Читать книгу Der Untertan - Heinrich Mann - Страница 8

I.

Оглавление

Die­de­rich Hess­ling war ein wei­ches Kind, das am liebs­ten träum­te, sich vor al­lem fürch­te­te und viel an den Ohren litt. Un­gern ver­ließ er im Win­ter die war­me Stu­be, im Som­mer den en­gen Gar­ten, der nach den Lum­pen der Pa­pier­fa­brik roch und über des­sen Gold­re­gen- und Flie­der­bäu­men das höl­zer­ne Fach­werk der al­ten Häu­ser stand. Wenn Die­de­rich vom Mär­chen­buch, dem ge­lieb­ten Mär­chen­buch, auf­sah, er­schrak er manch­mal sehr. Ne­ben ihm auf der Bank hat­te ganz deut­lich eine Krö­te ge­ses­sen, halb so groß wie er selbst! Oder an der Mau­er dort drü­ben stak bis zum Bauch in der Erde ein Gnom und schiel­te her!

Fürch­ter­li­cher als Gnom und Krö­te war der Va­ter, und oben­drein soll­te man ihn lie­ben. Die­de­rich lieb­te ihn. Wenn er ge­nascht oder ge­lo­gen hat­te, drück­te er sich so lan­ge schmat­zend und scheu we­delnd am Schreib­pult um­her, bis Herr Hess­ling et­was merk­te und den Stock von der Wand nahm. Jede nicht her­aus­ge­kom­me­ne Un­tat misch­te in Die­de­richs Er­ge­ben­heit und Ver­trau­en einen Zwei­fel. Als der Va­ter ein­mal mit sei­nem in­va­li­den Bein die Trep­pe her­un­ter­fiel, klatsch­te der Sohn wie toll in die Hän­de – wor­auf er weg­lief.

Kam er nach ei­ner Abstra­fung mit ge­dun­se­nem Ge­sicht und un­ter Ge­heul an der Werk­stät­te vor­bei, dann lach­ten die Ar­bei­ter. So­fort aber streck­te Die­de­rich nach ih­nen die Zun­ge aus und stampf­te. Er war sich be­wusst: »Ich habe Prü­gel be­kom­men, aber von mei­nem Papa. Ihr wä­ret froh, wenn ihr auch Prü­gel von ihm be­kom­men könn­tet. Aber da­für seid ihr viel zu we­nig.«

Er be­weg­te sich zwi­schen ih­nen wie ein lau­nen­haf­ter Pa­scha; droh­te ih­nen bald, es dem Va­ter zu mel­den, dass sie sich Bier hol­ten, und bald ließ er ko­kett aus sich die Stun­de her­aus­schmei­cheln, zu der Herr Hess­ling zu­rück­keh­ren soll­te. Sie wa­ren auf der Hut vor dem Prin­zi­pal:1 er kann­te sie, er hat­te selbst ge­ar­bei­tet. Er war Büt­ten­schöp­fer ge­we­sen in den al­ten Müh­len, wo je­der Bo­gen mit der Hand ge­formt ward; hat­te da­zwi­schen alle Krie­ge mit­ge­macht und nach dem letz­ten, als je­der Geld fand, eine Pa­pier­ma­schi­ne kau­fen kön­nen. Ein Hol­län­der und eine Schnei­de­ma­schi­ne ver­voll­stän­dig­ten die Ein­rich­tung. Er selbst zähl­te die Bo­gen nach. Die von den Lum­pen ab­ge­trenn­ten Knöp­fe durf­ten ihm nicht ent­ge­hen. Sein klei­ner Sohn ließ sich oft von den Frau­en wel­che zu­ste­cken, da­für, dass er die nicht an­gab, die ei­ni­ge mit­nah­men. Ei­nes Ta­ges hat­te er so vie­le bei­sam­men, dass ihm der Ge­dan­ke kam, sie beim Krä­mer ge­gen Bon­bons um­zut­au­schen. Es ge­lang – aber am Abend knie­te Die­de­rich, in­des er den letz­ten Malz­zu­cker zer­lutsch­te, sich ins Bett und be­te­te, angst­ge­schüt­telt, zu dem schreck­li­chen lie­ben Gott, er möge das Ver­bre­chen un­ent­deckt las­sen. Er brach­te es den­noch an den Tag. Dem Va­ter, der im­mer nur me­tho­disch, Ehren­fes­tig­keit und Pf­licht auf dem ver­wit­ter­ten Un­ter­of­fi­ziers­ge­sicht, den Stock ge­führt hat­te, zuck­te dies­mal die Hand, und in die eine Bürs­te sei­nes sil­be­ri­gen Kai­ser­bar­tes lief, über die Run­zeln hüp­fend, eine Trä­ne. »Mein Sohn hat ge­stoh­len«, sag­te er au­ßer Atem, mit dump­fer Stim­me, und sah sich das Kind an wie einen ver­däch­ti­gen Ein­dring­ling. »Du be­trügst und stiehlst. Du brauchst nur noch einen Men­schen tot­zu­schla­gen.«

Frau Hess­ling woll­te Die­de­rich nö­ti­gen, vor dem Va­ter hin­zu­fal­len und ihn um Ver­zei­hung zu bit­ten, weil der Va­ter sei­net­we­gen ge­weint habe! Aber Die­de­richs In­stinkt sag­te ihm, dass dies den Va­ter nur noch mehr er­bost ha­ben wür­de. Mit der ge­fühls­se­li­gen Art sei­ner Frau war Hess­ling durch­aus nicht ein­ver­stan­den. Sie verd­arb das Kind fürs Le­ben. Üb­ri­gens er­tapp­te er sie ge­ra­de­so auf Lü­gen wie den Die­del. Kein Wun­der, da sie Ro­ma­ne las! Am Sonn­abend­a­bend war nicht im­mer die Wo­chen­ar­beit ge­tan, die ihr auf­ge­ge­ben war. Sie klatsch­te, an­statt sich zu rüh­ren, mit dem Dienst­mäd­chen … Und Hess­ling wuss­te noch nicht ein­mal, dass sei­ne Frau auch nasch­te, ge­ra­de wie das Kind. Bei Tisch wag­te sie sich nicht satt zu es­sen und schlich nach­träg­lich an den Schrank. Hät­te sie sich in die Werk­statt ge­traut, wür­de sie auch Knöp­fe ge­stoh­len ha­ben.

Sie be­te­te mit dem Kind »aus dem Her­zen«, nicht nach For­meln, und be­kam da­bei ge­röte­te Wan­gen­kno­chen. Sie schlug es auch, aber Hals über Kopf und ver­zerrt von Rach­sucht. Oft war sie da­bei im Un­recht. Dann droh­te Die­de­rich, sie beim Va­ter zu ver­kla­gen; tat so, als gin­ge er ins Kon­tor, und freu­te sich ir­gend­wo hin­ter ei­ner Mau­er, dass sie nun Angst hat­te. Ihre zärt­li­chen Stun­den nütz­te er aus; aber er fühl­te gar kei­ne Ach­tung vor sei­ner Mut­ter. Ihre Ähn­lich­keit mit ihm selbst ver­bot es ihm. Denn er ach­te­te sich selbst nicht, da­für ging er mit ei­nem zu schlech­ten Ge­wis­sen durch sein Le­ben, das vor den Au­gen des Herrn nicht hät­te be­ste­hen kön­nen.

Den­noch hat­ten die bei­den von Ge­müt über­flie­ßen­de Däm­mer­stun­den. Aus den Fes­ten press­ten sie ge­mein­sam, ver­mit­tels Ge­sang, Kla­vier­spiel und Mär­chen­er­zäh­len, den letz­ten Trop­fen Stim­mung her­aus. Als Die­de­rich am Christ­kind zu zwei­feln an­fing, ließ er sich von der Mut­ter be­we­gen, noch ein Weil­chen zu glau­ben, und er fühl­te sich da­durch er­leich­tert, treu und gut. Auch an ein Ge­s­penst, dro­ben auf der Burg, glaub­te er hart­nä­ckig, und der Va­ter, der hier­von nichts hö­ren woll­te, schi­en zu stolz, bei­na­he straf­wür­dig. Die Mut­ter nähr­te ihn mit Mär­chen. Sie teil­te ihm ihre Angst mit vor den neu­en, be­leb­ten Stra­ßen und der Pfer­de­bahn, die hin­durch­fuhr, und führ­te ihn über den Wall nach der Burg. Dort ge­nos­sen sie das woh­li­ge Grau­sen.

Ecke der Mei­se­stra­ße hin­wie­der muss­te man an ei­nem Po­li­zis­ten vor­über, der, wen er woll­te, ins Ge­fäng­nis ab­füh­ren konn­te! Die­de­richs Herz klopf­te be­weg­lich; wie gern hät­te er einen wei­ten Bo­gen ge­macht! Aber dann wür­de der Po­li­zist sein schlech­tes Ge­wis­sen er­kannt und ihn auf­ge­grif­fen ha­ben. Es war viel­mehr ge­bo­ten, zu be­wei­sen, dass man sich rein und ohne Schuld fühl­te – und mit zit­tern­der Stim­me frag­te Die­de­rich den Schutz­mann nach der Uhr.

*

Nach so vie­len furcht­ba­ren Ge­wal­ten, de­nen man un­ter­wor­fen war, nach den Mär­chen­krö­ten, dem Va­ter, dem lie­ben Gott, dem Burg­ge­spenst und der Po­li­zei, nach dem Schorn­stein­fe­ger, der einen durch den gan­zen Schlot schlei­fen konn­te, bis man auch ein schwar­zer Mann war, und dem Dok­tor, der einen im Hals pin­seln durf­te und schüt­teln, wenn man schrie – nach al­len die­sen Ge­wal­ten ge­riet nun Die­de­rich un­ter eine noch furcht­ba­re­re, den Men­schen auf ein­mal ganz ver­schlin­gen­de: die Schu­le. Die­de­rich be­trat sie heu­lend, und auch die Ant­wor­ten, die er wuss­te, konn­te er nicht ge­ben, weil er heu­len muss­te. All­mäh­lich lern­te er den Drang zum Wei­nen ge­ra­de dann aus­zu­nut­zen, wenn er nicht ge­lernt hat­te – denn alle Angst mach­te ihn nicht flei­ßi­ger oder we­ni­ger träu­me­risch – und ver­mied so, bis die Leh­rer sein Sys­tem durch­schaut hat­ten, man­che üb­len Fol­gen. Dem ers­ten, der es durch­schau­te, schenk­te er sei­ne gan­ze Ach­tung; er war plötz­lich still und sah ihn, über den ge­krümm­ten und vors Ge­sicht ge­hal­te­nen Arm hin­weg, voll scheu­er Hin­ga­be an. Im­mer blieb er den schar­fen Leh­rern er­ge­ben und will­fäh­rig. Den gut­mü­ti­gen spiel­te er klei­ne, schwer nach­weis­ba­re Strei­che, de­ren er sich nicht rühm­te. Mit viel grö­ße­rer Ge­nug­tu­ung sprach er von ei­ner Ver­hee­rung in den Zeug­nis­sen, von ei­nem rie­si­gen Straf­ge­richt. Bei Tisch be­rich­te­te er: »Heu­te hat Herr Behn­ke wie­der drei durch­ge­hau­en.« Und wenn ge­fragt ward, wen?

»Ei­ner war ich.«

Denn Die­de­rich war so be­schaf­fen, dass die Zu­ge­hö­rig­keit zu ei­nem un­per­sön­li­chen Gan­zen, zu die­sem un­er­bitt­li­chen, men­schen­ver­ach­ten­den, ma­schi­nel­len Or­ga­nis­mus, der das Gym­na­si­um war, ihn be­glück­te, dass die Macht, die kal­te Macht, an der er selbst, wenn auch nur lei­dend, teil­hat­te, sein Stolz war. Am Ge­burts­tag des Or­di­na­ri­us be­kränz­te man Ka­the­der und Ta­fel. Die­de­rich um­wand so­gar den Rohr­stock.

Im Lauf der Jah­re be­rühr­ten zwei über Macht­ha­ber her­ein­ge­bro­che­ne Ka­ta­stro­phen ihn mit hei­li­gem und süßem Schau­der. Ein Hilfs­leh­rer ward vor der Klas­se vom Di­rek­tor her­un­ter­ge­macht und ent­las­sen. Ein Ober­leh­rer ward wahn­sin­nig. Noch hö­he­re Ge­wal­ten, der Di­rek­tor und das Ir­ren­haus, wa­ren hier gräss­lich mit de­nen ab­ge­fah­ren, die bis eben so hohe Ge­walt hat­ten. Von un­ten, klein aber un­ver­sehrt, durf­te man die Lei­chen be­trach­ten und aus ih­nen eine die ei­ge­ne Lage mil­dern­de Leh­re zie­hen.

Die Macht, die ihn in ih­rem Rä­der­werk hat­te, vor sei­nen jün­ge­ren Schwes­tern ver­trat Die­de­rich sie. Sie muss­ten nach sei­nem Dik­tat schrei­ben und künst­lich noch mehr Feh­ler ma­chen, als ih­nen von selbst ge­lan­gen, da­mit er mit ro­ter Tin­te wü­ten und Stra­fen aus­tei­len konn­te. Sie wa­ren grau­sam. Die Klei­nen schri­en – und dann war es an Die­de­rich, sich zu de­mü­ti­gen, um nicht ver­ra­ten zu wer­den.

Er hat­te, den Macht­ha­bern nach­zuah­men, kei­nen Men­schen nö­tig; ihm ge­nüg­ten Tie­re, so­gar Din­ge. Er stand am Ran­de des Hol­län­ders und sah die Trom­mel die Lum­pen aus­schla­gen. »Den hast du weg! Un­ter­steht euch noch mal! In­fa­me Ban­de!« mur­mel­te Die­de­rich, und in sei­nen blas­sen Au­gen glomm es. Plötz­lich duck­te er sich; fast fiel er in das Chlor­bad. Der Schritt ei­nes Ar­bei­ters hat­te ihn auf­ge­stört aus sei­nem läs­ter­li­chen Ge­nuss.

Denn recht ge­heu­er und sei­ner Sa­che ge­wiss fühl­te er sich nur, wenn er selbst die Prü­gel be­kam. Kaum je wi­der­stand er dem Übel. Höchs­tens bat er den Ka­me­ra­den: »Nicht auf den Rücken, das ist un­ge­sund.«

Nicht, dass es ihm am Sinn für sein Recht und an Lie­be zum ei­ge­nen Vor­teil fehl­te. Aber Die­de­rich hielt da­für, dass Prü­gel, die er be­kam, dem Schla­gen­den kei­nen prak­ti­schen Ge­winn, ihm selbst kei­nen rea­len Ver­lust zu­füg­ten. Erns­ter als die­se bloß idea­len Wer­te nahm er die Schaum­rol­le, die der Ober­kell­ner vom »Net­zi­ger Hof« ihm schon längst ver­spro­chen hat­te und mit der er nie her­aus­rück­te. Die­de­rich mach­te un­zäh­li­ge Male erns­ten Schrit­tes den Ge­schäfts­weg die Mei­se­stra­ße hin­auf zum Markt, um sei­nen be­frack­ten Freund zu mah­nen. Als der aber ei­nes Ta­ges von sei­ner Ver­pflich­tung über­haupt nichts mehr wis­sen woll­te, er­klär­te Die­de­rich und stampf­te ehr­lich ent­rüs­tet auf: »Jetzt wird mir’s doch zu bunt! Wenn Sie nun nicht gleich her­aus­rücken, sag’ ich’s Ihrem Herrn!« Da­rauf lach­te Schorsch und brach­te die Schaum­rol­le.

Das war ein greif­ba­rer Er­folg. Lei­der konn­te Die­de­rich ihn nur has­tig und in Sor­ge ge­nie­ßen, denn es war zu fürch­ten, dass Wolf­gang Buck, der drau­ßen war­te­te, dar­über zu­kam und den An­teil ver­lang­te, der ihm ver­spro­chen war. In­des fand er Zeit, sich sau­ber den Mund zu wi­schen, und vor der Tür brach er in hef­ti­ge Schimpfre­den auf Schorsch aus, der ein Schwind­ler sei und gar kei­ne Schaum­rol­le habe. Die­de­richs Ge­rech­tig­keits­ge­fühl, das sich zu sei­nen Guns­ten noch eben so kräf­tig ge­äu­ßert hat­te, schwieg vor den An­sprü­chen des an­de­ren – die man frei­lich nicht ein­fach au­ßer acht las­sen durf­te, da­für war Wolf­gangs Va­ter eine viel zu ach­tung­ge­bie­ten­de Per­sön­lich­keit. Der alte Herr Buck trug kei­nen stei­fen Kra­gen, son­dern eine weiß­sei­de­ne Hals­bin­de und dar­über einen großen wei­ßen Kne­bel­bart. Wie lang­sam und ma­je­stä­tisch er sei­nen oben gol­de­nen Stock aufs Pflas­ter setz­te! Und er hat­te einen Zy­lin­der auf, und un­ter sei­nem Über­zie­her sa­hen häu­fig Frack­schö­ße her­vor, mit­ten am Tage! Denn er ging in Ver­samm­lun­gen, er be­küm­mer­te sich um die gan­ze Stadt. Von der Ba­de­an­stalt, vom Ge­fäng­nis, von al­lem, was öf­fent­lich war, dach­te Die­de­rich: »Das ge­hört dem Herrn Buck.« Er muss­te un­ge­heu­er reich und mäch­tig sein. Alle, auch Herr Hess­ling, ent­blö­ßten vor ihm lan­ge den Kopf. Sei­nem Sohn mit Ge­walt et­was ab­zu­neh­men, wäre eine Tat voll un­ab­seh­ba­rer Ge­fah­ren ge­we­sen. Um von den großen Mäch­ten, die er so sehr ver­ehr­te, nicht ganz er­drückt zu wer­den, muss­te Die­de­rich lei­se und lis­tig zu Werk ge­hen.

Ein­mal nur, in Un­ter­ter­tia, ge­sch­ah es, dass Die­de­rich jede Rück­sicht ver­gaß, sich blind­lings be­tä­tig­te und zum sie­ges­trun­ke­nen Un­ter­drücker ward. Er hat­te, wie es üb­lich und ge­bo­ten war, den ein­zi­gen Ju­den sei­ner Klas­se ge­hän­selt, nun aber schritt er zu ei­ner un­ge­wöhn­li­chen Kund­ge­bung. Aus Klöt­zen, die zum Zeich­nen dienten, er­bau­te er auf dem Ka­the­der ein Kreuz und drück­te den Ju­den da­vor in die Knie. Er hielt ihn fest, trotz al­lem Wi­der­stand; er war stark! Was Die­de­rich stark mach­te, war der Bei­fall rings­um, die Men­ge, aus der her­aus Arme ihm hal­fen, die über­wäl­ti­gen­de Mehr­heit drin­nen und drau­ßen. Denn durch ihn han­del­te die Chris­ten­heit von Net­zig. Wie wohl man sich fühl­te bei ge­teil­ter Verant­wort­lich­keit und ei­nem Schuld­be­wusst­sein, das kol­lek­tiv war!

Nach dem Ver­rau­chen des Rau­sches stell­te wohl leich­tes Ban­gen sich ein, aber das ers­te Leh­rer­ge­sicht, dem Die­de­rich be­geg­ne­te, gab ihm al­len Mut zu­rück; es war voll ver­le­ge­nen Wohl­wol­lens. An­de­re be­wie­sen ihm of­fen ihre Zu­stim­mung. Die­de­rich lä­chel­te mit de­mü­ti­gem Ein­ver­ständ­nis zu ih­nen auf. Er be­kam es leich­ter seit­dem. Die Klas­se konn­te die Ehrung dem nicht ver­sa­gen, der die Gunst des neu­en Or­di­na­ri­us be­saß. Un­ter ihm brach­te Die­de­rich es zum Pri­mus und zum ge­hei­men Auf­se­her. We­nigs­tens die zwei­te die­ser Ehren­stel­len be­haup­te­te er auch spä­ter. Er war gut Freund mit al­len, lach­te, wenn sie ihre Strei­che aus­plau­der­ten, ein un­ge­trüb­tes, aber herz­li­ches La­chen, als erns­ter jun­ger Mensch, der Nach­sicht hat mit dem Leicht­sinn – und dann in der Pau­se, wenn er dem Pro­fes­sor das Klas­sen­buch vor­leg­te, be­rich­te­te er. Auch hin­ter­brach­te er die Spitz­na­men der Leh­rer und die auf­rüh­re­ri­schen Re­den, die ge­gen sie ge­führt wor­den wa­ren. In sei­ner Stim­me beb­te, nun er sie wie­der­hol­te, noch et­was von dem wol­lüs­ti­gen Er­schre­cken, wo­mit er sie, hin­ter ge­senk­ten Li­dern, an­ge­hört hat­te. Denn er spür­te, ward ir­gend­wie an den Herr­schen­den ge­rüt­telt, eine ge­wis­se las­ter­haf­te Be­frie­di­gung, et­was ganz un­ter sich Be­we­gen­des, fast wie ein Hass, der zu sei­ner Sät­ti­gung rasch und ver­stoh­len ein paar Bis­sen nahm. Durch die An­zei­ge der an­de­ren sühn­te er die ei­ge­ne sünd­haf­te Re­gung.

An­de­rer­seits emp­fand er ge­gen die Mit­schü­ler, de­ren Fort­kom­men sei­ne Tä­tig­keit in Fra­ge stell­te, zu­meist kei­ne per­sön­li­che Ab­nei­gung. Er be­nahm sich als pflicht­mä­ßi­ger Voll­stre­cker ei­ner har­ten Not­wen­dig­keit. Nach­her konn­te er zu dem Ge­trof­fe­nen hin­tre­ten und ihn, fast ganz auf­rich­tig, be­kla­gen. Einst ward mit sei­ner Hil­fe ei­ner ge­fasst, der schon längst ver­däch­tig war, al­les ab­zu­schrei­ben. Die­de­rich über­ließ ihm, mit Wis­sen des Leh­rers, eine ma­the­ma­ti­sche Auf­ga­be, die in der Mit­te ab­sicht­lich ge­fälscht und de­ren En­d­er­geb­nis den­noch rich­tig war. Am Abend nach dem Zu­sam­men­bruch des Be­trü­gers sa­ßen ei­ni­ge Pri­ma­ner vor dem Tor in ei­ner Gar­ten­wirt­schaft, was zum Schluss der Turn­spie­le er­laubt war, und san­gen. Die­de­rich hat­te den Platz ne­ben sei­nem Op­fer ge­sucht. Ein­mal, als aus­ge­trun­ken war, ließ er die Rech­te vom Krug her­ab auf die des an­de­ren glei­ten, sah ihm treu in die Au­gen und stimm­te in Bas­s­tö­nen, die von Ge­müt schlepp­ten, ganz al­lein an:

»Ich hat­t’ einen Ka­me­ra­den,

einen bes­sern findst du nit …«

Üb­ri­gens ge­nüg­te er bei zu­neh­men­der Schul­pra­xis in al­len Fä­chern, ohne in ei­nem das Maß des Ge­for­der­ten zu über­schrei­ten, oder auf der Welt ir­gen­det­was zu wis­sen, was nicht im Pen­sum vor­kam. Der deut­sche Auf­satz war ihm das Frem­des­te, und wer sich dar­in aus­zeich­ne­te, gab ihm ein un­er­klär­tes Miss­trau­en ein.

Seit sei­ner Ver­set­zung nach Pri­ma galt sei­ne Gym­na­si­al­kar­rie­re für ge­si­chert, und bei Leh­rern und Va­ter drang der Ge­dan­ke durch, er sol­le stu­die­ren. Der alte Hess­ling, der 66 und 71 durch das Bran­den­bur­ger Tor ein­ge­zo­gen war, schick­te Die­de­rich nach Ber­lin.

*

Weil er sich aus der Nähe der Fried­rich­stra­ße nicht fort­ge­trau­te, mie­te­te er sein Zim­mer dro­ben in der Tieck­stra­ße. Jetzt hat­te er nur in ge­ra­der Li­nie hin­un­ter­zu­ge­hen und konn­te die Uni­ver­si­tät nicht ver­feh­len. Er be­such­te sie, da er nichts an­de­res vor­hat­te, täg­lich zwei­mal, und in der Zwi­schen­zeit wein­te er oft vor Heim­weh. Er schrieb einen Brief an Va­ter und Mut­ter und dank­te ih­nen für sei­ne glück­li­che Kind­heit. Ohne Not ging er nur sel­ten aus. Kaum, dass er zu es­sen wag­te; er fürch­te­te, sein Geld vor dem Ende des Mo­nats aus­zu­ge­ben. Und im­mer­fort muss­te er nach der Ta­sche fas­sen, ob es noch da sei.

So ver­las­sen ihm um das Herz war, ging er doch noch im­mer nicht mit dem Brief des Va­ters in die Blü­cher­stra­ße zu Herrn Göp­pel, dem Zel­lu­lo­se­fa­bri­kan­ten, der aus Net­zig war und auch an Hess­ling lie­fer­te. Am vier­ten Sonn­tag be­sieg­te er sei­ne Scheu – und kaum wat­schel­te der ge­drun­ge­ne, ge­röte­te Mann, den er schon so oft beim Va­ter im Kon­tor ge­se­hen hat­te, auf ihn zu, da wun­der­te Die­de­rich sich schon, dass er nicht frü­her ge­kom­men sei. Herr Göp­pel frag­te gleich nach ganz Net­zig und vor al­lem nach dem al­ten Buck. Denn ob­wohl sein Kinn­bart nun auch er­graut war, hat­te er doch, wie Die­de­rich, nur, wie es schi­en, aus an­de­ren Grün­den, schon als Kna­be den al­ten Buck ver­ehrt. Das war ein Mann: Hut ab! Ei­ner von de­nen, die das deut­sche Volk hoch­hal­ten soll­te, hö­her als ge­wis­se Leu­te, die im­mer al­les mit Blut und Ei­sen ku­rie­ren woll­ten und da­für der Na­ti­on rie­si­ge Rech­nun­gen schrie­ben. Der alte Buck war schon achtund­vier­zig da­bei­ge­we­sen, er war so­gar zum Tode ver­ur­teilt wor­den. »Ja, dass wir hier als freie Män­ner sit­zen kön­nen«, sag­te Herr Göp­pel, »das ver­dan­ken wir sol­chen Leu­ten wie dem al­ten Buck.« Und er öff­ne­te noch eine Fla­sche Bier. »Heu­te sol­len wir uns mit Küras­siers­tie­feln tre­ten las­sen …«

Herr Göp­pel be­kann­te sich als frei­sin­ni­ger Geg­ner Bis­marcks. Die­de­rich be­stä­tig­te al­les, was Göp­pel woll­te; er hat­te über den Kanz­ler, die Frei­heit, den jun­gen Kai­ser kei­ner­lei Mei­nung. Da aber ward er pein­lich be­rührt, denn ein jun­ges Mäd­chen war ein­ge­tre­ten, das ihm auf den ers­ten Blick durch Schön­heit und Ele­ganz gleich furcht­bar er­schi­en.

»Mei­ne Toch­ter Ag­nes«, sag­te Herr Göp­pel.

Die­de­rich stand da, in sei­nem fal­ten­rei­chen Geh­rock, als ma­ge­rer Ka­dett, und war ro­sig über­zo­gen. Das jun­ge Mäd­chen gab ihm die Hand. Sie woll­te wohl nett sein, aber was war mit ihr an­zu­fan­gen? Die­de­rich ant­wor­te­te ja, als sie frag­te, ob Ber­lin ihm ge­fal­le; und als sie frag­te, ob er schon im Thea­ter ge­we­sen sei, ant­wor­te­te er nein. Er fühl­te sich feucht vor Un­ge­müt­lich­keit und war fest über­zeugt, sein Auf­bruch sei das ein­zi­ge, wo­mit er das jun­ge Mäd­chen in­ter­es­sie­ren kön­ne. Aber wie war von hier fort­zu­kom­men? Zum Glück stell­te ein an­de­rer sich ein, ein brei­ter Mensch na­mens Mahl­mann, der mit un­ge­heu­rer Stim­me Meck­len­bur­gisch sprach, stud. ing. zu sein schi­en und bei Göp­pels Zim­mer­herr sein soll­te. Er er­in­ner­te Fräu­lein Ag­nes an einen Spa­zier­gang, den sie ver­ab­re­det hät­ten. Die­de­rich ward auf­ge­for­dert, mit­zu­kom­men. Ent­setzt schütz­te er einen Be­kann­ten vor, der drau­ßen auf ihn war­te, und mach­te sich so­fort da­von. »Gott sei Dank«, dach­te er, wäh­rend es ihm einen Stich gab, »sie hat schon einen.«

Herr Göp­pel öff­ne­te ihm im Dun­keln die Fl­ur­tür und frag­te, ob sein Freund auch Ber­lin ken­ne. Die­de­rich log, der Freund sei Ber­li­ner. »Denn wenn Sie es bei­de nicht ken­nen, kom­men Sie noch in den falschen Om­ni­bus. Sie ha­ben sich ge­wiss schon mal ver­irrt in Ber­lin.« Und als Die­de­rich es zu­gab, zeig­te Herr Göp­pel sich be­frie­digt. »Das ist nicht wie in Net­zig. Hier lau­fen Sie gleich hal­be Tage. Was glau­ben Sie wohl, wenn Sie von Ih­rer Tieck­stra­ße bis hier­her zum Hal­le­schen Tor ge­hen, dann sind Sie ja schon drei­mal durch ganz Net­zig ge­stie­gen … Na, nächs­ten Sonn­tag kom­men Sie nun aber zum Mit­ta­ges­sen!«

Die­de­rich ver­sprach es. Als es so weit war, hät­te er lie­ber ab­ge­sagt; nur aus Furcht vor sei­nem Va­ter ging er hin. Dies­mal galt es so­gar, ein Al­lein­sein mit dem Fräu­lein zu be­ste­hen. Die­de­rich tat ge­schäf­tig und als sei er nicht auf­ge­legt, sich mit ihr zu be­fas­sen. Sie woll­te wie­der vom Thea­ter an­fan­gen, aber er schnitt mit rau­er Stim­me ab: er habe für so et­was kei­ne Zeit. Ach ja, ihr Papa habe ihr ge­sagt, Herr Hess­ling stu­die­re Che­mie?

»Ja. Das ist über­haupt die ein­zi­ge Wis­sen­schaft, die Be­rech­ti­gung hat«, be­haup­te­te Die­de­rich, ohne zu wis­sen, wie er dazu kam.

Fräu­lein Göp­pel ließ ih­ren Beu­tel fal­len; er bück­te sich so nach­läs­sig, dass sie ihn wie­der hat­te, be­vor er zur Stel­le war. Trotz­dem sag­te sie dan­ke, ganz weich, fast be­schämt – was Die­de­rich är­ger­te. »Ko­ket­te Wei­ber sind et­was Gräss­li­ches«, dach­te er. Sie such­te in ih­rem Beu­tel.

»Jetzt hab’ ich es doch ver­lo­ren. Mein eng­li­sches Pflas­ter näm­lich. Es blu­tet wie­der.«

Sie wi­ckel­te ih­ren Fin­ger aus dem Ta­schen­tuch. Er hat­te so sehr die Wei­ße des Schnees, dass Die­de­rich der Ge­dan­ke kam, das Blut, das dar­auf lag, müs­se hin­ein­si­ckern.

»Ich habe wel­ches«, sag­te er, mit ei­nem Ruck.

Er er­griff ih­ren Fin­ger, und be­vor sie das Blut weg­wi­schen konn­te, hat­te er es ab­ge­leckt.

»Was ma­chen Sie denn?«

Er war selbst er­schro­cken. Er sag­te mit streng ge­fal­te­ten Brau­en: »Oh, ich als Che­mi­ker pro­bie­re noch ganz an­de­re Sa­chen.«

Sie lä­chel­te. »Ach ja, Sie sind eine Art Dok­tor … Wie gut Sie das kön­nen«, be­merk­te sie und sah ihm beim Auf­kle­ben des Pflas­ters zu.

»So«, mach­te er ab­leh­nend, und trat zu­rück. Ihm war es schwül ge­wor­den, er dach­te: »Wenn man nur nicht im­mer ihre Haut an­fas­sen müss­te! Sie ist wi­der­lich weich.« Ag­nes sah an ihm vor­bei. Nach ei­ner Pau­se ver­such­te sie: »Ha­ben wir nicht ei­gent­lich in Net­zig ge­mein­schaft­li­che Ver­wand­te?« Und sie nö­tig­te ihn, mit ihr ein paar Fa­mi­li­en durch­zu­ge­hen. Es stell­te sich Vet­tern­schaft her­aus.

»Sie ha­ben auch noch Ihre Mut­ter, nicht? Dann kön­nen Sie sich freu­en. Mei­ne ist längst tot. Ich wer­de wohl auch nicht lan­ge le­ben. Man hat so Ah­nun­gen« – und sie lä­chel­te weh­mü­tig und ent­schul­di­gend.

Die­de­rich be­schloss schwei­gend, die­se Sen­ti­men­ta­li­tät al­bern zu fin­den. Noch eine Pau­se – und wie sie bei­de ei­lig zum Spre­chen an­setz­ten, kam der Meck­len­bur­ger da­zwi­schen. Die Hand Die­de­richs drück­te er so kraft­voll, dass Die­de­richs Ge­sicht sich ver­zerr­te, und zu­gleich lä­chel­te er ihm sieg­haft in die Au­gen. Ohne wei­te­res zog er einen Stuhl bis vor Ag­nes’ Knie und frag­te hei­ter und mit Au­to­ri­tät nach al­lem Mög­li­chen, was nur sie bei­de an­ging. Die­de­rich war sich selbst über­las­sen und ent­deck­te, dass Ag­nes, so in Ruhe be­trach­tet, viel von ih­ren Schre­cken ver­lor. Ei­gent­lich war sie nicht hübsch. Sie hat­te eine zu klei­ne, nach in­nen ge­bo­ge­ne Nase, auf de­ren frei­lich sehr schma­lem Rücken Som­mer­spros­sen sa­ßen. Ihre gelb­brau­nen Au­gen la­gen zu nahe bei­ein­an­der und zuck­ten, wenn sie einen an­sah. Die Lip­pen wa­ren zu schmal, das gan­ze Ge­sicht war zu schmal. »Wenn sie nicht so viel braun­ro­tes Haar über der Stirn hät­te und dazu den wei­ßen Teint …« Auch be­rei­te­te es ihm Ge­nug­tu­ung, dass der Na­gel des Fin­gers, den er be­leckt hat­te, nicht ganz sau­ber ge­we­sen war.

Herr Göp­pel kam mit sei­nen drei Schwes­tern. Eine von ih­nen hat­te Mann und Kin­der mit. Der Va­ter und die Tan­ten um­arm­ten und küss­ten Ag­nes. Sie ta­ten es mit dring­li­cher In­nig­keit und hat­ten da­bei be­hut­sa­me Mie­nen. Das jun­ge Mäd­chen war schlan­ker und grö­ßer als sie alle und blick­te ein we­nig zer­streut auf sie hin­ab, die eben an ih­ren schmäch­ti­gen Schul­tern hing. Nur ih­rem Va­ter er­wi­der­te sie lang­sam und ernst sei­nen Kuss. Die­de­rich sah dem zu und sah in der Son­ne die hell­blau­en Adern, über­zo­gen von ro­ten Haa­ren, ihre Schlä­fe kreu­zen.

Er muss­te eine der Tan­ten ins Ess­zim­mer füh­ren. Der Meck­len­bur­ger hat­te Ag­nes’ Arm in den sei­nen ge­hängt. Um den lan­gen Fa­mi­li­en­tisch ra­schel­ten die sei­de­nen Sonn­tags­klei­der. Die Gehrö­cke wur­den über den Kni­en zu­sam­men­ge­legt. Man räus­per­te sich, die Her­ren rie­ben die Hän­de. Dann kam die Sup­pe.

Die­de­rich saß von Ag­nes weit weg und konn­te sie nicht se­hen, wenn er sich nicht vor­beug­te – was er sorg­fäl­tig ver­mied. Da sei­ne Nach­ba­rin ihn in Ruhe ließ, aß er große Men­gen Kalbs­bra­ten und Blu­men­kohl. Er hör­te aus­führ­lich das Es­sen be­spre­chen und muss­te be­stä­ti­gen, dass es schön schme­cke. Ag­nes ward vor dem Salat ge­warnt, ihr ward zu Rot­wein ge­ra­ten, und sie soll­te Aus­kunft ge­ben, ob sie heu­te Mor­gen Gum­mi­schu­he an­ge­habt habe. Herr Göp­pel er­zähl­te, Die­de­rich zu­ge­wandt, dass er und sei­ne Schwes­tern vor­hin in der Fried­rich­stra­ße, weiß Gott, aus­ein­an­der ge­kom­men sei­en und sich erst im Om­ni­bus wie­der­ge­fun­den hät­ten. »So et­was kann Ih­nen in Net­zig auch nicht pas­sie­ren«, rief er voll Stolz über den Tisch. Mahl­mann und Ag­nes spra­chen von ei­nem Kon­zert. Sie woll­te be­stimmt hin, ihr Papa wer­de es schon er­lau­ben. Herr Göp­pel mach­te zärt­li­che Ein­wän­de, und der Chor der Tan­ten be­glei­te­te sie. Ag­nes müs­se früh schla­fen ge­hen und bald in gute Luft hin­aus; sie habe sich im Win­ter über­an­strengt. Sie be­stritt es. »Ihr lasst mich nie­mals aus dem Hau­se. Ihr seid schreck­lich.«

Die­de­rich nahm in­ner­lich Par­tei für sie. Er hat­te eine Wal­lung von Hel­den­tum: er hät­te ma­chen wol­len, dass sie al­les dürf­te, dass sie glück­lich war und es ihm dank­te … Da frag­te Herr Göp­pel ihn, ob er in das Kon­zert wol­le. »Ich weiß nicht«, sag­te er ver­ächt­lich und sah Ag­nes an, die sich vor­beug­te. »Was ist das für eins? Ich gehe nur in Kon­zer­te, wo ich Bier trin­ken kann.«

»Sehr ver­nünf­tig«, sag­te der Schwa­ger des Herrn Göp­pel.

Ag­nes hat­te sich zu­rück­ge­zo­gen, und Die­de­rich be­reu­te sei­nen Auss­pruch.

Aber die Cre­me, auf die alle ge­spannt wa­ren, blieb aus. Herr Göp­pel riet sei­ner Toch­ter, ein­mal nach­zu­se­hen. Be­vor sie ih­ren Kom­pot­tel­ler hin­ge­setzt hat­te, war Die­de­rich auf­ge­sprun­gen – sein Stuhl flog an die Wand – und fes­ten Schritts zur Tür ge­eilt. »Ma­rie! Der Krehm!« rief er hin­aus. Rot und ohne je­mand an­zu­se­hen, ging er wie­der an sei­nen Platz. Aber er merk­te ganz gut, sie blin­zel­ten sich zu. Mahl­mann stieß so­gar höh­nisch den Atem aus. Der Schwa­ger äu­ßer­te mit künst­li­cher Harm­lo­sig­keit: »Im­mer ga­lant! So soll es sein.« Herr Göp­pel lä­chel­te zärt­lich zu Ag­nes hin, die nicht von ih­rem Kom­pott auf­sah. Die­de­rich stemm­te das Knie ge­gen die Tisch­plat­te, dass sie an­fing sich zu he­ben. Er dach­te: »Gott, o Gott, hät­te ich nur das nicht ge­tan!«

Beim Mahl­zeit­sa­gen gab er al­len die Hand, nur um Ag­nes drück­te er sich her­um. Im Ber­li­ner Zim­mer beim Kaf­fee wähl­te er sei­nen Sitz mit Sorg­falt dort, wo Mahl­manns brei­ter Rücken sie ihm ver­deck­te. Eine der Tan­ten woll­te sich sei­ner an­neh­men.

»Was stu­die­ren Sie denn, jun­ger Mann?« frag­te sie.

»Che­mie.«

»Ach so, Phy­sik?«

»Nein, Che­mie.«

»Ach so.«

Und so im­po­sant sie an­ge­fan­gen hat­te, hier­über kam sie nicht hin­weg. Die­de­rich nann­te sie im Stil­len eine dum­me Gans. Die gan­ze Ge­sell­schaft pass­te ihm nicht. Von feind­se­li­ger Schwer­mut er­füllt, sah er dar­ein, bis die letz­ten Ver­wand­ten auf­ge­bro­chen wa­ren. Ag­nes und ihr Va­ter hat­ten sie hin­aus­be­glei­tet. Herr Göp­pel kehr­te zu­rück, er­staunt, den jun­gen Mann al­lein noch im Zim­mer zu fin­den. Er schwieg for­schend, ein­mal fass­te er in die Ta­sche. Als Die­de­rich un­ver­mit­telt, ohne um Geld ge­be­ten zu ha­ben, Ab­schied nahm, be­kun­de­te Göp­pel große Herz­lich­keit. »Mei­ne Toch­ter werd’ ich von Ih­nen grü­ßen«, sag­te er so­gar, und an der Tür, nach­dem er ein we­nig über­legt hat­te: »Kom­men Sie doch nächs­ten Sonn­tag wie­der!«

Die­de­rich war fest ent­schlos­sen, das Haus nicht mehr zu be­tre­ten. Den­noch ließ er tags dar­auf al­les ste­hen und lie­gen, um sich durch die Stadt bis zu ei­nem Ge­schäft zu fra­gen, wo er für Ag­nes das Kon­zert­bil­lett kau­fen konn­te. Vor­her muss­te er auf den Zet­teln, die dort hin­gen, den Na­men des Vir­tuo­sen her­aus­fin­den, den Ag­nes er­wähnt hat­te. War es der? Hat­te er so ge­klun­gen? Die­de­rich ent­schloss sich. Als er dann er­fuhr, es kos­te vier Mark fünf­zig, riss er vor Schre­cken die Au­gen weit auf. So viel Geld, um einen zu se­hen, der Mu­sik mach­te! Wenn man nur ein­fach wie­der fort­ge­konnt hät­te! Als er be­zahlt hat­te und drau­ßen war, ent­rüs­te­te er sich zu­nächst über den Schwin­del. Dann be­dach­te er, dass es für Ag­nes ge­sche­hen sei, und ward von sich selbst er­schüt­tert. Im­mer wei­cher und glück­li­cher ging er durch das Ge­wühl. Es war das ers­te Geld, das er für einen an­de­ren Men­schen aus­ge­ge­ben hat­te.

Er leg­te das Bil­lett in einen Um­schlag, in den er nichts wei­ter leg­te, und schrieb die Adres­se, um sich nicht zu ver­ra­ten, mit Schön­schrift. Wie er dann am Brief­kas­ten stand, kam Mahl­mann da­her und lach­te höh­nisch. Die­de­rich fühl­te sich durch­schaut; er be­sah die Hand, die er aus dem Kas­ten zu­rück­ge­zo­gen hat­te. Aber Mahl­mann be­kun­de­te nur die Ab­sicht, sich Die­de­richs Bude an­zu­se­hen. Er fand, es sähe drin­nen aus wie bei ei­ner äl­te­ren Dame. So­gar die Kaf­fee­kan­ne hat­te Die­de­rich von zu Hau­se mit­ge­bracht! Die­de­rich schäm­te sich heiß. Als Mahl­mann die Che­mie­bü­cher ver­ächt­lich auf- und zu­klapp­te, schäm­te Die­de­rich sich sei­nes Fa­ches. Der Meck­len­bur­ger wälz­te sich ins Sofa und frag­te: »Wie ge­fällt Ih­nen denn die Göp­pel? Net­ter Kä­fer, was? Nun wird er wie­der rot! Pous­sie­ren Sie doch! Ich tre­te zu­rück, wenn Sie Wert dar­auf le­gen. Ich habe Aus­sicht bei fünf­zehn ver­schie­de­nen.«

Da Die­de­rich nach­läs­sig ab­wehr­te:

»Sie, da ist näm­lich was zu ma­chen. Ich müss­te gar nichts von Wei­bern ver­ste­hen. Die ro­ten Haa­re! – und ha­ben Sie nicht ge­merkt, wie sie einen an­sieht, wenn sie meint, man weiß es nicht?«

»Mich nicht«, sag­te Die­de­rich noch ge­ring­schät­zi­ger. »Ich pfei­fe auch dar­auf.«

»Ihr Scha­de!« Mahl­mann lach­te to­bend – wor­auf er vor­schlug, einen Bum­mel zu ma­chen. Daraus wur­de eine Bier­rei­se. Die ers­ten Gas­lich­ter sa­hen sie bei­de be­trun­ken. Et­was spä­ter, in der Leip­zi­ger Stra­ße, be­kam Die­de­rich ohne An­lass von Mahl­mann eine mäch­ti­ge Ohr­fei­ge. Er sag­te: »Au! Das ist aber doch eine –« Vor dem Wort »Frech­heit« schrak er zu­rück. Der Meck­len­bur­ger klopf­te ihm auf die Schul­ter. »Recht freund­lich, Klei­ner! Al­les bloß Freund­schaft!« – und über­dies nahm er Die­de­rich die letz­ten zehn Mark ab … Vier Tage spä­ter fand er ihn schwach vor Hun­ger und teil­te ihm von dem, was er in­zwi­schen an­ders­wo ge­pumpt hat­te, groß­mü­tig drei Mark mit. Am Sonn­tag bei Göp­pels – mit we­ni­ger lee­rem Ma­gen wäre Die­de­rich viel­leicht nicht hin­ge­gan­gen – er­zähl­te Mahl­mann, dass Hess­ling all sein Geld ver­lumpt habe und sich heu­te mal satt es­sen müs­se. Herr Göp­pel und sein Schwa­ger lach­ten ver­ständ­nis­voll, aber Die­de­rich hät­te lie­ber nie ge­bo­ren sein wol­len, als von Ag­nes so trau­rig prü­fend an­ge­se­hen wer­den. Sie ver­ach­te­te ihn! Verzwei­felt trös­te­te er sich: »Es ist al­les eins, sie hat es schon im­mer ge­tan!« Da frag­te sie, ob das Kon­zert­bil­lett viel­leicht von ihm ge­we­sen sei. Alle wand­ten sich ihm zu.

»Un­sinn! Wie soll­te ich dazu wohl kom­men«, ent­geg­ne­te er so un­lie­bens­wür­dig, dass sie ihm glaub­ten. Ag­nes zö­ger­te ein we­nig, be­vor sie weg­sah. Mahl­mann bot den Da­men Pra­linés an und stell­te die üb­ri­gen vor Ag­nes hin. Die­de­rich küm­mer­te sich nicht um sie. Er aß noch mehr als das vo­ri­ge Mal. Da doch alle mein­ten, er sei nur des­we­gen da! Als es hieß, der Kaf­fee sol­le im Gru­ne­wald ge­trun­ken wer­den, er­fand Die­de­rich so­fort eine Verab­re­dung. Er setz­te so­gar hin­zu: »Mit je­mand, den ich un­mög­lich war­ten las­sen kann.« Herr Göp­pel leg­te ihm sei­ne ge­drun­ge­ne Hand auf die Schul­ter, blin­zel­te ihn aus ge­senk­tem Kopf an und sag­te halb­laut: »Kei­ne Angst, Sie sind na­tür­lich ein­ge­la­den!« Aber Die­de­rich be­teu­er­te ent­rüs­tet, dass es nicht dar­an lie­ge. »Na, we­nigs­tens kom­men Sie wie­der, so­bald Sie Lust ha­ben«, schloss Göp­pel, und Ag­nes nick­te dazu. Sie schi­en so­gar et­was sa­gen zu wol­len, aber Die­de­rich war­te­te es nicht ab. Er ging den Rest des Ta­ges in selbst­zu­frie­de­ner Trau­er um­her, wie nach Voll­zie­hung ei­nes großen Op­fers. Am Abend in ei­nem über­füll­ten Bier­lo­kal saß er, den Kopf auf­ge­stützt, und nick­te von Zeit zu Zeit auf sein ein­sa­mes Glas hin­ab, als ver­ste­he er jetzt das Schick­sal.

Was war zu ma­chen ge­gen die ge­walt­tä­ti­ge Art, in der Mahl­mann sei­ne An­lei­hen auf­nahm? Am Sonn­tag hat­te dann der Meck­len­bur­ger einen Blu­men­strauß für Ag­nes, und Die­de­rich, der mit lee­ren Hän­den kam, hät­te sa­gen kön­nen: »Der ist ei­gent­lich von mir, Fräu­lein.« In­des­sen schwieg er, mit noch mehr Groll ge­gen Ag­nes als ge­gen Mahl­mann. Denn Mahl­mann for­der­te zur Be­wun­de­rung her­aus, wenn er des Nachts ei­nem Un­be­kann­ten nach­lief, um ihm den Zy­lin­der ein­zu­schla­gen – ob­wohl Die­de­rich kei­nes­wegs die War­nung ver­kann­te, die solch ein Vor­gang für ihn selbst ent­hielt.

Ende des Mo­nats, zu sei­nem Ge­burts­tag, be­kam er eine un­vor­her­ge­se­he­ne Sum­me, die sei­ne Mut­ter ihm er­spart hat­te, und er­schi­en bei Göp­pels mit ei­nem Bou­quet, kei­nem zu großen, um sich nicht bloß­zu­stel­len, und auch, um Mahl­mann nicht her­aus­zu­for­dern. Das jun­ge Mäd­chen hat­te, wie sie es nahm, ein er­grif­fe­nes Ge­sicht; und Die­de­rich lä­chel­te her­ab­las­send und ver­le­gen zu­gleich. Die­ser Sonn­tag deuch­te ihm un­er­hört fest­lich; er war nicht über­rascht, als man in den Zoo­lo­gi­schen Gar­ten ge­hen woll­te.

Die Ge­sell­schaft rück­te aus, nach­dem Mahl­mann sie ab­ge­zählt hat­te: elf Per­so­nen. Alle Frau­en un­ter­wegs wa­ren, wie Göp­pels Schwes­tern, voll­stän­dig an­ders an­ge­zo­gen als in der Wo­che: als sei­en sie heu­te von ei­ner hö­he­ren Klas­se oder hät­ten ge­erbt. Die Män­ner tru­gen Gehrö­cke: nur we­ni­ge in Ver­bin­dung mit schwar­zen Ho­sen, wie Die­de­rich, aber vie­le mit Stroh­hü­ten. Kam man durch eine Sei­ten­stra­ße, war sie breit, gleich­för­mig und leer, ohne einen Men­schen, ohne einen Pfer­de­ap­fel. Ein­mal doch tanz­te ein Kreis klei­ner Mäd­chen in wei­ßen Klei­dern, schwar­zen St­rümp­fen und ganz be­han­gen mit Schlei­fen, schrill sin­gend, einen Rin­gel­rei­hen. Gleich dar­auf, in der Ver­kehrs­ader, stürm­ten schwit­zen­de Ma­tro­nen einen Om­ni­bus; und die Ge­sich­ter der Kom­mis,2 die un­nach­sicht­lich mit ih­nen um die Plät­ze ran­gen, sa­hen ne­ben ih­ren hef­tig ro­ten zum Um­fal­len blass aus. Al­les dräng­te vor­wärts, al­les stürz­te ei­nem Ziel zu, wo end­lich das Ver­gnü­gen an­fan­gen soll­te. Alle Mie­nen sag­ten hart: »Nu los, ge­ar­bei­tet ha­ben wir ge­nug!«

Die­de­rich kehr­te vor den Da­men den Ber­li­ner her­aus. In der Stadt­bahn er­ober­te er ih­nen meh­re­re Sit­ze. Ei­nen Herrn, der im Be­griff stand, einen weg­zu­neh­men, hin­der­te er dar­an, in­dem er ihn hef­tig auf den Fuß trat. Der Herr schrie: »Fle­gel!« Die­de­rich ant­wor­te­te ihm im sel­ben Sinn. Da zeig­te es sich, dass Herr Göp­pel ihn kann­te – und kaum ein­an­der vor­ge­stellt, be­kun­de­ten Die­de­rich und der an­de­re die rit­ter­lichs­ten Sit­ten. Kei­ner woll­te sit­zen, um den an­de­ren nicht ste­hen zu las­sen.

Am Tisch im Zoo­lo­gi­schen Gar­ten ge­riet Die­de­rich ne­ben Ag­nes – warum ging heu­te al­les glück­lich? –, und als sie gleich nach dem Kaf­fee zu den Tie­ren woll­te, un­ter­stütz­te er sie stür­misch. Er war voll Un­ter­neh­mungs­lust. Vor dem en­gen Gang zwi­schen den Raub­tier­kä­fi­gen kehr­ten die Da­men um. Die­de­rich trug Ag­nes sei­ne Beglei­tung an. »Da neh­men Sie doch lie­ber mich mit hin­ein«, sag­te Mahl­mann. »Wenn wirk­lich eine Stan­ge los­ge­hen soll­te –«

»Dann ma­chen Sie sie auch nicht wie­der fest«, ent­geg­ne­te Ag­nes und trat ein, wäh­rend Mahl­mann sein Ge­läch­ter auf­schlug. Die­de­rich blieb hin­ter ihr. Ihm war ban­ge: vor den Bes­ti­en, die von rechts und links auf ihn zu­stürz­ten, ohne an­de­ren Laut als den des Atems, den sie über ihn hin­s­tie­ßen – und vor dem jun­gen Mäd­chen, des­sen Blu­men­duft ihm vor­an­zog. Ganz hin­ten wand­te sie sich um und sag­te:

»Ich mag das Re­nom­mie­ren nicht!«

»Wirk­lich?« frag­te Die­de­rich, vor Freu­de ge­rührt.

»Heu­te sind Sie mal nett«, sag­te Ag­nes; und er:

»Ich möch­te es ei­gent­lich im­mer sein.«

»Wirk­lich?« – Und jetzt war es an ih­rer Stim­me, ein we­nig zu schwan­ken. Sie sa­hen ein­an­der an, je­der mit ei­ner Mie­ne, als ver­dien­te er das al­les nicht. Das jun­ge Mäd­chen sag­te kla­gend:

»Die Tie­re rie­chen aber furcht­bar.«

Und sie gin­gen zu­rück.

Mahl­mann emp­fing sie. »Ich woll­te nur se­hen, ob Sie nicht aus­rei­ßen wür­den.« Dann nahm er Die­de­rich bei­sei­te. »Na? Was macht die Klei­ne? Geht es bei Ih­nen auch? Ich hab’ es gleich ge­sagt, dass es kei­ne Kunst ist.«

Da Die­de­rich stumm blieb:

»Sie sind wohl scharf ins Zeug ge­gan­gen? Wis­sen Sie was? Ich bin nur noch ein Se­mes­ter in Ber­lin; dann kön­nen Sie mich be­er­ben. Aber so lan­ge war­ten Sie ge­fäl­ligst –« Auf sei­nem un­ge­heu­ren Rumpf ward sein klei­ner Kopf plötz­lich tückisch an­zu­se­hen. »– Freund­chen!«

Und Die­de­rich war ent­las­sen. Er hat­te einen hef­ti­gen Schre­cken be­kom­men und wag­te sich gar nicht mehr in Ag­nes’ Nähe. Sie hör­te nicht sehr auf­merk­sam auf Mahl­mann, sie rief rück­wärts: »Papa! Heu­te ist es schön, heu­te geht es mir aber wirk­lich gut.«

Herr Göp­pel nahm ih­ren Arm zwi­schen sei­ne bei­den Hän­de und tat, als woll­te er fest zu­drücken, aber er be­rühr­te sie kaum. Sei­ne blan­ken Au­gen lach­ten und wa­ren feucht. Als die Fa­mi­lie Ab­schied ge­nom­men hat­te, ver­sam­mel­te er sei­ne Toch­ter und die bei­den jun­gen Leu­te um sich und er­klär­te ih­nen, der Tag müs­se ge­fei­ert wer­den; sie woll­ten die Lin­den ent­lang­ge­hen und nach­her ir­gend­wo es­sen.

»Papa wird leicht­sin­nig!« rief Ag­nes und sah sich nach Die­de­rich um. Aber er hielt die Au­gen ge­senkt. In der Stadt­bahn be­nahm er sich so un­ge­schickt, dass er weit von den an­de­ren ge­trennt ward; und im Ge­drän­ge der Fried­rich­stadt blieb er mit Herrn Göp­pel al­lein zu­rück. Plötz­lich hielt Göp­pel an, tas­te­te ver­stört auf sei­nem Ma­gen um­her und frag­te:

»Wo ist mei­ne Uhr?«

Sie war fort mit­samt der Ket­te. Mahl­mann sag­te:

»Wie lan­ge sind Sie schon in Ber­lin, Herr Göp­pel?«

»Ja­wohl!« – und Göp­pel wen­de­te sich an Die­de­rich. »Drei­ßig Jah­re bin ich hier, aber das ist mir denn doch noch nicht pas­siert.« Und stolz trotz al­lem: »Se­hen Sie, das gib­t’s in Net­zig über­haupt nicht!«

Nun muss­te man, statt zu es­sen, auf das Po­li­zei­re­vier und ein Ver­hör be­ste­hen. Und Ag­nes hus­te­te. Göp­pel zuck­te zu­sam­men. »Wir wä­ren jetzt doch zu müde«, mur­mel­te er. Mit künst­li­cher Jo­via­li­tät ver­ab­schie­de­te er Die­de­rich, der Ag­nes’ Hand über­sah und lin­kisch den Hut zog. Auf ein­mal, mit über­ra­schen­der Ge­schick­lich­keit und ehe Mahl­mann be­griff, was vor­ging, schwang er sich auf einen vor­bei­fah­ren­den Om­ni­bus. Er war ent­kom­men! Und jetzt fin­gen die Fe­ri­en an! Er war al­les los! Zu Hau­se frei­lich warf er die schwers­ten sei­ner Che­miebän­de mit Kra­chen auf den Bo­den. Er hielt so­gar schon die Kaf­fee­kan­ne in der Hand. Aber bei dem Geräusch ei­ner Tür be­gann er so­fort, al­les wie­der auf­zu­le­sen. Dann setz­te er sich still in die So­fae­cke, stütz­te den Kopf und wein­te. Wäre es nicht vor­her so schön ge­we­sen! Er war ihr auf den Leim ge­gan­gen. So mach­ten es die Mäd­chen: dass sie manch­mal mit ei­nem so ta­ten, und da­bei woll­ten sie einen nur mit ei­nem Kerl aus­la­chen. Die­de­rich war sich tief be­wusst, dass er es mit so ei­nem Kerl nicht auf­neh­men kön­ne. Er sah sich ne­ben Mahl­mann und wür­de es nicht be­grif­fen ha­ben, hät­te eine sich für ihn ent­schie­den. »Was hab’ ich mir nur ein­ge­bil­det?« dach­te er. »Eine, die sich in mich ver­liebt, muss wirk­lich dumm sein.« Er litt große Angst, der Meck­len­bur­ger kön­ne kom­men und ihn noch är­ger be­dro­hen. »Ich will sie gar nicht mehr. Wäre ich nur schon fort!« Die nächs­ten Tage saß er in töd­li­cher Span­nung bei ver­schlos­se­ner Tür. Kaum war sein Geld da, reis­te er.

Sei­ne Mut­ter frag­te, be­frem­det und ei­fer­süch­tig, was er habe. Nach so kur­z­er Zeit sei er kein Jun­ge mehr. »Ja, das Ber­li­ner Pflas­ter!«

Die­de­rich griff zu, als sie ver­lang­te, er sol­le an eine klei­ne Uni­ver­si­tät, nicht wie­der nach Ber­lin. Der Va­ter fand, dass es ein Für und ein Wi­der gäbe. Die­de­rich muss­te ihm viel von Göp­pels be­rich­ten. Ob er die Fa­brik ge­se­hen habe. Und war er bei den an­de­ren Ge­schäfts­freun­den ge­we­sen? Herr Hess­ling wünsch­te, dass Die­de­rich die Fe­ri­en be­nut­ze, um in der vä­ter­li­chen Werk­stät­te den Gang der Pa­pier­ver­fer­ti­gung ken­nen­zu­ler­nen. »Ich bin nicht mehr der Jüngs­te, und mein Gra­nat­split­ter hat mich auch schon lan­ge nicht so ge­kit­zelt.«

Die­de­rich ent­wisch­te, so­bald er konn­te, um im Wald von Gäb­bel­chen oder längs des Nug­ge­ba­ches bei Goh­se spa­zie­ren­zu­ge­hen und sich mit der Na­tur eins zu füh­len. Denn das konn­te er jetzt. Zum ers­ten Mal fiel es ihm auf, dass die Hü­gel da­hin­ten trau­rig oder wie eine große Sehn­sucht aus­sa­hen, und was als Son­ne oder Re­gen vom Him­mel fiel, wa­ren Die­de­richs hei­ße Lie­be und sei­ne Trä­nen. Denn er wein­te viel. Er ver­such­te so­gar zu dich­ten.

Als er ein­mal die Lö­wen­apo­the­ke be­trat, stand hin­ter dem La­den­tisch sein Schul­ka­me­rad Gott­lieb Hor­nung. »Ja, ich spiel’ hier den Som­mer über ’n biss­chen Apo­the­ker«, er­klär­te er. Er hat­te sich so­gar schon aus Ver­se­hen ver­gif­tet und sich da­bei nach hin­ten zu­sam­men­ge­rollt wie ein Aal. Die gan­ze Stadt hat­te da­von ge­spro­chen! Aber zum Herbst ging er nun nach Ber­lin, um die Sa­che wis­sen­schaft­lich an­zu­fas­sen. Ob denn in Ber­lin was los sei. Ho­cher­freut über den Be­sitz sei­ner Über­le­gen­heit fing Die­de­rich an, mit sei­nen Ber­li­ner Er­leb­nis­sen zu prah­len. Der Apo­the­ker ver­hieß: »Wir bei­de zu­sam­men stel­len Ber­lin auf den Kopf.«

Und Die­de­rich war schwach ge­nug, zu­zu­sa­gen. Die klei­ne Uni­ver­si­tät ward ver­wor­fen. Am Ende des Som­mers – Hor­nung hat­te noch ei­ni­ge Tage zu prak­ti­zie­ren – kehr­te Die­de­rich nach Ber­lin zu­rück. Er mied das Zim­mer in der Tieck­stra­ße. Vor Mahl­mann und den Göp­pels flüch­te­te er bis nach Ge­sund­brun­nen hin­aus. Dort war­te­te er auf Hor­nung. Aber Hor­nung, der sei­ne Abrei­se ge­mel­det hat­te, blieb aus; und als er end­lich kam, trug er eine grün-gelb-rote Müt­ze. Er war so­fort von ei­nem Kol­le­gen für eine Ver­bin­dung ge­keilt wor­den. Auch Die­de­rich soll­te ihr bei­tre­ten; es wa­ren die Neu­teu­to­nen, eine hoch­fei­ne Kor­po­ra­ti­on, sag­te Hor­nung; al­lein sechs Phar­ma­zeu­ten wa­ren da­bei. Die­de­rich ver­barg sei­nen Schre­cken un­ter der Mas­ke der Ge­ring­schät­zung, aber es half nichts. Er sol­le Hor­nung nicht bla­mie­ren, der von ihm ge­spro­chen habe; einen Be­such we­nigs­tens müs­se er ma­chen.

»Aber nur einen«, sag­te er fest.

Der eine dau­er­te, bis Die­de­rich un­ter dem Tisch lag und sie ihn fort­schaff­ten. Als er aus­ge­schla­fen hat­te, hol­ten sie ihn zum Früh­schop­pen; Die­de­rich war Kon­knei­pant ge­wor­den.

Und für die­sen Pos­ten fühl­te er sich be­stimmt. Er sah sich in einen großen Kreis von Men­schen ver­setzt, de­ren kei­ner ihm et­was tat oder et­was an­de­res von ihm ver­lang­te, als dass er trin­ke. Voll Dank­bar­keit und Wohl­wol­len er­hob er ge­gen je­den, der ihn dazu an­reg­te, sein Glas. Das Trin­ken und Nicht­trin­ken, das Sit­zen, Ste­hen, Spre­chen oder Sin­gen hing meis­tens nicht von ihm selbst ab. Al­les ward laut kom­man­diert, und wenn man es rich­tig be­folg­te, leb­te man mit sich und der Welt in Frie­den. Als Die­de­rich beim Sala­man­der zum ers­ten Male nicht nach­klapp­te, lä­chel­te er in die Run­de, bei­na­he ver­schämt durch die ei­ge­ne Voll­kom­men­heit!

Und das war noch nichts ge­gen sei­ne Si­cher­heit im Ge­sang! Die­de­rich hat­te in der Schu­le zu den bes­ten Sän­gern ge­hört und schon in sei­nem ers­ten Lie­der­heft die Sei­ten­zah­len aus­wen­dig ge­wusst, wo je­des Lied zu fin­den war. Jetzt brauch­te er in das Kom­mers­buch, das auf großen Nä­geln in der La­che von Bier lag, nur den Fin­ger zu schie­ben, und traf vor al­len an­de­ren die Num­mer, die ge­sun­gen wer­den soll­te. Oft hing er den gan­zen Abend mit Ehr­er­bie­tung am Mun­de des Prä­ses: ob viel­leicht sein Lieb­lings­stück dran­käme. Dann dröhn­te er tap­fer: »Sie wis­sen den Teu­fel, was Frei­heit heißt«, hör­te ne­ben sich den di­cken De­litzsch brum­men und fühl­te sich woh­lig ge­bor­gen in dem Halb­dun­kel des nied­ri­gen alt­deut­schen Lo­kals, mit den Müt­zen an der Wand, an­ge­sichts des Kran­zes ge­öff­ne­ter Mün­der, die alle das­sel­be tran­ken und san­gen, bei dem Ge­ruch des Bie­res und der Kör­per, die es in der Wär­me wie­der aus­schwitz­ten. Ihm war, wenn es spät ward, als schwit­ze er mit ih­nen al­len aus dem­sel­ben Kör­per. Er war un­ter­ge­gan­gen in der Kor­po­ra­ti­on, die für ihn dach­te und woll­te. Und er war ein Mann, durf­te sich selbst hoch­ach­ten und hat­te eine Ehre, weil er da­zu­ge­hör­te! Ihn her­aus­rei­ßen, ihm ein­zeln et­was an­ha­ben, das konn­te kei­ner! Mahl­mann hät­te sich ein­mal her­wa­gen und es ver­su­chen sol­len: zwan­zig Mann wä­ren statt Die­de­richs ge­gen ihn auf­ge­stan­den! Die­de­rich wünsch­te ihn ge­ra­de­zu her­bei, so furcht­los war er. Wo­mög­lich soll­te er mit Göp­pel kom­men, dann moch­ten sie se­hen, was aus Die­de­rich ge­wor­den war, dann war er ge­rächt!

Gleich­wohl gab ihm die meis­te Sym­pa­thie der Harm­lo­ses­te von al­len ein, sein Nach­bar, der di­cke De­litzsch. Et­was tief Be­ru­hi­gen­des, Ver­trau­en­ge­stat­ten­des wohn­te in die­ser glat­ten, wei­ßen und hu­mor­vol­len Speck­mas­se, die un­ten breit über die Stuhl­rän­der quoll, in meh­re­ren Wüls­ten die Tisch­hö­he er­reich­te und dort, als sei nun das Äu­ßers­te ge­tan, auf­ge­stützt blieb, ohne eine an­de­re Be­we­gung als das He­ben und Hin­stel­len des Bier­gla­ses. De­litzsch war, wie nie­mand sonst, an sei­nem Platz; wer ihn da­sit­zen sah, ver­gaß, dass er ihn je auf den Bei­nen er­blickt hat­te. Er war aus­schließ­lich zum Sit­zen am Bier­tisch ein­ge­rich­tet. Sein Ho­sen­bo­den, der in je­dem an­de­ren Zu­stand tief und me­lan­cho­lisch her­ab­hing, fand nun sei­ne wah­re Ge­stalt und bläh­te sich macht­voll. Erst mit De­litz­sch’ hin­te­rem Ge­sicht blüh­te auch sein vor­de­res auf. Le­bens­freu­de über­glänz­te es, und er ward wit­zig.

Ein Dra­ma ent­stand, wenn ein jun­ger Fuchs sich den Scherz mach­te, ihm das Bier­glas weg­zu­neh­men. De­litzsch rühr­te kein Glied, aber sei­ne Mie­ne, die dem ge­raub­ten Gla­se über­all­hin folg­te, ent­hielt plötz­lich den gan­zen, stür­misch be­weg­ten Ernst des Da­seins, und er rief in säch­si­schem Schrei­te­nor: »Jun­ge, dass de mir nischt ver­schüt­test! Was ent­ziehst de mir über­haupt mein’ Lä­bens­un­ter­halt! Das ist ’ne ganz ge­mei­ne, bös­wil­li­che Exis­tenz­schä­di­chung, und ich kann dich glatt ver­klaa­chen!«

Dau­er­te der Spaß zu lan­ge, senk­ten sich De­litz­sch’ wei­ße Fett­wan­gen, und er bat, er mach­te sich klein. So­bald er aber das Bier zu­rück hat­te: wel­che all­um­fas­sen­de Aussöh­nung in sei­nem Lä­cheln, wel­che Ver­klä­rung! Er sag­te: »De bist doch ä gu­tes Lu­der, de sollst läm, prost!« – trank aus und klopf­te mit dem De­ckel nach dem Korps­die­ner: »Herr Ober­kör­per!«

Nach ei­ni­gen Stun­den ge­sch­ah es wohl, dass sein Stuhl sich mit ihm um­dreh­te und De­litzsch den Kopf über das Be­cken der Was­ser­lei­tung hielt. Das Was­ser plät­scher­te, De­litzsch gur­gel­te er­stickt, und ein paar an­de­re stürz­ten, durch sei­ne Lau­te an­ge­regt, in die Toi­let­te. Noch ein we­nig sau­er von Ge­sicht, aber schon mit fri­scher Schel­me­rei, rück­te De­litzsch an den Tisch zu­rück.

»Na, nu geht’s ja wie­der«, sag­te er; und: »Wo­von habt ’r denn ge­redt, wäh­rend ich an­der­wei­tig be­schäf­tigt war? Wisst ihr denn egal nischt wie Wei­ber­ge­schich­ten? Was koof’ ich mir für die Wei­ber?« Im­mer lau­ter: »Nich mal ä sau­ern Schop­pen kann ’ch mir da­für koofen. Sie, Herr Ober­kör­per!«

Die­de­rich gab ihm recht. Er hat­te die Wei­ber ken­nen­ge­lernt, er war mit ih­nen fer­tig. Un­ver­gleich­lich idea­le­re Wer­te ent­hielt das Bier.

Das Bier! Der Al­ko­hol! Da saß man und konn­te im­mer noch mehr da­von ha­ben, das Bier war nicht wie ko­ket­te Wei­ber, son­dern treu und ge­müt­lich. Beim Bier brauch­te man nicht zu han­deln, nichts zu wol­len und zu er­rei­chen, wie bei den Wei­bern. Al­les kam von selbst. Man schluck­te: und da hat­te man es schon zu et­was ge­bracht, fühl­te sich auf die Hö­hen des Le­bens be­för­dert und war ein frei­er Mann, in­ner­lich frei. Das Lo­kal hät­te von Po­li­zis­ten um­stellt sein dür­fen: das Bier, das man schluck­te, ver­wan­del­te sich in in­ne­re Frei­heit. Und man hat­te sein Ex­amen so gut wie be­stan­den. Man war »fer­tig«, war Dok­tor! Man füll­te im bür­ger­li­chen Le­ben eine Stel­lung aus, war reich und von Wich­tig­keit: Chef ei­ner mäch­ti­gen Fa­brik von An­sichts­kar­ten oder Toi­let­ten­pa­pier. Was man mit sei­ner Le­bens­ar­beit schuf, war in tau­send Hän­den. Man brei­te­te sich, vom Bier­tisch her, über die Welt aus, ahn­te große Zu­sam­men­hän­ge, ward eins mit dem Welt­geist. Ja, das Bier er­hob einen so sehr über das Selbst, dass man Gott fand!

Gern hät­te er es jah­re­lang so wei­ter­ge­trie­ben. Aber die Neu­teu­to­nen lie­ßen ihn nicht. Fast vom ers­ten Tage an hat­ten sie ihm den mo­ra­li­schen und ma­te­ri­el­len Wert ei­ner völ­li­gen Zu­ge­hö­rig­keit zur Ver­bin­dung ge­schil­dert; all­mäh­lich aber gin­gen sie im­mer un­ver­blüm­ter dar­auf aus, ihn zu kei­len. Ver­ge­bens be­rief sich Die­de­rich auf sei­ne an­er­kann­te Stel­lung als Kon­knei­pant, in die er sich ein­ge­lebt habe und die ihn be­frie­di­ge. Sie ent­geg­ne­ten, dass der Zweck des stu­den­ti­schen Zu­sam­menschlus­ses, näm­lich die Er­zie­hung zur Mann­haf­tig­keit und zum Idea­lis­mus, durch das Knei­pen al­lein, so viel es auch bei­tra­ge, noch nicht ganz er­füllt wer­de. Die­de­rich zit­ter­te; nur zu gut er­kann­te er, wor­auf die­ses hin­aus­lief. Er soll­te pau­ken! Schon im­mer hat­te es ihn un­heim­lich an­ge­weht, wenn sie mit ih­ren Stö­cken in der Luft ihm die Schlä­ge vor­ge­führt hat­ten, die sie ein­an­der bei­ge­bracht ha­ben woll­ten; oder wenn ei­ner von ih­nen eine schwar­ze Müt­ze um den Kopf hat­te und nach Jo­do­form roch. Jetzt dach­te er ge­presst: »Wa­rum bin ich da­bei­ge­blie­ben und Kon­knei­pant ge­wor­den! Nun muss ich ’ran.«

Er muss­te. Aber gleich die ers­ten Er­fah­run­gen be­ru­hig­ten ihn. Er war so sorg­sam ein­ge­wi­ckelt, be­helmt und be­brillt wor­den, dass ihm un­mög­lich viel ge­sche­hen konn­te. Da er kei­nen Grund hat­te, den Kom­man­dos nicht ge­ra­de so wil­lig und ge­leh­rig nach­zu­kom­men wie in der Knei­pe, lern­te er fech­ten, schnel­ler als an­de­re. Beim ers­ten Durch­zie­her ward ihm schwach: über die Wan­ge fühl­te er es rin­nen. Als er dann ge­näht war, hät­te er am liebs­ten ge­tanzt vor Glück. Er warf es sich vor, dass er die­sen gut­mü­ti­gen Men­schen ge­fähr­li­che Ab­sich­ten zu­ge­traut hat­te. Gera­de der, den er am meis­ten ge­fürch­tet hat­te, nahm ihn un­ter sei­nen Schutz und ward ihm ein wohl­ge­sinn­ter Er­zie­her.

Wie­bel war Ju­rist, was ihm al­lein schon Die­de­richs Un­ter­ord­nung ge­si­chert hät­te. Nicht ohne Selbst­zer­knir­schung sah er die eng­li­schen Stof­fe an, in die Wie­bel sich klei­de­te, und die far­bi­gen Hem­den, von de­nen er im­mer meh­re­re ab­wech­selnd trug, bis sie alle in die Wä­sche muss­ten. Das Be­klem­mends­te aber wa­ren Wie­bels Ma­nie­ren. Wenn er mit leich­ter, ele­gan­ter Ver­beu­gung Die­de­rich zu­trank, klapp­te Die­de­rich – und sei­ne Mie­ne war lei­dend vor An­stren­gung – tief zu­sam­men, ver­schüt­te­te die eine Hälf­te und ver­schluck­te sich mit der an­de­ren. Wie­bel sprach mit lei­ser, ar­ro­gan­ter Feu­dal­stim­me.

»Man kann sa­gen, was man will«, be­merk­te er gern, »For­men sind kein lee­rer Wahn.«

Für das F in »For­men« mach­te er sei­nen Mund zu ei­nem klei­nen schwar­zen Maus­loch und stieß es lang­sam ge­schwellt her­aus. Die­de­rich un­ter­lag je­des Mal wie­der dem Schau­er von so viel Vor­nehm­heit. Al­les an Wie­bel dünk­te ihm er­le­sen: dass die röt­li­chen Bart­haa­re ganz oben auf der Lip­pe wuch­sen, und sei­ne lan­gen, ge­krümm­ten Nä­gel – nach un­ten ge­krümmt, nicht, wie bei Die­de­rich, nach oben; der star­ke männ­li­che Duft, der von Wie­bel aus­ging, auch sei­ne ab­ste­hen­den Ohren, die die Wir­kung des durch­ge­zo­ge­nen Schei­tels er­höh­ten, und die ka­ter­haft in Schlä­fen­wuls­te ge­bet­te­ten Au­gen. Die­de­rich hat­te das al­les im­mer nur im un­be­ding­ten Ge­fühl des ei­ge­nen Un­wer­tes mit an­ge­se­hen. Seit aber Wie­bel ihn an­re­de­te und sich so­gar zu sei­nem Gön­ner mach­te, war es Die­de­rich, als sei ihm erst jetzt das Recht aufs Da­sein be­stä­tigt. Er hat­te Lust, dank­bar zu we­deln. Sein Herz wei­te­te sich vor glück­li­cher Be­wun­de­rung. Wenn sei­ne Wün­sche sich so hoch hin­aus­ge­wagt hät­ten, auch er hät­te gern sol­chen ro­ten Hals ge­habt und im­mer ge­schwitzt. Welch ein Traum, säu­seln zu kön­nen wie Wie­bel!

Und nun durf­te Die­de­rich ihm die­nen, er war sein Leib­fuchs! Stets wohn­te er Wie­bels Er­wa­chen bei, such­te ihm sei­ne Sa­chen zu­sam­men – und da Wie­bel in­fol­ge un­re­gel­mä­ßi­ger Be­zah­lung mit der Wir­tin schlecht stand, be­sorg­te Die­de­rich ihm den Kaf­fee und rei­nig­te ihm die Schu­he. Da­für durf­te er mit­ge­hen auf al­len We­gen. Wenn Wie­bel ein Be­dürf­nis ver­rich­te­te, hielt Die­de­rich drau­ßen Wa­che, und er wünsch­te sich nur, sei­nen Schlä­ger da­zu­ha­ben, um ihn schul­tern zu kön­nen.

Wie­bel hät­te es ver­dient. Die Ehre der Kor­po­ra­ti­on, in der auch Die­de­richs Ehre und sein gan­zes Selbst­be­wusst­sein wur­zel­ten, am glän­zends­ten ver­trat Wie­bel sie. Er schlug sich, mit wem man woll­te, für die Neu­teu­to­nia. Er hat­te das An­se­hen der Ver­bin­dung er­höht, denn er soll­te einst einen Vin­do­bo­rus­sen ko­ra­miert ha­ben! Auch hat­te er einen Ver­wand­ten beim Zwei­ten Gar­de-Gre­na­dier­re­gi­ment Kai­ser Franz Jo­seph; und so­oft Wie­bel sei­nen Vet­ter von Klapp­ke er­wähn­te, mach­te die gan­ze Neu­teu­to­nia eine ge­schmei­chel­te Ver­beu­gung. Die­de­rich such­te sich einen Wie­bel in der Uni­form ei­nes Gar­de­of­fi­ziers vor­zu­stel­len; aber so viel Vor­nehm­heit war nicht aus­zu­den­ken. Ei­nes Ta­ges dann, wie er mit Gott­lieb Hor­nung, weit­hin duf­tend, vom täg­li­chen Fri­sie­ren kam, stand an der Stra­ßen­e­cke Wie­bel mit ei­nem Zahl­meis­ter. Kein Irr­tum: es war ein Zahl­meis­ter – und als Wie­bel ihr Kom­men be­merk­te, dreh­te er ih­nen den Rücken. Auch sie wen­de­ten und mach­ten sich stumm und stramm da­von, ohne ein­an­der an­zu­se­hen und ohne eine Be­mer­kung. Je­der ver­mu­te­te, dass auch der an­de­re die Ähn­lich­keit des Zahl­meis­ters mit Wie­bel fest­ge­stellt habe. Und viel­leicht kann­ten die üb­ri­gen schon längst den wah­ren Sach­ver­halt? Aber al­len stand die Ehre der Neu­teu­to­nia hoch ge­nug, um zu schwei­gen, ja, um das Er­blick­te zu ver­ges­sen. Als Wie­bel das nächs­te Mal »mein Vet­ter von Klapp­ke« sag­te, ver­beug­ten Die­de­rich und Hor­nung sich mit den an­de­ren, ge­schmei­chelt wie je.

Schon hat­te Die­de­rich Selbst­be­herr­schung ge­lernt, Beo­b­ach­tung der For­men, Korps­geist, Ei­fer für das Hö­he­re. Nur mit Mit­leid und Wi­der­wil­len dach­te er an das elen­de Da­sein des schwei­fen­den Wil­den, das frü­her das sei­ne ge­we­sen war. Jetzt war Ord­nung und Pf­licht in sein Le­ben ge­bracht. Zu ge­nau ein­ge­hal­te­nen Stun­den er­schi­en er auf Wie­bels Bude, im Fecht­saal, beim Fri­seur und zum Früh­schop­pen. Der Nach­mit­tags­bum­mel lei­te­te zur Knei­pe über; und je­der Schritt ge­sch­ah in Kor­po­ra­ti­on, un­ter Auf­sicht und mit Wah­rung pein­li­cher For­men und ge­gen­sei­ti­ger Ehr­er­bie­tung, die ge­müt­vol­le Derb­heit nicht aus­schloss. Ein Kom­mi­li­to­ne, mit dem Die­de­rich bis­her nur of­fi­zi­el­len Ver­kehr un­ter­hal­ten hat­te, stieß einst mit ihm vor der Toi­let­te zu­sam­men, und ob­wohl sie bei­de kaum noch ge­ra­de­ste­hen konn­ten, woll­te kei­ner den Vor­tritt an­neh­men. Lan­ge kom­pli­men­tier­ten sie sich – bis sie plötz­lich, im glei­chen Au­gen­blick vom Drang über­wäl­tigt, wie zwei zu­sam­men­pral­len­de Eber durch die Tür bra­chen, dass ih­nen die Schul­ter­kno­chen knack­ten. Das war der Be­ginn ei­ner Freund­schaft. In mensch­li­cher Lage ein­an­der nä­her­ge­kom­men, rück­ten sie nach­her auch am of­fi­zi­el­len Kneip­tisch zu­sam­men, tran­ken Schmol­lis und nann­ten sich »Schwei­ne­hund« und »Nil­pferd«.

Nicht im­mer zeig­te das Ver­bin­dungs­le­ben sei­ne hei­te­re Sei­te. Es for­der­te Op­fer; es übte im männ­li­chen Er­tra­gen des Schmer­zes. De­litzsch selbst, der Quell so man­cher Hei­ter­keit, ver­brei­te­te Trau­er in der Neu­teu­to­nia. Ei­nes Vor­mit­tags, wie Wie­bel und Die­de­rich ihn ab­zu­ho­len ka­men: er stand am Wasch­tisch und sag­te noch: »Na da. Habt ’r heit aach so ä Durscht?« – plötz­lich, ehe sie zu­grei­fen konn­ten, fiel er hin, mit­samt dem Wasch­ge­schirr. Wie­bel be­fühl­te ihn: De­litzsch reg­te sich nicht mehr.

»Herz­klaps«, sag­te Wie­bel kurz. Er ging stramm zur Klin­gel. Die­de­rich hob die Scher­ben auf und trock­ne­te den Bo­den. Dann tru­gen sie De­litzsch auf das Bett. Dem form­lo­sen Ge­jam­mer der Wir­tin ge­gen­über ver­harr­ten bei­de in streng kom­ment­mä­ßi­ger Hal­tung. Un­ter­wegs zur Er­le­di­gung des Wei­te­ren – sie mar­schier­ten im Takt ne­ben­ein­an­der – sag­te Wie­bel mit straf­fer To­des­ver­ach­tung:

»So was kann je­dem von uns pas­sie­ren. Knei­pen ist kein Spaß. Das kann sich je­der ge­sagt sein las­sen.«

Und mit al­len an­de­ren fühl­te Die­de­rich sich ge­ho­ben durch De­litz­sch’ treue Pf­licht­er­fül­lung, durch sei­nen Tod auf dem Fel­de der Ehre. Mit Stolz folg­ten sie dem Sar­ge; »Neu­teu­to­nia sei’s Pa­nier«3 stand in je­der Mie­ne. Auf dem Fried­hof, die um­flor­ten Schlä­ger ge­senkt, hat­ten alle das in sich ver­tief­te Ge­sicht des Krie­gers, den die nächs­te Schlacht da­hin­raf­fen kann, wie die vo­ri­ge den Ka­me­ra­den; und was der Ers­te Char­gier­te von dem Ge­schie­de­nen rühm­te: er habe in der Schu­le der Mann­haf­tig­keit und des Idea­lis­mus den höchs­ten Preis er­run­gen, das er­schüt­ter­te je­den, als gel­te es ihm selbst.

Hier­mit ging Die­de­richs Lehr­zeit zu Ende, denn Wie­bel trat aus, um sich auf den Re­fe­ren­dar vor­zu­be­rei­ten; und fort­an hat­te Die­de­rich die von ihm über­nom­me­nen Grund­sät­ze selbst­stän­dig zu ver­tre­ten und sie den Jün­ge­ren ein­zu­pflan­zen. Er tat es im Ge­fühl ho­her Verant­wort­lich­keit und mit Stren­ge. Wehe dem Fuchs, der es ver­dient hat­te, in die Kan­ne zu stei­gen. Kei­ne fünf Mi­nu­ten ver­gin­gen, und er muss­te sich an den Wän­den hin­austas­ten. Das Schreck­li­che ge­sch­ah, dass ei­ner vor Die­de­rich aus der Tür ging. Sei­ne Buße wa­ren acht Tage Bier­ver­schiß.4 Nicht Stolz oder Ei­gen­lie­be lei­te­ten Die­de­rich: ein­zig sein ho­her Be­griff von der Ehre der Kor­po­ra­ti­on. Er selbst war nur ein Mensch, also nichts; je­des Recht, sein gan­zes An­se­hen und Ge­wicht ka­men ihm von ihr. Auch kör­per­lich ver­dank­te er ihr al­les: die Brei­te sei­nes wei­ßen Ge­sichts, sei­nen Bauch, der ihn den Füch­sen ehr­wür­dig mach­te, und das Pri­vi­leg, bei fest­li­chen An­läs­sen in ho­hen Stie­feln, mit Band und Müt­ze auf­zu­tre­ten, den Ge­nuss der Uni­form! Wohl hat­te er noch im­mer ei­nem Leut­nant Platz zu ma­chen, denn die Kör­per­schaft, der der Leut­nant an­ge­hör­te, war of­fen­bar die hö­he­re; aber we­nigs­tens mit ei­nem Tram­bahn­schaff­ner konn­te er furcht­los ver­keh­ren, ohne Ge­fahr, von ihm an­ge­schnauzt zu wer­den. Sei­ne Männ­lich­keit stand ihm mit Schmis­sen, die das Kinn spal­te­ten, ris­sig durch die Wan­gen fuh­ren und in den kurz ge­scho­re­nen Schä­del hack­ten, dro­hend auf dem Ge­sicht ge­schrie­ben – und wel­che Ge­nug­tu­ung, sie täg­lich und nach Be­lie­ben ei­nem je­den be­wei­sen zu kön­nen! Ein­mal bot sich eine un­er­war­tet glän­zen­de Ge­le­gen­heit. Zu dritt, mit Gott­lieb Hor­nung und dem Dienst­mäd­chen ih­rer Wir­tin, wa­ren sie beim Tanz in Ha­len­see. Seit ei­ni­gen Mo­na­ten teil­ten die Freun­de sich eine Woh­nung, mit der ein ziem­lich hüb­sches Dienst­mäd­chen ver­bun­den war, mach­ten ihr bei­de klei­ne Ge­schen­ke und gin­gen des Sonn­tags ge­mein­sam mit ihr aus. Ob Hor­nung es so weit bei ihr ge­bracht hat­te wie er selbst, dar­über hat­te Die­de­rich sei­ne pri­va­ten Ver­mu­tun­gen. Of­fi­zi­ell und von Ver­bin­dungs we­gen war es ihm un­be­kannt.

Rosa war nicht übel an­ge­zo­gen, auf dem Ball fand sie Be­wer­ber. Da­mit Die­de­rich noch eine Pol­ka be­kam, war er ge­nö­tigt, sie dar­an zu er­in­nern, dass er ihr die Hand­schu­he ge­kauft habe. Schon mach­te er zur Ein­lei­tung des Tan­zes sei­ne kor­rek­te Ver­beu­gung, da dräng­te sich un­ver­se­hens ein an­de­rer da­zwi­schen und polk­te mit Rosa von dan­nen. Be­tre­ten sah Die­de­rich ih­nen nach, im dunklen Ge­fühl, dass er hier wer­de ein­schrei­ten müs­sen. Be­vor er sich aber reg­te, war ein Mäd­chen durch die tan­zen­den Paa­re ge­stürzt, hat­te Rosa geohr­feigt und sie in unz­ar­ter Wei­se von ih­rem Part­ner ge­trennt. Dies se­hen und auf Ro­sas Räu­ber los­mar­schie­ren, war für Die­de­rich eins.

»Mein Herr«, sag­te er und sah ihm fest in die Au­gen, »Ihr Be­neh­men ist un­qua­li­fi­zier­bar.«

Der an­de­re er­wi­der­te:

»Wenn schon.«

Über­rascht von die­ser un­ge­wöhn­li­chen Wen­dung ei­nes of­fi­zi­el­len Ge­sprächs, stam­mel­te Die­de­rich:

»Kno­te.«

Der an­de­re er­wi­der­te prompt:

»Scho­te« – und lach­te da­bei. Durch so viel Form­lo­sig­keit vollends aus der Fas­sung ge­bracht, woll­te Die­de­rich sich schon ver­beu­gen und ab­tre­ten; aber der an­de­re stieß ihn plötz­lich vor den Bauch – und gleich dar­auf wälz­ten sie sich zu­sam­men am Bo­den. Um­ringt von Ge­kreisch und an­feu­ern­den Zu­ru­fen kämpf­ten sie, bis man sie trenn­te. Gott­lieb Hor­nung, der Die­de­richs Klem­mer su­chen half, rief: »Da reißt er aus« – und war schon hin­ter­her. Die­de­rich folg­te. Sie sa­hen den an­de­ren mit ei­nem Beglei­ter ge­ra­de noch in eine Drosch­ke stei­gen und nah­men die nächs­te. Hor­nung be­haup­te­te, die Ver­bin­dung dür­fe das nicht auf sich sit­zen las­sen. »So was kneift und be­küm­mert sich nicht mal mehr um die Dame.«

Die­de­rich er­klär­te:

»Was Rosa be­trifft, die ist für mich er­le­digt.«

»Für mich auch.«

Die Fahrt war auf­re­gend. »Ob wir nach­kom­men? Wir ha­ben einen lah­men Gaul.« – »Wenn der Pro­let nun nicht sa­tis­fak­ti­ons­fä­hig ist?« Man ent­schied: »Dann hat die Sa­che of­fi­zi­ell nicht statt­ge­fun­den.«

Der ers­te Wa­gen hielt im Wes­ten vor ei­nem an­stän­di­gen Haus. Die­de­rich und Hor­nung tra­fen ein, wie das Tor zu­ge­schla­gen ward. Ent­schlos­sen pos­tier­ten sie sich da­vor. Es ward kühl, sie mar­schier­ten hin und her vor dem Hau­se, zwan­zig Schrit­te nach links, zwan­zig Schrit­te nach rechts, be­hiel­ten im­mer die Tür im Auge und wie­der­hol­ten im­mer die­sel­ben erns­ten und weit­tra­gen­den Re­den. Nur Pis­to­len ka­men hier in Fra­ge! Dies­mal war die Ehre der Neu­teu­to­nia teu­er zu be­zah­len! Wenn es nur kein Pro­let war!

End­lich kam der Por­tier zum Vor­schein, und sie nah­men ihn ins Ver­hör. Sie such­ten ihm die Her­ren zu be­schrei­ben, fan­den aber, dass die bei­den kei­ne be­son­de­ren Kenn­zei­chen hat­ten. Hor­nung, noch lei­den­schaft­li­cher als Die­de­rich, blieb da­bei, dass man war­ten müs­se, und noch zwei Stun­den lang mar­schier­ten sie hin und her, dann bo­gen aus dem Hau­se zwei Of­fi­zie­re. Die­de­rich und Hor­nung ris­sen die Au­gen auf, un­ge­wiss, ob hier nicht ein Irr­tum vor­lag. Die Of­fi­zie­re stutz­ten. Ei­ner schi­en so­gar zu er­blei­chen. Da ent­schloss Die­de­rich sich. Er trat vor den Er­bleich­ten hin.

»Mein Herr –«

Die Stim­me ver­sag­te ihm. Der Leut­nant sag­te, ver­le­gen: »Sie ir­ren sich wohl.«

Die­de­rich brach­te her­vor:

»Durchaus nicht. Ich muss Ge­nug­tu­ung for­dern. Sie ha­ben sich –«

»Ich ken­ne Sie ja gar nicht«, stam­mel­te der Leut­nant. Aber sein Ka­me­rad flüs­ter­te ihm et­was zu: »So geht das nicht« – er ließ sich von dem an­de­ren die Kar­te ge­ben, leg­te sei­ne ei­ge­ne dazu und über­reich­te sie Die­de­rich. Die­de­rich gab die sei­ne her; dann las er: »Al­brecht Graf Tau­ern-Bä­ren­heim«. Da nahm er sich nicht mehr die Zeit, auch die an­de­re zu le­sen, son­dern be­gann klei­ne, eif­ri­ge Ver­beu­gun­gen zu voll­füh­ren. Der zwei­te Of­fi­zier wand­te sich in­zwi­schen an Gott­lieb Hor­nung.

»Mein Freund hat den Scherz na­tür­lich ganz harm­los ge­meint. Er wäre selbst­ver­ständ­lich zu je­der Ge­nug­tu­ung be­reit; ich will nur fest­stel­len, dass eine be­lei­di­gen­de Ab­sicht nicht vor­liegt.«

Der an­de­re, den er da­bei an­sah, hob die Schul­tern. Die­de­rich stam­mel­te: »O dan­ke sehr.«

»Da­mit ist die Sa­che wohl er­le­digt«, sag­te der Freund; und die bei­den Her­ren ent­fern­ten sich.

Die­de­rich stand noch da, die Stirn feucht und mit be­fan­ge­nen Sin­nen. Plötz­lich seufz­te er tief auf und lä­chel­te lang­sam.

Nach­her auf der Knei­pe war die Rede nur von die­sem Vor­fall. Die­de­rich rühm­te den Kom­mi­li­to­nen das wahr­haft rit­ter­li­che Ver­hal­ten des Gra­fen.

»Ein wirk­li­cher Edel­mann ver­leug­net sich doch nie.«

Er mach­te den Mund klein wie ein Maus­loch und stieß, in lang­sa­mer Schwel­lung, die Wor­te her­vor:

»F-For­men sind doch kein lee­rer Wahn.«

Im­mer wie­der rief er Gott­lieb Hor­nung als Zeu­gen sei­nes großen Au­gen­blickes auf.

»So gar nichts Stei­fes, wie? Oh! Auf einen doch im­mer­hin ge­wag­ten Scherz kommt es sol­chem Herrn nicht an. Eine Hal­tung da­bei: t-hadel­los, kann ich euch sa­gen. Die Er­klä­run­gen Sei­ner Er­laucht wa­ren so durch­aus be­frie­di­gend, dass ich mei­ner­seits un­mög­lich –: Ihr be­greift, man ist kein Rauh­bein.«

Alle be­grif­fen es und be­stä­tig­ten Die­de­rich, dass die Neu­teu­to­nia in die­ser Sa­che durch­aus an­stän­dig ab­ge­schnit­ten habe. Die Kar­ten der bei­den Edel­leu­te wur­den bei den Füch­sen um­her­ge­reicht und zwi­schen den ge­kreuz­ten Schlä­gern am Kai­ser­bild be­fes­tigt. Kein Neu­teu­to­ne, der sich heu­te nicht be­trank.

*

Da­mit en­de­te das Se­mes­ter; aber Die­de­rich und Hor­nung hat­ten für die Heim­rei­se kein Geld. Das Geld fehl­te ih­nen schon längst für fast al­les. Mit Rück­sicht auf die Pf­lich­ten des Ver­bin­dungs­le­bens war Die­de­richs Wech­sel auf zwei­hun­dert­fünf­zig Mark er­höht wor­den; und doch über­mann­ten ihn die Schul­den. Alle Quel­len schie­nen aus­ge­pumpt, nur dür­res Land sah man, ver­schmach­tend, sich da­hin­deh­nen – und end­lich muss­te man wohl, so we­nig dies Rit­tern an­ge­stan­den hät­te, über die Zu­rück­for­de­rung des­sen be­ra­ten, was sie selbst im Lauf der Zei­ten an Kom­mi­li­to­nen ver­lie­hen hat­ten. Ge­wiss war man­cher alte Herr in­zwi­schen zu großen Gel­dern ge­langt. Hor­nung fand kei­nen; Die­de­rich ver­fiel auf Mahl­mann.

»Bei dem geht es«, er­klär­te er. »Der war bei gar kei­ner Ver­bin­dung: ein ganz ge­mei­ner Rupp­sack. Dem werd’ ich mal auf die Bude stei­gen.«

Aber als Mahl­mann ihn er­blick­te, brach er ohne wei­te­res in sein rie­sen­haf­tes La­chen aus, dass Die­de­rich fast ver­ges­sen hat­te und das ihn so­fort un­wi­der­steh­lich her­ab­stimm­te. Mahl­mann war takt­los! Er hät­te doch füh­len sol­len, dass hier in sei­nem Pa­tent­bü­ro mit Die­de­rich die gan­ze Neu­teu­to­nia mo­ra­lisch zu­ge­gen war, und hät­te Die­de­rich um ih­ret­wil­len Ach­tung er­wei­sen sol­len. Die­de­rich hat­te den Ein­druck, als sei er aus der krafts­pen­den­den Ge­samt­heit jäh her­aus­ge­ris­sen und ste­he hier als ein­zel­ner Mensch vor ei­nem an­de­ren. Eine nicht vor­ge­se­he­ne, un­lieb­sa­me Lage! Umso un­be­fan­ge­ner trug er sei­ne Sa­che vor. Oh! Er wol­le kein Geld zu­rück, das wür­de er ei­nem Ka­me­ra­den nie­mals zu­ge­mu­tet ha­ben! Mahl­mann möge nur so ge­fäl­lig sein, ihm für einen Wech­sel zu bür­gen. Mahl­mann lehn­te sich in sei­nen Schreib­ses­sel zu­rück und sag­te breit und selbst­ver­ständ­lich:

»Nein.«

Die­de­rich, be­trof­fen:

»Wie­so, nein?«

»Bür­gen ist ge­gen mei­ne Prin­zi­pi­en«, er­klär­te Mahl­mann.

Die­de­rich er­rö­te­te vor Ent­rüs­tung. »Aber ich habe doch auch für Sie ge­bürgt, und dann ist der Wech­sel an mich ge­kom­men, und ich muss­te für Sie hun­dert Mark ble­chen. Sie ha­ben sich ge­hü­tet!«

»Se­hen Sie wohl? Und wenn ich jetzt für Sie bür­gen woll­te, wür­den Sie auch nicht be­zah­len.«

Die­de­rich riss nur noch die Au­gen auf.

»Nein, Freund­chen«, schloss Mahl­mann; »wenn ich Selbst­mord be­ge­hen will, brauch’ ich Sie nicht dazu.«

Die­de­rich fass­te sich, er sag­te her­aus­for­dernd:

»Sie ha­ben wohl kei­nen Kom­ment, mein Herr.«

»Nein«, wie­der­hol­te Mahl­mann und lach­te un­ge­heu­er­lich.

Mit äu­ßers­tem Nach­druck stell­te Die­de­rich fest: »Dann schei­nen Sie über­haupt ein Schwind­ler zu sein. Es soll ja ge­wis­se Pa­tent­schwind­ler ge­ben.«

Mahl­mann lach­te nicht mehr; die Au­gen in sei­nem klei­nen Kopf wa­ren tückisch ge­wor­den, und er stand auf. »Nun müs­sen Sie ’r­aus­ge­hen«, sag­te er, ohne Er­re­gung. »Un­ter uns wäre es wohl Wurst, aber ne­ben­an sit­zen mei­ne An­ge­stell­ten, die dür­fen so was nicht hö­ren.«

Er pack­te Die­de­rich an den Schul­tern, dreh­te ihn her­um und schob ihn vor sich her. Für je­den Ver­such, sich los­zu­ma­chen, be­kam Die­de­rich einen mäch­ti­gen Knuff.

»Ich for­de­re Ge­nug­tu­ung«, schrie er. »Sie müs­sen sich mit mir schla­gen!«

»Ich bin schon da­bei. Mer­ken Sie es nicht? Dann will ich noch einen ru­fen.« Er öff­ne­te die Tür. »Fried­rich!« Und Die­de­rich ward ei­nem Pa­cker über­lie­fert, der ihn die Trep­pe hin­ab­be­för­der­te. Mahl­mann rief ihm nach:

»Nichts für un­gut, Freund­chen. Wenn Sie ein an­der­mal was auf dem Her­zen ha­ben, kom­men Sie ru­hig wie­der!«

Die­de­rich brach­te sich in Ord­nung und ver­ließ das Haus in gu­ter Hal­tung. Umso schlim­mer für Mahl­mann, wenn er sich so auf­führ­te! Die­de­rich hat­te sich nichts vor­zu­wer­fen; vor ei­nem Ehren­ge­richt wäre er glän­zend da­ge­stan­den. Et­was höchst An­stö­ßi­ges blieb es, dass ein ein­zel­ner sich so viel er­lau­ben konn­te; Die­de­rich war ge­kränkt im Na­men sämt­li­cher Kor­po­ra­tio­nen. An­de­rer­seits war es nicht zu leug­nen, dass Mahl­mann Die­de­richs alte Hochach­tung wie­der be­trächt­lich auf­ge­frischt hat­te. »Ein ganz ge­mei­ner Hund«, dach­te Die­de­rich. »Aber so muss man sein …«

Zu Hau­se lag ein ein­ge­schrie­be­ner Brief.

»Nun kön­nen wir fort­ma­chen«, sag­te Hor­nung.

»Wie­so wir? Ich brauch’ mein Geld selbst.«

»Du machst wohl Spaß. Ich kann hier doch nicht al­lein sit­zen­blei­ben.«

»Dann such’ dir Ge­sell­schaft!«

Die­de­rich schlug ein sol­ches Ge­läch­ter auf, dass Hor­nung ihn für ver­rückt hielt. Da­rauf reis­te er wirk­lich.

Un­ter­wegs sah er erst, dass der Brief von sei­ner Mut­ter adres­siert war. Das war un­ge­wöhn­lich … Seit ih­rer letz­ten Kar­te, sag­te sie, sei es mit sei­nem Va­ter noch viel schlim­mer ge­wor­den. Wa­rum Die­de­rich nicht ge­kom­men sei.

»Wir müs­sen uns auf das Ent­setz­lichs­te ge­fasst ma­chen. Wenn Du un­se­ren in­nigst ge­lieb­ten Papa noch ein­mal se­hen willst, o dann säu­me nicht län­ger, mein Sohn!«

Bei die­ser Aus­drucks­wei­se ward es Die­de­rich un­ge­müt­lich. Er ent­schloss sich, sei­ner Mut­ter ein­fach nicht zu glau­ben. »Wei­bern glaub’ ich über­haupt nichts, und mit Mama ist es nun mal nicht rich­tig.«

Trotz­dem tat Herr Hess­ling bei Die­de­richs An­kunft ge­ra­de die letz­ten Atem­zü­ge.

*

Von dem An­blick über­wäl­tigt, brach Die­de­rich gleich auf der Schwel­le in ein ganz form­lo­ses Ge­heul aus. Er stol­per­te zum Bett, sein Ge­sicht war im Au­gen­blick nass wie beim Wa­schen; und mit den Ar­men tat er lau­ter kur­ze Flü­gel­schlä­ge und ließ sie macht­los ge­gen die Hüf­ten klap­pen. Plötz­lich er­kann­te er auf der De­cke des Va­ters rech­te Hand, knie­te hin und küss­te sie. Frau Hess­ling, ganz still und klein selbst noch bei den letz­ten Atem­zü­gen ih­res Herrn, tat drü­ben das­sel­be mit der lin­ken. Die­de­rich dach­te dar­an, wie die­ser ver­küm­mer­te schwar­ze Fin­ger­na­gel auf sei­ne Wan­ge zu­ge­flo­gen war, wenn der Va­ter ihn ohr­feig­te; und er wein­te laut. Die Prü­gel gar, als er von den Lum­pen die Knöp­fe ge­stoh­len hat­te! Die­se Hand war schreck­lich ge­we­sen; Die­de­richs Herz krampf­te sich, nun er sie ver­lie­ren soll­te. Er fühl­te, dass sei­ne Mut­ter das glei­che im Sinn hat­te, und sie ahn­te sei­ne Ge­dan­ken. Auf ein­mal san­ken sie ein­an­der, über das Bett hin­weg, in die Arme.

Bei den Kon­do­lenz­be­su­chen hat­te Die­de­rich sich zu­rück. Er ver­trat vor ganz Net­zig, stramm und for­men­si­cher, die Neu­teu­to­nia, sah sich an­ge­staunt und ver­gaß dar­über fast, dass er trau­er­te. Dem al­ten Herrn Buck ging er bis zur äu­ße­ren Tür ent­ge­gen. Die Be­leibt­heit des großen Man­nes von Net­zig ward ma­je­stä­tisch in sei­nem glän­zen­den Geh­rock. Wür­de­voll trug er den um­ge­wen­de­ten Zy­lin­der­hut vor sich her; und die an­de­re, vom schwar­zen Hand­schuh ent­blö­ßte Hand, die er Die­de­rich reich­te, fühl­te sich über­ra­schend zart­flei­schig an. Sei­ne blau­en Au­gen dran­gen warm in Die­de­rich ein, und er sag­te:

»Ihr Va­ter war ein gu­ter Bür­ger. Jun­ger Mann, wer­den Sie auch ei­ner! Ha­ben Sie im­mer Ach­tung vor den Rech­ten Ih­rer Mit­menschen! Das ge­bie­tet Ih­nen Ihre ei­ge­ne Men­schen­wür­de. Ich hof­fe, wir wer­den hier in un­se­rer Stadt noch zu­sam­men für das Ge­mein­wohl ar­bei­ten. Sie wer­den jetzt wohl fer­tig stu­die­ren?«

Die­de­rich konn­te kaum das Ja her­aus­brin­gen, so sehr ver­stör­te ihn die Ehr­furcht. Der alte Buck frag­te in leich­te­rem Ton:

»Hat mein Jüngs­ter Sie in Ber­lin schon auf­ge­sucht? Nein? O, das soll er tun. Er stu­diert jetzt auch dort. Wird aber wohl bald sein Jahr ab­die­nen. Ha­ben Sie das schon hin­ter sich?«

»Nein« – und Die­de­rich ward sehr rot. Er stam­mel­te Ent­schul­di­gun­gen. Es sei ihm bis­her ganz un­mög­lich ge­we­sen, das Stu­di­um zu un­ter­bre­chen. Aber der alte Buck zuck­te die Ach­seln, als sei der Ge­gen­stand un­er­heb­lich.

Durch das Te­sta­ment des Va­ters war Die­de­rich ne­ben dem al­ten Buch­hal­ter Söt­bier zum Vor­mund sei­ner bei­den Schwes­tern be­stimmt. Söt­bier be­lehr­te ihn, dass ein Ka­pi­tal von sieb­zig­tau­send Mark da sei, das als Mit­gift der Mäd­chen die­nen sol­le. Nicht ein­mal die Zin­sen durf­ten an­ge­grif­fen wer­den. Der Rein­ge­winn aus der Fa­brik hat­te in den letz­ten Jah­ren durch­schnitt­lich neun­tau­send Mark be­tra­gen. »Mehr nicht?« frag­te Die­de­rich. Söt­bier sah ihn an, zu­erst ent­setzt, dann vor­wurfs­voll. Wenn der jun­ge Herr sich vor­stel­len könn­te, wie sein se­li­ger Va­ter und Söt­bier das Ge­schäft her­auf­ge­ar­bei­tet hät­ten! Ge­wiss war es ja noch aus­deh­nungs­fä­hig …

»Na, is jut«, sag­te Die­de­rich. Er sah, dass hier vie­les ge­än­dert wer­den müs­se. Von ei­nem Vier­tel von neun­tau­send Mark soll­te er le­ben? Die­se Zu­mu­tung des Ver­stor­be­nen em­pör­te ihn. Als sei­ne Mut­ter be­haup­te­te, der Se­li­ge habe auf dem Ster­be­bet­te die Zu­ver­sicht ge­äu­ßert, in sei­nem Sohn Die­de­rich wer­de er fort­le­ben, und Die­de­rich wer­de sich nie­mals ver­hei­ra­ten, um im­mer für die Sei­nen zu sor­gen, da brach Die­de­rich aus: »Va­ter war nicht so krank­haft sen­ti­men­tal wie du«, schrie er, »und er log auch nicht.« Frau Hess­ling glaub­te den Se­li­gen zu hö­ren und duck­te sich. Dies be­nutz­te Die­de­rich, um sei­nen Mo­nats­wech­sel um fünf­zig Mark er­hö­hen zu las­sen.

»Zu­nächst«, sag­te er rau, »hab’ ich mein Jahr ab­zu­die­nen. Das kos­tet, was es kos­tet. Mit eu­ren klein­li­chen Geld­ge­schich­ten könnt ihr mir spä­ter kom­men.«

Er be­stand so­gar dar­auf, in Ber­lin ein­zu­tre­ten. Der Tod des Va­ters hat­te ihm wil­de Frei­heits­ge­füh­le ge­ge­ben. Nachts frei­lich träum­te er, der alte Herr tre­te aus dem Kon­tor, mit dem er­grau­ten Ge­sicht, das er als Lei­che ge­habt hat­te – und schwit­zend er­wach­te Die­de­rich.

Er reis­te, ver­se­hen mit dem Se­gen der Mut­ter. Gott­lieb Hor­nung und ihre ge­mein­sa­me Rosa konn­te er fort­an nicht brau­chen und zog um. Den Neu­teu­to­nen zeig­te er in an­ge­mes­se­ner Form sei­ne ver­än­der­ten Le­ben­sum­stän­de an. Die Bur­schen­herr­lich­keit war vor­über. Der Ab­schieds­kom­mers! Trau­er­sa­la­man­der wur­den ge­rie­ben, die für Die­de­richs al­ten Herrn be­stimmt wa­ren, aber die auch ihm und sei­ner schöns­ten Blü­te­zeit gel­ten konn­ten. Vor lau­ter Hin­ga­be ge­lang­te er un­ter den Tisch, wie am Abend sei­ner Auf­nah­me als Kon­knei­pant; und war nun al­ter Herr.

Arg ver­ka­tert stand er tags dar­auf, in­mit­ten an­de­rer jun­ger Leu­te, die alle, wie er selbst, ganz nackt aus­ge­zo­gen wa­ren, vor dem Stabs­arzt. Die­ser Herr sah an­ge­wi­dert über all das männ­li­che Fleisch hin, das ihm un­ter­brei­tet war; an Die­de­richs Bauch aber ward sein Blick höh­nisch. So­fort grins­ten alle rings­um, und Die­de­rich blieb nichts üb­rig, als auch sei­ner­seits die Au­gen auf sei­nen Bauch zu sen­ken, der er­rö­tet war … Der Stabs­arzt hat­te sei­nen vol­len Ernst zu­rück. Ei­nem, der nicht so scharf hör­te, wie es Vor­schrift war, er­ging es schlecht, denn man kann­te die Si­mu­lan­ten! Ein an­de­rer, der noch dazu Le­vy­sohn hieß, be­kam die Leh­re: »Wenn Sie mich wie­der mal hier be­läs­ti­gen, dann wa­schen Sie sich we­nigs­tens!« Bei Die­de­rich hieß es:

»Ih­nen wol­len wir das Fett schon weg­ku­rie­ren. Vier Wo­chen Dienst, und ich ga­ran­tie­re Ih­nen, dass Sie aus­se­hen wie ein Chris­ten­mensch.«

Da­mit war er an­ge­nom­men. Die Aus­ge­mus­ter­ten fuh­ren so schnell in ihre Klei­der, als brenn­te die Ka­ser­ne. Die für taug­lich Be­fun­de­nen sa­hen ein­an­der prü­fend von der Sei­te an und ent­fern­ten sich zau­dernd, als er­war­te­ten sie, dass eine schwe­re Hand sich ih­nen auf die Schul­tern lege. Ei­ner, ein Schau­spie­ler mit ei­nem Ge­sicht, als sei ihm al­les eins, kehr­te um, stell­te sich noch­mals vor den Stabs­arzt hin und sag­te laut, mit sorg­fäl­ti­ger Auss­pra­che: »Ich möch­te noch hin­zu­fü­gen, dass ich ho­mo­se­xu­ell bin.«

Der Stabs­arzt wich zu­rück, er war ganz rot. Stimm­los sag­te er: »Sol­che Schwei­ne kön­nen wir al­ler­dings nicht brau­chen.«

Die­de­rich drück­te den künf­ti­gen Ka­me­ra­den sei­ne Ent­rüs­tung aus über ein so scham­lo­ses Ver­fah­ren. Dann sprach er noch den Un­ter­of­fi­zier an, der vor­her an der Wand sei­ne Kör­per­län­ge ge­mes­sen hat­te, und be­teu­er­te ihm, dass er froh sei. Trotz­dem schrieb er nach Net­zig an den prak­ti­schen Arzt Dr. Heu­teu­fel, der ihn als Jun­gen im Hals ge­pin­selt hat­te: ob der Dok­tor ihm nicht be­schei­ni­gen wol­le, dass er skro­fu­lös und ra­chi­tisch sei. Er kön­ne sich doch nicht rui­nie­ren las­sen mit der Schin­de­rei. Aber die Ant­wort lau­te­te, er sol­le nur nicht knei­fen, das Die­nen wer­de ihm treff­lich be­kom­men. So gab Die­de­rich denn sein Zim­mer wie­der auf und fuhr mit sei­nem Hand­kof­fer in die Ka­ser­ne. Wenn man schon vier­zehn Tage dort woh­nen muss­te, konn­te man so lan­ge die Mie­te spa­ren.

So­fort ging es mit Reck­tur­nen, Sprin­gen und an­de­ren atem­rau­ben­den Din­gen an. Kom­pa­nie­wei­se ward man in den Kor­ri­do­ren, die »Ray­ons« hie­ßen, »ab­ge­rich­tet«. Leut­nant von Kul­lerow trug eine un­be­tei­lig­te Hochnä­sig­keit zur Schau, die Ein­jäh­ri­gen be­trach­te­te er nie an­ders als mit ei­nem zu­ge­knif­fe­nen Auge. Plötz­lich schrie er: »Abrich­ter!« und gab den Un­ter­of­fi­zie­ren eine In­struk­ti­on, wor­auf er sich ver­ach­tungs­voll ab­wand­te. Beim Ex­er­zie­ren im Ka­ser­nen­hof, beim Glie­der­bil­den, Sich­zer­streu­en und Platz­wech­seln ward wei­ter nichts be­ab­sich­tigt, als die »Kerls« um­her­zu­het­zen. Ja, Die­de­rich fühl­te wohl, dass al­les hier, die Be­hand­lung, die ge­läu­fi­gen Aus­drücke, die gan­ze mi­li­tä­ri­sche Tä­tig­keit vor al­lem dar­auf hin­ziel­te, die per­sön­li­che Wür­de auf ein Min­dest­maß her­ab­zu­set­zen. Und das im­po­nier­te ihm; es gab ihm, so elend er sich be­fand, und ge­ra­de dann, eine tie­fe Ach­tung ein und et­was wie selbst­mör­de­ri­sche Be­geis­te­rung. Prin­zip und Ide­al war er­sicht­lich das glei­che wie bei den Neu­teu­to­nen, nur ward es grau­sa­mer durch­ge­führt. Die Pau­sen der Ge­müt­lich­keit, in de­nen man sich sei­nes Men­schen­tums er­in­nern durf­te, fie­len fort. Jäh und un­ab­än­der­lich sank man zur Laus her­ab, zum Be­stand­teil, zum Roh­stoff, an dem ein un­er­mess­li­cher Wil­le kne­te­te. Wahn­sinn und Ver­der­ben wäre es ge­we­sen, auch nur im ge­heims­ten Her­zen sich auf­zu­leh­nen. Höchs­tens konn­te man, ge­gen die ei­ge­ne Über­zeu­gung, sich manch­mal drücken. Die­de­rich war beim Lau­fen ge­fal­len, der Fuß tat ihm weh. Nicht, dass er ge­ra­de hät­te hin­ken müs­sen, aber er hin­k­te und durf­te, wie die Kom­pa­nie »ins Ge­län­de« mar­schier­te, zu­rück­blei­ben. Um dies zu er­rei­chen, war er zu­nächst an den Haupt­mann selbst her­an­ge­tre­ten. »Herr Haupt­mann, bit­te –« Wel­che Ka­ta­stro­phe! Er hat­te, in sei­ner Ah­nungs­lo­sig­keit, vor­wit­zig das Wort an eine Macht ge­rich­tet, von der man stumm und auf den Kni­en des Geis­tes Be­feh­le ent­ge­gen­zu­neh­men hat­te! Der man sich nur »vor­füh­ren« las­sen konn­te! Der Haupt­mann don­ner­te, dass die Un­ter­of­fi­zie­re zu­sam­men­lie­fen, mit Mie­nen, in de­nen das Ent­set­zen vor ei­ner Läs­te­rung stand. Die Fol­ge war, dass Die­de­rich stär­ker hin­k­te und einen Tag län­ger vom Dienst be­freit wer­den muss­te.

Un­ter­of­fi­zier Van­se­low, der für die Un­tat sei­nes Ein­jäh­ri­gen ver­ant­wort­lich war, sag­te zu Die­de­rich nur: »Das will ein ge­bil­de­ter Mensch sein!« Er war es ge­wohnt, dass al­les Un­heil von den Ein­jäh­ri­gen kam. Van­se­low schlief in ih­rem Mann­schafts­zim­mer hin­ter ei­nem Ver­schlag. Nach dem Licht­lö­schen zo­te­ten sie, bis der Un­ter­of­fi­zier em­pört da­zwi­schen­schrie: »Das wol­len ge­bil­de­te Leu­te sein!« Trotz sei­ner lan­gen Er­fah­rung er­war­te­te er im­mer noch von den Ein­jäh­ri­gen mehr Geist und gute Hal­tung als von den an­de­ren Leu­ten und war im­mer neu ent­täuscht. In Die­de­rich sah er kei­nes­wegs den Schlimms­ten. Das Bier, das ei­ner zahl­te, ent­schied nicht al­lein über Van­se­lows Mei­nung. Noch mehr sah Van­se­low auf den sol­da­ti­schen Geist freu­di­ger Un­ter­wer­fung, und den hat­te Die­de­rich. In der In­struk­ti­ons­stun­de konn­te man ihn den an­de­ren als Mus­ter vor­hal­ten. Die­de­rich zeig­te sich ganz er­füllt von den mi­li­tä­ri­schen Idea­len der Tap­fer­keit und der Ehr­lie­be. Was die Ab­zei­chen und die Rang­ord­nung be­traf, so schi­en der Sinn da­für ihm an­ge­bo­ren. Van­se­low sag­te: »Jetzt bin ich der Herr Kom­man­die­ren­de Ge­ne­ral«, und auf der Stel­le be­nahm Die­de­rich sich, als glaub­te er es. Wenn es aber hieß: »Jetzt bin ich ein Mit­glied der Kö­nig­li­chen Fa­mi­lie«, dann war Die­de­richs Ver­hal­ten so, dass es dem Un­ter­of­fi­zier ein Lä­cheln des Grö­ßen­wahns ab­nö­tig­te.

Im Pri­vat­ge­spräch in der Kan­ti­ne er­öff­ne­te Die­de­rich sei­nem Vor­ge­setz­ten, dass er vom Sol­da­ten­le­ben be­geis­tert sei. »Das Auf­ge­hen im großen Gan­zen!« sag­te er. Er wün­sche sich nichts auf der Welt, als ganz da­bei­zu­blei­ben. Und er war auf­rich­tig – was aber nicht hin­der­te, dass er am Nach­mit­tag, bei den Übun­gen »im Ge­län­de«, kei­nen an­de­ren Wunsch mehr kann­te, als sich in den Gra­ben zu le­gen und nicht mehr vor­han­den zu sein. Die Uni­form, die oh­ne­dies, aus Rück­sich­ten der Stramm­heit, zu eng ge­schnit­ten war, ward nach dem Es­sen zum Mar­ter­werk­zeug. Was half es, dass der Haupt­mann, bei sei­nen Kom­man­dos, sich un­säg­lich kühn und krie­ge­risch auf dem Pferd her­um­setz­te, wenn man selbst, ren­nend und schnau­fend, die Sup­pe un­ver­daut im Ma­gen schlen­kern fühl­te. Die sach­li­che Be­geis­te­rung, zu der Die­de­rich völ­lig be­reit war, muss­te zu­rück­tre­ten hin­ter der per­sön­li­chen Not. Der Fuß schmerz­te wie­der; und Die­de­rich lausch­te auf den Schmerz, in der angst­vol­len, mit Selbst­ver­ach­tung ver­bun­de­nen Hoff­nung, es möch­te schlim­mer wer­den, so schlimm, dass er nicht wie­der »ins Ge­län­de« hin­aus muss­te, dass er viel­leicht nicht ein­mal mehr im Ka­ser­nen­hof üben konn­te und dass man ge­nö­tigt war, ihn zu ent­las­sen!

Es kam da­hin, dass er am Sonn­tag den al­ten Herrn ei­nes Korps­bru­ders auf­such­te, der Ge­hei­mer Sa­ni­täts­rat war. Er müs­se ihn um sei­nen Bei­stand bit­ten, sag­te Die­de­rich, rot vor Scham. Er sei be­geis­tert für die Ar­mee, für das große Gan­ze, und wäre am liebs­ten ganz da­bei­ge­blie­ben. Man sei da in ei­nem groß­ar­ti­gen Be­trieb, ein Teil der Macht so­zu­sa­gen, und wis­se im­mer, was man zu tun habe: das sei ein herr­li­ches Ge­fühl. Aber der Fuß tue nun ein­mal weh. »Man darf es doch nicht so weit kom­men las­sen, dass er un­brauch­bar wird. Schließ­lich habe ich Mut­ter und Ge­schwis­ter zu er­näh­ren.« Der Ge­heim­rat un­ter­such­te ihn. »Neu­teu­to­nia sei’s Pa­nier«, sag­te er. »Ich ken­ne zu­fäl­lig Ihren Ober­stabs­arzt.« Hier­von war Die­de­rich durch sei­nen Korps­bru­der un­ter­rich­tet. Er emp­fahl sich, voll ban­ger Hoff­nung.

Die Hoff­nung be­wirk­te, dass er am nächs­ten Mor­gen kaum noch auf­tre­ten konn­te. Er mel­de­te sich krank. »Wer sind Sie, was be­läs­ti­gen Sie mich?« – und der Stabs­arzt maß ihn. »Sie se­hen aus wie das Le­ben, Ihr Bauch ist auch schon klei­ner.« Aber Die­de­rich stand stramm und blieb krank; der Vor­ge­setz­te muss­te sich zu ei­ner Un­ter­su­chung her­bei­las­sen. Als er den Fuß zu Ge­sicht be­kam, er­klär­te er, wenn er sich nicht eine Zi­gar­re an­zün­de, wer­de ihm un­wohl wer­den. Trotz­dem war nichts zu fin­den an dem Fuß. Der Stabs­arzt stieß ihn ent­rüs­tet vom Stuhl. »Macht Dienst, Schluss, ab­tre­ten« – und Die­de­rich war er­le­digt. Mit­ten im Ex­er­zie­ren aber schrie er plötz­lich auf und fiel um. Er ward ins »Re­vier« ge­bracht, den Auf­ent­halt der Leich­ter­krank­ten, wo es nach Volk roch und nichts zu es­sen gab. Denn die Selbst­be­kö­s­ti­gung, die dem Ein­jäh­ri­gen zu­stand, war hier nur schwer zu be­werk­stel­li­gen, und von den Ra­tio­nen der an­de­ren be­kam er nichts. Vor Hun­ger mel­de­te er sich ge­sund. Ab­ge­schnit­ten von mensch­li­chem Schutz, von al­len sitt­li­chen Rech­ten der bür­ger­li­chen Welt, trug er sein düs­te­res Ge­schick – ei­nes Mor­gens aber, als alle Hoff­nung schon da­hin war, hol­te man ihn vom Ex­er­zie­ren weg auf das Zim­mer des Ober­stabs­arz­tes. Die­ser hohe Vor­ge­setz­te wünsch­te ihn zu un­ter­su­chen. Er hat­te einen ver­le­gen mensch­li­chen Ton und schlug dann wie­der in mi­li­tä­ri­sche Schroff­heit um, die gleich­falls nicht un­be­fan­gen wirk­te. Auch er schi­en nichts Rech­tes zu fin­den, das Er­geb­nis sei­nes Ein­grei­fens aber klang trotz­dem an­ders. Die­de­rich soll­te nur »vor­läu­fig« wei­ter Dienst ma­chen, das Wei­te­re wer­de sich schon er­ge­ben. »Bei dem Fuß …«

Ei­ni­ge Tage spä­ter trat ein »Re­vier«-ge­hil­fe an Die­de­rich her­an und fer­tig­te auf ge­schwärz­tem Pa­pier einen Ab­druck des ver­häng­nis­vol­len Fu­ßes. Die­de­rich ward ge­nö­tigt, im Re­vier­zim­mer zu war­ten. Der Stabs­arzt ging eben um­her und nahm Ge­le­gen­heit, ihm sei­ne vol­le Ver­ach­tung aus­zu­drücken. »Nicht mal Platt­fuß! Stinkt vor Faul­heit!« Da aber ward die Tür auf­ge­sto­ßen, und der Ober­stabs­arzt, die Müt­ze auf dem Kopf, hielt sei­nen Ein­zug. Sein Schritt war fes­ter und ziel­be­wus­s­ter als sonst, er sah nicht rechts noch links, wort­los stell­te er sich vor sei­nem Un­ter­ge­be­nen auf, den Blick fins­ter und streng auf des­sen Müt­ze. Der Stabs­arzt stutz­te, er muss­te sich in eine Lage fin­den, die er­sicht­lich die ge­wohn­te Kol­le­gia­li­tät nicht mehr zuließ. Nun hat­te er sie er­fasst, nahm die Müt­ze her­un­ter und stand stramm. Da­rauf zeig­te der Vor­ge­setz­te ihm das Pa­pier mit dem Fuß, sprach lei­se und mit ei­ner Be­to­nung, die ihm be­fahl, et­was zu se­hen, was nicht da war. Der Stabs­arzt blin­zel­te ab­wech­selnd den Vor­ge­setz­ten, Die­de­rich und das Pa­pier an. Dann zog er die Ab­sät­ze zu­sam­men: er hat­te das Be­foh­le­ne ge­se­hen.

Als der Ober­stabs­arzt fort war, nä­her­te der Stabs­arzt sich Die­de­rich. Höf­lich, mit ei­nem lei­sen Lä­cheln des Ein­ver­ständ­nis­ses, sag­te er:

»Der Fall war na­tür­lich von An­fang an klar. Man muss­te nur der Leu­te we­gen – Sie ver­ste­hen, die Dis­zi­plin –.«

Die­de­rich be­kun­de­te durch Stramm­ste­hen, dass er al­les ver­ste­he.

»Aber«, wie­der­hol­te der Stabs­arzt, »ich habe na­tür­lich ge­wusst, wie Ihr Fall lag.«

Die­de­rich dach­te: »Wenn du es nicht ge­wusst hast, jetzt weißt du es.« Laut sag­te er:

»Ge­stat­te mir ge­hor­samst zu fra­gen, Herr Stabs­arzt: Ich wer­de doch wei­ter­die­nen dür­fen?«

»Da­für kann ich Ih­nen nicht ga­ran­tie­ren«, sag­te der Stabs­arzt und mach­te kehrt.

Vom schwe­ren Dienst war Die­de­rich fort­an be­freit, das »Ge­län­de« sah ihn nicht mehr. Umso wil­li­ger und freu­di­ger war sein Ver­hal­ten in der Ka­ser­ne. Wenn des Abends beim Ap­pell der Haupt­mann, die Zi­gar­re im Mun­de und leicht an­ge­trun­ken, aus dem Ka­si­no kam, um für Stie­fel, die nicht ge­schmiert, son­dern ge­wichst wa­ren, Mit­telar­rest zu ver­hän­gen: an Die­de­rich fand er nichts aus­zu­set­zen. Umso un­er­bitt­li­cher übte er sei­ne ge­rech­te Stren­ge an ei­nem Ein­jäh­ri­gen, der nun schon im drit­ten Mo­nat straf­wei­se im Mann­schafts­zim­mer schla­fen muss­te, weil er einst, wäh­rend der ers­ten vier­zehn Tage, nicht dort, son­dern zu Hau­se ge­schla­fen hat­te. Er hat­te da­mals vier­zig Grad Fie­ber ge­habt und wäre, wenn er sei­ne Pf­licht ge­tan hät­te, viel­leicht ge­stor­ben. Dann wäre er eben ge­stor­ben! Der Haupt­mann hat­te, so­oft er die­sen Ein­jäh­ri­gen an­sah, ein Ge­sicht voll stol­zer Ge­nug­tu­ung. Die­de­rich da­hin­ten, klein und un­ver­sehrt, dach­te: »Siehst du wohl? Die Neu­teu­to­nia und ein Ge­hei­mer Sa­ni­täts­rat sind mehr wert als vier­zig Grad Fie­ber …« Was Die­de­rich be­traf, so wa­ren die amt­li­chen For­ma­li­tä­ten ei­nes Ta­ges glück­lich er­füllt, und der Un­ter­of­fi­zier Van­se­low ver­kün­de­te ihm sei­ne Ent­las­sung. Die­de­rich hat­te so­fort die Au­gen voll Trä­nen; er drück­te Van­se­low warm die Hand.

»Gera­de muss mir das pas­sie­ren, und ich hat­te doch« – er schluchz­te – »so viel Freu­dig­keit.«

Und dann war er »drau­ßen«.

*

Vier Wo­chen lang blieb er zu Hau­se und büf­fel­te. Wenn er zum Es­sen ging, sah er sich um, ob ein Be­kann­ter ihn be­merk­te. End­lich muss­te er sich den Neu­teu­to­nen wohl zei­gen. Er trat her­aus­for­dernd auf.

»Wer von euch noch nicht da­bei war, hat kei­ne Ah­nung. Ich sage euch, da sieht man die Welt von ei­nem an­de­ren Stand­punkt. Ich wäre über­haupt da­bei­ge­blie­ben, mei­ne Vor­ge­setz­ten rie­ten es mir, ich sei her­vor­ra­gend qua­li­fi­ziert. Na und da –«

Er starr­te schmerz­lich vor sich hin.

»Das Un­glück mit dem Gaul. Das kommt da­von, wenn man ein zu gu­ter Sol­dat ist. Der Haupt­mann lässt einen in sei­nem Do­g­cart5 fah­ren, da­mit der Gaul mal be­wegt wird, und da ist das Un­glück pas­siert. Na­tür­lich habe ich den Fuß nicht ge­schont und zu früh wie­der Dienst ge­macht. Die Sa­che ver­schlim­mer­te sich er­heb­lich, der Stabs­arzt gab mir an­heim, für jede Even­tua­li­tät mei­ne An­ge­hö­ri­gen zu be­nach­rich­ti­gen.«

Dies sag­te er knapp und männ­lich.

»Da hät­tet ihr nun den Haupt­mann se­hen sol­len. Täg­lich kam er selbst, nach den größ­ten Mär­schen, mit be­staub­ter Uni­form, wie er war. So was gibt es auch nur beim Mi­li­tär. Wir sind in den bö­sen Ta­gen wah­re Ka­me­ra­den ge­wor­den. Hier die Zi­gar­re ist noch von ihm. Und als er mir dann ein­ge­ste­hen muss­te, der Stabs­arzt wol­le mich fort­schi­cken, ich kann euch ver­si­chern, das war ei­ner der Au­gen­bli­cke im Le­ben, die man nicht ver­gisst. Der Haupt­mann und ich, wir krieg­ten bei­de gleich­zei­tig feuch­te Au­gen.«

Alle wa­ren er­schüt­tert. Die­de­rich sah tap­fer um sich.

»Na, jetzt soll man sich also wie­der in das bür­ger­li­che Le­ben hin­ein­fin­den. Prost.«

Er büf­fel­te wei­ter; und am Sonn­abend kneip­te er mit den Neu­teu­to­nen. Auch Wie­bel er­schi­en wie­der. Er war As­ses­sor, auf dem Wege zum Staats­an­walt und sprach nur noch von »sub­ver­si­ven Ten­den­zen«, »Va­ter­lands­fein­den« und auch vom »christ­lich-so­zia­len Ge­dan­ken«. Er er­klär­te den Füch­sen, es sei an der Zeit, sich mit Po­li­tik zu be­schäf­ti­gen. Er wis­se wohl, dass es nicht für vor­nehm gel­te, aber die Geg­ner zwän­gen einen dazu. Hoch­feu­da­le Her­ren, wie sein Freund, der As­ses­sor von Bar­nim, sei­en in der Be­we­gung. Herr von Bar­nim wer­de dem­nächst den Neu­teu­to­nen die Ehre ge­ben.

Er kam, und er ge­wann alle Her­zen, denn er be­nahm sich wie gleich zu gleich. Er hat­te dunkles, glatt ge­schei­tel­tes Haar, das We­sen ei­nes pflicht­eif­ri­gen Be­am­ten, sprach sach­lich – aber am Schluss sei­nes Vor­tra­ges be­kam er Schwär­me­rau­gen und ver­ab­schie­de­te sich rasch, mit war­men Hän­de­drücken. Die Neu­teu­to­nen stimm­ten nach sei­nem Be­such alle dar­in über­ein, dass der jü­di­sche Li­be­ra­lis­mus die Vor­frucht der So­zi­al­de­mo­kra­tie sei und dass die christ­li­chen Deut­schen sich um den Hof­pre­di­ger Stö­cker zu scha­ren hät­ten. Die­de­rich ver­band, wie die an­de­ren, mit dem Wort »Vor­frucht« kei­nen deut­li­chen Sinn und ver­stand un­ter »So­zi­al­de­mo­kra­tie« nur eine all­ge­mei­ne Tei­le­rei. Das ge­nüg­te ihm auch. Aber Herr von Bar­nim hat­te je­den, der nä­he­re Auf­klä­rung wünsch­te, zu sich ein­ge­la­den, und Die­de­rich wür­de es sich nicht ver­zie­hen ha­ben, wenn er eine so schmei­chel­haf­te Ge­le­gen­heit ver­säumt hät­te.

In sei­ner kal­ten, alt­mo­di­schen Jung­ge­sel­len­woh­nung hielt Herr von Bar­nim ihm ein Pri­va­tis­si­mum. Sein po­li­ti­sches Ziel war eine stän­di­sche Volks­ver­tre­tung, wie im glück­li­chen Mit­tel­al­ter: Rit­ter, Geist­li­che, Ge­wer­be­trei­ben­de, Hand­wer­ker. Das Hand­werk muss­te, der Kai­ser hat­te es mit Recht ge­for­dert, wie­der auf die Höhe kom­men, wie vor dem Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg. Die In­nun­gen hat­ten Got­tes­furcht und Sitt­lich­keit zu pfle­gen. Die­de­rich äu­ßer­te sein wärms­tes Ein­ver­ständ­nis. Es ent­sprach sei­nen Trie­ben, als ein­ge­tra­ge­nes Mit­glied ei­nes Stan­des, ei­ner Be­rufs­klas­se, nicht per­sön­lich, son­dern kor­po­ra­tiv im Le­ben Fuß zu fas­sen. Er sah sich schon als Ab­ge­ord­ne­ten der Pa­pier­bran­che. Die jü­di­schen Mit­bür­ger frei­lich schloss Herr von Bar­nim von sei­ner Ord­nung der Din­ge aus; wa­ren sie doch das Prin­zip der Un­ord­nung und Auf­lö­sung, des Durchein­an­der­wer­fens, der Re­spekt­lo­sig­keit: das Prin­zip des Bö­sen selbst. Sein from­mes Ge­sicht zog sich zu­sam­men vom Hass, und Die­de­rich fühl­te ihn mit.

»Schließ­lich«, mein­te er, »ha­ben wir doch die Ge­walt und kön­nen sie hin­aus­wer­fen. Das deut­sche Heer –«

»Das ist es eben«, stieß Herr von Bar­nim aus, der durch das Zim­mer lief. »Ha­ben wir dar­um den ruhm­rei­chen Krieg ge­führt, dass mein vä­ter­li­ches Gut an einen Herrn Frank­fur­ter ver­kauft wird?«

Wäh­rend Die­de­rich noch er­schüt­tert schwieg, klin­gel­te es, und Herr von Bar­nim sag­te:

»Es ist mein Bar­bier, den will ich mir auch mal vor­neh­men.«

Er be­merk­te Die­de­richs Ent­täu­schung und setz­te hin­zu:

»Na­tür­lich rede ich mit solch ei­nem Man­ne an­ders. Aber je­der von uns muss an sei­nem Teil der So­zi­al­de­mo­kra­tie Ab­bruch tun und die klei­nen Leu­te in das La­ger un­se­res christ­li­chen Kai­sers hin­über­zie­hen. Tun auch Sie das Ihre!«

Da­mit war Die­de­rich ent­las­sen. Er hör­te den Bar­bier noch sa­gen:

»Schon wie­der ein al­ter Kun­de, Herr As­ses­sor, der zu Lieb­ling hin­über­geht, bloß weil Lieb­ling jetzt Mar­mor hat.«

Wie­bel sag­te, als Die­de­rich ihm be­rich­te­te:

»Das ist al­les schön und gut, und ich habe eine ganz be­deu­ten­de Ver­eh­rung für die idea­le Ge­sin­nung mei­nes Freun­des von Bar­nim, aber auf die Dau­er kom­men wir da­mit nicht mehr wei­ter. Se­hen Sie mal, auch Stö­cker hat im Ei­spa­last sei­ne ver­damm­ten Er­fah­run­gen ge­macht mit der De­mo­kra­tie, ob sie sich nun christ­lich nennt oder un­christ­lich. Die Din­ge sind zu weit ge­die­hen. Heu­te heißt es bloß noch: los­schla­gen, so­lan­ge wir die Macht ha­ben.«

Und Die­de­rich stimm­te er­leich­tert bei. Her­um­ge­hen und Chris­ten wer­ben, war ihm gleich ein we­nig pein­lich er­schie­nen.

»Die So­zi­al­de­mo­kra­tie neh­me ich auf mich, hat der Kai­ser ge­sagt.« Wie­bels Au­gen droh­ten ka­ter­haft. »Nun, was wol­len Sie mehr? Das Mi­li­tär ist dar­über in­stru­iert, es kön­ne vor­kom­men, dass es auf die lie­ben Ver­wand­ten schie­ßen muss. Also? Ich kann Ih­nen mit­tei­len, mein Lie­ber, wir ste­hen am Vora­bend großer Er­eig­nis­se.«

Da Die­de­rich er­reg­te Neu­gier zeig­te:

»Was ich durch mei­nen Vet­ter von Klapp­ke –«

Wie­bel mach­te eine Pau­se. Die­de­rich zog die Ab­sät­ze zu­sam­men:

»– in Er­fah­rung ge­bracht habe, ist noch nicht für die Öf­fent­lich­keit reif. Ich will nur be­mer­ken, dass der gest­ri­ge Auss­pruch Sei­ner Ma­je­stät, die Nörg­ler möch­ten ge­fäl­ligst den deut­schen Staub von ih­ren Pan­tof­feln schüt­teln, eine ver­teu­felt ernst zu neh­men­de War­nung war.«

»Tat­säch­lich? Sie glau­ben?« sag­te Die­de­rich. »Dann ist mein Pech wirk­lich skan­da­lös, dass ich ge­ra­de jetzt aus dem Dienst Sei­ner Ma­je­stät schei­den muss­te. Ich darf sa­gen, dass ich ge­gen den in­ne­ren Feind mei­ne vol­le Pf­licht ge­tan ha­ben wür­de. Auf die Ar­mee, so viel weiß ich, kann der Kai­ser sich ver­las­sen.«

Er war in die­sen nass­kal­ten Fe­bruar­ta­gen des Jah­res 1892 viel auf der Stra­ße, in der Er­war­tung großer Er­eig­nis­se. Un­ter den Lin­den hat­te sich et­was ver­än­dert, man sah noch nicht, was. Be­rit­te­ne Schutz­leu­te hiel­ten an den Mün­dun­gen der Stra­ßen und war­te­ten auch. Die Passan­ten zeig­ten ein­an­der das Auf­ge­bot der Macht. »Die Ar­beits­lo­sen!« Man blieb ste­hen, um sie an­kom­men zu se­hen. Sie ka­men vom Nor­den her, in klei­nen Ab­tei­lun­gen und im lang­sa­men Marsch­schritt. Un­ter den Lin­den zö­ger­ten sie, wie ver­wirrt, be­rie­ten sich mit den Bli­cken und lenk­ten nach dem Schloss ein. Dort stan­den sie, stumm, die Hän­de in den Ta­schen, lie­ßen sich von den Rä­dern der Wa­gen mit Schlamm be­sprit­zen und zo­gen die Schul­tern hoch un­ter dem Re­gen, der auf ihre ent­färb­ten Über­zie­her fiel. Man­che von ih­nen wand­ten die Köp­fe nach vor­über­ge­hen­den Of­fi­zie­ren, nach den Da­men in ih­ren Wa­gen, nach den lan­gen Pel­zen der Her­ren, die von der Burg­stra­ße her schlen­der­ten; und ihre Mie­nen wa­ren ohne Aus­druck, nicht dro­hend und nicht ein­mal neu­gie­rig, nicht, als woll­ten sie se­hen, son­dern als zeig­ten sie sich. An­de­re aber lie­ßen kein Auge von den Fens­tern des Schlos­ses. Das Was­ser lief über ihre hin­auf­ge­wende­ten Ge­sich­ter. Ein Pferd mit ei­nem schrei­en­den Schutz­mann trieb sie wei­ter, hin­über oder bis zur nächs­ten Ecke – aber schon stan­den sie wie­der, und die Welt schi­en ver­sun­ken zwi­schen die­sen brei­ten hoh­len Ge­sich­tern, die fah­ler Abend be­schi­en, und der star­ren Mau­er dort hin­ten, auf der es dun­kel­te.

»Ich be­grei­fe nicht«, sag­te Die­de­rich, »dass die Po­li­zei nicht ener­gi­scher vor­geht. Das ist doch eine un­bot­mä­ßi­ge Ban­de.«

»Las­sen Sie’s gut sein«, er­wi­der­te Wie­bel. »Die Schutz­leu­te sind ge­nau in­stru­iert. Die Her­ren da oben ha­ben ihre wohl­über­leg­ten Ab­sich­ten, das kön­nen Sie mir glau­ben. Es ist näm­lich gar nicht im­mer zu wün­schen, dass der­ar­ti­ge Fäul­niser­schei­nun­gen am Staats­kör­per gleich an­fangs un­ter­drückt wer­den. Man lässt sie aus­rei­fen, dann macht man gan­ze Ar­beit!«

Die Rei­fe, die Wie­bel mein­te, kam täg­lich nä­her, am sechs­und­zwan­zigs­ten schi­en sie da. Die De­mons­tra­tio­nen der Ar­beits­lo­sen sa­hen ziel­be­wus­s­ter aus. In eine der nörd­li­chen Stra­ßen zu­rück­ge­trie­ben, quol­len sie aus der nächs­ten, be­vor man ih­nen den Weg ab­schnei­den konn­te, ver­stärkt wie­der her­vor. Un­ter den Lin­den ver­ei­nig­ten sich ihre Züge, ran­nen, so­oft sie ge­trennt wur­den, wie­der zu­sam­men, er­reich­ten das Schloss, wi­chen zu­rück und er­reich­ten es noch ein­mal, stumm und un­auf­halt­sam wie über­ge­tre­te­nes Was­ser. Der Wa­gen­ver­kehr stock­te, die Fuß­gän­ger stau­ten sich, mit hin­ein­ge­zo­gen in die lang­sa­me Über­schwem­mung, worin der Platz er­trank, in dies trü­be und miss­far­be­ne Meer der Ar­men, das zäh da­hin­roll­te, dump­fe Lau­te her­auf­wälz­te und wie Mas­ten un­ter­ge­gan­ge­ner Schif­fe die Stan­gen mit den Ban­nern hin­auf­reck­te: »Brot! Ar­beit!« Ein deut­li­che­res Grol­len, aus­bre­chend aus der Tie­fe, jetzt drü­ben, jetzt hier: »Brot! Ar­beit!« An­schwel­lend über die Men­ge hin­rol­lend, wie aus ei­ner Ge­wit­ter­wol­ke: »Brot! Ar­beit!« Eine At­ta­cke der Be­rit­te­nen, ein Auf­schäu­men, Zu­rück­flie­ßen, und Wei­ber­stim­men im Lärm, schrill, gleich Si­gna­len: »Brot! Ar­beit!«

Man wird über­rannt, vom Fried­rich­denk­mal fegt es die Neu­gie­ri­gen her­un­ter. Auch sie ha­ben auf­ge­ris­se­ne Mün­der; aus klei­nen Be­am­ten, de­nen der Weg ins Amt ver­sperrt ist, fliegt Staub auf, als wür­den sie ge­klopft. Ein ver­zerr­tes Ge­sicht, das Die­de­rich nicht er­kennt, schreit ihm zu: »Es kommt an­ders! Jetzt geht es ge­gen die Ju­den!« – und ist un­ter­ge­gan­gen, be­vor ihm ein­fällt, es war Herr von Bar­nim. Er will ihm nach, wird in ei­nem großen Schub weit hin­über­ge­wor­fen, bis vor das Fens­ter ei­nes Cafés, hört das Klir­ren der ein­ge­drück­ten Schei­be, einen Ar­bei­ter, der schreit: »Da ha­ben se mich neu­lich ’r­aus­ge­setzt for mei­ne drei­ßig Fenn­je, weil ich kei­nen Zy­lin­der­hut hat­te« – und dringt mit ein durch das Fens­ter, zwi­schen die um­ge­wor­fe­nen Ti­sche, auf den Bo­den, wo man über Scher­ben fällt, ein­an­der die Bäu­che ein­stößt und laut ze­tert. »Nie­mand mehr ’rein! Wir krie­gen kei­ne Luft!« Aber im­mer mehr stei­gen ein. »Die Po­li­zei drän­gelt!« Und die Mit­te der Stra­ße sieht man frei lie­gen, ge­säu­bert, wie für einen Tri­umph­zug. Da sagt je­mand: »Das ist doch Wil­helm!«

Und Die­de­rich war wie­der drau­ßen. Nie­mand wuss­te, wie es kam, dass man auf ein­mal mar­schie­ren konn­te, in ge­dräng­ter Mas­se, auf der gan­zen Brei­te der Stra­ße und zu bei­den Sei­ten bis an die Flan­ken des Pfer­des, wor­auf der Kai­ser saß: er selbst. Man sah ihn an und ging mit. Knäu­el von Schrei­en­den wur­den auf­ge­löst und mit­ge­ris­sen. Alle sa­hen ihn an. Dunkles Ge­schie­be, ohne Form, plan­los, gren­zen­los, und hell dar­über ein jun­ger Herr im Helm, der Kai­ser. Sie sa­hen: sie hat­ten ihn her­un­ter­ge­holt aus dem Schloss. Sie hat­ten: »Brot! Ar­beit!« ge­schri­en, bis er ge­kom­men war. Nichts hat­te sich ge­än­dert, als dass er da war – und schon mar­schier­ten sie, als gehe es auf das Tem­pel­ho­fer Feld.

Seit­wärts, wo die Rei­hen dün­ner wa­ren, sag­ten bür­ger­lich Ge­klei­de­te zu­ein­an­der: »Na, Gott sei Dank, er weiß, was er will!«

»Was will er denn?«

»Der Ban­de zei­gen, wer die Macht hat! Im gu­ten hat er es mit ih­nen ver­sucht. Er ist so­gar zu weit ge­gan­gen in den Er­las­sen vor zwei Jah­ren. Sie sind frech ge­wor­den!«

»Angst kennt er nicht, das muss man sa­gen. Kin­der, dies ist ein his­to­ri­scher Mo­ment!«

Die­de­rich hör­te es und er­schau­der­te. Der alte Herr, der ge­spro­chen hat­te, wand­te sich auch an ihn. Er hat­te wei­ße Bart­ko­te­let­tes und das Ei­ser­ne Kreuz.

»Jun­ger Mann«, sag­te er, »was un­ser herr­li­cher jun­ger Kai­ser da macht, das wer­den die Kin­der mal aus den Schul­bü­chern ler­nen. Pas­sen Sie auf!«

Vie­le hat­ten ge­ho­be­ne Brüs­te und fei­er­li­che Mie­nen. Die Her­ren, die dem Kai­ser folg­ten, blick­ten mit äu­ßers­ter Ent­schlos­sen­heit dar­ein, ihre Pfer­de aber lenk­ten sie durch das Volk, als sei­en alle die Leu­te zum Sta­tie­ren bei ei­ner Al­ler­höchs­ten Auf­füh­rung be­foh­len; und manch­mal schiel­ten sie seit­wärts, nach dem Ein­druck im Pub­li­kum. Er selbst, der Kai­ser, sah nur sich und sei­ne Leis­tung. Tie­fer Ernst ver­stein­te sei­ne Züge, sein Auge blitz­te hin über die Tau­sen­de der von ihm Ge­bann­ten. Er maß sich mit ih­nen, der von Gott ge­setz­te Herr mit den em­pö­re­ri­schen Knech­ten! Al­lein und un­ge­schützt hat­te er sich mit­ten un­ter sie ge­wagt, stark nur durch sei­ne Sen­dung. Sie konn­ten sich an ihm ver­grei­fen, wenn es im Plan des Höchs­ten lag; er brach­te sei­ner hei­li­gen Sa­che sich selbst zum Op­fer. War Gott mit ihm, dann soll­ten sie es se­hen! Dann be­wahr­ten sie für im­mer das Ge­prä­ge sei­ner Tat und die Erin­ne­rung an ihre Ohn­macht!

Ein jun­ger Mensch mit ei­nem Künst­ler­hut ging ne­ben Die­de­rich, er sag­te: »Ken­nen wir. Na­po­le­on in Mos­kau, wie er sich solo un­ter die Be­völ­ke­rung mischt.«

»Das ist doch groß­ar­tig!« be­haup­te­te Die­de­rich, und die Stim­me ver­sag­te ihm. Der an­de­re zuck­te die Ach­seln.

»Thea­ter, und nicht mal gut.«

Die­de­rich sah ihn an, er ver­such­te zu blit­zen wie der Kai­ser.

»Sie sind wohl auch so ei­ner.«

Er hät­te nicht sa­gen kön­nen, was für ei­ner. Er fühl­te nur, dass er hier, zum ers­ten Mal im Le­ben, die gute Sa­che zu ver­tre­ten habe ge­gen feind­li­che Be­män­ge­lun­gen. Trotz sei­ner Auf­re­gung sah er sich noch die Schul­tern des Men­schen an: sie wa­ren nicht breit. Auch äu­ßer­te die Um­ge­bung sich miss­bil­li­gend. Da ging Die­de­rich vor. Mit sei­nem Bauch dräng­te er den Feind ge­gen die Mau­er und schlug auf den Künst­ler­hut ein. An­de­re knuff­ten mit. Der Hut lag schon am Bo­den und bald auch der Mensch. Im Wei­ter­ge­hen be­merk­te Die­de­rich zu sei­nen Mit­kämp­fern:

»Der hat si­cher nicht ge­dient! Schmis­se hat er auch kei­ne!«

Der alte Herr mit Bart­ko­te­let­tes und Ei­ser­nem Kreuz war auch wie­der da, er drück­te Die­de­rich die Hand.

»Brav, jun­ger Mann, brav!«

»Soll man da nicht wü­tend wer­den?« er­klär­te Die­de­rich, noch keu­chend. »Wenn der Mensch uns den his­to­ri­schen Mo­ment ver­ekeln will?«

»Sie ha­ben ge­dient?« frag­te der alte Herr.

»Ich wäre am liebs­ten ganz da­bei­ge­blie­ben«, sag­te Die­de­rich.

»Na ja, Se­dan ist nicht alle Tage« – der alte Herr be­tupf­te sein Ei­ser­nes Kreuz. »Das wa­ren wir

Die­de­rich reck­te sich, er zeig­te auf das be­zwun­ge­ne Volk und den Kai­ser.

»Das ist doch ge­ra­de­so­gut wie Se­dan!«

»Na ja«, sag­te der alte Herr.

»Ge­stat­ten Sie mal, sehr ge­ehr­ter Herr«, rief je­mand und schwenk­te sein No­tiz­buch. »Wir müs­sen das brin­gen. Stim­mungs­bild, ver­stehn­se? Sie ha­ben wohl einen Ge­nos­sen ver­walkt?«

»Klei­nig­keit« – Die­de­rich keuch­te noch im­mer. »Mei­net­we­gen könnt’ es jetzt gleich los­ge­hen ge­gen den in­ne­ren Feind. Un­se­ren Kai­ser ha­ben wir mit.«

»Fein«, sag­te der Re­por­ter und schrieb: »In der wild­be­weg­ten Men­ge hört man Leu­te al­ler Stän­de der treues­ten An­häng­lich­keit und dem un­er­schüt­ter­li­chen Ver­trau­en zu der Al­ler­höchs­ten Per­son Aus­druck ge­ben.«

»Hur­ra!« schrie Die­de­rich, denn alle schri­en es; und in­mit­ten ei­nes mäch­ti­gen Sto­ßes von Men­schen, der schrie, ge­lang­te er jäh bis un­ter das Bran­den­bur­ger Tor. Zwei Schrit­te vor ihm ritt der Kai­ser hin­durch. Die­de­rich konn­te ihm ins Ge­sicht se­hen, in den stei­ner­nen Ernst und das Blit­zen; aber ihm ver­schwamm es vor den Au­gen, so sehr schrie er. Ein Rausch, hö­her und herr­li­cher als der, den das Bier ver­mit­telt, hob ihn auf die Fuß­spit­zen, trug ihn durch die Luft. Er schwenk­te den Hut hoch über al­len Köp­fen, in ei­ner Sphä­re der be­geis­ter­ten Ra­se­rei, durch einen Him­mel, wo un­se­re äu­ßers­ten Ge­füh­le krei­sen. Auf dem Pferd dort, un­ter dem Tor der sieg­rei­chen Ein­mär­sche und mit Zü­gen stei­nern und blit­zend, ritt die Macht! Die Macht, die über uns hin­geht und de­ren Hufe wir küs­sen! Die über Hun­ger, Trotz und Hohn hin­geht! Ge­gen die wir nichts kön­nen, weil wir alle sie lie­ben! Die wir im Blut ha­ben, weil wir die Un­ter­wer­fung dar­in ha­ben! Ein Atom sind wir von ihr, ein ver­schwin­den­des Mo­le­kül von et­was, das sie aus­ge­spuckt hat! Je­der ein­zel­ne ein Nichts, stei­gen wir in ge­glie­der­ten Mas­sen, als Neu­teu­to­nen, als Mi­li­tär, Be­am­ten­tum, Kir­che und Wis­sen­schaft, als Wirt­schafts­or­ga­ni­sa­tio­nen und Macht­ver­bän­de ke­gel­för­mig hin­an, bis dort oben, wo sie selbst steht, stei­nern und blit­zend! Le­ben in ihr, ha­ben teil an ihr, un­er­bitt­lich ge­gen die, die ihr fer­ner sind, und tri­um­phie­rend, noch wenn sie uns zer­schmet­tert: denn so recht­fer­tigt sie un­se­re Lie­be! … Ei­ner der Schutz­leu­te, de­ren Ket­te das Tor ab­sperr­te, stieß Die­de­rich vor die Brust, dass ihm der Atem aus­blieb; er aber hat­te die Au­gen so voll Sie­ge­stau­mel, als rei­te er selbst über alle die­se Elen­den hin­weg, die ge­bän­digt ih­ren Hun­ger ver­schluck­ten. Ihm nach! Dem Kai­ser nach! Alle fühl­ten wie Die­de­rich. Eine Schutz­manns­ket­te war zu schwach ge­gen so viel Ge­fühl; man durch­brach sie. Drü­ben stand eine zwei­te. Man muss­te ab­bie­gen, auf Um­we­gen den Tier­gar­ten er­rei­chen, einen Durch­schlupf fin­den. We­ni­ge fan­den ihn; Die­de­rich war al­lein, als er auf den Reit­weg hin­aus­stürz­te, dem Kai­ser ent­ge­gen, der auch al­lein war. Ein Mensch im ge­fähr­lichs­ten Zu­stand des Fa­na­tis­mus, be­schmutzt, zer­ris­sen, mit Au­gen wie ein Wil­der: der Kai­ser, vom Pferd her­un­ter, blitz­te ihn an, er durch­bohr­te ihn. Die­de­rich riss den Hut ab, sein Mund stand weit of­fen, aber der Schrei kam nicht. Da er zu plötz­lich an­hielt, glitt er aus und setz­te sich mit Wucht in einen Tüm­pel, die Bei­ne in der Luft, um­spritzt von Schmutz­was­ser. Da lach­te der Kai­ser. Der Mensch war ein Mon­ar­chist, ein treu­er Un­ter­tan! Der Kai­ser wand­te sich nach sei­nen Beglei­tern um, schlug sich auf den Schen­kel und lach­te. Die­de­rich aus sei­nem Tüm­pel sah ihm nach, den Mund noch of­fen.

1 Chef, Auf­trag­ge­ber, Bro­therr <<<

2 Kom­mis (auch Com­mis) ist eine Be­zeich­nung für einen Kon­to­ris­ten, Hand­lungs­ge­hil­fen oder kauf­män­ni­schen An­ge­stell­ten in äl­te­rer Li­te­ra­tur. Nicht zu ver­wech­seln mit Kom­miss, Mi­li­tär­jar­gon für Trup­pe, Herr. <<<

3 Das Kriegs­ge­schrei, auch Feld­ge­schrei, Schlacht­ruf oder Pa­nier ge­nannt, ist in der He­ral­dik ein Pracht­stück im Wap­pen. <<<

4 Stu­den­ti­scher Be­griff, Aus­schluss von den Rech­ten an der Ta­fel. <<<

5 Der Be­griff Do­g­cart wur­de in Eng­land für einen leich­ten, zwei­rä­de­ri­gen Wa­gen ver­wen­det, der von ei­nem Hund oder ei­nem Pferd ge­zo­gen wird. <<<

Der Untertan

Подняться наверх