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II.

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Er rei­nig­te sich not­dürf­tig und kehr­te um. Auf ei­ner Bank saß eine Dame; Die­de­rich ging un­gern vor­über. Noch dazu starr­te sie ihm ent­ge­gen. »Gans«, dach­te er zor­nig. Da sah er, dass sie ein tief er­schro­cke­nes Ge­sicht hat­te, und dann er­kann­te er Ag­nes Göp­pel.

»Eben bin ich dem Kai­ser be­geg­net«, sag­te er so­fort.

»Dem Kai­ser?« frag­te sie, wie aus ei­ner an­de­ren Welt. Er be­gann, un­ter großen, un­ge­wohn­ten Ges­ten her­aus­zu­ja­gen, was ihn er­stick­te. Un­ser herr­li­cher jun­ger Kai­ser, ganz al­lein un­ter ra­sen­den Auf­rüh­rern! Ein Café hat­ten sie de­mo­liert, Die­de­rich selbst war drin ge­we­sen! Un­ter den Lin­den hat­te er blu­ti­ge Kämp­fe be­stan­den für sei­nen Kai­ser! Ka­no­nen soll­te man auf­fah­ren!

»Die Leu­te hun­gern wohl«, sag­te Ag­nes schüch­tern. »Es sind ja auch Men­schen.«

»Men­schen?« Die­de­rich roll­te die Au­gen. »Der in­ne­re Feind sind sie!«

Da er Ag­nes wie­der er­schre­cken sah, be­ru­hig­te er sich et­was.

»Wenn es Ih­nen Ver­gnü­gen macht, dass we­gen des Packs alle Stra­ßen ab­ge­sperrt wer­den müs­sen.«

Nein, das kam Ag­nes sehr un­ge­le­gen. Sie hat­te in der Stadt Be­sor­gun­gen ge­habt, und wie sie zu­rück nach der Blü­cher­stra­ße woll­te, ging kein Om­ni­bus mehr, und nir­gends kam man durch. Sie war zu­rück­ge­drängt wor­den bis hier­her. Es war kalt und nass, ihr Va­ter wür­de sich ängs­ti­gen; was soll­te sie tun? Die­de­rich ver­hieß ihr, er wer­de es schon ma­chen. Sie gin­gen zu­sam­men wei­ter. Er wuss­te auf ein­mal nichts mehr zu sa­gen und wen­de­te den Kopf um­her, als such­te er den Weg. Sie wa­ren al­lein zwi­schen kah­len Bäu­men und nas­sem al­ten Laub. Wo wa­ren die männ­li­chen Hoch­ge­füh­le von vor­hin? Die­de­rich emp­fand Be­klom­men­heit, wie auf sei­nem letz­ten Spa­zier­gang mit Ag­nes, als er, von Mahl­mann ge­warnt, auf einen Om­ni­bus sprang, aus­riss und ver­schwand. Gera­de sag­te Ag­nes: »Sie ha­ben sich aber sehr, sehr lan­ge nicht bei uns se­hen las­sen. Papa hat Ih­nen doch ge­schrie­ben?«

Sein ei­ge­ner Va­ter sei ge­stor­ben, sag­te Die­de­rich, be­tre­ten. Jetzt muss­te Ag­nes zu­erst ihr Bei­leid aus­drücken, dann frag­te sie wei­ter: warum er da­mals plötz­lich fort­ge­blie­ben sei, vor drei Jah­ren.

»Nicht wahr? Es sind schon fast drei Jah­re.«

Die­de­rich be­kam Fes­tig­keit. Das Ver­bin­dungs­le­ben habe ihn völ­lig in An­spruch ge­nom­men. Dort herr­sche näm­lich eine ver­dammt stren­ge Zucht. »Und dann habe ich mei­ner Wehr­pflicht ge­nügt.«

»Oh!« – Ag­nes sah ihn an, »was aus Ih­nen al­les ge­wor­den ist! Und jetzt sind Sie wohl schon Dok­tor?«

»Das soll jetzt kom­men.«

»Sie ha­ben sich fast gar nicht ver­än­dert.«

Er sah un­zu­frie­den ge­ra­de­aus. Sei­ne Schmis­se, sei­ne statt­li­che Brei­te, alle sei­ne wohl­er­wor­be­ne Männ­lich­keit: für sie war das nichts? Sie be­merk­te es gar nicht?

»Aber Sie«, sag­te er plump. In ihr blas­ses, so schma­les Ge­sicht stieg eine ganz dün­ne Röte, bis auf den Sat­tel der klei­nen ein­ge­drück­ten Nase mit den Som­mer­spros­sen.

»Ja. Mir geht es manch­mal nicht gut, aber es wird schon wie­der bes­ser wer­den.«

Die­de­rich be­reu­te.

»Ich mein­te doch na­tür­lich, dass Sie noch hüb­scher ge­wor­den sind« – und er be­trach­te­te ihr ro­tes Haar, das un­ter dem Hut her­vor­quoll, noch di­cker als frü­her, weil ihr Ge­sicht so klein ge­wor­den war. Da­bei er­in­ner­te er sich sei­ner De­mü­ti­gun­gen von da­mals und wie an­ders die Din­ge jetzt la­gen. Her­aus­for­dernd sag­te er:

»Wie geht es denn Herrn Mahl­mann?«

Ag­nes be­kam eine weg­wer­fen­de Mie­ne.

»Den­ken Sie an den noch? Wenn ich den mal wie­der­sä­he, wär’s mir gleich.«

»So? Aber er hat ein Pa­tent­bü­ro und könn­te ganz gut hei­ra­ten.«

»Wenn schon.«

»Frü­her in­ter­es­sier­ten Sie sich doch für ihn.«

»Woraus schlie­ßen Sie das?«

»Er schenk­te Ih­nen im­mer et­was.«

»Ich hät­te es lie­ber nicht an­ge­nom­men; aber dann –« sie sah auf den Weg, auf das nas­se Laub vom Vor­jahr, »dann hät­te ich auch Ihre Ge­schen­ke nicht an­neh­men dür­fen.«

Da­rauf schwieg sie er­schro­cken. Die­de­rich fühl­te, dass et­was Schwe­res ge­sche­hen war, und schwieg auch.

»Das war doch nicht der Rede wert«, stieß er end­lich her­aus, »ein paar Blu­men.« Und mit wie­der­ge­kehr­ter Ent­rüs­tung: »Mahl­mann hat Ih­nen so­gar ein Arm­band ge­schenkt.«

»Ich tra­ge es nie­mals«, sag­te Ag­nes. Er hat­te auf ein­mal Herz­klop­fen, er brach­te her­vor: »Und wenn es von mir ge­we­sen wäre?«

Stil­le; er hielt den Atem an. Ganz lei­se kam es von ihr her:

»Dann ja.«

Da­rauf gin­gen sie plötz­lich ra­scher und ohne mehr zu spre­chen. Sie ka­men vor das Bran­den­bur­ger Tor, sa­hen die Lin­den be­droh­lich von Po­li­zei er­füllt, eil­ten vor­bei und bo­gen in die Do­ro­theen­stra­ße. Hier war es we­nig be­lebt, Die­de­rich ver­lang­sam­te den Schritt, er fing an zu la­chen.

»Das ist ei­gent­lich hoch­ko­misch. Was Mahl­mann Ih­nen näm­lich schenk­te, war mit mei­nem Geld be­zahlt. Er nahm mir ja al­les ab, ich war noch ein ganz grü­ner Jun­ge.«

Sie blieb ste­hen. »Oh!« – und sie sah ihn an, ihre gold­brau­nen Au­gen zit­ter­ten. »Das ist schreck­lich. Kön­nen Sie mir das ver­zei­hen?«

Er lä­chel­te über­le­gen. Das sei­en alte Ge­schich­ten, Ju­gend­tor­hei­ten.

»Nein, nein«, sag­te sie ver­stört.

Die Haupt­sa­che, mein­te er, sei jetzt, wie sie nach Hau­se kom­me. Hier ging es schon wie­der nicht wei­ter. Om­ni­bus­se wa­ren auch nicht zu se­hen. »Es tut mir leid, aber Sie wer­den sich mei­ne Ge­sell­schaft noch län­ger ge­fal­len las­sen müs­sen. Üb­ri­gens woh­ne ich gleich hier. Sie könn­ten mit hin­auf­kom­men, da wä­ren Sie we­nigs­tens im Tro­cke­nen. Aber na­tür­lich, eine jun­ge Dame darf das nicht.«

Sie hat­te noch im­mer die­sen fle­hen­den Blick.

»Sie sind so gut«, sag­te sie, stär­ker at­mend. »Sie sind so edel.« Und da sie schon das Haus be­tra­ten: »Zu Ih­nen kann ich doch Ver­trau­en ha­ben?«

»Ich weiß, was ich der Ehre mei­ner Kor­po­ra­ti­on schul­de«, er­klär­te Die­de­rich.

Sie muss­ten an der Kü­che vor­bei, aber es war nie­mand dar­in. »Le­gen Sie doch so lan­ge ab«, sag­te Die­de­rich gnä­dig. Er stand da, ohne Ag­nes an­zu­se­hen, und trat, wäh­rend sie den Hut ab­nahm, von ei­nem Fuß auf den an­de­ren.

»Ich muss die Wir­tin su­chen, da­mit sie Tee macht.« Er wand­te sich schon nach der Tür, zuck­te aber zu­rück: Ag­nes hat­te sei­ne Hand er­grif­fen und küss­te sie! »Aber Fräu­lein Ag­nes«, mur­mel­te er, furcht­bar er­schro­cken, und leg­te ihr, wie trös­tend, den Arm um die Schul­ter; da sank sie ge­gen die sei­ne. Er drück­te sei­nen Mund in ihr Haar, ziem­lich tief, weil er sich dazu ver­pflich­tet fühl­te. Un­ter sei­nem Druck beb­te und flog ihr Kör­per, als wür­de er ge­schla­gen. Er fühl­te sich in der dün­nen Blu­se lau und feucht an. Die­de­rich ward es heiß, er küss­te Ag­nes auf den Hals. Und plötz­lich kam ihr Ge­sicht auf ihn zu: mit of­fe­nem Mund, halb­ge­schlos­se­nen Au­gen und mit ei­nem Aus­druck, den er nie ge­se­hen hat­te und der ihm schwind­lig mach­te. »Ag­nes! Ag­nes, ich lie­be dich«, sag­te er wie aus tiefer Not. Sie ant­wor­te­te nicht, aus ih­rem of­fe­nen Mund ka­men klei­ne war­me Atem­stö­ße, und er fühl­te sie fal­len, er trug sie, die zu zer­flie­ßen schi­en.

Dann saß sie auf dem Di­wan und wein­te. »Sei mir nicht bös, Ag­nes«, bat Die­de­rich. Sie sah ihn an mit ih­ren nas­sen Au­gen.

»Ich wei­ne doch vor Glück«, sag­te sie. »Ich hab’ so lan­ge auf dich ge­war­tet.«

»Wa­rum?« frag­te sie, da er ihre Blu­se schlie­ßen woll­te. »Wa­rum deckst du es schon zu? Fin­dest du es schon nicht mehr schön?«

Er ver­wahr­te sich. »Ich bin mir der über­nom­me­nen Verant­wor­tung voll­kom­men be­wusst.«

»Verant­wor­tung?« sag­te Ag­nes. »Wer hat die? Ich habe dich drei Jah­re lang ge­liebt. Du wuss­test es ja nicht. Es war wohl das Schick­sal!«

Die­de­rich, die Hän­de in den Ta­schen, be­dach­te, dass dies das Schick­sal der leicht­sin­ni­gen Mäd­chen sei. An­de­rer­seits emp­fand er das Be­dürf­nis, sich ihre Ver­si­che­run­gen wie­der­ho­len zu las­sen. »Also wirk­lich mich, nur mich hast du ge­liebt?«

»Ich sah, dass du mir nicht glaub­test. Es war schreck­lich, als ich merk­te, du kamst nicht mehr, und es war aus. Es war ganz schreck­lich. Ich woll­te dir schrei­ben, ich woll­te zu dir ge­hen. Je­des Mal ver­lor ich den Mut, weil du mich doch nicht mehr moch­test. Ich kam so her­un­ter, dass Papa eine Rei­se mit mir ma­chen muss­te.«

»Wo­hin denn?« frag­te Die­de­rich. Aber Ag­nes ant­wor­te­te nicht, sie zog ihn wie­der an sich.

»Sei lieb mit mir! Ich hab’ nur dich!«

Die­de­rich dach­te ver­le­gen: »Dann hast du nicht viel.« Ag­nes schi­en ihm ver­klei­nert und sehr im Wert ge­sun­ken, seit er den Be­weis hat­te, dass sie ihn lieb­te. Auch sag­te er sich, ei­nem Mäd­chen, das so et­was tat, dür­fe man nicht al­les glau­ben.

»Und Mahl­mann?« frag­te er höh­nisch. »Ein biss­chen war doch wohl los mit ihm. – Na lass nur«, sag­te er, da sie sich mit star­rem Ent­set­zen auf­rich­te­te. Er such­te gutz­u­ma­chen. Er sei doch auch noch ganz be­nom­men von sei­nem Glück.

Sehr lang­sam zog sie sich an. »Dein Va­ter wird aber gar nicht wis­sen, was los ist«, mein­te Die­de­rich. Sie hob nur die Schul­tern. Als sie fer­tig war und er schon die Tür ge­öff­net hat­te, blieb sie noch ste­hen und sah in das Zim­mer zu­rück, mit ei­nem lan­gen, angst­vol­len Blick.

»Vi­el­leicht«, sag­te sie, wie zu sich selbst, »kom­me ich nie wie­der. Mir ist, als soll­te ich heu­te Nacht ster­ben.«

»Wie­so denn?« sag­te Die­de­rich, pein­lich be­rührt. Statt ei­ner Ant­wort ließ sie sich noch ein­mal an ihn hin­sin­ken, den Mund auf sei­nem, die Brust auf sei­ner und von den Hüf­ten zu den Fü­ßen wie mit ihm ver­wach­sen. Die­de­rich war­te­te ge­dul­dig. Dann lös­te sie sich, öff­ne­te die Au­gen und sag­te:

»Du musst nicht den­ken, dass ich et­was von dir ver­lan­ge. Ich hab’ dich ge­liebt, nun ist al­les gleich.«

Er bot ihr einen Wa­gen an, aber sie woll­te ge­hen. Un­ter­wegs frag­te er nach ih­rer Fa­mi­lie und nach an­de­ren Be­kann­ten. Erst am Bel­le-Al­lian­ce-Platz ward er un­ru­hig, und et­was hei­ser brach­te er her­vor:

»Na­tür­lich den­ke ich nicht dar­an, mich mei­nen Ver­pflich­tun­gen dir ge­gen­über zu ent­zie­hen. Nur vor­läu­fig: du ver­stehst, ich ver­die­ne noch nichts, ich muss erst fer­tig sein und zu Hau­se mich in den Be­trieb ein­le­ben …«

Ag­nes er­wi­der­te dank­bar und ru­hig, als habe man ihr ein Kom­pli­ment ge­macht:

»Es wäre schön, wenn ich spä­ter ein­mal dei­ne Frau wer­den könn­te.«

Da sie in die Blü­cher­stra­ße ein­bo­gen, blieb er ste­hen. Un­si­cher mein­te er, es sei jetzt wohl bes­ser, wenn er um­keh­re. Sie sag­te:

»Weil uns je­mand se­hen könn­te? Das wür­de gar nichts ma­chen, denn ich muss zu Hau­se doch er­zäh­len, dass ich dir be­geg­net bin und dass wir im Café zu­sam­men ge­war­tet ha­ben, bis die Stra­ßen wie­der frei wa­ren.«

»Na, die kann lü­gen«, dach­te Die­de­rich. Sie setz­te hin­zu:

»Für Sonn­tag bist du zu Mit­tag ge­la­den, du musst be­stimmt kom­men.«

Dies­mal war es ihm zu viel, er fuhr auf. »Ich soll –? Bei euch soll ich –?«

Sie lä­chel­te sanft und schlau. »Es geht doch nicht an­ders. Wenn man uns ein­mal sähe –: willst du denn nicht, dass ich wie­der­kom­me?«

O ja, das woll­te er. Trotz­dem muss­te sie ihm zu­re­den, bis er sein Er­schei­nen ver­sprach. Vor ih­rem Hau­se ver­ab­schie­de­te er sich mit ei­ner for­mel­len Ver­beu­gung, kehr­te rasch um und dach­te: »So ein Weib ist scheuß­lich raf­fi­niert. Lan­ge tu’ ich da nicht mit.« In­des be­merk­te er mit Un­lust, dass es Zeit sei, auf die Knei­pe zu ge­hen. Es ver­lang­te ihn nach Hau­se, er wuss­te nicht, warum. Als er dann die Tür sei­nes Zim­mers hin­ter sich zu­ge­zo­gen hat­te, blieb er da­vor ste­hen und starr­te in die Dun­kel­heit. Plötz­lich reck­te er die Arme in die Höhe, wand­te das Ge­sicht nach oben und sag­te in ei­nem lan­gen Au­fat­men:

»Ag­nes!«

Er fühl­te sich ver­wan­delt, leicht, wie vom Bo­den ge­ho­ben. »Ich bin ganz furcht­bar glück­lich«, dach­te er, und: »So schön kommt es im gan­zen Le­ben nicht wie­der!« Er hat­te die Ge­wiss­heit, dass er bis jetzt, bis zu die­ser Mi­nu­te, alle Din­ge falsch an­ge­se­hen, falsch be­wer­tet hat­te. Dort hin­ten kneip­ten sie nun und mach­ten sich wich­tig. Ju­den oder Ar­beits­lo­se, was gin­gen einen die an, warum soll­te man sie has­sen? Die­de­rich fühl­te sich be­reit, sie zu lie­ben! Hat­te er denn wirk­lich, er selbst, den Tag in ei­nem Ge­wühl von Men­schen ver­bracht, die er für Fein­de ge­hal­ten hat­te? Sie wa­ren Men­schen: Ag­nes hat­te recht! War er selbst es, der je­mand um ei­ni­ger Wor­te wil­len ge­schla­gen hat­te, ge­prahlt, ge­lo­gen, sich tö­richt ab­ge­ar­bei­tet und end­lich, zer­ris­sen und sinn­los, sich in den Schmutz ge­wor­fen hat­te vor ei­nem Herrn zu Pferd, dem Kai­ser, der ihn aus­lach­te? Er er­kann­te, dass er, bis Ag­nes kam, ein hilflo­ses, be­deu­tungs­lo­ses und ar­mes Le­ben ge­führt habe. Be­stre­bun­gen wie die ei­nes Frem­den, Ge­füh­le, die ihn be­schäm­ten, und nie­mand, den er lieb­te – bis Ag­nes kam! »Ag­nes! Süße Ag­nes, du weißt ja gar nicht, wie ich dich lieb­ha­be!« Aber sie soll­te es wis­sen. Er fühl­te, dass er es nie wie­der so wer­de sa­gen kön­nen wie in die­ser Stun­de, und er schrieb einen Brief. Er schrieb, dass auch er die­se drei Jah­re im­mer auf sie ge­war­tet habe, und dass er kei­ne Hoff­nung ge­habt habe, weil sie zu schön für ihn sei, zu fein und zu gut; dass er sich das mit Mahl­mann nur ein­ge­re­det habe aus Feig­heit und aus Trotz; dass sie eine Hei­li­ge sei, und nun sie zu ihm her­ab­ge­stie­gen, lie­ge er zu ih­ren Fü­ßen. »Hebe mich auf, Ag­nes, ich kann stark sein, ich füh­le es, und ich will Dir mein gan­zes Le­ben wei­hen!« – Er wein­te, drück­te das Ge­sicht in das Di­wan­kis­sen, worin er ih­ren Duft noch spür­te, und un­ter Schluch­zen, wie als Kind, schlief er ein.

Am Mor­gen frei­lich war er er­staunt und be­frem­det, sich nicht im Bett zu fin­den. Sein großes Er­leb­nis fiel ihm ein, ein sü­ßer Stoß ging durch sein Blut, bis zum Her­zen. Aber auch der Ver­dacht kam ihm, dass er sich pein­li­che Über­trei­bun­gen habe zu­schul­den kom­men las­sen. Er las den Brief wie­der durch: das war al­les recht schön, und es konn­te einen auch wirk­lich aus der Fas­sung brin­gen, wenn man auf ein­mal mit so ei­nem groß­ar­ti­gen Mä­del ein Ver­hält­nis hat­te. Wäre sie jetzt nur da­ge­we­sen, er hät­te zärt­lich sein wol­len! Aber den Brief schick­te man doch bes­ser nicht ab. Es war un­vor­sich­tig in je­der Be­zie­hung. Am Ende fing Va­ter Göp­pel ihn ab … Die­de­rich ver­schloss den Brief im Schreib­tisch. »An das Es­sen hab’ ich ges­tern über­haupt nicht ge­dacht!« Er ließ sich ein aus­gie­bi­ges Früh­stück brin­gen. »Und rau­chen woll­te ich nicht, da­mit ihr Ge­ruch nicht ver­gin­ge. Das ist doch Blöd­sinn. So darf man nicht sein.« Er zün­de­te eine Zi­gar­re an und ging ins La­bo­ra­to­ri­um. Was er auf dem Her­zen hat­te, be­schloss er statt in Wor­te – denn so hohe Wor­te wa­ren un­männ­lich und un­be­quem – lie­ber in Mu­sik aus­zu­strö­men. Er mie­te­te ein Kla­vier und ver­such­te sich plötz­lich mit viel mehr Glück als in der Kla­vier­stun­de an Schu­bert und Beetho­ven.

Am Sonn­tag, wie er bei Göp­pels klin­gel­te, mach­te Ag­nes selbst ihm auf. »Das Mäd­chen kann nicht vom Herd fort«, sag­te sie; aber den wah­ren Grund sag­te ihr Blick.

Aus Rat­lo­sig­keit senk­te Die­de­rich die Au­gen auf das sil­ber­ne Arm­band, wo­mit sie klap­per­te, als soll­te er hin­se­hen.

»Kennst du es nicht?« flüs­ter­te Ag­nes. Er ward rot.

»Das von Mahl­mann?«

»Das von dir! Ich trag’ es zum ers­ten Mal.«

Rasch und heiß drück­te sie ihm die Hand, dann ging die Tür zum Ber­li­ner Zim­mer auf. Herr Göp­pel wand­te sich um. »Na, da ist wohl un­ser Aus­rei­ßer?« Aber kaum er­blick­te er Die­de­rich, än­der­te sich sei­ne Mie­ne, er be­reu­te sei­ne Ver­trau­lich­keit.

»Ich hät­te Sie, weiß Gott, nicht wie­der­er­kannt, Herr Hess­ling!«

Die­de­rich sah zu Ag­nes hin­über, wie um ihr zu sa­gen: »Siehst du? Der merkt es, dass ich kein dum­mer Jun­ge mehr bin.«

»Bei Ih­nen ist ja al­les un­ver­än­dert«, stell­te Die­de­rich fest und be­grüß­te Herrn Göp­pels Schwes­tern und Schwa­ger. In Wahr­heit aber fand er alle be­trächt­lich ge­al­tert, be­son­ders Herrn Göp­pel, der sich we­ni­ger mun­ter be­nahm und dem ein kum­mer­vol­les Fett von den Wan­gen hing. Die Kin­der wa­ren nun grö­ßer, und ir­gend­wo im Zim­mer schi­en eine Per­son zu feh­len.

»Ja, ja«, so schloss Herr Göp­pel die ein­lei­ten­de Un­ter­hal­tung, »die Zeit ver­geht, aber gute Freun­de fin­den sich im­mer wie­der.«

»Wenn du wüss­test, wie«, dach­te Die­de­rich ver­le­gen und mit Ge­ring­schät­zung, in­des man zu Tisch ging. Beim Kalbs­bra­ten fiel ihm end­lich ein, wer da­mals ihm ge­gen­über ge­ses­sen hat­te. Es war die Tan­te, die ihn so hoch­tra­bend ge­fragt hat­te, was er denn stu­die­re, und die nicht ge­wusst hat­te, dass Che­mie et­was an­de­res war als Phy­sik. Ag­nes, die er zu sei­ner Rech­ten hat­te, er­klär­te ihm, dass die­se Tan­te schon seit zwei Jah­ren tot sei. Die­de­rich mur­mel­te sein Bei­leid, im Stil­len aber sag­te er sich: »Die quatscht also auch nicht mehr.« Ihm kam es vor, als ob hier alle be­straft und nie­der­ge­drückt sei­en, ihn selbst nur hat­te das Schick­sal, sei­nem Wert ent­spre­chend, er­höht. Und er streif­te Ag­nes, von oben her­ab, mit dem Blick des Be­sit­zers.

Die süße Spei­se ließ auf sich war­ten, ge­ra­de wie da­mals. Ag­nes wand­te un­ru­hig den Kopf nach der Tür, Die­de­rich sah ihre schö­nen blon­den Au­gen ver­dun­kelt, als sei et­was Erns­tes ge­sche­hen. Er hat­te plötz­lich tie­fes Mit­ge­fühl mit ihr, eine große Zärt­lich­keit. Er stand auf und rief aus der Tür:

»Ma­rie! Der Krehm!«

Wie er zu­rück­kam, trank Herr Göp­pel ihm zu. »Das ha­ben Sie frü­her auch schon ge­macht. Sie sind doch hier wie’s Kind im Hau­se. Nicht, Ag­nes?« Ag­nes dank­te Die­de­rich mit ei­nem Blick, der sein gan­zes Herz auf­rühr­te. Er muss­te sich zu­sam­men­neh­men, um nicht feuch­te Au­gen zu be­kom­men. Wie wohl­wol­lend die Ver­wand­ten ihm zu­lä­chel­ten! Der Schwa­ger stieß mit ihm an. Was für gute Men­schen! Und Ag­nes, die süße Ag­nes, lieb­te ihn! Er ver­dien­te so viel nicht! Das Ge­wis­sen schlug ihm laut, er nahm sich dun­kel vor, nach­her mit Herrn Göp­pel zu spre­chen.

Lei­der fing Herr Göp­pel nach dem Es­sen wie­der von den Kra­wal­len an. Wenn wir end­lich den Druck der Bis­marck­schen Küras­siers­tie­fel los wa­ren, brauch­te man die Ar­bei­ter nun nicht mit Dick­tun in Re­den zu rei­zen. Der jun­ge Mann (so nann­te Herr Göp­pel den Kai­ser!) re­det uns noch die Re­vo­lu­ti­on an den Hals … Die­de­rich sah sich ver­an­lasst, im Na­men der Ju­gend, die fest und treu zu ih­rem herr­li­chen jun­gen Kai­ser ste­he, sol­che Nör­ge­lei­en auf das schärfs­te zu­rück­zu­wei­sen. Sei­ne Ma­je­stät hat­ten es selbst ge­sagt: »Die­je­ni­gen, wel­che mir be­hilf­lich sein wol­len, herz­lich will­kom­men. Die sich mir ent­ge­gen­stel­len, zer­schmet­te­re ich.« Da­bei ver­such­te Die­de­rich zu blit­zen. Herr Göp­pel er­klär­te, er war­te es ab.

»In die­ser har­ten Zeit«, füg­te Die­de­rich hin­zu, »muss je­der sei­nen Mann ste­hen.« Und er setz­te sich in Po­si­tur vor Ag­nes, die ihn be­wun­der­te.

»Wie­so, har­te Zeit?« sag­te Herr Göp­pel. »Sie ist doch nur hart, wenn wir uns ge­gen­sei­tig das Le­ben schwer­ma­chen. Ich hab’ mich mit mei­nen Ar­bei­tern noch im­mer ver­tra­gen.«

Die­de­rich zeig­te sich ent­schlos­sen, da­heim in sei­nem Be­trieb eine ganz an­de­re Zucht ein­zu­füh­ren. So­zi­al­de­mo­kra­ten wur­den nicht mehr ge­dul­det, und sonn­tags gin­gen die Leu­te zur Kir­che! – Das auch noch? mein­te Herr Göp­pel. Das kön­ne er von sei­nen Leu­ten nicht ver­lan­gen, wenn er selbst doch bloß am Kar­frei­tag gehe. »Soll ich sie be­schwin­deln? Chris­ten­tum ist gut; aber was der Pas­tor al­les re­det, glaubt doch kein Mensch mehr.« Da sah man Die­de­richs Mie­ne hoch über­le­gen wer­den.

»Mein lie­ber Herr Göp­pel, ich kann Ih­nen nur sa­gen: Was die Her­ren da oben und be­son­ders mein ver­ehr­ter Freund, der As­ses­sor von Bar­nim, zu glau­ben für rich­tig hal­ten, das glaub’ ich auch – un­be­se­hen. Das kann ich Ih­nen nur sa­gen.«

Der Schwa­ger, der Be­am­ter war, schlug sich plötz­lich auf Die­de­richs Sei­te. Herr Göp­pel hat­te schon einen ro­ten Kopf, Ag­nes trat mit dem Kaf­fee da­zwi­schen. »Na, schme­cken Ih­nen mei­ne Zi­gar­ren?« Herr Göp­pel klopf­te Die­de­rich aufs Knie. »Se­hen Sie wohl, im Men­sch­li­chen sind wir ei­nig.«

Die­de­rich dach­te: »Da ich so­zu­sa­gen zur Fa­mi­lie ge­hö­re.«

Er ließ von sei­ner stram­men Hal­tung ei­ni­ges nach, es war noch sehr ge­müt­lich. Herr Göp­pel woll­te wis­sen, wann Die­de­rich »fer­tig« wer­de und Dok­tor sei, er be­griff nicht, dass eine che­mi­sche Ar­beit zwei Jah­re und län­ger brau­che. Die­de­rich ver­brei­te­te sich in Aus­drücken, die nie­mand ver­stand, über die Schwie­rig­kei­ten, zu ei­ner Lö­sung zu ge­lan­gen. Er hat­te die Emp­fin­dung, Herr Göp­pel war­te zu ei­nem be­stimm­ten Zweck auf sei­ne Pro­mo­vie­rung. Auch Ag­nes schi­en es zu füh­len, denn sie griff ein und lenk­te das Ge­spräch ab. Als Die­de­rich sich ver­ab­schie­det hat­te, ging sie mit hin­aus und flüs­ter­te ihm zu:

»Mor­gen um drei bei dir.«

Vor jä­her Freu­de griff er nach ihr und küss­te sie, zwi­schen den Tü­ren, wäh­rend gleich da­ne­ben das Mäd­chen mit dem Ge­schirr ras­sel­te. Sie frag­te trau­rig: »Denkst du denn gar nicht dar­an, was mir pas­siert, wenn jetzt je­mand kommt?« Er war be­trof­fen und ver­lang­te als Zei­chen ih­rer Ver­zei­hung noch einen Kuss. Sie gab ihn.

Um drei Uhr pfleg­te Die­de­rich aus dem Café ins La­bo­ra­to­ri­um zu­rück­zu­keh­ren. Statt des­sen war er schon um zwei Uhr wie­der in sei­nem Zim­mer. Rich­tig kam sie noch vor drei. »Wir ha­ben es bei­de nicht er­war­ten kön­nen! Wie wir uns lieb­ha­ben!« Es war schö­ner als das ers­te Mal, viel schö­ner. Kei­ne Trä­ne mehr, kei­ne Furcht; und die Son­ne schi­en her­ein. Die­de­rich brei­te­te Ag­nes’ Haar in der Son­ne aus und ba­de­te sein Ge­sicht dar­in.

Sie blieb, bis es fast schon zu spät war, die Ein­käu­fe zu ma­chen, die sie zu Hau­se vor­ge­schützt hat­te. Sie muss­te lau­fen. Die­de­rich, der mit­lief, war sehr be­sorgt, dass es ihr scha­den kön­ne. Aber sie lach­te, sah ro­sig aus und nann­te ihn ih­ren Bä­ren. Im­mer en­de­ten nun so die Tage, an de­nen sie kam. Im­mer wa­ren sie glück­lich. Herr Göp­pel stell­te fest, dass es Ag­nes bes­ser gehe als je, und das ver­jüng­te ihn selbst. Da­her wur­den auch die Sonn­ta­ge je­des Mal hei­te­rer. Es dau­er­te bis abends, dann ward Punsch ge­macht, Die­de­rich muss­te Schu­bert spie­len, oder er und der Schwa­ger san­gen Bur­schen­lie­der, und Ag­nes be­glei­te­te sie. Manch­mal sa­hen sie sich nach­ein­an­der um, bei­den war zu­mut, als wer­de ihr Glück ge­fei­ert.

Es kam vor, dass im La­bo­ra­to­ri­um der Die­ner zu Die­de­rich hin­trat und ihm mel­de­te, drau­ßen sei eine Dame. Er stand so­fort auf, stolz er­rö­tend un­ter den ver­ständ­nis­vol­len Bli­cken der Kol­le­gen. Und dann bum­mel­ten sie, gin­gen ins Café, ins Pan­op­ti­kum; und da Ag­nes gern Bil­der sah, er­fuhr Die­de­rich auch, dass es Kunstaus­stel­lun­gen gab. Ag­nes lieb­te es, vor ei­nem Bild, das ihr ge­fiel, ei­ner sanf­ten, fest­tä­gi­gen Land­schaft aus schö­ne­ren Län­dern, lan­ge ste­hen­zu­blei­ben, mit halb­ge­schlos­se­nen Au­gen, und Träu­me aus­zut­au­schen mit Die­de­rich.

»Sieh nur recht hin, dann merkst du, das ist kein Rah­men, es ist ein Tor mit gol­de­nen Stu­fen, die ge­hen wir hin­un­ter und über den Weg und bie­gen die Weiß­dorn­bü­sche weg und stei­gen in den Kahn. Fühlst du wohl, wie er schau­kelt? Das kommt, weil wir die Hand durch das Was­ser schlei­fen, es ist so warm. Drü­ben am Berg, der wei­ße Punkt, du weißt schon, es ist un­ser Haus, da­hin fah­ren wir. Siehst du, siehst du?«

»Ja, ja«, sag­te Die­de­rich voll Ei­fer. Er kniff die Li­der ein und sah al­les, was Ag­nes woll­te. Er ge­riet so sehr in Feu­er, dass er ihre Hand nahm, um sie zu trock­nen. Dann setz­ten sie sich in einen Win­kel und spra­chen von den Rei­sen, die sie ma­chen woll­ten, dem sor­gen­lo­sen Glück in son­ni­ger Fer­ne, von Lie­be ohne Ende. Die­de­rich glaub­te, was er sag­te. Im Grun­de wuss­te er wohl, dass er be­stimmt sei, zu ar­bei­ten und ein prak­ti­sches Le­ben zu füh­ren, ohne viel Muße für Über­schweng­lich­kei­ten. Aber was er hier sag­te, war von ei­ner hö­he­ren Wahr­heit als al­les, was er wuss­te. Der ei­gent­li­che Die­de­rich, der, der er hät­te sein sol­len, sprach wahr. – Aber Ag­nes: wie sie nun auf­stan­den und gin­gen, war sie blass und schi­en müde. Ihre schö­nen blon­den Au­gen hat­ten einen Glanz, der Die­de­rich be­klom­men mach­te, und sie frag­te lei­se und zit­ternd:

»Wenn un­ser Kahn nun um­ge­schla­gen wäre?«

»Dann hät­te ich dich ge­ret­tet!« sag­te Die­de­rich ent­schlos­sen.

»Aber es ist weit vom Ufer, und das Was­ser ist schreck­lich tief.«

Da er rat­los war:

»Wir hät­ten er­trin­ken müs­sen. Sag’, wärst du gern mit mir ge­stor­ben?«

Die­de­rich sah sie an; dann schloss er die Au­gen.

»Ja«, sag­te er mit ei­nem Seuf­zer.

Nach­her aber be­reu­te er ein sol­ches Ge­spräch. Er hat­te wohl ge­merkt, warum Ag­nes plötz­lich in eine Drosch­ke stei­gen und heim­fah­ren muss­te. Sie hat­te krampf­haf­te Röte bis in die Stirn ge­habt, und er soll­te nicht se­hen, wie sie hus­te­te. Den gan­zen Nach­mit­tag be­reu­te Die­de­rich nun. Sol­che Sa­chen wa­ren un­ge­sund, führ­ten zu nichts und mach­ten Un­ge­le­gen­hei­ten. Sein Pro­fes­sor hat­te schon von den Be­su­chen der Dame er­fah­ren. Es ging nicht län­ger, dass sie ihn we­gen je­der Lau­ne von sei­ner Ar­beit weg­hol­te. Er setz­te es ihr scho­nend aus­ein­an­der. »Du hast wohl recht«, sag­te sie dar­auf. »Or­dent­li­che Men­schen brau­chen fes­te Stun­den. Aber wenn ich nun um halb sechs zu dir kom­men soll, und am meis­ten ge­liebt hab’ ich dich schon um vier?«

Er fühl­te Spott her­aus, viel­leicht so­gar Ge­ring­schät­zung, und ward grob. Eine Ge­lieb­te, die ihn an sei­ner Kar­rie­re hin­dern woll­te, kön­ne er über­haupt nicht brau­chen. So habe er sich die Sa­che nicht vor­ge­stellt. Da bat Ag­nes um Ver­zei­hung. Sie woll­te ganz be­schei­den wer­den und in sei­nem Zim­mer auf ihn war­ten. Wenn er noch zu tun hat­te, oh! er brauch­te kei­ne Rück­sicht zu neh­men. Das be­schäm­te Die­de­rich, er ward weich und über­ließ sich, zu­sam­men mit Ag­nes, den Kla­gen über eine Welt, in der es nicht nur Lie­be gab. »Muss es denn sein?« frag­te Ag­nes. »Du hast ein we­nig Geld, ich auch. Wa­rum Kar­rie­re ma­chen und dich ab­het­zen? Wir könn­ten es so gut ha­ben.« Die­de­rich sah es ein – nach­träg­lich aber nahm er ihr es übel. Nun ließ er sie war­ten, halb mit Ab­sicht. So­gar den Be­such po­li­ti­scher Ver­samm­lun­gen er­klär­te er für eine Pf­licht, die der Zu­sam­men­kunft mit Ag­nes vor­an­ge­he. Ei­nes Abends im Mai, wie er ver­spä­tet heim­kam, traf er vor der Tür einen jun­gen Mann in Ein­jäh­ri­gen­uni­form, der ihn zö­gernd an­sah. »Herr Die­de­rich Hess­ling?« – »Ach ja«, stam­mel­te Die­de­rich, »Sie – du – Sie sind wohl Herr Wolf­gang Buck?«

Der jüngs­te Sohn des großen Man­nes von Net­zig hat­te sich end­lich ent­schlos­sen, dem Be­fehl sei­nes Va­ters zu fol­gen und Die­de­rich auf­zu­su­chen. Die­de­rich nahm ihn mit hin­auf, er fand so schnell kei­nen Vor­wand, um ihn zu ent­fer­nen, und drin­nen saß Ag­nes! Im Flur sprach er laut, da­mit sie es höre und sich ver­ste­cke. Mit Ban­gen öff­ne­te er. Im Zim­mer war nie­mand; auch ihr Hut lag nicht auf dem Bett; aber Die­de­rich wuss­te wohl: sie war noch so­eben da­ge­we­sen. Er sah es dem Stuhl an, der nicht ganz am Fleck stand, er fühl­te es in der Luft, die noch lei­se zu schwin­gen schi­en vom Hin­durch­strei­fen ih­res Klei­des. Sie muss­te in dem fens­ter­lo­sen klei­nen Ge­lass sein, wo sein Wasch­tisch stand. Er schob einen Ses­sel da­vor und murr­te, un­wirsch vor Ver­le­gen­heit, über die Wir­tin, die nicht auf­räu­me. Wolf­gang Buck mein­te, er kom­me wohl un­ge­le­gen. »O nein!« ver­si­cher­te Die­de­rich. Er lud den Gast zum Sit­zen ein und brach­te Ko­gnak. Buck ent­schul­dig­te sich we­gen der un­ge­wöhn­li­chen Stun­de; der Dienst las­se ihm kei­ne Wahl. »Das ken­nen wir«, sag­te Die­de­rich; und um Fra­gen zu­vor­zu­kom­men, be­rich­te­te er so­fort, dass ein Jahr schon hin­ter ihm lie­ge. Er sei be­geis­tert vom Mi­li­tär, es sei das Wah­re. Wer ganz da­bei blei­ben könn­te! Lei­der rie­fen ihn Fa­mi­li­en­pflich­ten. Buck lä­chel­te, ein wei­ches, skep­ti­sches Lä­cheln, das Die­de­rich miss­fiel. »Nun ja, die Of­fi­zie­re: man ist we­nigs­tens un­ter Leu­ten mit gu­ten Ma­nie­ren.«

»Sie ver­keh­ren mit ih­nen?« frag­te Die­de­rich, und er mein­te es höh­nisch. Aber Buck er­klär­te ein­fach, dass er zu­wei­len in die Of­fi­ziers­mes­se ge­la­den wer­de. Er zuck­te die Ach­seln. »Ich gehe hin, weil ich es für nütz­lich hal­te, mich in al­len La­gern um­zu­se­hen. An­de­rer­seits ver­keh­re ich viel mit So­zia­lis­ten.« Er lä­chel­te wie­der. »Manch­mal möch­te ich näm­lich Ge­ne­ral wer­den und manch­mal Ar­bei­ter­füh­rer. Auf wel­che Sei­te ich schließ­lich fal­len wer­de, dar­auf bin ich selbst neu­gie­rig.« Und er trank das zwei­te Glas Ko­gnak aus. »Ein ekel­haf­ter Mensch«, dach­te Die­de­rich. »Und Ag­nes in der Dun­kel­kam­mer.« Er sag­te: »Mit Ihren Mit­teln steht es Ih­nen ja frei, sich in den Reichs­tag wäh­len zu las­sen oder was Ih­nen sonst Spaß macht. Ich bin auf prak­ti­sche Ar­beit an­ge­wie­sen. Die So­zi­al­de­mo­kra­tie be­trach­te ich üb­ri­gens als mei­nen Feind, denn sie ist der Feind des Kai­sers.«

»Wis­sen Sie das ganz ge­nau?« frag­te dar­auf Buck. »Ich traue eher dem Kai­ser eine heim­li­che Lie­be für die So­zi­al­de­mo­kra­tie zu. Er wäre gern sel­ber der ers­te Ar­bei­ter­füh­rer ge­wor­den. Sie ha­ben nur nicht ge­wollt.«

Die­de­rich em­pör­te sich. Das sei be­lei­di­gend für Sei­ne Ma­je­stät. Aber Buck ließ sich nicht stö­ren. »Erin­nern Sie sich nicht, wie er Bis­marck ge­gen­über ge­droht hat, er wol­le den rei­chen Leu­ten sei­nen mi­li­tä­ri­schen Schutz ent­zie­hen? Er hat, we­nigs­tens an­fangs, ge­ra­de sol­che Ran­kü­ne1 ge­gen die Rei­chen ge­habt wie die Ar­bei­ter – wenn auch na­tür­lich aus ab­wei­chen­den Grün­den, weil er sich näm­lich schwer da­mit ab­fin­det, dass auch an­de­re Macht ha­ben.«

Den Aus­ru­fen, die in Die­de­richs Mie­nen stan­den, kam Buck zu­vor. »Glau­ben Sie bit­te nicht«, sag­te er leb­haf­ter, »dass An­ti­pa­thie aus mir spricht. Es ist im Ge­gen­teil Zärt­lich­keit: eine Art feind­li­cher Zärt­lich­keit, wenn Sie wol­len.«

»Ver­ste­he ich nicht«, sag­te Die­de­rich.

»Nun ja: wie man sie für je­mand hat, bei dem man sei­ne ei­ge­nen Feh­ler wie­der­fin­det, oder nen­nen Sie es Tu­gen­den. Je­den­falls sind wir jun­gen Leu­te jetzt alle so wie un­ser Kai­ser, dass wir näm­lich un­se­re Per­sön­lich­keit aus­le­ben möch­ten und doch ganz gut füh­len, Zu­kunft hat nur die Mas­se. Ei­nen Bis­marck wird es nicht mehr ge­ben und auch kei­nen Las­sal­le mehr. Vi­el­leicht sind es die Be­gab­te­ren un­ter uns, die sich das heu­te noch ab­leug­nen möch­ten. Er je­den­falls möch­te es sich ab­leug­nen. Und wenn ei­nem sol­che Un­men­ge Macht in den Schoß ge­fal­len ist, wäre es auch wirk­lich Selbst­mord, sich nicht zu über­schät­zen. Aber in tiefs­ter See­le hat er si­cher sei­ne Zwei­fel an der Rol­le, die er sich zu­mu­tet.«

»Rol­le?« frag­te Die­de­rich. Buck merk­te es gar nicht.

»Denn die kann ihn weit füh­ren, da sie in der Welt, wie sie heu­te nun ein­mal ist, ver­dammt pa­ra­dox wir­ken muss. Die­se Welt er­war­tet von kei­nem ein­zel­nen ir­gend mehr als von sei­nem Nach­barn. Auf Ni­veau kommt es an, nicht auf Aus­zeich­nung, und am al­ler­we­nigs­ten auf große Män­ner.«

»Er­lau­ben Sie!« Die­de­rich warf sich in die Brust. »Und das Deut­sche Reich, hät­ten wir das ohne große Män­ner? Ho­hen­zol­lern sind im­mer große Män­ner.« – Buck ver­zog schon wie­der den Mund, weh­mü­tig und skep­tisch. »Dann müs­sen sie sich in acht neh­men. Und wir an­de­ren auch. Der Kai­ser steht, auf sei­ne Ver­hält­nis­se über­tra­gen, vor der­sel­ben Fra­ge wie ich. Soll ich Ge­ne­ral wer­den und mein gan­zes Le­ben auf einen Krieg ein­rich­ten, der vor­aus­sicht­lich nie mehr ge­führt wer­den wird? Oder ein wo­mög­lich ge­nia­ler Volks­füh­rer, wäh­rend das Volk doch schon so weit ist, dass es auf die Ge­nies ver­zich­ten kann? Bei­des wäre Ro­man­tik, und Ro­man­tik führt be­kannt­lich zum Ban­ke­rott.« Buck trank zwei Ko­gnaks nach­ein­an­der.

»Was soll ich also wer­den?«

»Ein Al­ko­ho­li­ker«, dach­te Die­de­rich. Er frag­te sich, ob es nicht sei­ne Pf­licht sei, Buck einen Krach zu ma­chen. Aber Buck trug Uni­form! Auch wür­de der Lärm viel­leicht Ag­nes her­vor­ge­scheucht ha­ben, und was konn­te dann al­les ent­ste­hen! Im­mer­hin be­schloss er, sich Bucks Äu­ße­run­gen ge­nau zu mer­ken. Dach­te der Mensch mit sol­chen Ge­sin­nun­gen Kar­rie­re zu ma­chen? Die­de­rich er­in­ner­te sich, dass auf der Schu­le Bucks deut­sche Auf­sät­ze, die zu geist­reich wa­ren, ihm ein un­er­klär­tes, aber tie­fes Miss­trau­en ein­ge­ge­ben hat­ten. »Stimmt«, dach­te er, »so ist er ge­blie­ben. Ein Schön­geist. Die gan­ze Fa­mi­lie ist so.« Die Frau des al­ten Buck war eine Jü­din ge­we­sen, die Thea­ter ge­spielt hat­te. Und Die­de­rich fühl­te sich nach­träg­lich ge­de­mü­tigt durch das her­ab­las­sen­de Wohl­wol­len des al­ten Buck beim Be­gräb­nis sei­nes Va­ters. Auch der jun­ge de­mü­tig­te ihn, fort­wäh­rend und mit al­lem: mit sei­nen über­le­ge­nen Re­dens­ar­ten, sei­nen Ma­nie­ren, sei­nem Ver­kehr bei den Of­fi­zie­ren. War er ein Herr von Bar­nim? Er war auch nur aus Net­zig. »Ich has­se die gan­ze Fa­mi­lie!« Und Die­de­rich be­trach­te­te aus ge­knif­fe­nen Li­dern dies flei­schi­ge Ge­sicht mit der weich ge­bo­ge­nen Nase und den feucht glän­zen­den Au­gen, die san­nen. Buck stand auf. »Nun, wir se­hen uns zu Hau­se wie­der. Nächs­tes oder über­nächs­tes Se­mes­ter ma­che ich mein Ex­amen, und was bleibt dann wei­ter üb­rig, als Rechts­an­walt spie­len in Net­zig … Und Sie?« frag­te er. Die­de­rich er­klär­te streng, dass er sei­ne Zeit nicht zu ver­lie­ren und noch im Som­mer sei­ne Dok­tor­ar­beit ab­zu­schlie­ßen den­ke. Da­mit führ­te er Buck hin­aus. »Ein dum­mer Kerl bist du doch nur«, dach­te er. »Merkst gar nicht, dass ich ein Mäd­chen bei mir habe.« Er kehr­te zu­rück, froh sei­ner Über­le­gen­heit über Buck und auch über Ag­nes, die im Dun­keln ge­war­tet und nicht ge­muckt hat­te.

Wie er aber die Tür öff­ne­te, hing sie über ei­nem Stuhl, ihre Brust ging hef­tig, und mit dem Ta­schen­tuch un­ter­drück­te sie das Keu­chen. Sie sah ihm ent­ge­gen, aus ge­röte­ten Au­gen. Er sah: sie war da drin­nen fast er­stickt, und sie hat­te ge­weint – in­des er hier drau­ßen ge­trun­ken und un­nüt­zes Zeug ge­re­det hat­te. Sei­ne ers­te Re­gung war maß­lo­se Reue. Sie lieb­te ihn! Da saß sie und lieb­te ihn so sehr, dass sie al­les er­trug! Er war im Be­griff, die Arme zu er­he­ben, vor sie hin­zu­stür­zen und sie wei­nend um Ver­zei­hung zu bit­ten. Recht­zei­tig hielt er sich zu­rück, aus Furcht vor der Sze­ne und der sen­ti­men­ta­len Stim­mung nach­her, die ihn wie­der meh­re­re Ar­beits­ta­ge kos­te­te und ihr die Ober­hand gab. Er tat ihr nicht den Wil­len! Denn na­tür­lich über­trieb sie ab­sicht­lich. So küss­te er sie flüch­tig auf die Stirn und sag­te: »Du bist schon da? Ich hab’ dich gar nicht kom­men ge­se­hen.« Sie zuck­te auf, wie um et­was zu er­wi­dern, aber sie schwieg. Da­rauf er­klär­te er, es sei ge­ra­de je­mand fort­ge­gan­gen. »So ein Ju­den­ben­gel, der sich auf­spielt! Ein­fach ekel­haft!« Die­de­rich lief im Zim­mer um­her. Um Ag­nes nicht an­se­hen zu müs­sen, lief er im­mer schnel­ler und re­de­te im­mer hef­ti­ger. »Das sind un­se­re schlimms­ten Fein­de! Die mit ih­rer so­ge­nann­ten fei­nen Bil­dung, die al­les an­tas­ten, was uns Deut­schen hei­lig ist! Solch ein Ju­den­ben­gel kann froh sein, dass wir ihn dul­den. Soll er sei­ne Pan­dek­ten büf­feln und die Schnau­ze hal­ten. Auf sei­ne schön­geis­ti­gen Schmö­ker hus­te ich!« schrie er noch lau­ter, mit der Ab­sicht, auch Ag­nes zu krän­ken. Da sie nicht ant­wor­te­te, nahm er einen neu­en An­lauf. »Das kommt aber al­les, weil je­der mich jetzt zu Hau­se fin­det. Im­mer muss ich dei­net­we­gen auf der Bude hocken!«

Ag­nes sag­te schüch­tern: »Wir ha­ben uns schon sechs Tage nicht ge­se­hen. Sonn­tag bist du wie­der nicht ge­kom­men. Ich fürch­te, du hast mich nicht mehr lieb.« Er blieb vor ihr ste­hen. Von oben her­ab: »Mein lie­bes Kind, dass ich dich lieb­ha­be, brauch’ ich dir wohl wirk­lich nicht mehr zu ver­si­chern. Aber eine an­de­re Fra­ge ist es, ob ich dar­um auch Lust habe, je­den Sonn­tag dei­nen Tan­ten beim Hä­keln zu­zu­se­hen und mit dei­nem Va­ter über Po­li­tik zu re­den, wo­von er nichts ver­steht.« Ag­nes senk­te den Kopf. »Frü­her war es so schön. Du stan­dest dich schon so gut mit Papa.« Die­de­rich dreh­te ihr den Rücken zu und sah aus dem Fens­ter. Das war es eben: er fürch­te­te zu gut zu ste­hen mit Herrn Göp­pel. Durch sei­nen Buch­hal­ter, den al­ten Söt­bier, wuss­te er, dass Göp­pels Ge­schäft bergab ging. Sei­ne Zel­lu­lo­se taug­te nichts mehr, Söt­bier be­zog sie nicht mehr von ihm. Da wäre ein Schwie­ger­sohn wie Die­de­rich ihm frei­lich ge­le­gen ge­kom­men. Die­de­rich fühl­te sich um­garnt von die­sen Leu­ten. Auch von Ag­nes! Er hat­te sie im Ver­dacht, mit dem Al­ten zu­sam­men­zu­ste­cken. Ent­rüs­tet wand­te er sich ihr wie­der zu. »Und dann, lie­bes Kind, ehr­lich ge­stan­den: was wir bei­de tun, nicht wahr, das ist un­se­re Sa­che, aber dei­nen Va­ter las­sen wir lie­ber aus dem Spiel. Be­zie­hun­gen wie die un­se­ren soll man mit Fa­mi­li­en­freund­schaft nicht ver­qui­cken. Mein sitt­li­ches Ge­fühl ver­langt da rein­li­che Schei­dung.«

Ein Au­gen­blick ver­ging, dann stand Ag­nes auf, als habe sie jetzt be­grif­fen. Sie war tief er­rö­tet. Sie ging zur Tür. Die­de­rich hol­te sie ein. »Aber Ag­nes, so hab’ ich es doch nicht ge­meint. Es war doch nur, weil ich dich viel zu sehr ach­te – Und ich kann ja auch wie­der­kom­men Sonn­tag.« Sie ließ ihn re­den, mit un­be­weg­ter Mie­ne. »Nun sei doch wie­der ge­müt­lich«, bat er. »Du hast noch nicht mal dei­nen Hut ab­ge­nom­men.« Sie tat es. Er ver­lang­te, sie sol­le sich auf den Di­wan set­zen, und sie setz­te sich. Sie küss­te ihn auch, wie er es woll­te. Aber in­des ihre Lip­pen lä­chel­ten und küss­ten, blie­ben ihre Au­gen starr und un­be­tei­ligt. Plötz­lich riss sie ihn in ihre Arme: er er­schrak, er wuss­te nicht, ob es Hass war. Aber dann fühl­te er sich hei­ßer ge­liebt als je.

»Heu­te war es aber wirk­lich schön. Was, mei­ne klei­ne süße Ag­nes?« sag­te Die­de­rich, zu­frie­den und gut­mü­tig.

»Adieu«, sag­te sie, has­tend nach Schirm und Beu­tel, wäh­rend er sich erst an­klei­de­te.

»Du hast es aber ei­lig.« – »Wei­ter kann ich wohl nichts für dich tun.« Sie war schon bei der Tür – plötz­lich fiel sie mit der Schul­ter ge­gen den Pfos­ten und rühr­te sich nicht mehr. »Was ist denn los?« Wie Die­de­rich nä­her kam, sah er sie schluch­zen. Er be­rühr­te sie. »Ja, was hast du denn?« Da ward ihr Wei­nen laut und krampf­haft. Es hör­te nicht auf. »Aber Ag­nes«, sag­te Die­de­rich von Zeit zu Zeit, »was ist auf ein­mal ge­sche­hen, wir wa­ren doch so ver­gnügt.« Und ganz rat­los: »Hab’ ich dir was ge­tan?« Zwi­schen den Kri­sen und halb er­stickt, brach­te sie her­vor: »Ich kann nicht. Ent­schul­di­ge.« Er trug sie auf den Di­wan. Als es end­lich vor­bei war, schäm­te Ag­nes sich. »Ver­zeih! Ich kann nicht da­für.« – »Kann denn ich da­für?« – »Nein, nein. Es sind die Ner­ven. Ver­zeih!«

Mit­lei­dig und ge­dul­dig brach­te er sie bis zu ei­nem Wa­gen. Nach­träg­lich aber er­schi­en ihm auch der An­fall als hal­be Ko­mö­die und als eins der Mit­tel, die ihn end­gül­tig ein­fan­gen soll­ten. Das Ge­fühl ver­ließ ihn nicht mehr, dass Rän­ke ge­spon­nen wur­den ge­gen sei­ne Frei­heit und sei­ne Zu­kunft. Er wehr­te sich da­ge­gen ver­mit­tels schrof­fen Auf­tre­tens, Be­to­nung sei­ner männ­li­chen Selbst­stän­dig­keit und durch Käl­te, so­bald die Stim­mung weich ward. Sonn­tags bei Göp­pels war er auf sei­ner Hut, wie in Fein­des­land: kor­rekt und un­zu­gäng­lich. Wann sei­ne Ar­beit denn nun fer­tig wer­de? frag­ten sie. Er kön­ne die Lö­sung mor­gen fin­den oder erst in zwei Jah­ren, das wis­se er selbst nicht. Er be­ton­te, dass er auch künf­tig fi­nan­zi­ell ab­hän­gig von sei­ner Mut­ter blei­be. Er wer­de noch lan­ge für nichts Zeit ha­ben als ein­zig für das Ge­schäft. Und da Herr Göp­pel die idea­len Wer­te des Le­bens zu be­den­ken gab, lehn­te Die­de­rich barsch ab. »Noch ges­tern hab’ ich mei­nen Schil­ler ver­kauft. Denn ich habe kei­nen Spar­ren und lass’ mir nichts vor­ma­chen.« Wenn er nach sol­chen Wor­ten Ag­nes’ stum­men und be­trüb­ten Blick auf sich fühl­te, hat­te er wohl einen Au­gen­blick die Emp­fin­dung, als habe nicht er selbst ge­spro­chen, als gehe er im Ne­bel, rede falsch und hand­le wi­der Wil­len. Aber das ver­ging.

Ag­nes kam, so­oft er sie be­stell­te, und ging fort, wenn es Zeit für ihn war, zu ar­bei­ten oder zu knei­pen. Sie ver­führ­te ihn nicht mehr zu Träu­me­rei­en vor Bil­dern, seit er ein­mal an ei­nem Wurst­ge­schäft an­ge­hal­ten und ihr er­klärt hat­te, das sei für ihn der schöns­te Kunst­ge­nuss. Ihm selbst fiel es end­lich auf das Herz, wie sel­ten sie sich nur noch sa­hen. Er warf ihr vor, dass sie nicht dar­auf drin­ge, öf­ter zu kom­men. »Frü­her warst du ganz an­ders.« – »Ich muss war­ten«, sag­te sie. – »Worauf?« – »Dass auch du wie­der so wirst. Oh! Ich weiß ganz si­cher, es wird kom­men.«

Er schwieg, aus Furcht vor Aus­ein­an­der­set­zun­gen. Den­noch kam es, wie sie ge­sagt hat­te. Sei­ne Ar­beit war end­lich be­en­det und gut­ge­hei­ßen, er hat­te nur noch eine be­lang­lo­se münd­li­che Prü­fung zu be­ste­hen und war in der ge­ho­be­nen Stim­mung ei­ner Le­bens­wen­de. Wie Ag­nes ihm ih­ren Glück­wunsch brach­te und Ro­sen dazu, brach er in Trä­nen aus und sag­te, dass er sie im­mer, im­mer lieb­ha­ben wer­de. Sie be­rich­te­te, dass Herr Göp­pel so­eben eine mehr­tä­gi­ge Ge­schäfts­rei­se an­tre­te. »Und nun ist das Wet­ter so wun­der­schön …« Die­de­rich fiel so­fort ein: »Das müs­sen wir be­nut­zen! Sol­che Ge­le­gen­heit ha­ben wir noch nie ge­habt!« Sie be­schlos­sen, aufs Land hin­aus­zu­fah­ren. Ag­nes wuss­te von ei­nem Ort na­mens Mit­ten­wal­de; es muss­te ein­sam dort sein und ro­man­tisch wie der Name. »Den gan­zen Tag wer­den wir bei­sam­men sein!« – »Und die Nacht auch«, setz­te Die­de­rich hin­zu.

Schon der Bahn­hof, von dem man ab­fuhr, war ent­le­gen und der Zug ganz klein und alt­mo­disch. Sie blie­ben al­lein in ih­rem Wa­gen; es dun­kel­te lang­sam, der Schaff­ner zün­de­te ih­nen eine trü­be Lam­pe an, und sie sa­hen, eng um­schlun­gen, stumm und mit großen Au­gen hin­aus in das fla­che, ein­tö­ni­ge Acker­land. Da hin­aus­ge­hen, zu Fuß, weit fort, und sich ver­lie­ren in der gu­ten Dun­kel­heit! Bei ei­nem Dorf mit ei­ner Hand­voll Häu­ser wä­ren sie fast aus­ge­stie­gen. Der Schaff­ner hol­te sie jo­vi­al zu­rück; ob sie denn auf Stroh über­nach­ten woll­ten. Und dann lang­ten sie an. Das Wirts­haus hat­te einen großen Hof, ein wei­tes Gast­zim­mer mit Pe­tro­le­um­lam­pen un­ter der Bal­ken­de­cke und einen bie­de­ren Wirt, der Ag­nes »gnä­di­ge Frau« nann­te und schlaue sla­wi­sche Au­gen dazu mach­te. Sie wa­ren voll heim­li­chen Ein­ver­ständ­nis­ses und be­fan­gen. Nach dem Es­sen wä­ren sie gern gleich hin­auf­ge­gan­gen, wag­ten es aber nicht und blät­ter­ten ge­hor­sam in den Zeit­schrif­ten, die der Wirt ih­nen hin­leg­te. Wie er den Rücken wand­te, war­fen sie ein­an­der einen Blick zu, und, husch, wa­ren sie auf der Trep­pe. Noch war kein Licht im Zim­mer, die Tür stand noch of­fen, und schon la­gen sie ein­an­der in den Ar­men.

Ganz früh am Mor­gen schi­en die Son­ne her­ein. Im Hof drun­ten pick­ten Hüh­ner und flat­ter­ten auf den Tisch vor der Lau­be. »Dort wol­len wir früh­stücken!« Sie gin­gen hin­ab. Wie herr­lich warm! Aus der Scheu­er duf­te­te es köst­lich nach Heu. Kaf­fee und Brot schmeck­ten ih­nen fri­scher als sonst. So frei war ei­nem um das Herz, das gan­ze Le­ben stand of­fen. Stun­den­weit woll­ten sie ge­hen; der Wirt muss­te die Stra­ßen und Dör­fer nen­nen. Sie lob­ten freu­dig sein Haus und sei­ne Bet­ten. Sie sei­en wohl auf der Hoch­zeits­rei­se? »Stimmt« – und sie lach­ten herz­haft.

Die Pflas­ter­stei­ne der Haupt­stra­ße streck­ten ihre Spit­zen nach oben, und die Ju­li­son­ne färb­te sie bunt. Die Häu­ser wa­ren höck­rig, schief und so klein, dass die Stra­ße zwi­schen ih­nen sich aus­nahm wie ein Feld mit Stei­nen. Die Glo­cke des Krä­mers klap­per­te lan­ge hin­ter den Frem­den her. We­ni­ge Leu­te, halb städ­tisch ge­klei­det, schli­chen durch den Schat­ten und wand­ten sich um nach Ag­nes und Die­de­rich, die stol­ze Ge­sich­ter mach­ten, denn sie wa­ren die Ele­gan­tes­ten hier. Ag­nes ent­deck­te das Mo­den­ge­schäft mit den Hü­ten der fei­nen Da­men. »Nicht zu glau­ben! Das hat man in Ber­lin vor drei Jah­ren ge­tra­gen!« Dann tra­ten sie durch ein Tor, das wack­lig aus­sah, in das Land hin­aus. Die Fel­der wur­den ge­mäht. Der Him­mel war blau und schwer, die Schwal­ben schwam­men dar­in wie in trä­gem Was­ser. Die Bau­ern­häu­ser dort drü­ben wa­ren ein­ge­taucht in hei­ßes Flim­mern, und ein Wald stand schwarz, mit blau­en We­gen. Ag­nes und Die­de­rich fass­ten sich bei den Hän­den, und ohne Verab­re­dung fin­gen sie zu sin­gen an: ein Lied für wan­dern­de Kin­der, das sie noch aus der Schu­le kann­ten. Die­de­rich mach­te sei­ne Stim­me tief, da­mit Ag­nes ihn be­wun­de­re. Als sie nicht wei­ter wuss­ten, wand­ten sie ein­an­der die Ge­sich­ter zu und küss­ten sich, im Ge­hen.

»Jetzt seh’ ich erst recht, wie hübsch du bist«, sag­te Die­de­rich und sah zärt­lich in ihr ro­si­ges Ge­sicht, mit den blon­den Wim­pern um die­se blon­den, gold­ge­stirn­ten Au­gen.

»Der Som­mer steht mir gut« – und Ag­nes at­me­te frei auf, dass ihre Hemd­blu­se ge­schwellt ward. Schlank ging sie da­hin, mit schma­len Hüf­ten und dem blau­en Schlei­er, der ihr nach­weh­te. Die­de­rich hat­te es zu warm, er zog den Rock aus, dann auch die Wes­te, und end­lich ge­stand er, dass er sich Schat­ten wün­sche. Sie fan­den wel­chen, am Rand ei­nes Fel­des, wor­auf noch das Korn stand, und un­ter ei­nem Aka­zi­en­busch, der noch duf­te­te. Ag­nes setz­te sich und leg­te Die­de­richs Kopf in ih­ren Schoß. Sie spiel­ten noch mit­ein­an­der und scherz­ten: plötz­lich merk­te sie, dass er ein­sch­lief.

Er wach­te auf, sah um sich, und als er Ag­nes’ Ge­sicht fand, er­glänz­te er se­lig. »Lie­ber«, sag­te sie. »Was du für ein gu­tes, dum­mes Ge­sicht machst.« – »Er­laub’ mal! Ich habe doch höchs­tens fünf Mi­nu­ten – nein, wahr­haf­tig, eine Stun­de hab’ ich ge­schla­fen. Hast du dich ge­lang­weilt?« Aber sie war er­staun­ter als er, dass so viel Zeit ver­gan­gen war. Sei­nen Kopf zog er un­ter der Hand her­vor, die sie ihm auf das Haar ge­legt hat­te, als er ein­sch­lief.

Zwi­schen den Fel­dern gin­gen sie zu­rück. In ei­nem lag eine dunkle Mas­se; und als sie durch die Hal­me späh­ten, war es ein al­ter Mann mit ei­ner Pelz­kap­pe, rostro­ter Ja­cke und Samt­ho­sen, die auch schon röt­lich wa­ren. Sei­nen Bart hat­te er sich, zu­sam­men­ge­krümmt, um die Knie ge­wi­ckelt. Sie bück­ten sich tiefer, um ihn zu er­ken­nen. Da be­merk­ten sie, dass er sie schon längst aus schwar­zen Fun­kelau­gen an­sah. Un­will­kür­lich schrit­ten sie schnel­ler aus, und in den Bli­cken, die sie ein­an­der zu­wand­ten, stand Mär­chen­grau­en. Sie blick­ten um­her: Sie wa­ren in ei­nem wei­ten, frem­den Land, die klei­ne Stadt dort hin­ten schlief fremd­ar­tig in der Son­ne, und selbst der Him­mel sah ih­nen aus, als sei­en sie Tag und Nacht ge­reist.

Wie aben­teu­er­lich das Mit­ta­ges­sen in der Lau­be des Wirts­hau­ses, mit der Son­ne, den Hüh­nern, dem of­fe­nen Kü­chen­fens­ter, aus dem Ag­nes sich die Tel­ler rei­chen ließ. Wo war die bür­ger­li­che Ord­nung der Blü­cher­stra­ße, wo Die­de­richs an­ge­stamm­ter Kneip­tisch? »Ich gehe nicht wie­der fort von hier«, er­klär­te Die­de­rich. »Dich lass’ ich auch nicht fort.« Und Ag­nes: »Wa­rum denn auch? Ich schrei­be mei­nem Papa und lass’ es ihm durch mei­ne Freun­din schi­cken, die in Küstrin ver­hei­ra­tet ist. Dann glaubt er, ich bin dort.«

Spä­ter gin­gen sie noch­mals aus, nach der an­de­ren Sei­te, wo Was­ser floss und der Ho­ri­zont von den Flü­geln drei­er Wind­müh­len um­se­gelt ward. Im Kanal lag ein Boot; sie mie­te­ten es und schwam­men da­hin. Ein Schwan kam ih­nen ent­ge­gen. Der Schwan und ihr Boot glit­ten laut­los an­ein­an­der vor­über. Un­ter her­nie­der­hän­gen­den Bü­schen leg­te es von selbst an – und Ag­nes frag­te un­ver­mit­telt nach Die­de­richs Mut­ter und sei­nen Schwes­tern. Er sag­te, dass sie im­mer gut zu ihm ge­we­sen sei­en, und dass er sie lieb­ha­be. Er woll­te sich die Bil­der der Schwes­tern schi­cken las­sen, sie wa­ren hübsch ge­wor­den; oder viel­leicht nicht hübsch, aber so an­stän­dig und sanft. Die eine, Emmi, las Ge­dich­te, wie Ag­nes. Die­de­rich woll­te für bei­de sor­gen und sie ver­hei­ra­ten. Sei­ne Mut­ter aber, die be­hielt er bei sich, denn ihr hat­te er al­les Gute im Le­ben ver­dankt, bis Ag­nes ge­kom­men war. Und er er­zähl­te von den Däm­mer­stun­den, den Mär­chen un­ter den Weih­nachts­bäu­men sei­ner Kind­heit und so­gar von dem Ge­bet »aus dem Her­zen«. Ag­nes hör­te zu, ganz ver­sun­ken. End­lich seufz­te sie auf. »Dei­ne Mut­ter möch­te ich ken­nen­ler­nen. Mei­ne hab’ ich nicht ge­kannt.« Er küss­te sie, mit­lei­dig, ach­tungs­voll und mit ei­ner dunklen Emp­fin­dung von schlech­tem Ge­wis­sen. Er fühl­te: jetzt hat­te er ein Wort zu spre­chen, das sie ganz und gar für im­mer trös­ten muss­te. Aber er schob es hin­aus, er konn­te nicht. Ag­nes sah ihn tief an. »Ich weiß«, sag­te sie lang­sam, »dass du im Her­zen ein gu­ter Mensch bist. Du musst nur manch­mal an­ders tun.« Dar­über er­schrak er. Dann sag­te sie, als ent­schul­dig­te sie sich: »Heu­te habe ich gar kei­ne Furcht vor dir.«

»Hast du denn sonst Furcht?« frag­te er reu­mü­tig. Sie sag­te:

»Ich habe mich im­mer ge­fürch­tet, wenn die Leu­te recht hoch­ge­mut und lus­tig wa­ren. Bei mei­nen Freun­din­nen frü­her war es mir oft, als könn­te ich mit ih­nen nicht Schritt hal­ten, und sie müss­ten es mer­ken und mich ver­ach­ten. Sie merk­ten es aber nicht. Schon als Kind: ich hat­te eine Pup­pe mit großen blau­en Glasau­gen, und als mei­ne Mut­ter ge­stor­ben war, muss­te ich ne­ben­an bei der Pup­pe sit­zen. Sie sah mich im­mer starr an mit ih­ren auf­ge­ris­se­nen har­ten Au­gen, die sag­ten mir: Dei­ne Mut­ter ist tot, jetzt wer­den dich alle so an­se­hen wie ich. Ger­ne hät­te ich sie auf den Rücken ge­legt, da­mit sie die Au­gen schloss. Aber ich wag­te es nicht. Hät­te ich denn auch die Men­schen auf den Rücken le­gen kön­nen? Alle ha­ben sol­che Au­gen, und manch­mal –« sie ver­barg ihr Ge­sicht an sei­ner Schul­ter, »manch­mal so­gar du.«

Der Hals war ihm zu­ge­schnürt, er tas­te­te über ih­ren Na­cken, und sei­ne Stim­me schwank­te. »Ag­nes! Süße Ag­nes, du weißt gar nicht, wie ich dich lieb­ha­be … Ich hab’ Furcht vor dir ge­habt, ja, ich! Drei Jah­re lang hab’ ich mich nach dir ge­sehnt, aber du warst zu schön für mich, zu fein, zu gut …« Sein gan­zes Herz schmolz; er sag­te al­les, was er ihr nach ih­rem ers­ten Be­such ge­schrie­ben hat­te, in dem Brief, der noch in sei­nem Schreib­tisch lag. Sie hat­te sich auf­ge­rich­tet und hör­te ihm zu, ent­zückt, die Lip­pen ge­öff­net. Sie ju­bel­te lei­se: »Ich wuss­te es, so bist du, du bist wie ich!«

»Wir ge­hö­ren zu­sam­men!« sag­te Die­de­rich und press­te sie an sich; aber er war er­schro­cken über sei­nen Aus­ruf: »Jetzt war­tet sie«, dach­te er, »jetzt soll ich spre­chen.« Er woll­te es, aber er fühl­te sich ge­lähmt. Der Druck sei­ner Arme auf ih­rem Rücken ward im­mer kraft­lo­ser … Sie be­weg­te sich: er wuss­te, nun war­te­te sie nicht mehr. Und sie lös­ten sich von­ein­an­der, ohne sich an­zu­se­hen. Die­de­rich schlug plötz­lich die Hän­de vor das Ge­sicht und schluchz­te. Sie frag­te nicht, wes­halb; sie strich ihm trös­tend über das Haar. Das währ­te lan­ge.

Über ihn hin­weg, ins Lee­re, sag­te Ag­nes: »Hab’ ich denn ge­glaubt, dass es dau­ern wür­de? Es muss­te schlimm en­den, weil es so schön war.«

Er fuhr auf, ver­zwei­felt. »Es ist doch nicht aus!« Sie frag­te:

»Glaubst du an das Glück?«

»Wenn ich dich ver­lie­ren soll, nicht mehr!«

Sie mur­mel­te: »Du wirst fort­ge­hen, hin­aus in das Le­ben, und mich ver­ges­sen.«

»Lie­ber ster­ben!« – und er zog sie an sich. Sie flüs­ter­te an sei­ner Wan­ge:

»Sieh, wie breit hier das Was­ser ist, ein See. Un­ser Boot hat sich von selbst los­ge­macht und uns hin­aus­ge­führt. Weißt du noch, je­nes Bild? Und der See, auf dem wir schon ein­mal im Traum fuh­ren? Wo­hin wohl?« Und noch lei­ser: »Wo­hin mit uns?«

Er ant­wor­te­te nicht mehr. Ganz um­schlun­gen und die Lip­pen auf­ein­an­der, senk­ten sie sich rück­wärts im­mer tiefer über das Was­ser. Dräng­te sie ihn? Zog er sie? Nie­mals wa­ren sie so sehr eins ge­we­sen. Die­de­rich fühl­te: nun war es gut. Er war, mit Ag­nes zu le­ben, nicht edel ge­nug ge­we­sen, nicht gläu­big, nicht tap­fer ge­nug. Jetzt hat­te er sie ein­ge­holt, nun war es gut.

Plötz­lich, ein Stoß: sie schnell­ten in die Höhe. Die­de­rich hat­te so viel Kraft ge­braucht, dass Ag­nes von ihm fort und zu Bo­den fiel. Er strich sich über die Stirn. »Was ha­ben wir denn da?« – Noch kalt vom Schre­cken und als sei er be­lei­digt, sah er weg von ihr. »So un­vor­sich­tig darf man nicht sein beim Boot­fah­ren.« Er ließ sie al­lein auf­ste­hen, griff so­gleich nach den Ru­dern und fuhr zu­rück. Ag­nes hielt das Ge­sicht nach dem Ufer ge­wen­det. Ein­mal woll­te sie zu ihm hin­se­hen; aber sein Blick traf sie so miss­trau­isch und hart, dass sie zu­sam­men­fuhr.

In der sin­ken­den Däm­me­rung gin­gen sie, im­mer schnel­ler, die Land­stra­ße zu­rück. Zu­letzt lie­fen sie fast. Und erst als es dun­kel ge­nug war, dass sie ihre Ge­sich­ter nicht mehr deut­lich er­kann­ten, spra­chen sie. Mor­gen früh kam Herr Göp­pel viel­leicht heim. Ag­nes muss­te heim … Wie sie beim Wirts­haus an­ka­men, pfiff in der Fer­ne schon der Zug. »Nicht mal mehr es­sen kann man!« sag­te Die­de­rich mit künst­li­cher Un­zu­frie­den­heit. Hals über Kopf die Sa­chen ho­len, zah­len und fort. Der Zug fuhr ab, kaum dass sie drin wa­ren. Ein Glück, dass sie Atem zu schöp­fen und die ei­li­gen Ge­schäf­te der letz­ten Vier­tel­stun­de zu be­spre­chen hat­ten. Das letz­te Wort dar­über war ge­fal­len, und nun saß je­der da, al­lein bei trüber Lam­pe und be­täubt wie nach ei­nem großen Mis­ser­folg. Das dunkle Land da drau­ßen, hat­te es ein­mal ge­lockt und Gu­tes ver­spro­chen? Das soll­te erst ges­tern ge­we­sen sein? Man fand nicht zu­rück. Ka­men nicht end­lich die Lich­ter der Stadt und be­frei­ten einen?

Bei der An­kunft wa­ren sie dar­über ei­nig, dass es sich nicht ver­loh­ne, in den­sel­ben Wa­gen zu stei­gen. Die­de­rich nahm die Tram­bahn. Hän­de und Au­gen streif­ten sich nur.

*

»Uff!« mach­te Die­de­rich, als er al­lein war. »Das wäre er­le­digt.« Er sag­te sich: »Es hät­te eben­so gut schief­ge­hen kön­nen.« Und mit Em­pö­rung: »So eine hys­te­ri­sche Per­son!« Sich selbst wür­de sie si­cher am Boot fest­ge­hal­ten ha­ben. Er hät­te das Bad al­lein neh­men müs­sen. Auf den gan­zen Trick war sie doch nur ver­fal­len, weil sie durch­aus ge­hei­ra­tet wer­den woll­te! »Die Wei­ber sind zu ge­ris­sen, und sie ha­ben kei­ne Hem­mun­gen, da kommt un­serei­ner nun mal nicht mit. Dies­mal hat sie mich, weiß Gott, noch är­ger an der Nase her­um­ge­führt als da­mals mit Mahl­mann. Na, mir soll es eine Leh­re für das Le­ben sein. Nun aber Schluss!« Und fes­ten Schrit­tes ging er zu den Neu­teu­to­nen. Fort­an ver­brach­te er je­den Abend dort, und am Tage büf­fel­te er für das münd­li­che Ex­amen, aber zur Vor­sicht nicht zu Hau­se, son­dern im La­bo­ra­to­ri­um. Wenn er dann heim­kam, ward ihm das Stei­gen der Stock­wer­ke schwer, er muss­te sich ge­ste­hen, dass er Herz­klop­fen habe. Zö­gernd öff­ne­te er die Zim­mer­tür: – nichts; und nach­dem ihm an­fangs leich­ter ge­wor­den war, kam es schließ­lich doch je­des Mal dazu, dass er die Wir­tin frag­te, ob je­mand da­ge­we­sen sei. Nie­mand war da­ge­we­sen.

Nach vier­zehn Ta­gen aber kam ein Brief. Er hat­te ihn ge­öff­net, be­vor er es be­dach­te. Dann woll­te er ihn un­ge­le­sen in den Schreib­tisch wer­fen – zog ihn aber wie­der her­vor und hielt ihn weit fort vom Ge­sicht. Has­tig, mit miss­traui­schen Au­gen, griff er hie und da eine Zei­le her­aus. »Ich bin so un­glück­lich …« – »Ken­nen wir!« ant­wor­te­te Die­de­rich. »Ich wage mich nicht zu Dir …« – »Dein Glück!« – »Es ist schreck­lich, dass wir uns fremd ge­wor­den sind …« – »We­nigs­tens siehst du es ein.« – »Ver­zeih mir, was ge­sche­hen ist, oder ist nichts ge­sche­hen? …« – »Gera­de ge­nug!« – »Ich kann nicht wei­ter­le­ben …« – »Fängst du schon wie­der an?« Und er schleu­der­te das Blatt end­gül­tig in die Lade, zu je­nem an­de­ren, das er in ei­ner zucht­lo­sen Nacht mit Über­schweng­lich­kei­ten be­deckt und zum Glück nicht ab­ge­schickt hat­te.

Eine Wo­che spä­ter aber, wie er in der Nacht heim­kam, hör­te er hin­ter sich Schrit­te, die be­son­ders klan­gen. Er fuhr her­um: eine Ge­stalt blieb ste­hen, die Hän­de ein we­nig er­ho­ben und leer vor sich hin­ge­hal­ten. Noch wäh­rend er das Hau­stor auf­schloss und ein­trat, sah er sie im Halb­dun­kel da­ste­hen. Im Zim­mer mach­te er kein Licht. Er schäm­te sich, in­des sie aus dem Dun­kel hin­auf­späh­te, das Zim­mer zu be­leuch­ten, das ihr ge­hört hat­te. Es reg­ne­te. Wie vie­le Stun­den hat­te sie ge­war­tet? Ge­wiss stand sie noch im­mer dort, mit ih­rer letz­ten Hoff­nung. Das war nicht aus­zu­hal­ten! Er woll­te das Fens­ter auf­rei­ßen – und wich zu­rück. Ein­mal fand er sich plötz­lich auf der Trep­pe, mit dem Haus­schlüs­sel in der Hand. Gera­de ge­lang es ihm noch, um­zu­keh­ren. Da­rauf schloss er ab und zog sich aus. »Mehr Hal­tung, mein Lie­ber!« Denn dies­mal wäre man aus der Sa­che nicht mehr leicht her­aus­ge­kom­men. Das Mä­del war zwei­fel­los zu be­dau­ern, aber schließ­lich hat­te sie es ge­wollt. »Vor al­lem habe ich Pf­lich­ten ge­gen mich selbst.« – Am Mor­gen, schlecht aus­ge­schla­fen, nahm er es ihr so­gar sehr übel, dass sie noch ein­mal ver­sucht hat­te, ihn aus sei­ner Bahn zu rei­ßen. Jetzt, da sie wuss­te, dass die Prü­fung be­vor­stand! Sol­che Ge­wis­sen­lo­sig­keit sah ihr ähn­lich. Und durch die nächt­li­che Sze­ne, die­se Bett­ler­rol­le im Re­gen, hat­te ihre Ge­stalt nach­träg­lich et­was Ver­däch­ti­ges und Un­heim­li­ches be­kom­men. Er be­trach­te­te sie als end­gül­tig ge­sun­ken. »Auf kei­nen Fall mehr das ge­rings­te!« be­teu­er­te er sich, und er be­schloss, noch für den kur­z­en Rest sei­nes Auf­ent­hal­tes die Woh­nung zu wech­seln: »selbst wenn es mit ei­nem Gel­dop­fer ver­bun­den sein soll­te.« Glück­li­cher­wei­se such­te ein Kol­le­ge ge­ra­de ein Zim­mer; Die­de­rich ver­lor nichts und zog so­fort um, weit hin­auf nach dem Nor­den. Kurz dar­auf be­stand er sein Ex­amen. Die Neu­teu­to­nia fei­er­te ihn mit ei­nem Früh­schop­pen, der bis ge­gen Abend dau­er­te. Zu Hau­se ward ihm ge­sagt, dass in sei­nem Zim­mer ein Herr auf ihn war­te. »Es wird Wie­bel sein«, dach­te Die­de­rich, »er muss mir doch Glück wün­schen.« Und von Hoff­nung ge­schwellt: »Vi­el­leicht ist es der As­ses­sor von Bar­nim?« Er öff­ne­te, und er prall­te zu­rück. Denn da stand Herr Göp­pel.

Auch er fand nicht gleich Wor­te. »Nanu, im Frack?« sag­te er dann, und zö­gernd: »Wa­ren Sie viel­leicht bei mir?«

»Nein«, sag­te Die­de­rich und er­schrak aufs neue. »Ich habe nur mei­ne Dok­tor­prü­fung ge­macht.«

Göp­pel er­wi­der­te: »Ach so, ich gra­tu­lie­re.« Dann brach­te Die­de­rich her­vor: »Wie ha­ben Sie denn mei­ne neue Adres­se ge­fun­den?« Und Göp­pel ant­wor­te­te: »Ih­rer frü­he­ren Wir­tin ha­ben Sie sie al­ler­dings nicht ge­sagt. Aber es gibt ja auch sonst noch Mit­tel.« Da­rauf sa­hen sie ein­an­der an. Göp­pels Stim­me war ru­hig ge­we­sen, aber Die­de­rich fühl­te schreck­li­che Dro­hun­gen dar­in. Er hat­te den Ge­dan­ken an die Ka­ta­stro­phe im­mer hin­aus­ge­scho­ben, und jetzt war sie da. Er muss­te sich set­zen.

»Näm­lich«, be­gann Göp­pel, »ich kom­me, weil es Ag­nes gar nicht gut geht.«

»Oh!« mach­te Die­de­rich mit ver­zwei­fel­ter Heu­che­lei. »Was fehlt ihr denn?« Herr Göp­pel wieg­te be­küm­mert den Kopf. »Das Herz will nicht; aber es sind na­tür­lich nur die Ner­ven … Na­tür­lich«, wie­der­hol­te er, nach­dem er ver­geb­lich ge­war­tet hat­te, dass Die­de­rich es wie­der­ho­le. »Und nun wird sie mir me­lan­cho­lisch vor Lan­ge­wei­le, und ich möch­te sie auf­hei­tern. Aus­ge­hen darf sie nicht. Aber kom­men Sie doch mal wie­der zu uns, mor­gen ist Sonn­tag.«

»Ge­ret­tet!« fühl­te Die­de­rich. »Er weiß nichts.« Vor Freu­de ward er zum Di­plo­ma­ten, er kratz­te sich den Kopf. »Ich hat­te es mir schon fest vor­ge­nom­men. Aber jetzt muss ich drin­gend nach Haus, un­ser al­ter Ge­schäfts­füh­rer ist krank. Nicht mal mei­nen Pro­fes­so­ren kann ich Ab­schieds­be­su­che ma­chen, mor­gen früh rei­se ich gleich ab.«

Göp­pel leg­te ihm die Hand auf das Knie. »Sie soll­ten es sich über­le­gen, Herr Hess­ling. Sei­nen Freun­den schul­det man manch­mal auch was.«

Er sprach lang­sam und hat­te einen so ein­dring­li­chen Blick, dass Die­de­rich weg­se­hen muss­te. »Wenn ich nur könn­te«, stam­mel­te er. Göp­pel sag­te:

»Sie kön­nen. Über­haupt kön­nen Sie al­les, was hier in Fra­ge kommt.«

»Wie­so?« Die­de­rich er­starr­te im In­nern. »Sie wis­sen wohl, wie­so«, sag­te der Va­ter; und nach­dem er sei­nen Stuhl ein Stück zu­rück­ge­scho­ben hat­te: »Sie den­ken doch hof­fent­lich nicht, dass Ag­nes mich her­ge­schickt hat? Im Ge­gen­teil, ich hab’ ihr ver­spre­chen müs­sen, dass ich gar nichts tue und Sie ganz in Ruhe las­se. Aber dann hab’ ich mir über­legt, dass es doch ei­gent­lich zu dumm wäre, wenn wir bei­de noch lan­ge um­ein­an­der her­um­ge­hen woll­ten, so wie wir uns ken­nen, und wie ich Ihren se­li­gen Va­ter ge­kannt habe, und bei un­se­rer Ge­schäfts­ver­bin­dung und so wei­ter.«

Die­de­rich dach­te: »Die Ge­schäfts­ver­bin­dung ist ge­löst, mein Bes­ter.« Er wapp­ne­te sich.

»Ich gehe gar nicht um Sie her­um, Herr Göp­pel.«

»Na also. Dann ist ja al­les in Ord­nung. Ich ver­ste­he wohl: der Sprung in die Ehe, den tut kein jun­ger Mann, be­son­ders heu­te, ohne erst mal zu scheu­en. Aber wenn die Ge­schich­te so glatt liegt wie hier, nicht wahr? Un­se­re Bran­chen grei­fen in­ein­an­der, und wenn Sie Ihr vä­ter­li­ches Ge­schäft aus­deh­nen wol­len, kommt Ih­nen Ag­nes’ Mit­gift sehr ge­le­gen.« Und in ei­nem Atem wei­ter, in­des sei­ne Au­gen ab­irr­ten: »Mo­men­tan kann ich zwar nur zwölf­tau­send Mark flüs­sig ma­chen, aber Zel­lu­lo­se krie­gen Sie, so viel Sie wol­len.«

»Siehst du wohl?« dach­te Die­de­rich. »Und die zwölf­tau­send müss­test du dir auch pum­pen – wenn du sie noch kriegst.« – »Sie ha­ben mich miss­ver­stan­den, Herr Göp­pel«, er­klär­te er. »Ich den­ke nicht ans Hei­ra­ten. Dazu wä­ren zu große Geld­mit­tel nö­tig.«

Herr Göp­pel sag­te mit angst­vol­len Au­gen und lach­te da­bei: »Ich kann noch ein üb­ri­ges tun …«

»Las­sen Sie nur«, sag­te Die­de­rich, vor­nehm ab­weh­rend.

Göp­pel ward im­mer rat­lo­ser.

»Ja, was wol­len Sie dann über­haupt?«

»Ich? Gar nichts. Ich dach­te, Sie woll­ten was, weil Sie mich be­su­chen.«

Göp­pel gab sich einen Ruck. »Das geht nicht, lie­ber Hess­ling. Nach dem, was nun mal vor­ge­fal­len ist. Und be­son­ders, da es schon so lan­ge dau­ert.«

Die­de­rich maß den Va­ter, er zog die Mund­win­kel her­ab. »Sie wuss­ten es also?«

»Nicht si­cher«, mur­mel­te Göp­pel. Und Die­de­rich, von oben:

»Das hät­te ich auch merk­wür­dig ge­fun­den.«

»Ich habe eben Ver­trau­en ge­habt zu mei­ner Toch­ter.«

»So irrt man sich«, sag­te Die­de­rich, zu al­lem ent­schlos­sen, wo­mit er sich weh­ren konn­te. Göp­pels Stirn fing an, sich zu rö­ten. »Zu Ih­nen hab’ ich näm­lich auch Ver­trau­en ge­habt.«

»Das heißt: Sie hiel­ten mich für naiv.« Die­de­rich schob die Hän­de in die Ho­sen­ta­schen und lehn­te sich zu­rück.

»Nein!« Göp­pel sprang auf. »Aber ich hielt Sie nicht für den Schub­be­jack,2 der Sie sind!«

Die­de­rich er­hob sich mit form­voller Ruhe. »Ge­ben Sie Sa­tis­fak­ti­on?« frag­te er. Göp­pel schrie:

»Das möch­ten Sie wohl! Die Toch­ter ver­füh­ren und den Va­ter ab­schie­ßen! Dann ist Ihre Ehre kom­plett!«

»Da­von ver­ste­hen Sie nichts!« Auch Die­de­rich fing an, sich auf­zu­re­gen. »Ich habe Ihre Toch­ter nicht ver­führt. Ich habe ge­tan, was sie woll­te, und dann war sie nicht mehr los­zu­wer­den. Das hat sie von Ih­nen.« Mit Ent­rüs­tung: »Wer sagt mir, dass Sie sich nicht von An­fang an mit ihr ver­ab­re­det ha­ben? Dies ist eine Fal­le!«

Göp­pel hat­te ein Ge­sicht, als woll­te er noch lau­ter schrei­en. Plötz­lich er­schrak er, und mit sei­ner ge­wöhn­li­chen Stim­me, nur dass sie zit­ter­te, sag­te er: »Wir ge­ra­ten zu sehr in Feu­er, da­für ist die Sa­che zu wich­tig. Ich habe Ag­nes ver­spro­chen, dass ich ru­hig blei­ben will.«

Die­de­rich lach­te höh­nisch auf. »Se­hen Sie, dass Sie schwin­deln? Vor­hin sag­ten Sie, Ag­nes weiß gar nicht, dass Sie hier sind.«

Der Va­ter lä­chel­te ent­schul­di­gend. »Im gu­ten ei­nigt man sich schließ­lich im­mer. Nicht wahr, mein lie­ber Hess­ling?«

Aber Die­de­rich fand es ge­fähr­lich, wie­der gut zu wer­den.

»Der Teu­fel ist Ihr lie­ber Hess­ling!« schrie er. »Für Sie heiß’ ich Herr Dok­tor!«

»Ach so«, mach­te Göp­pel, ganz starr. »Es ist wohl das ers­te Mal, dass je­mand Herr Dok­tor zu Ih­nen sa­gen muss? Na, auf die Ge­le­gen­heit kön­nen Sie stolz sein.«

»Wol­len Sie viel­leicht auch noch mei­ne Stan­des­eh­re an­tas­ten?« Göp­pel wehr­te ab.

»Gar nichts will ich an­tas­ten. Ich fra­ge mich nur, was wir Ih­nen ge­tan ha­ben, mei­ne Toch­ter und ich. Müs­sen Sie denn wirk­lich so viel Geld mit­ha­ben?«

Die­de­rich fühl­te sich er­rö­ten. Umso ent­schlos­se­ner ging er vor.

»Wenn Sie es durch­aus hö­ren wol­len: Mein mo­ra­li­sches Emp­fin­den ver­bie­tet mir, ein Mäd­chen zu hei­ra­ten, das mir ihre Rein­heit nicht mit in die Ehe bringt.«

Sicht­lich woll­te Göp­pel sich noch­mals em­pö­ren; aber er konn­te nicht mehr, er konn­te nur noch das Schluch­zen un­ter­drücken.

»Wenn Sie heu­te Nach­mit­tag den Jam­mer ge­se­hen hät­ten! Sie hat es mir ge­stan­den, weil sie es nicht mehr aus­hielt. Ich glau­be, nicht mal mich liebt sie mehr: nur Sie. Was wol­len Sie denn, Sie sind doch der ers­te.«

»Weiß ich das? Vor mir ver­kehr­te bei Ih­nen ein Herr na­mens Mahl­mann.« Und da Göp­pel zu­rück­wich, als sei er vor die Brust ge­sto­ßen:

»Nun ja, kann man das wis­sen? Wer ein­mal lügt, dem glaubt man nicht.«

Er sag­te noch: »Kein Mensch kann von mir ver­lan­gen, dass ich so eine zur Mut­ter mei­ner Kin­der ma­che. Da­für hab’ ich zu viel so­zia­les Ge­wis­sen.« Da­mit dreh­te er sich um. Er hock­te nie­der und leg­te Sa­chen in den Kof­fer, der ge­öff­net da­stand.

Hin­ter sich hör­te er den Va­ter nun wirk­lich schluch­zen – und Die­de­rich konn­te nicht hin­dern, dass er selbst ge­rührt ward: Durch die edel männ­li­che Ge­sin­nung, die er aus­ge­spro­chen hat­te, durch Ag­nes’ und ih­res Va­ters Un­glück, das zu hei­len ihm die Pf­licht ver­bot, durch die schmerz­li­che Erin­ne­rung an sei­ne Lie­be und all die­se Tra­gik des Schick­sals … Er hör­te, ge­spann­ten Her­zens, wie Herr Göp­pel die Tür öff­ne­te und schloss, hör­te ihn über den Kor­ri­dor schlei­chen und das Geräusch der Fl­ur­tür. Nun war es aus – und da ließ Die­de­rich sich vorn­über fal­len und wein­te hef­tig in sei­nen halb­ge­pack­ten Kof­fer hin­ein. Am Abend spiel­te er Schu­bert.

Da­mit war dem Ge­müt Ge­nü­ge ge­tan, man muss­te stark sein. Die­de­rich hielt sich vor, ob etwa Wie­bel je­mals so sen­ti­men­tal ge­wor­den wäre. So­gar ein Kno­te ohne Kom­ment, wie Mahl­mann, hat­te Die­de­rich eine Lek­ti­on in rück­sichts­lo­ser Ener­gie er­teilt. Dass auch die an­de­ren in ih­rem In­nern viel­leicht doch wei­che Stel­len ha­ben könn­ten, er­schi­en ihm im höchs­ten Gra­de un­wahr­schein­lich. Nur er war, von sei­ner Mut­ter her, da­mit be­haf­tet; und ein Mä­del wie Ag­nes, die ge­ra­de so ver­rückt war wie sei­ne Mut­ter, wür­de ihn ganz un­taug­lich ge­macht ha­ben für die­se har­te Zeit. Die­se har­te Zeit: Bei dem Wort sah Die­de­rich im­mer die Lin­den, mit dem Ge­wim­mel von Ar­beits­lo­sen, Frau­en, Kin­dern, von Not, Angst, Aufruhr – und das al­les ge­bän­digt, bis zum Hur­raschrei­en ge­bän­digt, durch die Macht, die all­um­fas­sen­de, un­mensch­li­che Macht, die mit­ten dar­in ihre Hufe wie auf Köp­fe setz­te, stei­nern und blit­zend.

»Nichts zu ma­chen«, sag­te er sich, in be­geis­ter­ter Un­ter­wer­fung. »So muss man sein!« Umso schlim­mer für die, die nicht so wa­ren: sie ka­men eben un­ter die Hufe. Hat­ten Göp­pels, Va­ter und Toch­ter, ir­gend­ei­ne For­de­rung an ihn? Ag­nes war groß­jäh­rig, und ein Kind hat­te er ihr nicht ge­macht. Also? »Ich wäre ein Narr, wenn ich zu mei­nem Scha­den et­was täte, wozu ich nicht ge­zwun­gen wer­den kann. Mir schenkt auch kei­ner was.« Die­de­rich emp­fand stol­ze Freu­de, wie gut er nun schon er­zo­gen war. Die Kor­po­ra­ti­on, der Waf­fen­dienst und die Luft des Im­pe­ria­lis­mus hat­ten ihn er­zo­gen und taug­lich ge­macht. Er ver­sprach sich, zu Haus in Net­zig sei­ne wohl­er­wor­be­nen Grund­sät­ze zur Gel­tung zu brin­gen und ein Bahn­bre­cher zu sein für den Geist der Zeit. Um die­sen Vor­satz auch äu­ßer­lich an sei­ner Per­son kennt­lich zu ma­chen, be­gab er sich am Mor­gen dar­auf in die Mit­tel­stra­ße zum Hof­fri­seur Haby und nahm eine Ver­än­de­rung mit sich vor, die er an Of­fi­zie­ren und Her­ren von Rang jetzt im­mer häu­fi­ger be­ob­ach­te­te. Sie war ihm bis­lang nur zu vor­nehm er­schie­nen, um nach­ge­ahmt zu wer­den. Er ließ ver­mit­telst ei­ner Bart­bin­de sei­nen Schnurr­bart in zwei rech­ten Win­keln hin­auf­füh­ren. Als es ge­sche­hen war, kann­te er sich im Spie­gel kaum wie­der. Der von Haa­ren ent­blö­ßte Mund hat­te, be­son­ders wenn man die Lip­pen her­ab­zog, et­was ka­ter­haft Dro­hen­des, und die Spit­zen des Bar­tes starr­ten bis in die Au­gen, die Die­de­rich selbst Furcht er­reg­ten, als blitz­ten sie aus dem Ge­sicht der Macht.

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Der Untertan

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