht auf Straßen und Gassen. Froh wurde sie nicht, aber sie hatte ein gutes Gewissen. Sie war eine friedliche und wehrlose Stadt. Sie hatte keinem etwas zu Leide getan. Gott würde sie schützen.

Die Erde heulte auf. Ein dröhnendes Brausen erfüllte die Luft. Die alte Stadt zitterte. Der Tod kreiste um ihren Kirchturm. Seine Hämmer schlugen, und aus seinen blutleeren Händen strömte das Feuer. Das Sterben begann. Wilhelm Hoffrogge, der in der Kirche immer so schön sang, schnürte er die Kehle ab, und Gustchen Freitag packte er in ihrem Keller zu. Die Pforten der Hölle hatten sich aufgetan. Die Schreie nach dem goldenen Leben verstummten. Die Ernte war eingebracht.

Als Hannes in der Frühe des anderen Tages sich der alten Stadt näherte, fand er sie nicht wieder. Wie der Flaum einer Pusteblume war ihr Leib in alle Winde verweht. Kindheit, Jugend und ein blühender Sommer, ja eine ganze Welt, waren ausgelöscht. Und der helle Morgen rötete ein zertrümmertes Herz.

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