Читать книгу Die Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts - Heiner Flassbeck - Страница 7
ОглавлениеGroße Krisen, kleine Politik
Sind die deutsche und die internationale Politik den globalen Herausforderungen gewachsen? Als die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel im Oktober 2009 ihre Regierungserklärung abgab, war die entscheidende Botschaft, dass diese Regierung das Wachstum wieder beleben wolle. Als die Kanzlerin aber später gefragt wurde, aufweiche Weise sie das zu tun gedenke, fielen ihr genau zwei Punkte ein: Steuersenkung und Bürokratieabbau.
Steuersenkung und Bürokratieabbau - das soll das Geheimnis einer im Jahr 2009 installierten deutschen Regierung sein? Kann es sein, dass 30 Jahre nach Helmut Kohl und seiner geistig-moralischen Wende erneut eine schwarz-gelbe Regierung nichts anderes im Sinn hat, als genau das zu tun, was Helmut Kohl schon wollte und womit er grandios gescheitert ist? Nichts zeigt besser als dieser geistige Offenbarungseid, dass genau die Politiker, die Marktwirtschaft und Wettbewerb ständig im Mund führen, beide Konzepte in keiner Weise verstanden haben.
Auch berufen sich Politiker fast aller Couleur gerne auf Ludwig Erhard, den »Vater« des deutschen Wirtschaftswunders, um zu erklären, wie sie erfolgreich sein wollen. Sie wollen die Marktwirtschaft wieder beleben. Sie wollen ein Wachstum, das von den Unternehmen getragen wird und das verlangt - so ihre feste Überzeugung -, dass man diesen Unternehmen größtmögliche Freiheit gibt. Anders als Ludwig Erhard wissen sie aber nicht, welche entscheidende Rolle der Staat spielen muss, damit Wohlstand entstehen kann.
Wenn 30 Jahre nach dem Versuch der konservativen Parteien, ein Wirtschaftswunder zu wiederholen, und nach dem erfolglosen Versuch, das Wirtschaftswunder auf Ostdeutschland zu übertragen, wiederum eine konservativ-liberale Regierung nichts anderes im Sinn hat, als über Steuersenkungen und Bürokratieabbau ein »Wirtschaftswunder« in Gang zu setzen, dann läuft etwas fundamental schief in diesem Land.
Gibt es keine andere Politik, mit der man eine Wirtschaft beleben und am Laufen halten kann? Gibt es keinen größeren Plan, keine größeren Instrumente, mit denen man dafür sorgen kann, dass Unternehmen investieren und Arbeitsplätze schaffen? Ist das die Idee für ein gesellschaftliches System, in dem wir auf Dauer leben wollen und können? Ein System, in dem es nur diese beiden Instrumente gibt, um die Wirtschaft mit der Natur in Übereinstimmung zu bringen, um Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, um den Bürgern die Teilhabe am Fortschritt der Gesellschaft zu erlauben? Das kann und das darf nicht wahr sein!
Es wird sich im Laufe dieses Buches immer wieder zeigen, dass unsere Politiker nicht sehen, dass die Marktwirtschaft nur überleben kann, wenn wir ein System schaffen, das nicht dazu da ist, einigen Wenigen Reichtum zu ermöglichen, sondern das genau umgekehrt gestrickt sein muss: Wer allen Bürgern eine systematische Chance auf die Verbesserung ihrer Lebensumstände gibt, kann es hinnehmen, dass im Zuge dessen ein paar Wenige etwas reicher werden als die Anderen.
Stattdessen wird heute schon die Tatsache, dass der Bürger überlebt, ohne zu hungern und vollständig aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden, als Beweis dafür genommen, dass die Marktwirtschaft sozial ist. Es geht nicht mehr um die Teilhabe der Menschen am Fortschritt, sondern es geht nur noch darum, dass der »Leistungsträger« angemessen entlohnt wird und der Rest nicht vollständig unter den Tisch fällt.
Dieses System fährt gegen die Wand. Dieses System wird die nächsten Jahre nicht überleben. Die Verzweiflung der Bürger und die Frustration der Wähler mit den Parteien hat ohnehin schon dazu geführt haben, dass die Masse nicht mehr versteht, warum sie dieses und nicht ein anderes System gewählt hat. Deswegen müssen wir die Marktwirtschaft für das 21. Jahrhundert neu erfinden. In der Tat, es geht um ein Wirtschaftswunder. Aber ein neues Wirtschaftswunder wird nicht gelingen, wenn wir nicht begreifen, was die entscheidenden Bestandteile des damaligen Wirtschaftswunders waren und wie sie in die heutige Zeit versetzt werden können.
Dabei darf man allerdings nicht nur bei nationalen Befindlichkeiten und Lösungen verharren. Ein integraler Bestandteil der neuen sozialen Marktwirtschaft muss die Fähigkeit der Nationen sein, miteinander harmonisch umzugehen. Auch das war, wie im Vorwort erwähnt, ein vergessener Teil des alten Wirtschaftswunders, das mit dem Namen von John Maynard Keynes verbunden sein sollte. Es war nämlich dieser John Maynard Keynes, der entscheidend dazu beigetragen hat, dass das alte Wirtschaftswunder möglich wurde, und zwar nicht nur als Wirtschaftswunder für Deutschland, sondern als Wirtschaftswunder für fast die gesamte Welt. Dieser Grundgedanke ist heute noch viel wichtiger als vor 60 Jahren. Wenn es nicht gelingt, den Wettkampf der Nationen zu beenden, um zurückzukehren zu einer Welt, in der Handel keine Einbahnstraße ist, dann können wir national tun und lassen, was wir wollen, es wird nichts nützen.
Die unmittelbaren Folgen der Kapitulation der Politik vor den Unternehmern habe ich in meinem Buch Gescheitert an vielen Beispielen geschildert. Das wirtschaftliche System versagt, weil es nicht mehr aus einem Zusammenspiel von unabhängiger Politik, Unternehmertum und Arbeitnehmerinteressen gebildet wird, sondern weil die Politik von vornherein darauf ausgerichtet ist, die Arbeitnehmer zu schwächen und die Unternehmer zu stärken.
Nun mag man sagen, das sei ja klar, Geld regiert die Welt. Und doch ist das nicht ganz richtig. Die Duldungsstarre, mit der die Gewerkschaften ihren Niedergang verfolgt und hingenommen haben, die Unfähigkeit der Linken, eine alternative Politik zu definieren, und die Sprachlosigkeit weiter Teile des aufgeklärten Bürgertums erklären sich nicht allein mit dem Geld und dem Einfluss der Unternehmer.
Vieles erklärt sich erst, wenn man das »Weltbild« zur Kenntnis nimmt, das die übergroße Mehrheit der Ökonomen in den letzten 30 Jahren von der Wirtschaft geschaffen hat. Ohne das dauernde ideologische Trommelfeuer der herrschenden Auffassung in der Volkswirtschaftslehre hätte es diesen klaren Sieg des Neoliberalismus niemals gegeben. Nun kann man natürlich wiederum sagen, auch die Ökonomen waren alle gekauft - es gibt Anzeichen dafür, dass das bei nicht wenigen der Fall war -, aber auch das ist nicht der einzige Grund. Wie hätte es sonst dazu kommen können, dass auch viele Linke und honorige Keynesianer, die sicher nicht gekauft sind, dem Irrglauben anhängen, der Arbeitsmarkt funktioniere wie der Kartoffelmarkt?
Wir machen es uns zu leicht, wenn wir alles mit Konspiration erklären wollen. Natürlich gibt es Macht, natürlich gibt es massive Einflussnahme auf die Politik. Aber das würde die Welt nicht in der Art und Weise beeinflussen, wie wir es sehen, wenn die große Mehrheit der Ökonomen die Welt ganz anders deuten würde. Nein, machen wir uns nichts vor: Wenn selbst die linken Ökonomen und Politiker nicht in der Lage sind, die traditionellen Vorstellungen vom Funktionieren des Arbeitsmarktes radikal über Bord zu werfen - um nur ein wichtiges Beispiel zu nennen -, ist es müßig, über die große Konspiration der Arbeitgeber zu philosophieren.
Schließlich, und das ist für mich das zentrale Argument, würden die Konservativ-Liberalen eine völlig andere Politik machen, wenn sie das System verstehen und systematisch zu Gunsten der Unternehmer ausnutzen wollten. Denn das, was wir in den letzten Jahrzehnten, sowohl von schwarz-gelber wie von rot-grüner Seite gesehen haben, war auch für die Unternehmen keine gute Politik. Es war für die Mehrzahl der Unternehmen sogar eine Katastrophe, denn Deutschland war bis zum Jahre 2003 das absolute Wachstumsschlusslicht in Europa und hat nur Dank eines einseitigen Exportbooms in den Jahren danach eine gewisse Erleichterung erfahren. Die Investitionen in Sachanlagen sind überhaupt nicht gestiegen, im deutschen Binnenmarkt sind haufenweise Unternehmen pleite gegangen, der berühmte deutsche Mittelstand ist in erheblichen Teilen ruiniert, und nur die großen Exportunternehmen waren die Gewinner der vollkommen fehlgeleiteten und merkantilistischen deutschen Politik.
Wenn die Politiker das System verstehen würden, würden sie es nicht in große Krisen geraten lassen. Dem Hype um die Finanzmärkte folgte die Krise der Finanzmärkte. Wäre ein Politiker, der diese Märkte und ihre Refugien schützen will, mit offenen Augen in die Krise gelaufen? Sicherlich nicht! Hätte ein Politiker, der den deutschen Exportunternehmen auf Dauer Gutes tun will, die Krise des Euro angezettelt, in der am Ende die einzige Lösung sein wird, dass die deutschen Unternehmen klein beigeben und ihre Marktanteile wieder abgeben?
Nein, diejenigen, die versuchen, durch Aufklärung die Dinge voranzubringen, dürfen nicht aufgeben. Man darf sich nicht entmutigen lassen von den scheinbaren Misserfolgen, von den dicken Brettern vor den Köpfen, natürlich auch nicht von der Macht derer, die glauben, die Welt kaufen zu können.
Dennoch, realistisch muss man sein! Man muss Machtkonstellationen analysieren, und man muss wissen, dass in den Märkten Macht eine entscheidende Dimension ist. Aber man sollte auch die Macht des Wissens nicht unterschätzen. Wenn Bürokratieabbau und Steuersenkung das Einzige sind, was einer konservativliberalen Regierung einfällt, um ihre Art von Marktwirtschaft zu retten, dann haben die Aufklärer eine Chance. Wenn alle, die guten Willens sind, versuchen, einige zentrale Elemente eines alternativen Ansatzes zu verstehen und umzusetzen, dann kann das gelingen. Auch 1998, als nach 16 Jahren konservativer Politik das rot-grüne Projekt begann, hätte man dazu die Chance gehabt. Es gab aber weder in der Sozialdemokratie noch bei den Grünen eine kritische Masse von Wissen, die dem Lobbyismus der Berliner Unternehmerrepublik hätte standhalten können.
Die Finanzkrise bot und bietet eine Chance. Zwar hat sich die deutsche Regierung bis jetzt bemüht, nichts zu tun, um den Finanzmärkten Einhalt zu gebieten, aber das wird sich bitter rächen. Wir werden die nächsten Blasen erleben und wir werden erleben, dass ihr Platzen den Staat erneut vor die fatale Entscheidung stellen wird, ob er unreformierte Banken retten will oder nicht. Dann wird man nicht mehr sagen können, wir hätten es nicht gewusst. Dann wird man sagen müssen, wir haben es gewusst, aber wir haben nichts getan. Wir werden sehen, dass die Konjunktureuphorie, die zur Jahresmitte 2010 herrscht, Ernüchterung Platz macht, weil die Erholung wieder nur auf Exportsand gebaut ist.
Dann wird sich auch hier die Frage stellen, greift der Staat -Sparpaket hin oder her - wieder in expansiver Richtung in die Wirtschaft ein oder nicht? Dann werden die Regierenden und die sie beratenden Ökonomen darlegen müssen, warum ihre Konjunkturhoffnungen getrogen haben. Dann wird man erläutern müssen, wie es einen Aufschwung geben soll, ohne dass die Menschen mit der berechtigten Erwartung in die Zukunft schauen, dass ihr Einkommen wieder einmal steigen wird und sie teilhaben am Gesamterfolg der Gesellschaft. Dann wird die Politik erklären müssen, wo der Export auf Dauer herkommen soll, wenn die Exportmärkte sich deutsche Produkte nicht mehr leisten können. Dann wird man auch eine Begründung dafür finden müssen, warum man im Jahr 2009 hektisch in einer großen Koalition eine Schuldenbremse in die Verfassung geschrieben hat, die sich schon zwei Jahre später als fatale Bremse für vernünftiges Handeln erweist.
All das ist nicht zu erklären. Und selbst wenn alle Medien auf der Seite der herrschenden Meinung sind, es wird niemanden mehr überzeugen. An dem Punkt werden die Menschen - in ähnlicher Weise wie in den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts - eine Schicksalsfrage zu entscheiden haben, und dann wäre es gut, wenn es nicht nur zwei extreme Positionen gäbe. Es wäre gut, wenn zwischen der Rechten und der Linken eine Position der Vernunft zu finden wäre, die das System der Marktwirtschaft nicht in Bausch und Bogen verdammt, aber auch nicht zum Heiligtum erklärt, das doch nur dem Schutz der Geldmächtigen dient.
Der Rückzug des Staates muss gestoppt werden. Marktwirtschaft kann ähnlich wie ein Fußballspiel nicht ohne strikte Regeln und ohne durchgreifende Schiedsrichter funktionieren. Das würde auch jeder gute Ordoliberale aus der Freiburger Schule unterschreiben. Es ist aber nicht genug. Es muss nicht nur jedes Spiel auf jedem Markt vom Staat geleitet werden, der Staat muss auch und in jeder Hinsicht konsequent darüber entscheiden, ob überhaupt ein Markt vorliegt und ob der Markt eine vernünftige Lösung erwarten lässt. Diese Einsicht ist untergegangen in der ideologischen Auseinandersetzung Staat gegen Markt, die die letzten 30 Jahre geprägt hat. Darüber hinaus muss der Staat zwingend und permanent das gesamte System makroökonomisch steuern. Eine Marktwirtschaft entwickelt sich nicht von alleine in die richtige Richtung und schon gar nicht mit dem richtigen Tempo. Zentrale Preise wie Zinsen, Wechselkurse und die Preise für umweltrelevante Güter müssen vom Staat bzw. von den Staaten in Kooperation festgelegt werden.
So ergibt sich ein System, in dem der Markt vielleicht nur noch die Minderheit ist. Aber das schadet nicht. Es geht eben nicht darum, ob wir für den Markt oder für den Staat sind, es geht alleine darum, ob wir für ein bestimmtes Problem eine vernünftige Lösung finden. Ist diese Lösung stärker vom Markt getragen, ist es gut, ist sie stärker vom Staat getragen, ist es auch gut.
Der naive Glaube an den Rückzug des Staates, an Steuersenkung, Deregulierung und an Privatisierung hat sich als Irrglaube erwiesen. Auch der Glaube an den Exportüberschuss, die immerwährende Kraft des Gewinnens gegenüber anderen Nationen muss zu Grabe getragen werden. Die gewaltigen globalen Ungleichgewichte und die nicht minder großen Ungleichgewichte in der Europäischen Währungsunion sind ein Warnsignal ersten Ranges. Wer Exportweltmeister sein will, muss auch Importwelt meister sein. Es geht nicht an, dass Länder wie Deutschland, China und Japan immer Überschüsse haben und andere Länder wie die USA und Großbritannien, Frankreich, Italien und die südeuropäischen Länder in der Europäischen Währungsunion immer Defizite. Die Schuldenberge, die diese nicht mehr wettbewerbsfähigen Volkswirtschaften auftürmen, können nicht zurückgezahlt werden. Die Gläubiger stehen mit leeren Händen da, und am Ende müssen die Währungen von Defizitländern abgewertet werden, um den Überschussländern ihre Exportvorteile zu nehmen.
Wir müssen genauer analysieren, wie die wichtigsten Märkte, die eine soziale Marktwirtschaft tragen, wirklich funktionieren. Die Verherrlichung der Finanzmärkte muss ebenso beendet werden wie das Abmeiern der Arbeitsmärkte. Es ist genau falsch herum, was die Politiker der neoliberal konservativen Regierungen der letzten 30 Jahre uns haben glauben machen wollen: Es sind nicht die Finanzmärkte, die zum Wohlstand beitragen, und es ist nicht die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, die Vollbeschäftigung herstellt. Es sind vielmehr hoch motivierte Investoren in Sachkapital und Arbeitskräfte, die mit guten Ideen den Wohlstand sichern.
Damit die Marktwirtschaft unter den Bedingungen, die wir in dieser Gesellschaft für vernünftig und für richtig halten, funktioniert, muss es eine Machtbalance am Arbeitsmarkt geben. Das bedeutet einerseits, dass der Niedergang der Gewerkschaften aufgehalten werden muss, damit sie wieder als gleichberechtigte Partner des Kapitals auftreten können. Um das zu gewährleisten, müssen der Sozialabbau und die geradezu lächerliche Diskussion über Lohnabstandsgebote und ähnliche Kinkerlitzchen beendet werden. Das bedeutet aber andererseits, dass sich der Staat in Deutschland bereit erklärt, die zentrale makroökonomische Aufgabe zu akzeptieren, das heißt, für Vollbeschäftigung zu sorgen. Denn nur wenn der Staat für Vollbeschäftigung sorgt, sind die Machtverhältnisse am Arbeitsmarkt so, dass gesellschaftliche Ergebnisse erwartet werden können, die einer sozialen Marktwirtschaft würdig sind.
Für Vollbeschäftigung zu sorgen bedeutet auch, dass der Ideologie der Unabhängigkeit der Zentralbanken endlich abzuschwören ist. In der Krise hat sich ohnehin gezeigt, dass Zentralbanken, wenn die Not groß ist, sofort und ohne dass politischer Widerspruch geduldet werden könnte, eingreifen müssen, um das Schlimmste zu verhindern. Der zentrale Geburtsfehler der Europäischen Währungsunion war, dass man der Zentralbank die Verantwortung für Beschäftigung nicht gegeben hat.1 Die große Krise der Europäischen Währungsunion, an deren Wurzel das deutsche Lohndumping steht, unterstreicht dies eindrücklich. Die Europäische Zentralbank hat von Anfang an nicht versucht, in der Frage der Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Mitgliedstaaten der Politik aufklärend zur Seite zu stehen. Stattdessen hat sich die Zentralbank in der Rolle gefallen, unterstützt von besonders konservativen nationalen Zentralbanken wie etwa der Deutschen Bundesbank, die Ideologie der Flexibilisierung der Arbeitsmärkte hochzuhalten, weil diese Ideologie es ihr ermöglichte, die andere Ideologie zu verteidigen - wonach die Inflationsrate unabhängig von den Arbeitsmärkten und geldneutral ist.
Das alles kann aber nur gelingen, wenn der MakroÖkonomik wieder zu ihrem Recht verholfen wird. Dazu braucht man eine ganz neue kritische gesellschaftliche Diskussion dieser Fragen. Wirtschaftsfragen sind zu wichtig, als dass sie der Staat der zufälligen Selektion von Universitäten überlassen könnte. Es gab in Deutschland einmal eine Reihe von relativ unabhängigen Instituten, die dafür sorgen sollten, dass relevante akademische Erkenntnisse umgesetzt werden konnten in praktische Wirtschaftspolitik. Diese Institute, einst hießen sie die führenden Wirtschaftsforschungs-institute, hat man durch den Wissenschaftsrat ihrer eigentlichen Funktion berauben lassen. Man hat sie zu rein akademischen Instituten umgebildet, die sich im Rattenrennen um Veröffentlichungen in sogenannten anerkannten Zeitschriften behaupten müssen. Das Ergebnis ist, dass diese Institute keinerlei wirtschaftspolitisch relevantes Wissen mehr produzieren, aber noch mehr von dem Schrott, mit dem uns die Universitäten überfluten.
Es gibt für einen Ökonomieprofessor an einer Universität keinerlei Zwang, sich mit einer wirtschaftspolitisch relevanten Frage auseinanderzusetzen. Es ist sogar genau umgekehrt: Je irrelevanter seine Fragestellung, umso leichter fällt es ihm, in einem der berühmten »anerkannten Journals« zu veröffentlichen. Denn nur wer eine kleine Schraube in einer ganz kleinen Nische des akademischen Hauses der Ökonomik ändert oder fester dreht, hat die Chance, überhaupt gehört zu werden. Wer sagt, das ganze Haus sei schief und krumm, wer sagt, die Statik sei schon immer falsch berechnet gewesen, wird national wie international ignoriert. Es ist geradezu zum Credo der akademischen Ökonomik in den letzten Jahrzehnten geworden, das »Standardmodell« nicht infrage zu stellen, sondern sich lediglich darauf zu konzentrieren, dieses Standardmodell zu »verbessern«. Das Standardmodell aber reflektiert nichts anderes als den Versuch, den Markt als die absolute und übergreifende Macht des Gesellschaftslebens zu installieren. Nur was einer Marktlösung zugänglich ist, ist in dieser abwegigen Vorstellung überhaupt würdig, einer akademischen Erörterung zuteil zu werden.
Auch hier braucht man einen vollkommenen Neuanfang. Es müssen ökonomische Institutionen und Sachverständigenräte geschaffen werden, die unabhängig und mit Ökonomen unterschiedlicher Ausrichtung besetzt werden und systematisch das Pro und Kontra bestimmter Politikoptionen diskutieren und veröffentlichen. Es ist vorbildlich, dass der amerikanische Kongress im Jahr 2009 eine Entschließung gefasst hat, die daraufhinausläuft, dass von nun an keine ökonomische Institution und kein Beratungsgremium mehr besetzt werden dürfen, ohne dass unterschiedlich ausgerichtete Wissenschaftler in ihnen vertreten sind.
»Die Regierung, die Industrie, die Wall Street und die Wissenschaft beschäftigen typischerweise Ökonomen, die alle eine ähnliche Ausbildung und einen ähnlichen Hintergrund haben und die dann Vorhersagen treffen, welche Optimismus verbreiten und alle in die gleiche ökonomische Richtung laufen... Wenn ein Financial Risk Couneil aus Mitgliedern besteht, die ganz unterschiedlichen Strömungen angehören, können ein allzu optimistischer Konsens und die üblichen Weisheiten vermieden werden. Dadurch würde der Kongress in die Lage versetzt, sich in angemessener Weise und konzentriert mit den bekannten und unbekannten Risiken auf einem komplexen, hoch interaktiven Gebiet zu beschäftigen.«
Man muss die Politik zwingen, sich mit unterschiedlichen Positionen auseinanderzusetzen. Wir haben in den letzten Jahren ein unvorstellbares Klein-Klein erlebt, wenn es um wirtschaftspolitische Konzeptionen ging. Reformen des Gesundheitswesens wurden als eine bedeutende wirtschaftspolitische Errungenschaft betrachtet. Die schon nach zwei Jahren vollkommen irrelevante Verfassungsreform, die Föderalismusreform genannt wurde, stand für viele für einen wirtschaftspolitischen Neuanfang, für den berühmten Ruck, den der frühere Bundespräsident Herzog schon vor über zehn Jahren dem deutschen Volk unsinnigerweise anempfohlen hat.
Eng verbunden mit dem Versagen der Ökonomen ist der Aufstieg der Juristen. Ihre Dominanz in den Ministerien und übrigen Verwaltungen hat den Aufstieg des einzelwirtschaftlich- unternehmerischen Denkens dramatisch beschleunigt. Da Juristen überhaupt nicht dafür ausgebildet sind, gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge zu verstehen und zu bewerten, neigen sie intuitiv dazu, einzelwirtschaftliches Denken unmittelbar für jede Art der wirtschaftlichen Entscheidung zu verwenden. So gibt es bei Konflikten zwischen Gewerkschaften und Unternehmern für den Juristen nur den Ausgleich der unterschiedlichen Interessen, er wird aber niemals eine eigenständige Wertung der Interessen vor einem übergeordneten Hintergrund vornehmen. Wo ein gut ausgebildeter Volkswirt sagen könnte, dass in manchen Situationen beide Seiten, Unternehmer und Gewerkschaften, gesamtwirtschaftlich Falsches tun, ist ein derartiges Urteil für den Juristen undenkbar. Bei widerstreitenden Interessen kann es für ihn nur einen Kompromiss in der Mitte geben. Das gilt auch für alle übrigen Bereiche der Politik. Ich habe selbst erlebt, wie Juristen in Ministerien in der Frage internationaler Finanzkrisen juristisch geurteilt haben, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung davon zu haben, welches Problem überhaupt zu lösen war.
Wer die Materie nicht versteht, hält sich an das Verfahren der Konfliktbereinigung und sonst nichts. Folglich werden Interessen definiert, also etwa »Interessen« von Ländern, die in einer Finanzkrise stecken, und das Interesse des eigenen Landes, soweit es unmittelbar und konkret greifbar ist, und es wird eine Lösung gesucht durch Aushandeln dieser verschiedenen Interessenstandpunkte. Das ist zwar in den meisten Fällen vollkommen unsinnig, wie später zu zeigen sein wird, aber es schafft eine scheinbar praktikable Vorgehensweise, ganz gleich wie schlimm die mittel- bis langfristigen Folgen dieser Vorgehensweise sind.
Den gleichen Irrsinn erleben wir in den Klimaschutzverhandlungen. Jedes Land definiert nationale Interessen und verteidigt dann seine vermeintlichen Interessen mit Zähnen und Klauen gegen die vermeintlichen Interessen der anderen. Interesse wird dabei einfach definiert als die Möglichkeit, das eigene Verhalten trotz der drängenden Klimaschutzfrage möglichst wenig zu ändern. Nie wird die schlichte Frage gestellt, warum es sinnvoll sein soll, das eigene Verhalten in einer Welt, die sich laufend und schnell ändert, möglichst wenig anzupassen. Es werden nur bereits vorhandene Interessen berücksichtigt und alle anderen Interessen, also Interessen, die sich noch nicht am Markt und in den Lobbys manifestieren, von vorneherein als irrelevant ausgeschlossen. So wird auch der Natur kein eigenständiges Interesse eingeräumt. Deswegen darf man die Natur genau bis zu dem Punkt ausbeuten, wo man mit den Interessen anderer Menschen, anderer Nationen oder sonstiger menschlicher Institutionen in Konflikt gerät. Ob das für die Natur selbst verträglich ist, wird nicht gefragt, weil die Natur ja keine Anwaltskanzleien beauftragen kann, ihre »Interessen« zu vertreten.