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„Gassi“ gehen

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Elmer hat jetzt also einen Hund. Ist auf den Hund gekommen, wie man so sagt. Im Laufe der Zeit fügt er sich immer mehr in die Einsicht der Notwendigkeit, in der, nach Hegel, die Freiheit verborgen sein soll. Man kann ja nie wissen. Jeden Tag ist er mit dem Tier draußen, meistens so um eine Stunde, manchmal zwei und manchmal sogar nachts. Von Frauchen instruiert, immer schön aufzupassen, das „Hundi“ in Bewegung bleibt und sein Geschäft macht. Wieso eigentlich Geschäft, fragt sich Elmer unterwegs? Ist die Entleerung des Dickdarms eine auf Gewinn abzielende, kaufmännische Transaktion? Wird mit wem gehandelt oder verhandelt, wenn es darum geht, einen Haufen in die Gegend zu setzen? Sein Geschäft machen! Eine Sprachsinngebung von Hundebesitzern, denen das Wort „scheißen“ ihre Illusionen, von was auch immer, zerstören könnte. Da hört Elmer einen Aufschrei der Hundebesitzer durch den Kosmos wehen. Er wird mit Donnerstimme zurecht gewiesen: Das ist keine Illusion, es ist „Liebe“. . . gegenüber den Schutz- und Hilflosen dieser Gesellschaft, die ohne unsere aufopferungsvolle Haltung nicht überleben können.

Nun ja, gegen Liebe ist bekanntlich kein Kraut gewachsen. Die schwingt sich bei Hundehaltern zu ungewohnten Höhen einer ethischen Weltanschauung. Da wird selbst der Umgang mit Fäkalien zum Symbol von Leidenschaft und Aufopferung, jedenfalls bei den Umwelt- und Verantwortungsbewussten. Was wäre, wenn sich diese Liebesfähigkeit auf die Flüchtlinge übertragen ließe, die zurzeit massenhaft ihre Heimat verlassen, weil dort kein menschenwürdiges Dasein mehr möglich ist und bei uns Schutz zum Überleben suchen? Das wäre doch ein sinnvolles Ziel für eine Gefühlsausrichtung. Aber da müsste man sich mit etwas auseinander setzen, anderen Kulturen, anderen Verhaltensweisen. Da entstehen Konflikte, da muss man reagieren, sich positionieren, neu orientieren. Da nutzt keine Hundeschule als Kaderschmiede für Führungsnachwuchs, da ist es nichts mehr mit der Dominanz über ein anderes Wesen.

Oder geht es gar nicht so sehr darum, andere lieben zu können? Wollen Hundeliebhaber vielleicht einfach nur das Gefühl haben zu lieben und selbst „geliebt“ zu werden? Steht womöglich sogar die Dominanz über ein anderes Wesen im Mittelpunkt der Entscheidung zum Tier? Was ist mit der Aufwertung der eigenen Existenz durch ein entsprechendes animalisches Statussymbol?

In Elmers Kopf entstehen jede Menge Fragen und Antworten, die wiederum neue Fragen generieren, während er Tag für Tag mit dem Hund Gassi geht.

Im Begriff Gassi gehen, entdeckt Elmer auf einem Hunde-Spazier-Gang die Eigenheit vieler Hundebesitzer zur Verniedlichung in der Sprachgestaltung. Die Realität wird in einer ganz speziellen Weise den eigenen Bedürfnissen angepasst. Während Männer unter sich davon sprechen, zum Urinieren zu gehen, zum Schiffen und zum Pissen, mal ´ne Stange Wasser in die Ecke stellen, ´ne Pfütze liegen lassen, bezeichnet man beim Hund die auszuführende Tätigkeit nach dem Ort, an der sie meistens stattfindet, der Gasse. Das ist dort, wo sich im Mittelalter die Fäkalien der Stadt sammelten, um aus der Stadt hinaus fließen zu können. Aus dieser menschlichen Gasse wird dann die hündische Gassi. Eine einfache Art, Beton in Zuckerwatte zu verwandeln, der Traum etlicher Hundebesitzer von einer heilen, besseren Welt. Dass wir mittlerweile eine Kanalisation für die Fäkalien nutzen, scheint nicht von größerer Bedeutung zu sein. Interessant ist auch, dass der Begriff selbst dann beibehalten wird, wenn die tierische Notdurft gar nicht in einer Gasse stattfindet. In freier Natur nutzt man ihn ebenso. Vielleicht ist hier die Historie im Spiel. Wir bewegen uns um Zeitalter zurück und denken an die bekannte, erweiterte Begriffsbildung durch Wilhelm Tell, die in freier Natur in einem Tal stattfand: „Durch diese hohle Gasse wird er kommen.“

Wie auch immer, Lotte hat, ihrem Alter gemäß, etwas Gehschwierigkeiten … Arthrose. Das sieht man, wenn sie von ihren stundenlangen Ruhepausen aufwacht, gähnt und sich streckt. Das rechte Vorderbein will dann nicht so richtig und sie humpelt beträchtlich. Das gibt sich schnell, je mehr Bewegung ins Spiel kommt und verliert dann seinen Behinderungscharakter. Ein weiterer Grund, um jeden Tag Gassi zu gehen.

Apropos: Für einen Hund seiner Größe ist der, die Gasse eingrenzende und charakterisierende Bordstein, keine Kleinigkeit. Bei einer Eigenhöhe von 40 cm hat die Straßenbegrenzung eine Höhe von der Hälfte der eigenen Größe. Auf unsere Verhältnisse umgerechnet, haben wir es mit Gassen zu tun, deren Bordsteine für eine menschliche Durchschnittsgröße von 1,80 m, eine Höhe von 90 cm haben. Wieder einmal kann sich Elmer nur wundern: Aus dieser sportlichen Herausforderung macht der Hundefreund eine Gassi. Es braucht nicht viel, um sich die Welt schön zu reden.

Einfach ein paar wesentliche Aspekte nicht beachten und schon erscheint das Leben in neuem Glanz.

Bewundernswert mit welcher Leichtigkeit der kleine Hund in seinem Alter diesen Höhenunterschied überwindet.

Elmers Neugier beobachtet die Monotonie einer nie gewollten Routine, tagein – tagaus, Gasse für Gasse, Straße für Straße, Viertel für Viertel. Sein erwachtes Interesse richtet sich immer mehr auf die Eigenheiten dieser ihm unbekannten Spezies. Seine logische Erklärung: Wenn er schon dabei ist, kann er es ja auch epistemisch nutzen. Ohne dass er es bemerkt, kommentiert der beste Freund des Menschen seine Worte. Die Art und Weise der Übermittlung entzieht sich Elmer bis heute.

Madame Lotte

So ist die menschliche Rasse. Statt die Natur zu nutzen, in ihr eigenhändig nach Nahrung zu suchen, der Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens durch die eigenen Ausscheidungen eine Gedenkstätte zu errichten und mal zu schauen was sich so alles verändert hat, seit man das letzte Mal hier gewesen ist, rennt man durch die Gegend und denkt: „Ich denke, also bin ich“. Was für ein Schwachsinn. „Ich schnüffle, also bin ich“. Wir leben! Ihr versucht einen Grund dafür zu finden. Was ist dagegen einzuwenden, wenn wir dafür sorgen, dass ihr euer merkwürdiges Sehnen nach Liebe und Geborgenheit, verstanden werden wollen und sich kümmern dürfen, auch leben könnt? Unfähig es mit Euresgleichen befriedigend tun zu können, würdet ihr doch seelisch verhungern, wenn wir uns nicht Eurer erbarmen würden? Und der Gedanke, was wäre, wenn ihr statt uns Euch selbst mehr lieben würdet?

Reicht es nicht aus, dass die sieben Milliarden Eurer Art den Planeten in absehbarer Zeit bis auf die Kruste ausgelaugt haben werden? Wieviel wollt Ihr denn noch zeugen? Wie wollt Ihr das in den Griff kriegen ohne gezielte Selektion?

Da ist Misstrauen dem Anderen gegenüber angesagt. Immer schön eine eigene Meinung erzeugen und knallhart verteidigen und bloß nicht daran denken, dass die Dinge komplexer sind, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.

Denkt stets daran: Ihr habt recht mit dem was ihr von den Dingen haltet. Alle anderen? Na, die haben natürlich nicht Recht, die befinden sich im Unrecht. Da kann man dann die allbekannte Fahne hissen: Willst du nicht mein Bruder sein, schlag ich dir den Schädel ein! Und laut grölend bis zum Exzess die Weltbevölkerung minimieren.

Aber Ihr macht das schon, seid jedenfalls auf dem besten Weg dazu. Die ewig Gestrigen, die Komplexitätsverleugner, deren Horizont an der Innenseite ihrer Haut ein Ende findet, die schreien schon so laut, dass sie nicht mehr überhört werden können. Und denen folgt Ihr doch eh gern, oder? Je lauter, desto schneller rennt Ihr hinterher. Das was Ihr bei uns gern hättet, dass wir Euch auf´s Wort folgen, das würdet Ihr doch auch gern tun. Es muss nur jemand sein, der laut genug mit einfachen Lösungen um sich brüllt.Die Zukunft beginnt hinter der Leere des Fressnapfes.

Das Gassi-Syndrom

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