Читать книгу Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. Roman - Heinrich Mann - Страница 8
[53]IV
ОглавлениеDie »Diele« war ungeheuer breit und lang, die ehrliche Diele eines alten Bürgerhauses, worin nun »Nebendinge« getrieben wurden. Links kam aus einer halboffenen Tür Töpferasseln und ein Feuerschein. Über dem Eingang rechts stand »Saal«; und dahinter war ein dumpfer Wirrwarr von Lauten, woraus manchmal ein sehr schriller hervorstach. Unrat zauderte, ehe er die Klinke drückte; er spürte darin eine Handlung, schwer von Folgen … Ein sehr dicker, völlig unbehaarter kleiner Mann, der Bier trug, kam ihm entgegen. Er hielt ihn an.
»Verzeihen Sie«, stammelte er, »wäre die Künstlerin Fröhlich wohl zu sprechen?«
»Was wollen Sie mit die denn sprechen?« fragte der Mann. »Die spricht jetzt nich, die singt. Hören Sie man mal zu.«
»Sie sind wohl der Herr Wirt zum Blauen Engel? Nun, das ist wahrlich recht brav. Ich bin nämlich der Professor Raat vom hiesigen Gymnasium und komme wegen eines Schülers, der hier zu finden sein soll. Können Sie mir vielleicht sagen, wo er ist?«
»Tjä, Herr Professer, denn gehn Sie man gleich ’n bischen in das Hinterzimmer zu die Künstlers, da sitzen die schungen Herrn jä immer ein.«
»Sehen Sie wohl«, sagte Unrat strafend, »das dachte ich mir. Sie müssen zugeben, Mann, daß das nicht in der Ordnung ist.«
»Tjä« – und der Wirt zog die Brauen hoch, »mich is das man puttegal, wer für die Mädchen das Abendbrot bezahlt. Die schungen Herrn haben noch eigens Wein bestellt, [54]mehr kann unsereiner warraffig nich verlangen. Wenn ich meine Kunden vorn Kopp stoßen will, denn muß ich jä woll was hintenvor kriegen.«
Unrat lenkte ein.
»Drum denn, mag’s gut sein. Aber gehen Sie jetzt nunmehr hübsch hinein, Mann, und holen Sie mir den Burschen heraus.«
»Deubel, Herr, gehn Sie selber!«
Aber Unrats Abenteuermut war dahin, er wünschte, er hätte den Aufenthalt der Künstlerin Fröhlich nie entdeckt.
»Muß ich denn da durch den Saal?« fragte er mit Bangen.
»Tjä, das is woll nich anders, un denn in die Stube da achter, wo hier das Fenster von zu sehn is mit die rote Gardine vor.«
Er ging einige Schritte mit Unrat gegen den Hintergrund der Diele und zeigte ihm eine ziemlich große, von innen rot verhängte Scheibe. Unrat wollte hindurchspähen; inzwischen kehrte der Wirt mit seinem Bier an die Saaltür zurück und öffnete sie. Unrat eilte herbei, mit ausgestreckten Armen; er bat, mit dem Ausdruck der Not.
»Lieber Mann, so holen Sie mir doch den Schüler heraus!«
Der Wirt, schon drinnen, wendete sich unwirsch um.
»Welcher soll es überhaupts sein. Da sitzen jä drei auf einen Hümpel … Oll Döhsbattel«, setzte er hinzu und ließ Unrat stehen.
»Drei?« wollte Unrat fragen; aber er befand sich nun auch schon im Saal, betäubt vom Lärm, blind von dem wütend heißen Dampf, der seine Brillengläser beschlug.
»Tür zu, hier zucht es!« hörte er neben sich rufen. Er tappte erschreckt nach der Klinke, traf sie nicht, und hörte, wie man lachte.
[55]»Hei speelt Blindekoh«, sagte dieselbe Stimme.
Unrat nahm die Brille ab; er fand die Tür schon geschlossen, sah sich gefangen und äugte ratlos umher.
»O Minsch, Laurenz, dat is jä de schnakige Kierl von hüt Namiddag. Weitst nich miehr, hei wüll den Heuerbas upptreggen.«
Unrat verstand nicht, er fühlte nur den Aufruhr um sich und gegen sich. Wie schon alles über ihm zusammenschlug, entdeckte er am Tisch gleich neben sich einen freien Stuhl; er brauchte sich nur zu setzen. Er lüftete den Hut und fragte:
»Sie erlauben vielleicht?«
Eine Weile wartete er auf die Antwort, dann ließ er sich nieder. Sogleich fühlte er sich in der Menge versunken, seiner drückenden Ausnahmestellung enthoben. Niemand achtete im Augenblick auf ihn. Die Musik war wieder losgegangen; seine Nachbarn sangen mit. Unrat putzte seine Brillengläser und trachtete sich zurechtzufinden. Durch den Qualm der Pfeifen, der Leiber und der Groggläser sah er zahllose Köpfe, die alle die gleiche dumpfe Seligkeit besessen hielt, hin und her schwanken, wie die Musik es wollte. Sie waren von Haar und Gesicht brandrot, gelb, braun, ziegelfarben, und das Schaukeln dieser von Musik in das Triebleben zurückgebannten Gehirne ging wie ein großes buntes Tulpenbeet im Winde durch den ganzen Saal, bis es sich, dahinten, im Rauch verfing. Dahinten durchbrach nur etwas Glänzendes den Rauch, ein sehr stark bewegter Gegenstand, etwas, das Arme, Schultern oder Beine, irgend ein Stück helles Fleisch, bestrahlt von einem hellen Reflektor, umherwarf und einen großen Mund dunkel aufriß. Was dieses Wesen sang, vernichtete das Klavier, [56]zusammen mit den Stimmen von Gästen. Aber es dünkte Unrat, als sei die Frauensperson selbst anzusehen wie ein Gekreisch. Ein Laut, dünn und von keinem Donner totzumachen, ging manchmal von ihr aus.
Der Wirt stellte ein Glas vor ihn hin und wollte weiter. Unrat hielt ihn am Rock fest.
»Aufgemerkt nun also, Mann! Ist jene Sängerin etwa das Fräulein Rosa Fröhlich?«
»Tjä, das is sie nu woll. Nu genießen Sie es man, daß Sie da sind.«
Und der Wirt machte sich los.
Unrat hoffte gegen alle Vernunft, sie möchte es nicht sein, der Schüler Lohmann möchte nie den Fuß in dies Haus gesetzt haben, damit Unrat des Handelns überhoben wäre. Es zeigte sich ihm jäh die Möglichkeit, das Gedicht in Lohmanns Aufsatzheft sei reine Poesie, der in der Wirklichkeit nichts entspreche, und die Künstlerin Fröhlich existiere gar nicht. Unrat klammerte sich an diesen luftigen Glauben, wunderte sich, daß er so spät dazu gekommen war. Er nahm einen Schluck Bier.
Sein Nachbar sagte Prost. Es war ein älterer Bürger mit einem Bauch in einem wollenen Hemd, über dem die Weste weit offen stand. Unrat betrachtete ihn lange aus dem Winkel. Der Bürger trank und fuhr mit einer biedern Hand über den feuchten, gelblichweißen Schnurrbart. Unrat wagte es:
»Das ist denn also nun das Fräulein Rosa Fröhlich, das uns da etwas vorsingt, nicht wahr, guter Mann?«
Aber es erhob sich grade Beifall, weil die Sängerin ein Stück beendet hatte. Unrat mußte warten und dann noch einmal fragen.
[57]»Fröhlich?« meinte der Bürger. »Jä, wo soll ich das woll herwissen, Herr, wie die Deerns alle heißen. Hier is jä alle Naslang ’n niegen Juchheh.«
Unrat wollte tadelnd sagen, es stehe draußen angeschrieben; – aber da begann wieder das Klavier, etwas weniger laut, und er konnte verstehn: ein paar Worte, bei denen die bunte Frauensperson ihren Kleiderrock aufhob und ihn verschmitzt und schämig gegen ihre Wange drückte.
»Wail iesch noch so klain uhnd so uhnschuhldiesch bien.«
Unrat erkannte dies als Blödsinn und hielt es zusammen mit der stumpfen Antwort, die sein Nachbar ihm erteilt hatte. Es bildete sich in ihm Unmut: das Gefühl, verschlagen zu sein in eine Welt, die die Verneinung seiner selbst war, und ein Abscheu, der aus seinem Innersten kam, vor Menschen, die nichts Gedrucktes vor die Augen nahmen, die in einem Konzert saßen und nicht das Programm gelesen hatten! Es nagte an ihm, daß hier mehrere hundert Personen beisammen sein konnten, die nicht »aufmerkten«, nicht »klar dachten«, sich vielmehr berauschten und ohne Scham noch Furcht sich den müßigsten »Nebendingen« hingaben. Er tat einen heftigen Zug aus seinem Glase. »Wenn die wüßten, wer ich bin«, dachte er darauf, indeß sein Selbstgefühl sich des Widerhaarigen entkleidete, milde und wohlig ward und ein wenig verschwommen – angeblasen von warmen menschlichen Ausdünstungen, dieser Dampfheizung mit Blut. Die Welt zog sich in dichteren Qualm zurück, voll ungewisserer Gebärden … Er fuhr sich über die Stirn; es schien ihm, die Frauensperson dort oben habe schon mehrmals gesungen, sie sei »klain uhnd uhnschuhldiesch«; nun war sie auch damit fertig, und der Saal klatschte, brüllte, jauchzte und trampelte. Unrat schlug [58]plötzlich mehrmals die Hände zusammen, dicht unter seinen Augen, die es mit Staunen ansahen. Es befiel ihn eine große, unbedachte, nur schwer zu bändigende Lust, seine beiden Füße gleichzeitig gegen den Boden zu stoßen. Er war stark genug, es nicht zu tun. Aber die Versuchung erzürnte ihn auch nicht. Er lächelte heiter versonnen vor sich hin und stellte fest, das sei – demnach denn wohl – der Mensch. »Immer mal wieder – Gras fressen«, setzte er hinzu. »Ei freilich.«
Die Sängerin kam herab in den Saal. Neben dem Podium ging eine Tür auf. Unrat nahm plötzlich wahr, daß jemand von dort ihn ansehe. Ein einziger Mensch hatte sein Gesicht ihm zugekehrt; und dieser Mensch stand aufrecht und lachte; und es war – sicherlich doch – es war niemand anders als der Schüler Kieselack!
Kaum stand dies fest, da fuhr Unrat in die Höhe. Er hatte die Empfindung, sich einen Augenblick vergessen zu haben, – und sofort benutzten die Schüler das zu Unfug. Er schob die Schultern zweier Soldaten auseinander, zwängte sich hindurch, brach weiter vor. Mehrere Arbeiter widersetzten sich ihm, einer schlug ihm ohne weiteres den Hut vom Kopf. Er setzte ihn sich wieder auf, arg beschmutzt; man rief:
»Hannes, wat ’n Hoot.«
Kieselack dort hinten lachte und fiel dabei mit dem Oberkörper nach vorn, so sehr erschütterte ihn seine Heiterkeit. Unrat machte noch einen Vorstoß; er klappte mit den Kiefern in überhandnehmender Bedrängnis. Aber er ward von hinten festgehalten. Er hatte einem Matrosen den Grog umgeworfen, er sollte ihn bezahlen. Dies war geschehen. Nun hatte er vor sich einige freie Schritte liegen. Er [59]stürmte; und hielt seine Augen, verängstet durch das Übermaß der Verworfenheit, die sich hier kundgab, immer auf Kieselack, der lachte; – da prallte er gegen etwas Weiches, und eine große, sehr dicke und unter einem braunen Abendmantel, der sich geöffnet hatte, nur ungenügend bekleidete Frau drehte ihm ein zorniges Gesicht zu. Ein Mann, nicht weniger üppig und bei sorgfältiger Frisur auch nur in Trikot mit einer alten Jacke darüber, kam herzu und schimpfte mit. Unrat hatte gegen den Sammelteller der Frau gestoßen, es waren Geldstücke fortgesprungen. Man suchte, auch Unrat bückte sich, verstört, planlos. Neben seinem Kopf, der sich den Boden entlang bewegte, scharrten die Leute mit den Füßen; Anklagen, höhnische Reden, Verwünschungen, dreiste Hände sogar drangen auf ihn ein. Unrat richtete sich auf, gerötet, mit einem Zweipfennigstück zwischen den Fingern. Er atmete kurz, tastete mit blindem Blick auf vielen Mienen umher, die ihm feind waren. Er spürte, heute zum zweitenmal, den Krisenwind des Aufruhrs im Gesicht. Er fing an, eckige Stöße zu machen, nach allen Seiten, wie gegen zahllose Anstürmende. In diesem Augenblick sah er Kieselack mit den Armen über dem hohen Kasten des Klaviers liegen, zuckend am ganzen Körper. Und jetzt hörte er ihn sogar lachen. Da ging Unrat unter in der schwindelnden Panik des Tyrannen, der den Pöbel im Palast und alles verloren sieht. In diesem Augenblick war ihm jede Gewalttat recht, er kannte kaum noch Grenzen. Er schrie, und seine Stimme schwoll an im Grabe:
»Ins Kabuff! Ins Kabuff!«
Kieselack, der ihn schon nahe sah, gehorchte. Er verschwand in der Tür, die sich neben dem Podium aufgetan hatte. Ehe Unrat es sich versah, stand auch er drinnen. Er [60]erblickte eine rote Gardine und hinter ihr hervorragend einen Arm. Er wollte darauf zu; da geschah ein Sprung. Wie er hinausspähte, lief Kieselack im kurzen Trab über die Diele. Vorne im Torgang sah Unrat einen zweiten verschwinden; er hatte ihn grade noch erkannt: Graf Ertzum. Unrat stieß sich mit den Zehen vom Boden ab; aber das Fenster war zu hoch. Er versuchte sich hinaufzustemmen. Während er mit gespitzten Ellenbogen schwebte, vernahm er in seinem Rücken eine hohe Stimme:
»Nur Mut, Sie sind ja sonst ’n kräftiger junger Mensch!«
Er plumpste herab, wandte sich um: – da stand die bunte Frauensperson.
Unrat betrachtete sie eine Weile; seine Kiefern bewegten sich lautlos. Schließlich brachte er hervor:
»Sind Sie – demnach denn also – die Künstlerin Fröhlich?«
»Na ja«, sagte die Frauensperson.
Unrat hatte es gewußt.
»Und Sie führen Ihre Künste in diesem Gasthause vor?«
Auch dies wollte er noch von ihr selbst bestätigt hören.
»Originelle Frage«, bemerkte sie.
»Drum denn –«
Unrat schöpfte Luft; er wies hinter sich, nach dem Fenster, durch das Kieselack und von Ertzum entkommen waren.
»Sagen Sie mir – nun aber auch: dürfen Sie denn das?«
»Was’chen?« fragte sie erstaunt.
»Das sind Schüler«, sagte Unrat; und nochmals, mit Beben, tief aus der Brust:
»Das sind Schüler.«
»Meinswegen. Ich hab’ ja nischt davon.«
[61]Sie lachte. Unrat brach schrecklich aus:
»Und die machen Sie der Schule und der Pflicht abspenstig! Die verführen Sie!«
Die Künstlerin Fröhlich hörte auf zu lachen; sie richtete den Zeigefinger gegen ihre Brust.
»Ich? Also Ihnen fehlt woll was?«
»Oder wollen Sie etwa leugnen?« fragte Unrat kampffertig.
»Vor wem denn? Hab’ ich Gott sei Dank nicht nötig. Ich bin Künstlerin, nich wahr? Ich wer’ Sie um Erlaubnis fragen, ob die Herren mir Bukette verehren dürfen.«
Sie wies in einen Winkel, wo an einem nach vorn geneigten Toilettenspiegel rechts und links zwei große Sträuße steckten. Die Schultern hebend:
»Wenn man das nich mal von haben soll, Sie – wer sind Sie überhaupt?«
»Ich – ich bin der Lehrer«, sagte Unrat, als spräche er Sinn und Gesetz der Welt aus.
»Na ja«, meinte sie versöhnlich, »denn kann es Ihnen doch genau so pimpe sein wie mir, was die jungen Leute treiben.«
Diese Lebensanschauung fand keinen Eingang in Unrats Verständnis.
»Ich rate Ihnen«, sagte er, »verlassen Sie mit Ihrer Gesellschaft diese Stadt, ziehen Sie in großen Tagemärschen davon, denn sonst« – er erhob wieder die Stimme – »werde ich alles daran setzen, Ihnen Ihre Laufbahn zu erschweren, wenn nicht unmöglich zu machen. Ich werde – fürwahr denn – dafür sorgen, daß sich mit Ihrem Treiben die Polizei beschäftigt.«
Bei diesem Wort erschien prompt die rückhaltloseste Verachtung auf dem Gesicht der Künstlerin Fröhlich.
[62]»Wenn Sie mit der man nich selber was zu tun kriegen, Sie kommen mir ganz so vor. Ich bin mit der in Ordnung. Sie tun mir überhaupt leid, Sie!«
Aber anstatt Mitleiden gab sie mit wachsender Deutlichkeit Zorn zu erkennen.
»Sie wollen sich noch aufspielen, in dem Aufzug wo Sie sind? Sie haben sich woll vorhin noch nich lächerlich genug gemacht? Gehn Sie mal hin, auf die Polizei, ja? Sie werden man gleich selber festgehalten. Was der Mensch für Töne am Leib hat. So was kommt einem ganz komisch vor, wo man an den Umgang mit Kavalieren gewöhnt is. Was meinen Sie, wenn ich mal einen von meine bekannten Herrn Offßiere auf Sie loslaß? Sie werden ja einfach verkeilt.«
Hierbei trug sie nun wirklich ein erfreutes Mitleid zur Schau.
Unrat hatte, während sie sprach, anfangs noch zu Worte zu kommen versucht. Allmählich wurden von dem Schwung ihres Willens seine fertigen Gedanken, die schon zwischen den Kiefern hervordrängten, zurückgestoßen bis in eine Tiefe, wo sie ihm selbst verloren gingen. Er erstarrte: – sie war kein entlaufener Schüler, der sich widersetzen wollte und sein Leben lang unter die Fuchtel gehörte; so waren alle in der Stadt, alle Bürger. Nein, sie war etwas Neues. Aus allem, was sie seit dem Zusammentreffen mit ihm gesagt hatte, sammelte sich jetzt nachträglich der Geist und wehte ihn an: ein verwirrender Geist. Sie war eine fremde Macht und augenscheinlich fast gleichberechtigt. Er hätte zum Schluß, wenn sie eine Erwiderung verlangt hätte, keine mehr gewußt. Etwas anderes entstand in ihm: es fühlte sich an wie Achtung.
[63]»Ach was – überhaupt«, sagte sie wegwerfend, brach ab und drehte ihm den Rücken.
Das Klavier war schon wieder in Tätigkeit. Die Tür öffnete sich, ließ die dicke Frau, mit der Unrat einen Zusammenstoß gehabt hatte, samt ihrem Mann ins Zimmer und ging rasch wieder zu. Die Frau setzte, und ihr Abendmantel wogte in zornigen Falten, den Teller auf den Tisch.
»Keine vier Mark«, sagte der Mann. »Schäbige Kanaillen.«
Die Künstlerin Fröhlich versetzte kalt und beißend:
»Da sehn Sie sich mal ’nen Herrn an, der uns bei der Polizei will verklagen.«
Unrat stotterte, erschrocken vor der Übermacht. Die Frau drehte sich um, mit einem Ruck, und maß ihn. Er fand ihren Ausdruck unerträglich abgefeimt, errötete, senkte den Blick, traf mit ihm die fleischfarben eingehäuteten Waden der Frau und riß ihn, zusammenfahrend, weiter. Inzwischen sagte der Mann, und er setzte seine Stimme mit hörbarer Mühe auf halbe Kraft:
»Radau hat hier doch woll bloß Einer gemacht, was? Na, und ich hab der Rosa schon lang prophezeit, wer hier eifersüchtig sein will und die andern nichts gönnen, der fliegt raus aus’n Tempel. Un denn Sie – auf die jungen Leute! Wahrscheinlich sind Sie bei der Polizei schon als Lustgreis angeschrieben.«
Aber seine Frau stieß ihn an; sie hatte ein ganz anderes Urteil gewonnen über Unrat.
»Sei still, der tut ja keinen was.«
Und zu Unrat:
»Sie sind woll ’n bißken aus der Puste gekommen? Gott, man kriegt mal ’n Rappel, das kommt vor. Kiepert soll man gar nichts sagen, der macht mir doch die Hölle grad heiß [64]genug, wenn er sich einbildt, ich bin ihm untreu. Nu setzen Sie sich man und trinken Sie ’n Schluck.«
Sie räumte von einem der Stühle die Röcke und bunten Hosen weg, nahm eine Flasche vom Tisch und füllte ihm ein Glas. Unrat trank, um Weitläufigkeiten zu vermeiden. Die Frau fragte:
»Seit wann kennen Sie denn die Rosa? Ich hab Sie doch noch nie gesehn?«
Unrat sagte etwas, aber das Klavier verschlang es. Die Künstlerin Fröhlich erklärte:
»Er ist der Lehrer von den Jungen, die mir hier immer mang die Kleedagen sitzen.«
»Ach so, Lehrer sind Sie?« sagte der Artist. Er trank ebenfalls, schnalzte und fand seine natürliche Gemütlichkeit wieder.
»Sie, denn sind Sie mein Mann. Sie werden nächstens wohl sicher auch für den Sozialdemokraten stimmen, was? Wissen Sie, wenn wir es nich machen, können Sie auf die Aufbesserung der Lehrergehälter warten, bis Sie Läuse kriegen. Mit der freien Kunst is es grade so: Polizeiliche Belästigung und kein Geld. Die Wissenschaft –«
Er zeigte auf Unrat.
»– und die Kunst –«
Er zeigte auf sich.
»– kommen allemal aus demselben Käsegeschäft.«
Unrat äußerte:
»Dem mag nun sein wie ihm wolle, so irren Sie doch in Ihrer ersten Voraussetzung, Mann, sintemal ich kein Volksschullehrer bin, sondern der Professor Doktor Raat vom hiesigen Gymnasium.«
Der Mann sagte bloß:
[65]»Na prost.«
Man nannte sich doch, wie man wollte, und wenn es irgend einem gefiel, Professor zu spielen, war das kein Grund zur Feindschaft.
»Also Lehrer sind Sie?« meinte die Frau freundlich. »Das is auch woll ’n ruppiges Brot. Wie alt sind Sie denn schon?«
Unrat antwortete bereitwillig wie ein Kind:
»Siebenundfünfzig Jahre.«
»Schmutzig haben Sie sich aber gemacht! Geben Sie man Ihren Hut her, daß wir man das Ärgste runterkriegen.«
Sie nahm ihm seinen Maurerhut vom Schoß, reinigte ihn, glättete sogar die Krämpe, rückte ihn liebevoll auf Unrats Kopf zurecht. Dann klopfte sie, und prüfte dabei ihr Werk, schalkhaft gegen seine Schulter. Er sagte mit schiefem Lächeln:
»Das haben Sie – nun doch immerhin – recht brav gemacht, gute Frau.«
Aber er empfand diesmal etwas anderes als die unlustige Anerkennung des Gewalthabers für geleistete Pflichten. Er fühlte sich hier von Leuten, denen er trotz der Nennung seines Titels offenbar noch im Inkognito gegenübersaß, mit eigentümlicher Wärme angefaßt. Ihnen verdachte er ihre Respektlosigkeit nicht. Er entschuldigte sie; es fehle ihnen sichtlich »jeder Maßstab«; und entschuldigte damit auch die Lust, die er selbst spürte, von der Widersetzlichkeit der Welt einmal abzusehen, in seiner gewöhnlichen Gespanntheit nachzulassen – abzurüsten, sei es nur auf ein Viertelstündchen.
Der dicke Mann holte unter einem Paar Unterhosen zwei deutsche Flaggentücher hervor, schnaufte und blinzelte dabei Unrat zu, als sei er mit ihm im Einverständnis. [66]Die dicke Frau hatte alle Schrecken verloren; Unrat hatte Muße gehabt zu erkennen, daß die scheinbare Abgefeimtheit ihres Blickes durch schwarze Malerei künstlich erzeugt war. Nur zu der Künstlerin Fröhlich fand er kein unbefangenes Verhältnis. Doch stand sie abgewendet und mit sich beschäftigt; sie nähte an ihren aufgerafften Rock ein Gewinde von Stoffblumen.
Das Klavierstück endete mit Wucht. Es klingelte. Der Artist sagte:
»Wir müssen raus, Guste.«
Und zu Unrat, gönnerhaft:
»Sehen Sie sich das man mal an, Herr Professor, wie wir arbeiten.«
Er warf seine alte Jacke ab, die Frau ihren Abendmantel. Sie drohte Unrat noch mit dem Finger:
»Nur immer hübsch anständig mit der Rosa. Nich wieder so temperamentvoll.«
Da ward die Tür von draußen halb aufgemacht, und Unrat sah mit Erstaunen die beiden dicken Leute ganz unvermittelt in ein anmutiges Getänzel verfallen und, die Arme rückwärts gestemmt und den Kopf im Nacken, ein von sich selbst entzücktes Lächeln annehmen, das zu Beifall herausforderte. Wirklich ging, kaum daß sie dem Saal zu Gesicht kamen, ein erfreutes Lärmen an.
Die Tür hatte sich geschlossen, Unrat war allein mit der Künstlerin Fröhlich. Er war in Unruhe darüber, was nun kommen würde, und schlich mit den Augen durch das Zimmer. Beschmutzte Handtücher trieben sich am Boden umher, auf dem Wege von dem Toilettenspiegel mit den Blumensträußen bis zum Tisch, neben dem er saß. Außer den zwei Weinflaschen trug der Tisch viele Gläser und [67]Büchsen mit allerlei Fetten, nach denen es roch. Die Weingläser standen auf Notenblättern. Unrat rückte das seinige ängstlich aus der Nähe eines Korsetts, das die dicke Frau daneben gelegt hatte.
Auf einen der mit abenteuerlichen Kleidungsstücken bedeckten Stühle stützte die Künstlerin Fröhlich ihren Fuß, indes sie nähte. Unrat sah es nicht selbst: so viel unternahm er nicht; er erfuhr es nur durch den Spiegel, dem sie zugekehrt stand. Daraus ging bei Unrats erstem, gehetztem Hinsehen hervor, daß auf ihren langen, sehr langen schwarzen Strümpfen veilchenblaue Stickerei war. Eine Weile wagte Unrat nichts mehr. Dann machte er die angstvolle Entdeckung, daß ihr zwischen den Maschen eines schwarzen Netzes blau hervorschimmerndes Seidenkleid nicht einmal bis unter die Achseln reichte, und daß, so oft sie mit Nadel und Faden weit in die Luft fuhr, in der Höhle unter ihrem Arm etwas Blondes erschien. Darauf sah Unrat nicht mehr hin …
Die Stille bedrückte ihn. Auch draußen ging es viel ruhiger zu als vorher. Nur kurze, gestöhnte Laute, etwas heiser und verfettet, wie von dicken Leuten, die sich abarbeiteten. Nun völliges Schweigen; darin das Ächzen und Klirren von etwas Metallischem, das gebogen ward. Etwas schwer zu Bestimmendes, wie das Atmen einer Menge. Plötzlich das Wort »Ab« und zwei schwere Plumpse, kurz nacheinander. Und aus dem losbrechenden Beifall hervor: »Gottsdunner!« und »Nu soll doch!«
»Das war gemacht«, sagte die Künstlerin Fröhlich und hob den Fuß vom Stuhl. Sie war fertig.
»Na und Sie? Sie sagen ja gar nischt mehr.«
Unrat mußte wohl hinsehen; aber sie verwirrte ihn [68]gleich wieder durch ihre Buntheit. Ihr Haar war rötlich, eigentlich rosig, fast lila, und enthielt mehrere geschliffene grüne Glasstücke, in ein verbogenes Diadem gefaßt. Die Brauen über den trockenblauen Augen waren sehr schwarz und kühn. Aber der Glanz der schönen bunten Farben in ihrem Gesicht, rot, bläulich, perlweiß, hatte gelitten vom Staub. Die Frisur sah eingesunken aus, und als sei von ihrer Leuchtkraft etwas davongeflogen in den qualmigen Wirtssaal. Die blaue Schleife an ihrem Hals hing welk, die Stoffblumen um ihren Rock nickten mit toten Köpfen. Der Lack blätterte von ihren Schuhen, zwei Flecke waren auf ihren Strümpfen, und die Seide ihres kurzen Kleides schillerte aus ermatteten Falten. Das schwach gerundete, leichte Fleisch ihrer Arme und ihrer Schultern kam einem abgegriffen vor, trotz seiner Weiße, die bei jeder raschen Bewegung davon abstäubte. Ihr Gesicht kannte Unrat schon sehr hochfahrend, mit feindseligen Zügen, die noch in der Bildung waren, und die die Künstlerin Fröhlich bislang leicht glättete und vergaß. Sie lachte los, über die Welt, über sich selbst.
»Und vorhin waren Sie noch so lebhaft«, setzte sie hinzu.
Aber Unrat horchte. Plötzlich machte er einen steifen Sprung, wie eine alte Katze. Die Künstlerin Fröhlich entwich mit dünnem Aufkreischen. Unrat riß das rote Fenster auf … Nein, der Kopf, dessen Umriß er hinter der Gardine bemerkt hatte, war schon wieder weg.
Er kam zurück.
»Sie erschrecken ja die Leute«, sagte sie. Er, ohne sich zu entschuldigen, ganz bei der Sache:
»Sie kennen wohl viele junge Leute aus hiesiger Stadt?«
Sie drehte sich leicht in den Hüften hin und her.
[69]»Ich bin mit jedem höflich, der anständig zu mir ist.«
»Ei freilich. Da würde denn wohl. Und die Schüler vom Gymnasium haben im allgemeinen traun recht zierliche Sitten?«
»Ja, glauben Sie denn, ich sitz’ hier tagtäglich mit Ihrer ganzen Schulstube? Ich bin doch keine Kindergärtnerin.«
»Das hinwiederum zwar nicht.«
Nachhelfend, in mahnendem Ton:
»Meistens tragen sie Mützen.«
»Wenn sie Mützen tragen, kenn’ ich sie. Überhaupt ist man ja nich ohne Erfahrung.«
Er griff zu:
»Nein, das sind Sie wohl sicherlich nicht.«
Sofort setzte sie sich zur Wehr.
»Wie meinen Sie das, bitte?«
»Ich meinte Menschenkenntnis –«
Er kehrte ihr die Fläche einer erhobenen Hand zu, erschreckt und um Frieden bittend.
»Menschenkenntnis meine ich. Nicht jeder hat die; die ist schwer – und bitter.«
Um ihre Gunst nicht zu verlieren, um sich ihr zu nähern, weil er sie brauchte, weil sie ihm Furcht machte, gab er etwas von sich preis, mehr als sonst das Volk zu sehen bekam.
»Und bitter. Erkannt aber fürwahr muß man sie haben, um sie sich dienstbar zu machen und, sie verachtend, über sie zu herrschen.«
Sie hatte verstanden.
»Nich wahr? Is das ’ne Kunst, aus dem Pack was rauszuschlagen!«
Sie zog sich einen Stuhl heran.
»Haben Sie ’ne Ahnung von dem Dasein. Jeder, der hier [70]rein kommt, meint, man hat bloß auf ihn gewartet. Alle wollen was, und nachher, das glaubt man gar nich, droht einer womöglich mit der Polizei! Sie –«
Und sie berührte mit der Fingerspitze sein Knie.
»– kommen einem mit der gleich vorher. Das hat was für sich.«
»Die einer Dame geschuldete Ehrerbietung wollte ich dadurch keineswegs verletzen«, erklärte er.
Ihm war nicht heimlich. Diese bunte Frauensperson sprach von Dingen, in die er nicht mit seiner gewohnten Klarheit eindrang. Überdies befanden sich ihre Knie nun schon zwischen seinen eigenen. Sie merkte, daß sie auf dem Wege ihm zu mißfallen war, und machte auf einmal ein stilles, vernünftiges Gesicht.
»Da läßt man lieber den ganzen Dreck und bleibt anständig.«
Da er nichts einwendete:
»Hat der Wein schön geschmeckt? Den haben nämlich Ihre Schuljungen gestiftet. Die legen sich mächtig ins Zeug, sag’ ich Ihnen. Einer is bei, der hat Pinke-Pinke.«
Sie goß ihm sein Glas nochmals voll. Im Wunsch, ihm zu schmeicheln:
»Ich lach’ mir ja ’n Ast, wenn die Bengels nachher wiederkommen, und Sie haben Ihnen alles weggepichelt. Mich kann es manchmal freuen, wenn einer irgendwie zu Schaden kommt. Man wird allmählich so.«
»Wahrlich doch«, stotterte Unrat; und mit dem Glas in der Hand schämte er sich, weil er von Lohmanns Wein getrunken hatte. Denn der Schüler, der ihn bezahlt hatte, war Lohmann. Lohmann war hier gewesen; er war vor den andern entkommen. Vermutlich war er noch in der Nähe. [71]Unrat schielte nach dem Fenster: die Gardine trug immer den etwas formlosen Abdruck eines Gesichts. Er wußte, wenn er darauf lossprang, würde es weg sein. Das war Lohmann: Unrat erfuhr es durch tiefe Ahnung. Lohmann, der Allerschlimmste, mit seiner unnahbaren Widersetzlichkeit, der ihn nicht einmal bei seinem Namen nannte: der war der unsichtbare Geist, mit dem Unrat kämpfte. Die beiden andern waren keine Geister; und Unrat fühlte, daß jene ihn schwerlich bis hierher gebracht haben würden, bis zu den ungewöhnlichen Handlungen, die er nun beging, und dahin, daß er in einem Hinterzimmer, wo es nach Schminke und verfänglichen Gewändern roch, bei der Künstlerin Fröhlich saß. Um des Schülers Lohmann willen aber mußte Unrat bleiben. Ging er, dann saß wieder Lohmann hier und sah der Künstlerin Fröhlich, die ihren Stuhl heranzog, in das bunte Gesicht. Bei dem Gedanken, daß dies nun glücklich ausgeschlossen sei, goß Unrat, ehe er es sich versah, das ganze Glas hinunter. Es brannte wohlig in seinen Gedärmen.
Die beiden dicken Leute im Saal hatten eine weitere Nummer ihres Programms unter hörbarem Atmen zu Ende gebracht. Jetzt schmetterte das Klavier etwas Kriegerisches, und gleich darauf setzten die zwei Stimmen ein, mit überzeugender Wucht, ehrlich dröhnend von vaterländischer Begeisterung.
»Stolz weht die Flagge schwarz weiß rot
Von unsres Schiffes Mast,
Dem Feinde Weh, der sie bedroht,
Der diese Farben haßt!«
[72]Die Künstlerin Fröhlich sagte:
»Das is ihre Zugnummer, das müssen Sie sich mal ansehen.«
Sie öffnete vorsichtig die Tür, darauf bedacht, sich und Unrat den Blicken der Zuschauer vorzuenthalten, und ließ Unrat zwischen den Angeln durch den Spalt spähen. Er sah die beiden dicken Leute, mit einem schwarzweißroten Flaggentuch um Magen und Bauch, auf der Eisenstange eines Turnrecks stehen und jeder kühn auf einen Pfosten gestützt, sieghafte Kiefern aufreißen.
»Allüberall wo auf dem Meer
Empor ein Mast sich reckt,
Da steht die deutsche Flagge sehr
In Achtung und Respekt.«
Man fühlte, das Publikum war tief aufgehoben von innerlichem Drängen. In einer schwindelnden Wallung ließ der und jener seine schwieligen Handflächen aufeinander krachen. Nach jeder Strophe mußte von Besonnenen der Beifall mühsam unterdrückt werden. Am Schluß des Gesanges sprengte er die Kehlen. Die Künstlerin Fröhlich äußerte, und sie beschrieb hinter der Tür eine umfassende Geste über den Saal hin:
»Nu sagen Sie mal selbst, ob das nich Affen mit Eichenlaub sind! Jeder einzelne von der Menschheit kann doch das olle Flottenlied besser singen als wie die gute Guste mit ihren Kiepert. Und zu allermindest denkt er sich auch was bei. Kiepert und Guste wissen ja zu genau, daß sie bloß Fisimatenten machen fürs Geschäft. Und Stimme haben sie gar keine und Gehör beinahe ebensoviel. Aber man die Fahnen [73]um ’n Bauch, und die Leute stellen ein Leben an, daß ein feiner Besaiteter sich platterdings dafür bedanken würde, und die Dicken müssen was zugeben. Nu sagen Sie selbst!«
Unrat gab ihr recht. Er und die Künstlerin Fröhlich nickten sich zu, in ebenbürtiger Volksverachtung.
»Passen Sie mal auf, was nu los wird«, sagte sie und steckte, bevor die beiden dicken Leute ihre Extranummer anbrachen, plötzlich den Kopf in den Saal.
»Hohohohoho!« machte es draußen.
Sie zog den Kopf zurück.
»Haben Sie gehört?« fragte sie befriedigt. »Die haben mich nu den lieben langen Abend angeglupt, aber zeig’ ich bloß die Nasenspitze, wo sie nich drauf gefaßt sind, denn muhen sie wie das Vieh!«
Unrat dachte an die verwandten Laute, die in der Klasse entstanden, sobald irgend etwas Unerwartetes vorfiel, und er entschied:
»So sind sie immer!«
Die Künstlerin Fröhlich seufzte.
»Nu bin ich gleich wieder dran und muß raus zu der Menagerie.«
Unrat ward von Hast gepackt.
»Schließen Sie nun denn also die Tür!«
Er tat es selbst.
»Wir sind von unserem Gegenstande abgekommen. Sie müssen die Wahrheit preisgeben über den Schüler Lohmann. Ihr Leugnen kann seine Sache nur verschlimmern.«
»Fangen Sie wieder davon an? Das muß ’n sanfter Wahn von Ihnen sein.«
»Ich bin der Lehrer! Dieser Schüler ist ein so beschaffener, daß er die höchsten Strafen verdient. Seien Sie [74]eingedenk Ihrer Pflicht, damit kein Verbrecher der Gerechtigkeit entkomme!«
»Liebes Gottchen! Sie wollen gewiß Wurst machen aus dem Menschen! Wie heißt er? Überhaupt hab’ ich für Namen kein Gedächtnis. Wie sieht er denn aus?«
»Er ist gelblich von Gesicht; er hat einerseits eine breite Stirn, welche er auf eine gewisse überhebliche Art in Falten legt, andererseits aber schwarze Haare in derselben. Von mittelgroßer Gestalt, bewegt er dieselbe mit einer sozusagen nachlässigen Geschmeidigkeit, hierdurch bereits die Zuchtlosigkeit seines Sinnes bekundend …«
Unrat formte das Bildnis mit den Händen. Der Haß machte ihn zum Porträtisten.
»Und?« fragte die Künstlerin Fröhlich, mit zwei Fingern am Mundwinkel. Aber sie hatte Lohmann schon wiedererkannt.
»Er ist – traun fürwahr – recht geschniegelt, und erachtet es für angemessen, seiner Eleganz durch ein schwermütig-unbeteiligtes Verhalten das Ansehen zu geben, als sei sie von selbst da und nicht vielmehr eine Tochter seiner, der Verachtung des Weisen würdigen Eitelkeit.«
Sie stellte fest:
»Das genügt. Mit dem kann ich nich dienen, tut mir leid.«
»Nachgedacht! Vorwärts!«
»Schade. Der wird nich gereicht«; und sie schnitt eine Clownsfratze.
»Ich weiß, daß er hier gewesen ist; ich habe Beweise!«
»Denn können Sie ihm die Krawatte ja alleine zuziehn und brauchen mich nich dazu.«
»Ich habe da in meiner Tasche das Aufsatzheft des Lohmann; wenn ich Ihnen dasselbe zeigen würde, dann [75]zweifle ich nicht, daß Sie sofort zugeben würden, ihn zu kennen … Drum denn, soll ich es Ihnen zeigen, Künstlerin Fröhlich?«
»Ich bin ganz närrsch drauf.«
Er griff in seinen Rock, errötete wolkig, zog die Hand leer zurück, wagte es noch einmal … Sie las endlich Lohmanns Verse, angestrengt, wie ein Kind über der Fibel. Dann, aufwallend:
»Das is aber wirklich ’ne Niedertracht. ›Und kommst du erst mal in die Wochen‹. Wer woll eher in die Wochen kommt.«
Und nachdenklich:
»Aber so dumm wie ich dachte, is er nich mal.«
»Sehen Sie wohl, Sie kennen ihn!«
Sie, sehr schnell:
»Wer sagt das? Nee, Männeken, fangen gibt’s nich.«
Unrat sah sie giftig an. Plötzlich stampfte er auf; so viel hartnäckige Verlogenheit nahm ihm die Fassung. Ohne nachzudenken, log er selbst.
»Ich weiß es, ich habe ihn ja gesehen!«
»Denn is alles in Ordnung«, sagte sie gelassen … »Übrigens, jetzt möcht’ ich ihn wohl kennen lernen.«
Sie beugte unerwartet ihre Büste vor, tastete mit ganz leichten Fingern unter Unrats Kinn, auf die kahlen Flecken zwischen seinen Barthaaren, und machte einen Mund, wie zum Saugen.
»Stellen Sie ihn mir vor, ja?«
Aber sie mußte lachen; er sah aus, als ob ihre zwei leichten Finger ihn erdrosselten.
»Ihre Schüler sind überhaupt flotte Jungen. Das kommt gewiß, weil sie so ’nen flotten Lehrer haben.«
[76]»Welchen mögen Sie von den jungen Leuten denn nun wohl am liebsten?« fragte Unrat, unerklärlich gespannt.
Sie ließ ihn los und bekam ohne Übergang wieder ein ganz stilles, vernünftiges Gesicht.
»Wer sagt Ihnen, daß ich von den dummen Jungen überhaupt einen mag. Wenn Sie wüßten, unsereiner – all die Windbeutel gäb’ ich mit Freuden hin für einen bessern Mann in reifern Jahren, dem es nich bloß wegen dem Amüsieren is, sondern mehr wegen dem Herzen und wegen dem Reellen … Das wissen die Männer man nich«, setzte sie hinzu, mit leichter Trauer.
Die beiden dicken Leute kamen zurück. Die Frau fragte, noch ehe sie verschnauft hatte:
»Nu, wie hat er sich geschickt?«
Das Klavier machte sich sofort an das Nächste.
»Na, rin ins Vergnügen«; und die Künstlerin Fröhlich legte sich einen Shawl über die Schultern und ward dadurch noch bunter.
»Sie wollen nu woll nach Haus?« fragte sie. »Das begreif’ ich; ’n Paradies is es hier ja nich. Aber Sie müssen morgen wiederkommen, wissen Sie, sonst machen Ihre Schuljungen hier Unfug, das können Sie sich selber sagen.«
Und sie ging.
Unrat war noch verwirrt durch den seltsamen Abschluß ihres Gesprächs, er ließ wortlos über sich bestimmen. Der Artist öffnete die Tür.
»Gehen Sie man immer hinter mir her, dann kommen Sie ohne Krawall durch.«
Unrat folgte ihm um den Saal herum, durch eine freie Bahn, die er vorhin verfehlt hatte. Ein Stück vorm Ausgang [77]schwenkte der Artist ab. Unrat sah nochmals dahinten ein Paar Arme, eine Schulter, irgendein heftig beleuchtetes Stück Fleisch inmitten einer Drehung bunter Farben aufglänzen, über dem Rauch, über dem Lärm … Er war draußen. Der Wirt kam eben wieder mit dem Bier; er rief:
»Nabend auch, Herr Professer, und beehren Sie mein Lakal bald wieder!«
Im Torgang verweilte Unrat noch und suchte sich wiederzufinden. Er verspürte die Wirkung der kalten Luft auf seinen Kopf und bemerkte, daß ohne Wein und Bier zu der ungewohnten Stunde dieses ganze Erlebnis schwer zustande gekommen wäre … Er machte einen Schritt auf das Gäßchen und erschrak: an der Hauswand lungerten drei Gestalten. Er schielte hin aus den Brillenecken; und es waren Kieselack, von Ertzum und Lohmann.
Unrat machte eine scharfe Wendung; hinter sich hörte er ein Schnaufen, das aus der breitesten der drei Brüste kommen mußte, aus Ertzums Brust, und das nach Empörung klang. Da erscholl Kieselacks Quetschstimme:
»In dem Haus, wo eben einer rausgekommen is, soll es aber ’ne ganze Masse sittlichen Unrat geben.«
Unrat zuckte empor; vor Wut und Angst fletschte er die Zähne.
»Ich werde Sie alle zerschmettern. Morgen bringe ich – wahrlich doch! – das Geschehene zur Anzeige!«
Niemand antwortete. Unrat machte nochmals kehrt und schlich zwei, drei Schritte weiter, in einem drohenden Schweigen. Da, ganz langsam, sagte Kieselack, und Unrat zuckte bei jedem der zwei Worte mit dem Nacken:
»Wir auch!«