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I. „Ein toxischer Schock“

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Lena Weinberg, Hauptkommissarin von Blumenau, stapfte durch vertrocknetes Laub. Die Schneestürme des letzten Winters hatten es auf dem schmalen Weg hügelartig aufgetürmt. Sie dachte an Michael, der sich in den letzten Tagen nicht bei ihr gemeldet hatte. „Die Leiche liegt hier!“, rief Werner Habermann, „ganz in der Nähe der Blockhütte.“ Er fuchtelte mit hochgerissenen Armen, um seiner Kollegin ein Zeichen zu geben. „Ich komme“, erwiderte die Polizistin, welche an diesem sonnigen Sonntagvormittag im März wenig Lust verspürte, sich einen Toten anzusehen. Warum nur, fragte sie sich, verhielt sich ihr Freund so merkwürdig. Sie ahnte, dass Michael etwas belastete. Ungesagtes, das er nicht preisgeben wollte. Sie blickte leicht angewidert an den Leichnam, der auf dem bemoosten Waldboden lag. Die bereits starren Gliedmassen hatte der Mann in beinahe unnatürlicher Weise von sich gestreckt. Als habe er noch im Todeskampf mit grossen Schmerzen gerungen und wie ein verletztes Tier um sich geschlagen. Der schwere Ast einer Kiefer bedeckte den blutigen Schädel des Opfers. Sein Gesicht war zerschlagen. Seltsam, überlegte Weinberg, denn ein unglücklich verlaufender Unfall passte nicht zu den verrenkten, gekrümmten Körperteilen. Ihr Kollege rieb seine verkühlten Handflächen aneinander, um wenigstens seine Hände aufzuwärmen. Sein frierendes Kinn verbarg er hinter einem dicken Wollschal, den er um den Hals geschwungen hatte. Seine Wangen glänzten in einer kräftigen, roten Farbe. Beim Aus- und Einatmen bildeten sich kleine Nebelwölkchen. „Verdammt kalt!“, fluchte Habermann, „den Toten hat der hiesige Förster während einer Kontrolle des Baumbestandes entdeckt. In der letzten Woche wurde morsches Holz von Waldarbeitern entforstet.“ Die Kommissarin wies mit ihren Gummihandschuhen auf eine Schnittstelle am Ende des abgebrochenen Astes. „Der wurde zweifelsohne angesägt, Werner!“ Sie hatte sich niedergekniet, um nach Auffälligkeiten zu suchen. Es handelte sich um einen noch jungen, etwa fünfundvierzigjährigen Mann. Den die Frau angesichts seines speckigen, gewölbten Bierbauches und schütteren, ungepflegten Haarkranzes als unattraktiv bezeichnen würde. Seine Jeans waren abgewetzt, der Mantelstoff ein billiger Kauf gewesen. Sie untersuchte das Innere der Manteltaschen, in denen ein zerknitterter Presseartikel und eine Visitenkarte steckten. „Oha!“, bemerkte Weinberg überrascht, „der Tote frönte anscheinend dem teuren Segelsport! Das Kärtchen ist ein Beleg für seine Teilnahme an einer Schiffstour und zwar auf dem Segelschiff >Sea Cloud<.“ „Ein Touristenspass für Wohlhabende, die noch einmal Kolumbus spielen möchten und in der Karibik herumtollen“, lachte Habermann, „was hatte dieser hässliche, pummelige Typ nur in unserer platten, norddeutschen Ebene zu suchen … liebte er etwa Waldspaziergänge?

„Der Artikel verrät uns, dass er sich für den atomaren Müll, der in Husum gelagert wird, interessierte. Die Kürzel unter dem Bericht aus einer Münchener Tageszeitung sind P und M. Vielleicht ist das hier unser Mann!“ Habermann blickte bewundernd, fast zärtlich auf seine schlaue Vorgesetzte. Ihm gefielen Lenas klare, leicht misstrauisch blitzende Augen. Ihre nachdenkliche Art, mit der sie ruhig ihre langen, braunen Haarsträhnen aus dem Gesicht strich. „Die maroden, zwölftausend Fässer lagern in nur etwa sechshundert Metern Entfernung von uns beiden“, rief er. „Ich weiss“, antwortete Weinberg, „seit drei Jahren protestiert eine Bürgerinitiative vehement gegen die brenzligen Fässer.“

Während die Leiche in die Gerichtsmedizin von Blumenau überführt wurde, fuhr die Kommissarin gutgelaunt nach Hause. Mit Elan steuerte sie in die Einfahrt zu ihrem Haus, welches versteckt hinter viel Grün direkt am Flussufer lag. Aussteigend entdeckte sie Michael, der rauchend auf der Dachterrasse stand und entspannt am Geländer lehnte. Sie liebte den Kommunalpolitiker, der grosse Ambitionen verfolgte, um in die Bundespolitik einzusteigen. „Warum legst du deinen goldfarbenen Fuchspelz nicht endlich beiseite?“, begrüsste er die Frau mit seiner warmen, Charme versprühenden Stimme, „der Winter ist vorüber.“ „Aber die Kälte nicht“, erwiderte sie fast trotzig. Weinberg betrachtete Michaels scharf geschnittene Gesichtszüge. Seine schwarzen Augen, welche immer wieder frech aufblitzten, denen dennoch etwas Rätselhaftes, Verborgenes anhaftete, das sie sich nicht erklären konnte. Sie streifte den Wintermantel ab, liess sich zu ihm auf das dunkelblaue, samtene Sofa fallen. Davor brannte ein Kaminofen, den Michael bereits entfacht hatte, mit hellen, lodernden Holzscheiden. Zärtlich strich sie mit der Hand über das edle, hellgraue Zwirn seines Anzuges. Wohl nie und nimmer werde sie mit seinem stilsicheren Outfit mithalten können, vermutete sie. „Wie steht es um die neuen Integrationskurse?“, versuchte Weinberg einen sachlichen Ton anzuschlagen. „Genehmigt!“ Krumlik, der sich seiner einnehmenden Wirkung auf andere bewusst war, umschlang zielsicher mit beiden Armen den Körper der Frau. „Heute bist du >Rani<“, schmeichelte er ihr, „das Wort bedeutet im Indischen >meine Königin<.“ Mit kreisenden Fingerbewegungen streichelte der Mann ihre Hüften.

„Verfluchter Vandalismus“, schimpfte die Polizistin wütend, als sie am nächsten Morgen in der Frühe in ihr Auto steigen wollte. Beide Aussenspiegel waren demoliert. Als Tatgegenstand kam ein mittelschwerer, gewöhnlicher Stein in Frage, welche am Flussufer reichlich vorzufinden waren. Weinberg ärgerte sich, denn vermutlich würde ihre Versicherung den Schaden nicht übernehmen. Wie beim letzten Mal, als ihr Wagen von unbekannter Hand besprayt worden war. Die dunkelblaue Kühlerhaube schmückte ein imposanter, weissgelackter Totenschädel. Die Seitentüren zierten die Flügel eines Engels. Krumlik war angesichts der Darbietung in schallendes Gelächter ausgebrochen. „Da habe jemand eben eine rege Phantasie gehabt“, lautete sein kurzer Kommentar. Lena dagegen hätte gerne gewusst, ob ihr dies aus Rachlust, Frust oder nur aus Jux widerfuhr. Im Schrittempo steuerte sie missmutig das beschädigte Auto auf dem asphaltierten Weg. Eine humpelnde, alte Frau mit einem Gehstock versperrte die Weiterfahrt. Das weissblonde Haar der Seniorin war vom Wind zerzaust. Sie fuchtelte unwirsch mit ihrem Stock, als sie das Autogeräusch im Rücken wahrnahm. In der anderen Hand hielt die Alte eine Papiertüte. „Moin, moin“, rief Lena ihr durch das geöffnete Wagenfenster zu, „nur nicht erschrecken lassen. Hast du Brötchen geholt, Rosi?“ Die Alte nickte. Manches Mal hatte Weinberg die Zähigkeit und Ausdauer der Nachkriegsgeneration, die nun langsam, aber sicher von der Erdoberfläche verschwand, bewundert. Sicherlich habe diese Generation viel geschafft und erreicht, meinte Michael, der Sprössling einer indischen Mutter und eines deutschen Vaters war, aber die tiefen Spuren, welche der nationalsozialistische Ungeist hinterlassen hatte, seien immer noch spürbar. Zum Beispiel die deutsche exzessive Arbeitswut, heimlicher Fremdenhass und übertriebene Anpassungsbereitschaft. Lenas Magen knurrte. Anstatt ihren Freund für ein gemeinsames Frühstück zu wecken, hatte sie ihn schlafen lassen. Denn so entspannt und friedlich wie an diesem Morgen daliegend hatte sie den nervösen Politiker selten erlebt.

Schnurstracks fuhr die Kommissarin auf die Bretterkaserne zu. Das war ihr Spitzname für den in die Jahre gekommenen Flach- und Fertigbau aus den siebziger Jahren, in dem die Polizeidienststelle der Stadt Blumenau untergebracht war. Immerhin thronte auf dem Dach die neueste Solartechnik. Mit Schwung stiess Weinberg die Tür der Wache auf, lief den Flur entlang. Gegen den Willen ihres Vorgesetzten Schinkel hatte sie die Anbringung von Nachdrucken des Künstlers van Gogh durchsetzen können. Ihr Anblick könnten Festgenommene und Geschädigte gleichermassen beruhigen, war Lenas stichhaltiges Argument. „Ein verrückter Impressionist, okay!“, lautete Schinkels Kommentar, „aber die Neuen Wilden? Auf keinen Fall.“ Die anderen Kollegen jedenfalls waren begeistert. Habermann wartete bereits im gemeinsamen Dienstzimmer auf ein Fax der Gerichtsmedizin, welches aus dem Gerät tuckerte. „Die Todesursache war ein Versagen des pulmonal-bronchialen Atemsystems. Mit grosser Wahrscheinlichkeit die Folge eines schweren Asthmaanfalles“, erklärte der Polizeihauptmeister, „der Anlass für die Krämpfe und plötzliche Atemlähmung könnte ein toxischer Schock gewesen sein. Eine Blutanalyse, die die Art der Vergiftung klären soll, ist noch im vollen Gange.“ „Und die äusseren Verletzungen?“, fragte Weinberg. „Schürfwunden. Ein Trümmerbruch des Joch- und Nasenbeines. Post mortem geschehen. Nur äusserlich furchterregend. Die Physis des Unbekannten ist übrigens als kritisch zu bezeichnen. Obduziert wurde eine Fettleber, die auf einen unmässigen Alkoholkonsum hindeutet. Ein Hinweis auf ein ungesundes und stressiges, jedoch nicht notwendigerweise schlechtes Leben des Toten, dachte sich die Kommissarin, die in ihren PC den Suchbegriff >Sea Cloud< eingab. Sogleich flackerte das vollständige Programmangebot des Veranstalters über den Bildschirm. Sie notierte den Telefonkontakt. „Dem Kärtchen ist zu entnehmen, dass der Tote im letzten November als Schatzsucher vor Haiti unterwegs war“, sagte sie, „es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn der Veranstalter uns nicht eine Liste der Reisegäste - darunter auch unser betuchter, toter Freund - zukommen lassen würde.“

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