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5. Der Prügelknabe

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Ronny hasste Onkel Heini.

Der hat uns regelrecht gekauft, damit wir ihn akzeptieren. Immer hat er Süßigkeiten mitgebracht, und Weihnachten hat er unserer Mutter viel Geld gegeben, dass sie uns in seinem Namen beschenken konnte. Das teure Spielzeug, das ich gekriegt habe, hätte sie von der Sozialhilfe allein natürlich sonst nie bezahlen können.

Der Bauer besaß in Bollenhagen einen Hof mit Wäldern und Wiesen, Kühen, Schweinen und Pferden, dachte aber offenbar nicht ernsthaft daran, seine Geliebte mit ihren vier Kindern auf sein Gehöft zu holen. Auch Margot Rieken fand keinen Gefallen an dieser Idee. Denn Heini ließ sich auf seinem Hof von einer Haushälterin versorgen, die nicht eben begeistert war, Margot Rieken als Bauersfrau aufzunehmen.

Ronny war froh, dass sich die Beziehung in Grenzen hielt. Denn nur sehr selten hatte Onkel Heini ein gutes Wort für ihn, wenn der in Oldenburg zu Besuch kam. Er scheute auch nicht davor zurück, dem widerspenstigen Knaben hin und wieder eine kräftige Abreibung zu verpassen.

Dieses kleine brutale Miststück. Der hat mich geschlagen, gekniffen, gewürgt und an den Haaren gezogen – schlimmer als meine Mutter. Einmal hat er mir so die Eier zusammengequetscht, dass ich mich mehrere Tage lang nicht rühren konnte.

Für Onkel Heini stand fest, dass der Junge nur mit harter Hand auf den Weg der Tugend geführt werden konnte. Wenn überhaupt. Immer deutlicher nämlich meinte der Landwirt zu erkennen, dass Ronny durch seinen Vater erblich vorbelastet war.

Tatsächlich entwickelte sich der Junge auch nicht gerade zu einem Musterknaben. Weil er im Unterricht störte, musste er schon in den ersten Klassen oft nachsitzen – was allerdings gar nicht so schlimm für ihn war, weil er dann unter der Aufsicht seiner eigentlich ganz netten Klassenlehrerin immerhin ungestört Hausaufgaben machen konnte. Nein, er war kein schlechter Schüler, hatte keine Probleme mit dem Lernen. Doch er langweilte sich in der Schule. Und er geriet in Konflikt mit seinen Mitschülern, fühlte sich verspottet und verhöhnt.

Das ging vor allem los, als die spitz gekriegt hatten, dass wir Stütze vom Sozialamt kriegen und uns nicht die Klamotten leisten können wie die andern. Außerdem haben sie mich natürlich auch wegen meiner Krummnase ausgelacht, aber das war man ja schon fast gewohnt.

Peinlich sei es ihm auch gewesen, wenn seine Mitschüler beim Sportunterricht die blauen Flecken gesehen hätten, die von den häuslichen Schlägen herrührten. Furchtbar geschämt habe er sich vor allem beim Duschen, wenn sich seine Klassenkameraden über seinen kleinen Penis amüsiert hätten.

Zwei Zentimeter kürzer, und ich wär’ ne Prinzessin, haben sie gesagt. Die haben mich regelrecht fertig gemacht mit diesen Sprüchen.

Schlimmer sei es noch nach dem Wechsel zur Hauptschule geworden. Mitschüler hätten seine Schultasche ausgekippt und die Sachen auf dem Schulhof verteilt oder die Luft aus seinem Fahrrad gelassen. Immer wieder hätten sie ihn verprügelt, einmal sogar seinen Kopf in eine Kloschüssel gesteckt. So habe er immer öfter die Schule geschwänzt, allmählich aber auch gelernt, sich zur Wehr zu setzen – und notfalls auch mal etwas kräftiger zuzuschlagen und zu treten.

Gelegentlich muss Ronny sich regelrecht in seine Kontrahenten verbissen haben. Natürlich bleiben solche Schlägereien auch der Schulleitung nicht verborgen. Schließlich muss er die Schule wechseln und die achte Klasse wiederholen.

Von vorübergehenden Freundschaften abgesehen, entwickelt sich Ronny zu einem Einzelgänger. Und so manche Freizeitbeschäftigung bewegt sich am Rande der Legalität.

Ich bin öfter auf Baustellen rumgeturnt und hab Warnleuchten eingesammelt Aber meistens bin ich auf Schrottplätzen rumgetigert. Alte Autos, das war mein Ding. Da ist es dann natürlich auch schon mal vorgekommen, dass man eingestiegen ist und das eine oder andere abgeschraubt hat.

Die Schrotthändler der Umgebung kennen ihn bald und lassen ihn meistens gewähren. Nur in einem Fall verbittet sich ein Schrotthändler die unerwünschten Besuche, ruft schließlich die Polizei und erstattet Anzeige wegen Betreten fremden Eigentums.

Mit Freunden sucht Ronny Rieken hin und wieder auch Autowerkstätten auf.

Teilweise waren die natürlich abgeschlossen. Da haben wir dann manchmal kleine Fenster eingeschmissen, um da rein zu kommen. Klar, wenn irgendwo noch mal ein Radio drin war, dann haben wir das natürlich auch mitgenommen.

Auch durch Supermärkte pilgert Ronny gelegentlich, um Kaugummi oder Zigaretten mitgehen zu lassen. Meistens schafft er es, dabei nicht erwischt zu werden. Bekommen seine Mutter oder gar Onkel Heini Wind von der Sache, ist mit Schlägen zu rechnen.

Er lässt es sich bald zur Gewohnheit werden, vorsorglich den Briefkasten zu kontrollieren, um belastende Post von der Polizei oder den Supermarktketten auszusortieren und verschwinden zu lassen.

Manuela steht ihm dabei zur Seite. Auch sonst versteht er sich mit seiner zwei Jahre jüngeren Schwester prima. Die beiden gehen zusammen in die Stadt, ins Kino oder Freibad und tauschen ihre Geheimnisse aus. Manuela wird zu Ronnys wichtigster Vertrauten.

Als er zwölf ist, nimmt ein Schulkamerad Kontakt zu ihm auf, der vor allem Interesse an seinem Geschlechtsteil hat, ihn »befummelt« und sich mit seiner Hilfe befriedigt.

Eigentlich war es mir scheißegal, was der mit mir gemacht hat: Hauptsache, der bleibt mein Freund, habe ich mir gesagt.

Als es mit dieser »Freundschaft« nach ein bis zwei Jahren vorbei ist, schließt sich eine Beziehung zu einem 30-jährigen Schulbusfahrer an.

Das war auch so’n kleiner Schwuli.

Ronny mag den Mann. Siggi lässt ihn ans Steuer, bringt ihm Autofahren bei und hat auch sonst immer ein offenes Ohr für ihn. Und Ronny nimmt es in Kauf, dass Siggi, der Busfahrer, Gegenleistungen erwartet – ihn unter anderem auffordert, sein Glied zu streicheln. Getreu der Devise: »Von nichts kommt nichts.«

Mir war es letztlich egal, Hauptsache, ich hatte einen Freund. Dass war wie mit meinem Vater: Dass ich was tun muss, damit der andere ganz für mich da ist … Meine Mutter hatte ja immer was dagegen, dass ich mit anderen gespielt habe. Sie hat ja immer nur gesagt, dass mich alle nur zu Dummheiten verleiten wollen, und darum hat sie mir den Umgang mit Gleichaltrigen eben gleich ganz verboten.

Als er sich schließlich doch einmal weigert, seinen großen Freund zu befriedigen, wendet sich der Busfahrer von ihm ab und sucht sich einen anderen Jungen.

Das war dann wieder so einer im knackigen Alter von zwölf oder 13 Jahren.

Trotz solcher Beziehungen habe er selbst keine homosexuellen Neigungen verspürt, beteuert Ronny Rieken. Mit 13 habe er auch bereits seine erste Freundin gehabt. Er sei mit dem Mädchen durch die Stadt geschlendert, mit ihr Eis und Hamburger essen gegangen. Doch damit sei es bald wieder vorbei gewesen. Auch die folgenden Bekanntschaften mit dem anderen Geschlecht seien immer nur von kurzer Dauer gewesen und oberflächlich verlaufen. Mit 16 habe er das erste Mal ein Mädchen geküsst. Dabei sei es dann aber auch geblieben.

Meine Mutter hat ja an allen was auszusetzen gehabt. Wenn sie mich besucht haben, hat sie sie angemistet, und wenn sie weg waren, hat sie sie schlecht gemacht.

Erst mit 18 sei er das erste Mal mit einer Freundin ins Bett gegangen, erinnert sich Rieken. Er habe panische Angst gehabt, befürchtet, sein Glied sei zu klein. Prompt habe er dann auch versagt. »Schlimm« sei das gewesen, richtig »schlimm«.

Nur ganz allmählich sei es etwas besser geworden. Aber dann habe ihm seine Mutter wieder ein schlechtes Gewissen gemacht, dass er sie vernachlässige.

Doch auch das Verhältnis zu seiner Mutter sei extremen Schwankungen ausgesetzt gewesen. Mal habe sie sich an ihn geklammert, dann wieder zurückgestoßen – besonders, wenn sie mit ihrem Heini zusammen war. Und in manch düsteren Momenten fragte er sich, was es überhaupt für einen Sinn hatte, sich weiter durch dieses öde Leben zu quälen.

Auch als er nach der achten Klasse die Hauptschule verlassen hatte und in das Berufsgrundbildungsjahr mit der Fachrichtung Metall übergewechselt war, wurde es nicht besser. Ganz im Gegenteil.

An einem Septemberabend des Jahre 1984 hat er sich wieder einmal mit seiner Mutter gestritten. Wütend ist er daraufhin aus der Wohnung gestürmt. Die Vorstellung, weiter mit seiner Mutter unter einem Dach zu leben, ist ihm unerträglich. Er will weg. Weit weg. Und er hat auch ein Ziel vor Augen: seine Tante in Elsfleth, seine Lieblingstante. Die hat immer Verständnis für ihn gehabt.

Als er an diesem Abend über das Gelände einer Autowerkstatt schlendert, entdeckt er auch das geeignete Fahrzeug, mit dem er bei der Tante vorzufahren gedenkt: einen Golf, der offenbar gerade repariert worden ist und abholbereit auf dem Hof steht. Er weiß, dass der Schlüssel am Schlüsselbrett bei der Waschhalle hängt. Kurzentschlossen zerschlägt er die Drahtglasscheibe der Waschhallentür, dringt in den Tankstellen-Laden ein und nimmt sich noch ein bisschen Geld aus einer Spardose und ein paar Packungen Zigaretten mit, bevor er sich den passenden Schlüssel für den Golf angelt. Obwohl er erst 16 ist und natürlich noch keine Fahrschule besucht hat, weiß er, wie man einen Golf zum Fahren bringt. Sein Freund, der Schulbusfahrer, hat ihm ja »Privatunterricht« erteilt.

Und so gelingt es ihm, das gestohlene Gefährt weitgehend problemlos von Oldenburg nach Elsfleth zu steuern. Leider aber öffnet niemand, als er gegen 23 Uhr an der Haustür seiner Tante klingelt.

Ich war enttäuscht, ganz furchtbar enttäuscht.

Niedergeschlagen macht er sich auf den Rückweg. Mit jedem Kilometer, den er Oldenburg näher kommt, wachsen seine Zweifel am Sinn des Lebens.

Wozu das alles noch? Ist doch sowieso alles sinnlos. Besser einmal den großen Knall, als immer weiter und weiter dieser ewige Ärger.

Als die Straße eine Kurve beschreibt, entschließt er sich, weiter geradeaus zu fahren – geradeaus auf einen Baum zu. Durch den Aufprall wird er zwar aus dem Auto geschleudert und schwer verletzt, verliert aber nicht, wie erhofft, das Leben. Benommen rappelt er sich mit eigener Kraft auf und wankt zu einer nahegelegenen Tankstelle. Unterwegs lässt er sein Feuerzeug aufflammen und steckt sich eine Zigarette an.

Als der Tankstellenpächter den Verletzten erblickt, nimmt er ihm erst einmal die Zigarette weg. Dann ruft er den Krankenwagen an. Eine leichte Gehirnerschütterung und der Verlust mehrerer Zähne, so lautet der Befund. Und gleich nach der notärztlichen Behandlung folgt die Vernehmung durch herbeigerufene Polizeibeamte. Gleichgültig gibt Ronny zu Protokoll, dass er das Auto geklaut hat und natürlich ohne Führerschein gefahren ist. »Ist doch sowieso alles egal«, sagt er den Polizeibeamten. »Ich wollte nicht ins Krankenhaus, ich wollte Schluss machen.«

»Alles Quatsch«, entgegnete seine Mutter, als sie mit den Selbstmordplänen ihres Sohnes konfrontiert wird. »Der hat doch gar keinen Grund, sich umzubringen. Dem geht’s doch gut.«

Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus wurde er zu Hause von seiner Mutter gepflegt und mit Chips, Cola und Zigaretten verwöhnt. Anfangs genoss er es noch, endlich einmal umsorgt zu werden. Doch nach knapp zwei Wochen begann der Streit von Neuem.

Erneut verspürte Ronny den Drang, weit weg zu gehen. Vielleicht auf ein Schiff. Als Binnenschiffer durch die Lande fahren – das war sein Kindheitstraum gewesen. Seine Mutter äußerte zunächst noch Bedenken. Doch es gelang ihm, seine Tante zu überzeugen. Und die bearbeitete ihre Schwägerin so lange, bis sie schließlich einwilligte. So heuerte Ronny Rieken noch im Herbst des gleichen Jahres als Schiffsjunge auf dem Binnenfrachter »Regina« an.

Ronny Rieken

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