Читать книгу Das Gassi-Syndrom - Heinz-Dieter Vonau - Страница 7
Tier oder Tier-Los?
ОглавлениеElmer! Jetzt hat er einen Hund. Hat nie in seinem Leben ein Tier haben wollen. War sich immer selbst genug. Hat lange gedauert, bis er mit sich selbst einigermaßen klarkam. Der Umgang mit Anderen der eigenen Rasse war schwierig genug.
In seiner Kindheit gab es einen Wellensittich. Der war ganz nett. Von den Eltern angeschafft. Ein Beitrag zur Arterhaltung einer aussterbenden Spezies, wie man in einer Fernsehwerbung in den Sechzigern erfahren konnte: „Acht von zehn Sittichen leiden unter einer lebensgefährlichen Schilddrüsenvergrößerung“. Die konnte man retten mit Trill und Jod-S11-Körnchen. Eine heroische Tat. Mit dem Tier an sich war nicht viel anzufangen. Es flog hier hin, flog da hin, gab Töne von sich, in denen die Erwachsenen erfreut Wörter vermuteten. Es ließ seine Verdauungsreste dahin fallen, wo sie gerade aus dem Körper heraus wollten. Beindruckend. Keiner schrie, keiner strafte. Es wurde in die Kategorie niedlich eingestuft. Die kindliche Neugier Elmers gegenüber dem fremden Wesen hielt sich in Grenzen. Allein die Vorstellung, dasselbe Privileg der freien Ausscheidungen auch für sich zu nutzen, ließ ihn innerlich erstarren. Die Erinnerung an die letzte Züchtigung bei einem weit banaleren Anlass, durch seinen in diesen Dingen völlig humorlosen Vater, erstickte den Gedanken schon im ersten Ansatz.
Seine Mutter hatte mehr Zugang zur Kreatur. Das Tier verlor nach einer gewissen Anpassungsphase seine natürliche Scheu vor dem Fremden, saß permanent auf der Schulter der Hausfrau und knabberte am Ohr, ohne Schmerzen zu erzeugen. Die Zutraulichkeit wurde sogar auf dem Balkon beibehalten, beim täglichen Plausch mit der Nachbarin. Sie wurde zur Gewohnheit, in der man der Außergewöhnlichkeit keine Beachtung mehr schenkte. So wie eines sonnigen Tages: Eine vor dem Balkon stehende Nachbarin. Eine sorglos plaudernde Mutter. Vertieft in Gespräche über Alltäglichkeiten, alles vermeidend, was dem inneren Status Quo hätte zuwider laufen können.
Unbemerkt legte sich an diesem Tag eine zarte, unsichtbare Wolke um die Plaudernden. Einer jener seltenen Momente, in denen sich die Welt langsamer zu drehen beginnt und eine Ahnung ihre unhörbare Stimme erhebt. Jenseits der bekannten Welten wurden Möglichkeiten sichtbar, die sich selbst im Traum dem Bewusstsein entziehen. In genau diesem Moment löste sich das Wort Freiheit von seiner Begrifflichkeit, um in der Erfahrung zur Gewissheit gelangen zu können. Die Mutter spürte nichts. Die Nachbarin merkte nichts. Der Sittich horchte auf. Legte den Kopf schief und lauschte der verborgenen Stimme. Aus der Sicherheit der bekannten Schulter und des konstanten Futterangebotes heraus, breitete er seine Flügel aus und löste sich leicht und locker aus der Umgebung des Vertrauten. Flatterte in die Unbegrenztheit einer offen vor ihm liegenden, unbekannten Welt. Mit einem einzigen Schwung überließ er sich der Unendlichkeit des unvorhersehbar Neuen. Taumelte sinnestrunken in den blauen Himmel über der Eisenbahnersiedlung dem Bahndamm entgegen, der das Gelände vor dem Haus begrenzte.
Der Sittich wurde nie wieder gesehen. Alle Suchaktionen verloren sich in Misserfolgen. Er fand den Weg zurück nicht mehr. Oder wollte ihn nicht finden. Was wissen wir schon von anderen Welten. Wir kennen ja kaum die eigene, geschweige die unseres Nachbarn. Jedenfalls setzte der Vogel, neben der Traurigkeit des Verlustes, ein Zeichen in das kindliche Gemüt einer verbeamteten deutschen Heimstatt: Auch wenn du dich um deine Verdauungsreste nicht kümmern musst - Du hast (k)eine Chance, nutze sie!
Das tangierte Elmer in dieser Zeit nur peripher, wie er in seinem späteren Leben sagen würde. Vielleicht war er auch nur zu jung, den Vorgang in seiner einzigartigen Bedeutung würdigen zu können. Die Zeit der Auseinandersetzung mit sich, seiner Spezies, deren Verhaltensweisen und Beweggründen, war noch nicht gekommen. Elmer betrachtete die Welt mit großen Augen als eine bunte Spielwiese, die keiner Erklärung bedurfte, die einfach nur da war. Die sich seinem Bewusstsein nur nach und nach erschließen sollte.
Eine zweite Möglichkeit, sich der Welt einer tierischen Andersartigkeit zu nähern, geschah durch den Gewinn eines Loses auf einer Ausstellung. Er gewann einen Kanarienvogel. Es endete tragisch unter dem Diktat des Zufalls. Das kleine, nette, hübsch singende, ebenfalls fliegen könnende gelbe Tier, bekam nach einer gewissen Eingewöhnungszeit in die neue Umgebung, einen Nestbauimpuls. Es sammelte in der ganzen Wohnung Fäden für ein weiches, gemütliches Heim. Wo der dafür erforderliche Befruchtungsvorgang herkommen sollte, entzog sich den Beobachtern. Oder hatte das Los eine Befruchtete getroffen? Beschwingt sammelte die flinke Kanarie alles, was zum Bau des Nestes erforderlich war, egal wo es gerade lag. Ein interessanter Faden befand sich auf dem Sessel von Elmers Vater. Das Nestbaurequisit war irgendwie festgeklemmt. Eingewoben ins Hier und Jetzt brauchte der Vogel seine gesamte Aufmerksamkeit, Geschicklichkeit und Kraft, den Faden loszubekommen. Der Vater, wie üblich, seine Umgebung als sich nie ändernden Zustand auffassend, kam und setzte sich, eine Zeitung ergreifend, auf diesen, seinen angestammten Sessel. Der Vogel, vertieft in sein Tun, der Vater, vertieft in sein anstehendes Tun. Ein schicksalhafter Moment, der erst dann in seiner tragischen Weite erkennbar wurde, als jemand fragte: Wo ist eigentlich der Vogel? Da bemerkte das sensible Familienoberhaupt, dass es eine Stelle an seinem Hintern gab, die eigenartigerweise wärmer war, als der Rest seines Gesäßes. Das Tier konnte nur noch erstickt geborgen werden. Wie schnell der Zufall dem Leben ein Ende setzen kann!
Mit diesen Erfahrungen erschöpften sich die Ambitionen von Elmer nach einem näheren Kontakt mit der Welt einer von den Menschen als adäquater Partner akzeptierten Fauna. Hin und wieder traf er in seinem späteren Leben auf Tiere im Umfeld von Freunden. Da ging er schon mal mit einem Hund Gassi, wie der ambitionierte Tierfreund zu sagen pflegt. Da tauchte er ein in das Gefühl der Beherrschbarkeit von Kreatur und Natur. Der Hund an der Seite, das Domestizierungssymbol, eine raue Leine, lässig in der Hand. Seht her, ich habe sie, aber ich brauche sie nicht. Hat ja was, ein Mann und sein treuer Freund. Nun ja, als Spielzeug ganz nett, aber als Lebensgefährte? Jedenfalls kam für ihn die Anschaffung eines Tieres als ständiger Begleiter nie in irgendeine Fragestellung. Nicht mal in seiner Funktion als Trost- und Sinnspender. Kein Interesse. Die Illusion von Liebe und Zuneigung konnte man sich wesentlich ergiebiger vom weiblichen Geschlecht holen.
Doch wie das mit dem Zufall so ist, er eröffnet manchmal merkwürdige Wege. In einem dieser Momente, in denen sich die Welt langsamer dreht, werden Entscheidungen getroffen, die in ihren Konsequenzen nicht vorhersehbar sind. Innerhalb von Elmers Suche nach sinnvollen Aspekten eines erfüllten Lebens, traf er in gereifterem Alter auf eine Frau, die ein solches Tier hatte. Anfangs war das kein Problem, da er mit ihr in Form einer Geliebten zusammen lebte. Er war maximal einmal die Woche bei ihr und nahm den Hund nur am Rand wahr. Irgendwo lag er rum, aber so weit unten, dass er nicht weiter in das Bewusstsein drang. Elmer hatte eine eigene Familie, ein eigenes Heim mit 110 m2 und ab und zu die Freiheit das zu tun, was in seiner gewohnten Umwelt nicht mehr möglich war. Dann verlor die Geschichte den Status der Heimlichkeit und er flog von der vertrauten Schulter einer gesicherten Existenz in eine andere Welt mit einer kleineren Wohnung von 65 m², mit Hund.