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II. „Schamanenglück“
ОглавлениеEin halbes Jahr später. Der Musiker zweifelte an Marthas Versprechen, zu kommen. Zusammen mit zwei Freunden hockte er gelangweilt an seinem Sommerpool. Der dunkelblonde, unscheinbare Mann hiess David und war Aarons Stiefbruder. Der andere nannte sich Larry und galt als persönlicher Lebensberater des Sänger. Im Beruf Friseur schnitt und pflegte er dessen Haartolle. Aaron hatte bereits das zweite Sahnestück der Willkommenstorte verdrückt. „Marthas Diät hatte Wunder bewirkt“, jammerte er laut, „nun werde ich wieder fett. Sie wird nicht kommen!“ „Sei froh, dass du in diesen ökonomisch angespannten Zeiten privilegiert leben darfst“, fuhr ihm Larry wirsch ins Wort, „viele Menschen haben wenig Geld. Vor allem nicht für Konzertkarten.“ „Dem möchte ich zustimmen“, sagte David, „die Kids hängen lieber stundenlang vor ihren PCs und geben sich in den sozialen Netzwerken anderen Illusionen hin. Deine Stimme und Liebe zur Gospelmusik zählen heute nicht mehr viel. Mehr als der Job eines Turnschuhverkäufers oder eines Busfahrers wären in der Gegenwart vermutlich nicht drin!“ „Aha!“, bemerkte der Sänger nach einer Weile des Nachdenkens verwundert, „mit den Genen meiner jüdischen Urgrossmutter, den indianischen meiner Ururgrossmutter mütterlicherseits würde mir auch jetzt etwas einfallen, um auf mich aufmerksam zu machen.“ „Denkste!“, grinste der Friseur, dessen Handy summte, „der Gärtner berichtet, dass eine Dame seit zwei Stunden auf dem Boulevard hin- und herbraust und immer wieder anklopft.“ „Das ist Martha“, rief Aaron erfreut, der das Handy des Freundes für einen Peilsender hielt, „gib‘ auf der Stelle das Zeichen zum Öffnen der Gartenpforte!“ David lachte. In diesem Moment war das Zuschlagen einer Autotür zu hören. Hinter der Hecke am Pool tauchte Martha auf. Einen riesigen Karton in den Händen haltend. Das lockige Haar notdürftig mit einem roten Band zusammengehalten, hingen einzelne Strähnen wirr im Nacken und in der Stirn. Mutig begrüsste sie die verschwiegene Männerrunde. „Die Dame mit der ungestümen Note“, lachte Larry. „Sie ist eine Lady“, hielt der Sänger dagegen. Er war aufgestanden, umarmte Martha und blickte neugierig in den Karton: „Ah - frisches Gemüse für den Sonnenkönig.“
Martha liebte den legeren, amerikanischen Stil. Vor allem seine breiten, komfortablen Doppelbetten. Ihres besass eine weiche, königsblaue, nicht allzu dicke Überdecke, in welche nur ein weisses Laken eingeschlagen war. Auf der lag sie nun entspannt, streckte ihre vier Gliedmassen aus. Wie eine glückliche, zufriedene Katze. Nach einer Weile streifte sie ihr weinrotes Sommerkleid über. Betrachtete zufrieden ihren wohlproportionierten Körper im Wandspiegel. Wie Aaron sich wohl fühlen mochte, fragte sie sich. Seinen hässlichen Herzstillstand, früh morgens im Badezimmer geschehen, schien er überwunden zu haben. Nach über vierzig Jahren der Abwesenheit vom irdischen Geschehen, nach unendlich vielen Stunden, in denen er als gesunkener Stern im Kosmos herumgeirrt sei, müsse er sich doch hier als Fremder fühlen. Ah, er habe ein dickes Fell, schob sie die Bedenken beiseite. Schloss eilig den Reissverschluss an der Taille. Schlüpfte in ihre mit Holzperlen verzierten Sommersandalen und stieg behutsam die Treppenstufen ins Erdgeschoss der Villa hinab. Im Empfangszimmer wartete der Musikbarde in einem seiner geliebten, weissen Ledersessel sitzend. „Du siehst regelrecht hübsch aus“, sagte er strahlend, „mit dir ist mir das Glück einer Schamanin widerfahren. Obgleich ich über achtzig Lenze zählen müsste und ein alter, greiser Mann bin, darf ich noch einmal zweiundvierzig Jahre alt sein.“ Aarons Augen glänzten mit dem bunten, schillerndem Fensterglas des Zimmers - ein Pfauengefieder im Tiffanystil - um die Wette. Mit kleinen, tänzelnden Schritten lief Martha im Raum umher. Als handele es sich um eine neue Welt, die es erst kennenzulernen galt. Gebannt folgte er ihren beinahe schwerelos wirkenden Bewegungen. „Nur wir beide - wie schön!“, sagte er entzückt, „keine Busse mehr, vollgeladen mit lauten, plappernden Touristen, die ich in meinem Grab liegend ertragen muss. Endlich keine Blumenkörbe mehr, die mir schwer auf der Brust liegen, als wäre meine Person eine Vermittlungsagentur für einsame Herzen. Für Menschen, welche mich mit ihren mitgebrachten Duftkerzen in meiner Gruft fast ersticken.“ „Sei nicht ungerecht“, erwiderte Martha hitzig, „ohne deinen Erfolg und ohne deine Fans wärst du vielleicht ein Nichts geblieben.“ „Warum muss ich mich denn immerzu bei allen bedanken“, fauchte er grimmig, „wenn Arroganz und Aufgeblähtsein in einer Darmparese münden?“ „Das waren die in Erdnussbutter gebratenen Bananen. Du hättest noch so viele Lieder komponieren können, Aaron!“ „Ich war nie ein Komponist, sondern der Interpret einer Zeitepoche. Ein Rock’n Roller und ein Schnulzenkönig. Es ist das Schicksal der Götter, irgendwann kläglich abzudanken. Weil niemand dauerhaft einem Idealbild entsprechen kann.“ „Wie wahr!, bemerkte Martha.
„Es duftet zauberhaft nach Brokkoli“, rief die Malerin, die von einem grauhaarigen, gutmütigem Herrn begrüsst wurde. „Endlich jemand, der sich von dir nicht alles gefallen lässt, Aaron!“ „Himmel - ich bin froh darüber, dass die Zeiten vorbei scheinen, in denen mir wildfremde Frauen die Kleider vom Leib reissen wollen. Samt Hautfetzen. Ich war eine Jagdtrophäe!“ „Und hübsche Frauen dein Pelzschmuck“, entgegnete Aarons Stiefmutter, eine Frau mit einem Allerweltsgesicht. In ihren kräftigen Händen eine dampfende Suppenschüssel haltend, „seid friedlich.“ Begeistert betrachtete Martha die Essmöbel aus edlem, feingeschnitzen Holz. Das kostbare Geschirr von eleganter, europäischer Art. Das feingekräuselte Haar des Vaters. Seine charmant, zugleich schelmisch wirkende Mundpartie. Irische oder schottische Einflüsse, vermutete sie. Die vier setzten sich zu Tisch. „Zwei Personen fehlen. Wo sind Larry und David?“, fragte Aaron. „Larry ist fort zu einem Kunden. Mit dem Fahrrad“, erklärte die Stiefmutter. „Er kann doch jederzeit eines meiner Motorräder oder Autos nehmen“, bemerkte der Sänger entrüstet. „Das ist sein Beitrag für ein neues Umweltbewusstsein.“ David hatte mit einem Tablett - darauf frischgebackene Baguettes - den Raum betreten. „Ein Bike … bist du bekifft?“, fuhr Aaron ihn an. Doch der schritt zielsicher auf einen riesigen Flachbildfernseher zu. „Das müsst ihr alle sehen!“ Der Sänger zuckte erschreckt zusammen. „Ich vermutete darin eine moderne Sonnenbank“, schrie er entsetzt, „aber das ist doch Dylan im Weissen Haus! Der Typ sieht aus wie ein seniler Penner.“ „Der farbige Mann, der ihm den Orden an das Brustkuvert heftigt, war übrigens unser letzter Präsident“, sagte David. „Und wer ist der jetzige?“, fragte Aaron ungläubig. „Ein Angeber. Wir sollten uns freuen, denn in Memphis wurde einst Martin Luther King ermordet. Diese Preisverleihung ist ein denkwürdiger Augenblick“, bemerkte der Vater des Sängers, „unterlasse es bitte tunlichst, wie früher geschehen, mit einem Gewehr auf den Bildschirm zu ballern, mein Sohn. Denk‘ an dein schwaches Herz. In das nach dir benannte Hospital können wir dich nicht mehr bringen.“ „Wohin?“ „In das Krankenhaus, in welchem du obduziert wurdest. Es wurde inzwischen gesprengt.“ „Ich erinnere mich“, murmelte der Musiker leise, „meine Gedärme schienen an diesem Morgen explodieren zu wollen. Oder war es mein Inneres? Dieser ganze Elvisscheiss! Vor Augen eine neue Konzerttournee. Ich wusste, dass ich nur noch eine Farce meiner Selbst war. Ein grausamer Schmerz hatte mich in jenen Todesminuten gepackt … er war der Kampf mit dem Tod. Oder der mit meinem versauten Leben. Es war der Wunsch meines Herzens nach der Endlichkeit aller Dinge.“