Читать книгу Nicht eingreifen! - Heinz Hoffmann - Страница 4
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ОглавлениеSabine Sundermann stand vor zwei schweren Entscheidungen. Sie war jetzt im vierten Semester ihres Modedesignstudiums und konnte der Mode zu ihrem Bedauern nicht mehr viel abgewinnen. Wenn sie das Studium zum Abschluss brächte, würde sie sich beruflich damit befassen, wie sich Menschen kleiden sollten, um damit irgendwie besser auszusehen. Sie hatte schon unzählige Modenschauen besucht und von Mal zu Mal erschienen ihr die darin vorgestellten Ideen der Modeschöpfer immer verrückter. Das Studium hatte sie gelehrt, dass sich die Ergebnisse solcher Inszenierungen eher meilenweit von den ursprünglichen Ideen entfernten. Mode sollte ja tragbar sein. Auch für Menschen, die sich mit ihren Alltagsfiguren durch die Stadt bewegen. Es gab nur sehr wenige Realmenschen, die sich trauten, mit dem Ursprungsdesign herumzulaufen, und die sahen dann meist ziemlich lächerlich aus. Zumindest in ihren Augen. Um wirklich erfolgreich in ihrem einmal angestrebten Beruf zu sein, müsste sie schon sehr abstruse Entwürfe liefern und das, was sie entwarf, war aktuell nur eine Weiterentwicklung von bereits tragbarer Kleidung. Der große Wurf mit einer völlig neuen Idee wollte ihr einfach nicht gelingen. Doch wollte sie das wirklich? Wollte sie wirklich Teil dieser künstlichen Welt werden? Nun, sie und ihre beste Freundin hatten sich schon als Teenager zusammen die ausgefallensten Klamotten genäht und waren dafür in der Schule teils bewundert und teils verspottet worden. Die beiden fanden das damals ziemlich cool, sich von den anderen abzuheben, wenn auch nur durch die äußere Erscheinung. Eigentlich war das der Grund für ihre Berufswahl gewesen. Dann hatte ihre beste Freundin irgendwann einen Jungen kennengelernt, mit dem sie nach Kathmandu gegangen war und Sabine hatte nie wieder von ihr gehört. Allein hatte sie das extravagante Outfit in der Schule nicht mehr durchstehen können und war alsbald auch äußerlich wieder normal geworden. Sie fand ihre Gedanken jetzt äußerst banal und oberflächlich. Hätte sie aufgrund ihrer Bildung nicht etwas Geistreicheres denken können? Vielleicht so etwas wie die Frage nach dem Sinn des Lebens? Offenbar in diesem Moment nicht, denn das Thema Modedesignstudium brannte ihr unter den Nägeln und hatte sich absolut in den Vordergrund gearbeitet. Ihre Kommilitoninnen waren allesamt so lebensbejahend, ein bisschen ausgeflippt zwar, aber überaus witzig. In den ersten beiden Semestern hatte sie da noch mithalten können, aber seit einem halben Jahr quälten sie Zweifel, die größer und größer wurden. Sie war mittlerweile dermaßen antriebslos geworden, dass es immer wieder zu Reibereien mit den beiden Mitbewohnerinnen ihrer Wohngemeinschaft kam. Meistens ging es um den Abwasch und das Einkaufen. Das war angesichts ihrer aktuellen Probleme in ihren Augen ebenso banal wie oberflächlich. Sie ließ den Abwasch in der Spüle stehen und beschloss, dass ihr gemeinsamer Kühlschrank zumindest heute leer bleiben würde. Im Internet fand sie nach einigem Suchen verschiedene Portale, die sich mit ähnlichen Problemen befassten, verzichtete aber darauf, dort irgendetwas zu posten, sondern las lediglich die Beiträge, bis sie schließlich auf den Gedanken kam, dass sie sich offenbar in einer Sinnkrise befand. Das war ja zumindest schon einmal eine Diagnose. Sie erinnerte sich daran, dass sie heute vor zwei schweren Entscheidungen stand, die weder mit dem Abwasch noch mit dem Einkaufen zu tun hatten. Es ging darum, ob sie ihr Studium hinschmeißen und ob sie sich das Leben nehmen sollte. Bei der finalen Idee des Suizids könnte sie sich wenigstens die Exmatrikulation sparen. Dann bliebe nur noch diese eine schwere Entscheidung zu treffen.
Sie sah auf die digitale Zeitanzeige ihres Computermonitors. Es war bereits 13:36 Uhr und ihre Mitbewohnerinnen würden wohl bald auftauchen. Sie fürchtete sich vor der leidigen Diskussion um Abwasch und Einkauf. Deshalb entschied sie, die Wohnung alsbald zu verlassen und sich auf die stets eiligen und gehetzten Mitmenschen in der Großstadt einzulassen. Kaum hatte sie die Wohnungstür hinter sich zugezogen, rasselten auch schon die drei unerzogenen halbwüchsigen Rabauken aus dem fünften Stock grußlos und geräuschvoll an ihr vorbei. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, ihnen einen prächtigen Sturz aus großer Höhe zu wünschen, als der letzte der unerträglichen Racker auf sein offenes Schnürband trat und tatsächlich die neun Stufen bis zum ersten Stock auf seiner rechten Schulter- und Beckenpartie nahm. Er schrie auf und blieb schluchzend auf dem Treppenabsatz liegen. Die beiden anderen waren sehr viel schneller gewesen und Sabine hörte schon die schwere Haustür unten ins Schloss fallen. Im gesamten Haus tat sich nichts. Sie hatte den Eindruck, als wären sie und der Zwölfjährige im Moment die einzigen Menschen auf der Welt. Der kleine Junge war ansprechbar. Sabine verbesserte ihre Erkenntnis gedanklich mit den Worten verbal reaktionsfähig . Der Ausdruck ansprechbar erschien ihr schon immer unpassend, denn ansprechen kann man geradezu alles, aber eine verbale Reaktion kann man nur von Menschen erhalten, die bei Bewusstsein und des Sprechens mächtig sind. Der kleine Junge war also bei Bewusstsein und sie sprach ihn an: „Kannst du dich bewegen?“ Er nickte. Sie verbesserte ihre Erkenntnis mit der Einschränkung zumindest reaktionsfähig . Sie stellte fest, dass ihre medizinischen Kenntnisse für eine Diagnose unzureichend waren und als sie sagte: „Ich hole uns Hilfe“, wurde ihr bewusst, dass sie sich mit dem Jungen verbündet hatte und ihr nunmehr gemeinsames Problem zu lösen versuchte.
„Nicht weggehen!“, flehte der Kleine und begann am ganzen Körper heftig zu zittern.
„Sind deine Eltern zuhause?“
Der Junge schüttelte den Kopf: „Auf Arbeit.“
„Ich rufe jetzt einen Krankenwagen, damit du versorgt werden kannst.“
Er nickte kraftlos und ergab sich in sein Schicksal.
Zuerst deckte sie ihn mit ihrer Jacke zu, um ihn zu wärmen und wählte dann auf ihrem Handy die 112. Der Stimme, die sich am anderen Ende der Verbindung meldete, schilderte sie die Situation, beantwortete die Frage, ob der Junge ansprechbar sei mit einem lapidaren „Ja“ und verzichtete auf eine Diskussion über die Wortwahl, weil mit dem Gesprächsteilnehmer Einigkeit darüber bestand, was gemeint war. Während der fünfzehn Minuten, die sie gemeinsam auf den Notarzt warteten, bemerkte Sabine, dass sie sich in ihrer neuen Rolle eigentlich ganz wohl fühlte. Jemand brauchte ihre Hilfe und sie konnte ihm diese bieten. Sie versuchte, sich an eine vergleichbare Situation in ihrem Leben zu erinnern, blieb dabei jedoch erfolglos.
Die beiden älteren Brüder des Jungen trafen gemeinsam mit den Sanitätern am Unfallort ein und zeigten sich für Sabine unerwartet betroffen von der Situation ihres kleineren Bruders. Der älteste, vielleicht fünfzehnjährige der drei Rabauken reichte ihr die Jacke, mit der sie den Kleinen gewärmt hatte und bedankte sich überraschend höflich für ihre Hilfe. Er übernahm jetzt die Verantwortung für den Kleinen, wies seinen anderen Bruder an, in die Wohnung zu gehen und die Eltern telefonisch zu benachrichtigen und erklärte, dass er seinen Bruder in die Klinik begleiten würde. Sabine war damit entlassen und konnte nun ihren ursprünglich geplanten Weg fortsetzen.
Als sie die schwere Haustür ins Schloss hatte fallen lassen, sah sie noch kurz auf den mit Blaulicht vor dem Haus stehenden Rettungswagen und entschied, dass sie sich im nächstbesten Lokal zur Beruhigung einen Kaffee gönnen würde. Sie fühlte sich ein bisschen als Heldin, doch die an ihr vorbeihetzenden Passanten würdigten sie keines Blickes und konnten daher den sie umgebenden Glorienschein nicht erkennen, weil die überwiegende Mehrheit dieser Menschen mit ihren Handys mehr zu tun hatten, als auf ihre Umwelt zu achten. Ihr Gedanke, dass ihr Leben zumindest darin einen Sinn erhalten hatte, auf Treppen gestürzten Zwölfjährigen zu helfen, wurde jäh von einem Motorrad unterbrochen, das laut knatternd auf der Hauptstraße dahinbrauste. Sie konterte diesen unerträglichen Lärm mit dem Wunsch, das Motorrad könne sich in seine Einzelteile zerlegen. Kurz darauf vernahm sie einen lauten Knall, der von einem funkensprühenden Scheppern begleitet wurde. Der Auspuff des Motorrades war abgefallen und über die Straße geschlittert. Autos bremsten und hielten an, um den gestürzten Motorradfahrer nicht zu überfahren. Danach war es ruhiger geworden und Sabine konnte ihren Gedanken von vorhin wieder aufnehmen: Es machte für sie einen gewissen Sinn, anderen Menschen in Notsituationen zu helfen und sie überkam ein überraschend warmes Gefühl, das sie bereits auf der Treppe ihres Wohnhauses gespürt hatte, als der Kleine sie bat, nicht wegzugehen. Es war ein durchaus angenehmes Gefühl.
In dem Café, das sie nun aufsuchte, waren nur wenige Tische besetzt und Sabine suchte sich ein ruhiges Plätzchen. Zunächst sicherte sie sich die liegengelassene Zeitung vom noch nicht abgeräumten Nebentisch, dann rief sie die Bedienung und bestellte sich aus dem vorgetragenen, reichhaltigen Sortiment verschiedenster Kaffeeformen eine Tasse Filterkaffee. Während sie auf ihren Kaffee wartete, beobachtete sie eine Kleingruppe älterer Damen, die sich bei Kaffee und Torte allerhand zu erzählen hatte. Sie entschied, dass es nicht zu ihren Lebenszielen gehörte, im Alter Bestandteil einer solchen Gruppe zu werden und bemerkte dabei, dass sie gar nicht in die Verlegenheit käme, sich dereinst als Teil einer solchen Gesellschaft wiederzufinden, wenn sie ihre Suizidoption wählte. Aber war das wirklich noch eine Option für sie? Nun, eigentlich war die Selbsttötung ja immer eine finale Option. Aber die bliebe ihr doch stets erhalten und sie könnte jederzeit darauf zurückgreifen, sodass es gar nicht erforderlich war, bereits heute darüber zu entscheiden. Der Unfall des kleinen Zwölfjährigen in ihrem Treppenhaus hatte in ihr den Eindruck der völligen Sinnlosigkeit ihres Lebens fragwürdig werden lassen und sie beschloss, zunächst einmal abzuwarten, wie sich ihr Tag weiterentwickelte und verdrängte erfolgreich den Gedanken an das wohl unvermeidliche Zusammentreffen mit den Mitbewohnerinnen ihrer Wohngemeinschaft.
Als die Bedienung mit dem Kaffee kam, hatte Sabine die Zeitung schon in der Hand und sich dem ersten Artikel gewidmet. Dort wurde über eine verheerende Flutkatastrophe in Südostasien berichtet, bei der hunderte Menschen ums Leben gekommen waren und tausende Helfer unter Einsatz ihres eigenen Lebens nach ebenso vielen Vermissten suchten. Mehrere Spendenkonten seien eingerichtet worden und die Zeitungleser wurden aufgefordert, den dortigen Menschen mit Geldspenden zu helfen. Auch Sabine fühlte sich irgendwie angesprochen, einen Beitrag zu leisten, um die armen, in entsetzliche Not geratenen Menschen zu unterstützen. Die Bundesregierung hatte sich dem Spendenaufruf bereits angeschlossen. Auf derselben Seite berichtete die Zeitung über mehrere Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer, die auf dem Weg nach Europa gesunken waren. Vermutlich wären hunderte Menschen dabei ertrunken. An die sechzig Flüchtlinge wären von einem Rettungsschiff aufgenommen worden, das jedoch von europäischen Ländern keine Erlaubnis erhielte, in einen rettenden Hafen einzulaufen. Dieser Artikel enthielt keinen Spendenaufruf. Eine Politikerin wurde zitiert, die die Schuld an diesem Unglück bei den geldgierigen Schleuserbanden sah, die gegen horrende Preise nur unzureichende Schlauchboote für die Flucht dieser Menschen zur Verfügung stellten. Diesen Schleuserbanden gehöre endgültig das Handwerk gelegt. Sabine konnte nicht wirklich einen gravierenden Unterschied zwischen der Not der Menschen in Südostasien und der Not der Flüchtlinge auf dem Rettungsschiff erkennen. Welchen Sinn machte es wohl, für die Menschen in Südostasien Spenden zu sammeln und für die Menschen auf dem Rettungsschiff hingegen nicht? Sie nahm sich vor, später intensiver darüber nachzudenken, als sich ihr Handy meldete. Es war eine der beiden Mitbewohnerinnen ihrer Wohngemeinschaft. „Sag mal, Sabine, wo bist du denn? Der Abwasch ist nicht erledigt und der Kühlschrank ist leer!“
„Ja, also, einer der Jungen aus dem fünften Stock ist die Treppe hinuntergefallen und ich musste ihm helfen. Krankenwagen rufen und so. Da hatte ich keine Zeit mehr für den Abwasch. Und jetzt muss ich mich erstmal von dem Stress erholen.“
„Das ist ja mal eine ganz neue Ausrede! Du weißt, dass wir dir ein Ultimatum gestellt hatten. Wir können unsere Wohngemeinschaft mit dir nicht mehr fortsetzen. Claudia hat auch schon einen Nachmieter gefunden. Wir sind der Meinung, dass du zum Monatsende ausziehen musst, also hast du noch etwas mehr als zwei Wochen Zeit, dir eine neue Bleibe zu suchen.“
„Aber…“
„Da gibt es jetzt kein Aber mehr. Wir haben das endgültig so beschlossen.“
Sabines Mitbewohnerin hatte das Gespräch unvermittelt beendet und gab ihr keine Gelegenheit zur Widerrede. Man hatte ihr die Karte gezeigt, die ein Fußballschiedsrichter gemeinhin in der Gesäßtasche verwahrt. In ihr breitete sich eine große Leere aus. War das Gottes Dank für ihre Hilfsbereitschaft gegenüber dem kleinen Jungen auf der Treppe? Die Leere in ihr wich nunmehr einer großen Wut gegen die ganze verdammte Welt mit ihren gleichgültigen, Ich-bezogenen Menschen. Sie dachte: Alle denken nur an sich, nur ich denk an mich und musste unwillkürlich bei diesem Gedanken grinsen. Sie zog ein innerliches Resümee:
1 Studium: Sinnlos.
2 Suizid: Letztes Mittel. Kann noch warten.
3 Wohnung: In gut zwei Wochen passé.
4 Abwasch und Einkaufen: Für die nächste Zeit nicht erforderlich.
5 Hilfsbereitschaft: Gibt ein gutes Gefühl.
6 Ist-Zustand: In Not, doch weniger schwer, als die Menschen in Südostasien und auf dem Rettungsschiff und der kleine Bengel im Krankenhaus.
7 Plan: Erstmal Kaffee trinken. Wird sonst kalt.