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III. „Schmusetarzan“
ОглавлениеAaron und Martha hockten auf seiner mit Kissen überladenen Sofagarnitur. Der Musiker hantierte mit einer kleinen Digitalkamera, indem er die Batterie und Speicherkarte ausgiebig prüfte. „Das Ding ist ein Paradies für die persönliche Eitelkeit, Martha. Knipsen, löschen, knipsen. Diese Selfies sind ganz nach meinem Geschmack. Wow!“ Die Malerin lächelte, hatte ihr Notebook auf dem Couchtisch platziert und in Betrieb genommen. „Selfish, selbstverliebt ist auch deine überwältigende Sammlung deiner vergoldeten LPs. Wolltest du damit das geraubte Gold der Indianer zurückerobern?“ „Memphis ist arm. Hier gibt es kein Gold. Sag‘ mal, wo sind eigentlich die Hippies abgeblieben?“, fragte er zaghaft. „Die haben inzwischen entweder ein Restaurant, ein Reisebüro oder eine Tauchschule in einem Land ihrer Sehnsucht aufgemacht. Oder sie sind Biobauern geworden“, antwortete sie mit einem energischen Unterton, „eine Bitte habe ich an dich …“ „Was?“ „Keine weiten Schlaghosen und Plüschhemd. Der Look der Siebziger, der überkandidelte Trompetenlook sind out, mein Lieber! Kein Machogürtel und bombastischen Diamantringe. Jeans und T Shirt reichen vollkommen. Das Open Air Konzert an diesem Nachmittag ist eine Spende der hiesigen Banken. Eine Art Gratisveranstaltung für die armen Schlucker dieser Stadt.“ Aaron schluckte benommen. Neugierig blickte er auf Marthas Notebook. Die Frau schob das Gerät in seine Reichweite. „Eine Maustaste? Oh, allmächtiger Google! Aber das Wichtigste im Leben sind in der Tat genug Mäuse“, lachte er, „das ist einfacher als Klavierspielen ohne Noten.“ Er tippte das Stichwort >Herzoperation<. Sogleich flackerten Fotos von Herzkatheder und Bypass über den Bildschirm. „So etwas gab es damals noch nicht“, murmelte er leise. „Hast du deine Frau eigentlich gut behandelt, Aaron?“ „Sprichst du von Priscilla? Nein. Niemand konnte sich in meiner Nähe entwickeln.“ Der Mann googelte seinen eigenen Namen. Ein Bild, das auftauchte, zeigte ihn in einem prinzenhaften, königsblauem Frack. Neben dem amerikanischen Präsidenten Richard Nixon stehend. „Dem habe ich eine Waffe geschenkt“, bemerkte er nicht ohne Stolz. „Waffenbesitz und mögliche Gewalt sind ein Urübel der amerikanischen Gesellschaft“, entgegnete Martha barsch. Zögernd setzte der Musiker einen Link auf ein verheissungsfreudiges Kurzvideo. Auf einem Klo sang ein unansehnlicher, fettleibiger Unbekannter: „Because I’m a tramp I had to die. People I had taken too many of these damned pills and drugs. We’re caught in a trap and I can‘t walk out. We can‘ go together and build our dreams on suspicious minds.“ „Was für ein Abgang!“, schluchzte Aaron.
Das Paar stieg in einen cremefarbenen Mercedes sintflutzeitlichen Baujahres ein. „In diesem Oldtimer werden wir bestimmt nicht auffallen“, witzelte Martha, „die Therapie in der Einsamkeit der Rocky Mountains hat dir gut getan. Um zweidutzend Kilos an Leibfett bist du inzwischen erleichtert. Das ist schön! Nur umgezogen - wie von mir gewünscht - hast du dich nicht.“ Trotzig setzte der Mann eine Schmetterlingsbrille auf. „Mein Markenzeichen! Warum rechnet mir niemand an, dass sich die Frauen mittels meiner Musik, durch ihr hysterisches Gekreische ihrer eigenen Sexualität, der eigenen Lust bewusst geworden sind?“, klagte er. Der Mercedes fuhr gemächlich durch die mit Notenspielereien verzierte Gartenpforte auf den Boulevard. Plötzlich schrie Aaron auf. „Sieh‘ doch! Dort steht mein Flugzeug. Es trägt noch immer den Namenszug meiner Tochter.“ Der Mann krümmte sich vor Schmerz. „Sofort anhalten, Martha! Ich muss Lisa anrufen“, brüllte er ungehalten. „Gedulde dich!“, versuchte die Malerin den Sänger zu beschwichtigen, „dein Flugzeug ist nur ein Magnet, um Touristen anzulocken. Du darfst Lisa noch nicht anrufen, denn sie könnte sich erschrecken. Denn du hast sie verlassen, als sie noch ein Kind war.“ „Ich weiss, du blöde Tröte“, herrschte er wutverzerrt. „Als ich die Erde verliess und zu meinem Stern im Kosmos zurückkehrte, habe ich ihren Namen hinausgeschrieen und um Verzeihung gebeten. Vergeblich. Niemand antwortete. „Lisa wird alles wissen“, sagte Martha ungerührt, „wir sind da.“ Die Frau hatte die Fensterscheibe des altmodischen Wagens heruntergekurbelt, um besser einparken zu können. Rauchschwaden von frisch gebratenem Barbecue Grillfleisch wehte vom Flussufer des Mississippi zu ihnen herüber. „Mmmh, lecker!“ Aaron schien besänftigt und öffnete erwartungsvoll die Beifahrertür. „Pass‘ auf, du Clown“, schnauzte ein vorbeigehender Konzertbesucher, „das hier ist kein Faschingsfest!“ Verdutzt las der Sänger die grossen Letter auf einem Plakat an einem Baum am Strassenrand: „We Want No Nuclear Refuse In Tennessee.“
Er sei eben kein Typ, für den sich in einem beliebigen Konfektionsgeschäft schnell beliebige Klamotten besorgen liessen, zweifelte die Malerin an ihrer spontanen Idee zu diesem Ausflug. Beunruhigt beobachtete sie, wie Aaron aufgeregt und mit dynamischen Schritten vor der Konzertbühne herumlief und sich mühte, eine Sitzmöglichkeit für beide zu ergattern. Strahlend kam er mit zwei Plastikstühlen auf sie zugelaufen. „Wir sind ja beide bereits etwas älter“, präsentierte er stolz seinen Beutefang, „im Zeichen des Steinbocks Geborene sind schwierig, aber zäh.“ Währenddessen flatterte seine Trompetenhose und sein Seidenhemd heftig im Wind. Die Schmetterlingsbrille - Grösse XXL - liess ihn wie einen verirrtes, nervöses Insekt aussehen. „Ich hätte besser einen Flug nach Las Vegas für uns buchen sollen.“ „Warum?“ „Weil dort gerade eine Retroperspektive mit all deinen Songs gezeigt wird. Und in dekorativen Bühnenbildern der Einfluss der Country-, Blues- und Gospelmusik auf dein Tun erzählt wird. In einem Bühnenbild schwebt eine überdimensionale, elektrische Gitarre im Raum. Zwei Artisten hängen an dem Musikinstrument. Der eine stellt dich dar, der andere deinen totgeborenen Zwillingsbruder Jesse.“ „Lass‘ ihn in Frieden ruhen!“, schnauzte Aaron, „wer kann denn schon voraussagen, dass Jesse sich für Musik interessiert hätte - wenn er denn hätte leben dürfen. Und wer verdient an dieser Show?“ Inzwischen hatten sich mehrere dutzend Zuhörer rings um das Paar eingefunden. Wolldecken ausgebreitet oder selbst Klappstühle mitgebracht. „Hey … es sind bereits um die eintausendfünfhundert Konzertbesucher gekommen“, freute sich Martha. Sie zog ein zerknülltes Papier aus ihrer Jeanstasche. Darauf die Namen der eingeladenen zwei Musikgruppen. Sie gab den Zettel Aaron. Es waren „Die toten Hosen“ und „Kraftwerk“. Der Musiker, welcher sich an viele deutsche Worte aus seiner Militärzeit in Westdeutschland erinnerte, grübelte über die Bedeutung der Bandnamen. Ihm, der immer mit kraftbetonter, voller Stimme auf der Bühne gesungen hatte, bis ihm der Schweiss von der Stirn lief und sein Haar klatschnass triefte, beobachtete verwundert die eingeladenen Gäste. Erstaunt stellte er fest, dass die Männer zumeist akkurate Kurzhaarfrisuren trugen und niemand rauchte. Es kam ihm so vor, als würden sich die Menschen wie in den frühen Sechzigern bewegen. Wie vor den kommenden wilden, zuweilen enthemmten Jahren. Mit dem Unterschied, dass sie lockerer und selbstbewusster als damals schienen. Doch er entdeckte in der Menschenmenge auch sehr ernst blickende, nachdenkliche Gesichter. Die vielen elegant geschnittenen, modischen Blazer in unterschiedlichen Farbfacetten, die Aaron entdeckte, und die formschönen Stiefeletten, die die Leute trugen, gefielen ihm sehr. „In welcher Sprache reden die neben uns?“, flüsterte er eingeschüchtert in Marthas Ohr. „Das sind russische und lettische Touristen“, grinste seine Begleiterin. „Die sehen aber aus wie Amerikaner! Sind die USA jetzt kommunistisch?“ Durch das Hirn des Sängers schossen in Millisekunden tief in seinem Gedächtnis verankerte Kriegsbilder. Von zerfetzten, entstellten, vietnamesischen Leibern. Er dachte an den schmählichen Abzug der US Armee aus Südvietnam. „Die Träume von einer sozialeren Gesellschaft, welche deine Generation auszeichnete, scheinen abhanden gekommen zu sein. Ausser dem kleinen Nordkorea und dem ausser Rand und Band geratenen Venezuela frönen alle Nationen nun dem globalen Kapitalismus“, erklärte Martha dem Troubadour aus vergangenen Tagen. „Hi, Schmusetarzan“, unterbrach eine hübsche, dunkelhaarige Frau im löchrigen Lederkostüm, „du wirst an diesem Tag für deine zugegeben gute Elvisimitation keinen Preis gewinnen. Angesagt sind heute Punk und Techno, keine Fummelmusik!“
Aaron hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu. „Was für ein Getöse! In meinem Innenohr klingelt es“, schimpfte er. Zusammen mit seiner Begleiterin hockte er am Ufer des weiten Stromes, während die orangerotfarbene Abendsonne langsam hinter dem Flussbett versank. Sichtbar wurden die Gestirne, welche wie winzige, wissende Goldkügelchen über das Stadt, scheinbar schwebend, hingen. „Es hat dir also alles missfallen?“ „Mitnichten. Die elektronische Musik, die etwas plastern und monoton daherkam, war zugleich witzig und durchdacht. Seine Akteure agierten wie fremdgesteuerte, marionettenhafte Wesen. Mit ihren eigenen Klängen verschmolzen. Das hat mich fasziniert!“ Martha blickte auf die Goldkügelchen am Himmel. „Es stellt sich nach wie vor die Frage nach dem Puppenspieler, welcher die Fäden in der Hand hält“, sagte sie. „Meine Lebensaufgabe hat er mir zugewiesen. Dort oben - im Sternbild der Waage. Sie lautete, mittels des Gesanges Harmonie zu schaffen.“ „Aber du warst am Beginn der Laufbahn ein Revolutionär! Jemand, der den Blues wie ein Farbiger singen konnte!“ „Der Mars, der zum Zeitpunkt meiner Geburt in der Waage stand, machte mich leidenschaftlich.“ „Hast du deshalb so viele Frauen geküsst?“ „Das war meine unterdrückte, indianische Lebensart. Eine Wiederkehr des Bruderkusses. Es handelt sich um ein indianisches Begrüssungszeremoniell.“ „Ich verstehe.“ „Ehrlich gesagt - hunderte Frauen in Gestalt einer Aphrodite sind für jeden Mann eine Überforderung. Am Ende war ich es leid, ihnen meine verschwitzten Halstücher zuzuwerfen. „Das klingt nach harter Arbeit.“ „Geschafft hat mich letztendlich die Trinität von Sonne, Venus und Merkur. Beeinflusst von Pluto, diesem unerbittlichen, gemeinen Racker. Es tut mir so leid um meinen Vater, der an meinem frühen Tod zerbrochen ist. Vermutlich ist das alles passiert, weil ich keine Verantwortung kannte. Leise begann der tote Musiker den Song „You are always on my mind“ anzustimmen. Während sich im faden, nebeligem Morgenlicht der Oldtimer, dieses Mal unter seiner Regie, Graceland näherte, sang Aaron immer noch „so close, yet so far from paradise.“