Читать книгу Nicht eingreifen! - Heinz Hoffmann - Страница 5
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ОглавлениеIn seinen Gedankenspielen wurde Guntram morgens um 9:41 Uhr jäh vom Klingeln seines Telefons unterbrochen. Das alte, massive schwarze Bakelit-Telefon mit Wählscheibe, an dem seine Eltern sehr gehangen hatten, konnte er eines Tages nicht mehr benutzen, weil sein Telefonanbieter das analoge Fernsprechnetz einstellte und auf digitale Kommunikationstechnik wechselte. Sein Handy benutzte er in der Regel ausschließlich außer Haus, und aus einer nostalgischen Laune heraus hatte er das alte Telefon von einer Computerwerkstatt technisch umrüsten lassen. Es stand wie zu Lebzeiten seiner Eltern stationär auf einer Kommode an der Flurgarderobe und klingelte wie ehemals schrill und fordernd.
Als er nach dem siebten Klingeln an der Kommode angekommen war und den Hörer von der Gabel nahm, meldete er sich wie immer: „Guntram von Franckenbergh am Apparat.“
„Hier spricht Manfred“, kam es aus der Muschel zurück.
„Welcher Manfred?“, wollte Guntram wissen.
„Na, der Manfred!“
„Und weiter?“
„Was weiter?“
„Na, Ihr Nachname!“
„Es gibt keinen. Übrigens, du musst mich duzen.“
„Sie haben keinen Nachnamen und ich soll Sie duzen? Warum?“
„Wenn du mich nicht duzt, leg ich wieder auf.“
„Also gut. Du hast keinen Nachnamen und ich soll dich duzen? Warum?“
„Im Allgemeinen haben Götter keine Nachnamen und werden geduzt.“
„Du bist ein Gott?“
„Aber ja!“
„Und warum rufst du mich an und meldest dich nicht auf andere Weise?“
„Auf welche andere Weise sollte ich mich denn melden?“
„Na, so als Stimme aus dem Off. Vielleicht mit einem leichten Donnergrollen im Hintergrund oder so.“
„Dann würdest du doch glauben, du hast sie nicht mehr alle und wir kämen nicht in einen Dialog.“
„Ja, da hast du allerdings recht.“
„Ich habe immer recht.“
„Und warum rufst du mich auf meinem alten Bakelit-Telefon an und nicht auf meinem Handy?“
„Damit du auch rangehst. Ich habe die Rufnummernunterdrückung aktiviert und ich weiß, dass du meistens nicht an dein Handy gehst, wenn auf dem Display unbekannt erscheint. Dein Bakelit-Telefon hat kein solches Display.“
„Woher weißt du das denn?“
„Ich weiß alles , denn ich bin ein Gott.“
„Ach so. Ist ja klar.“
„Eben.“
Guntram überlegte fieberhaft, wer ihn da wohl auf den Arm nehmen wollte und wie er dem Anrufer auf die Schliche kommen könnte und sein Interesse war geweckt und sein Ehrgeiz, das Rätsel zu lösen, ebenfalls und er wollte sich jetzt keine Blöße geben, sich mit einem ungelösten Rätsel abzufinden und in diesem Spiel den Kürzeren zu ziehen, denn es musste sich um ein Spiel handeln, zu dem er herausgefordert worden war und dem er jetzt nicht mehr ausweichen wollte und außerdem hatte er keine Bekannten oder Freunde, die ihn etwa hätten auf den Arm nehmen wollen. Er musste jetzt handeln und entschied sich für den Gegenangriff: „Ich will einen Beweis.“
„Beweis wofür?“
„Dass du ein Gott bist.“
„Reicht es denn nicht, dass ich immer recht habe und alles weiß?“
„Na, da kann ja jeder kommen und das von sich behaupten.“
„Das ist keine Behauptung, sondern eine Tatsache.“
„Wo warst du denn zum Beispiel gestern Mittag?“
„Na hier.“
„Wo ist denn hier ?“
„Wo ich immer bin eben.“
„Wo bist du denn immer?“
„An jedem Ort des Universums gleichzeitig. Nun, äh, soweit das, was gerade geschieht, in mein Ressort fällt.“
„Und was mir gestern Mittag geschehen ist, fiel nicht in dein Ressort?“
„Du meinst den Vorfall in dem Autobahnrestaurant, in dem ein junger Mann seine Schwester erschossen und dich dabei am Ohr erwischt hat, richtig?“
„Genau“, Guntram war jetzt etwas überrascht, dass sein Gesprächspartner informiert war, doch das konnte er aus den Nachrichten erfahren haben und war keineswegs ein Beweis seiner Göttlichkeit.
„Nun, das fiel nur teilweise in meinen Aufgabenkreis, also in diesem Fall nur das Geschehen, das unmittelbar dich betraf. Für die anderen drei Beteiligten war ein Kollege zuständig.“
„Und warum habt ihr diese Tat nicht verhindert?“
„Wir beobachten nur.“
„Habt ihr denn nicht die Macht, bei sowas einzugreifen?“
„Doch, natürlich. Aber, wie gesagt, wir beobachten die Menschen bei ihrem Treiben nur.“
„Aber dieser Vorfall machte doch überhaupt keinen Sinn.“
„Ach, ihr Menschen mit eurem ewigen Sinn . Immer muss alles einen Sinn machen. Das führt letztendlich doch zu nichts. Aber zu meiner Ehrenrettung muss ich erwähnen, dass ich versucht habe, den Kollegen zum Einschreiten zu bewegen.“
„Du warst aber nicht besonders erfolgreich bei deinem Versuch.“
„Das ist richtig, aber der Kollege rangiert in einer höheren Kategorie. Wenn er auf mich gehört hätte, wäre es erst zum Schuss gekommen, nachdem du gegessen hättest.“
„Ach, du wolltest nicht die Tat selbst verhindern, sondern sie nur hinauszögern?“
„Ja. Dein eigentliches Begehr war, etwas zu essen. Deshalb hast du das Restaurant betreten und nicht etwa, um diesen Vorfall zu verhindern.“
Manfred war erstaunlich gut informiert, fand Guntram, doch auch das ließ sich durch einen einfachen Rückschluss ermitteln, denn man betritt ein Restaurant üblicherweise in der Absicht, etwas zu essen. Er musste einfach gezielter nach Dingen fragen, die nur er und niemand sonst wissen konnte, aber ihm fiel beim besten Willen auf die Schnelle nichts Passendes ein und daher versuchte er, erstmal das Gespräch am Laufen zu halten, denn er konnte es partout nicht ertragen, wenn jemand versuchte, ihn zum Narren zu halten: „Also, gesetzt den Fall, dass du tatsächlich ein Gott bist…“
„Ja?“
„Warum rufst du ausgerechnet jetzt und ausgerechnet mich an?“
„Langeweile.“
„Aber es gibt doch mehr als genug andere Menschen auf der Welt, mit denen du dich unterhalten könntest.“
„Das stimmt schon, aber es gibt keinen weiteren Menschen, dessen Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen sind, ihrem Sohn eine ganze Menge Geld hinterlassen haben, der mit einem alten umgebauten Bakelit-Telefon telefoniert, das auf einer Kommode in der Nähe der Flurgarderobe steht und der gleichzeitig ein Sinnermittler ist, der gestern eine sinnlose Tötung miterlebt und seitdem seine Unterhose nicht gewechselt hat. Das hat mein Interesse geweckt.“
„Meine Unterhose? Ich habe heute noch nicht geduscht.“
„Nein, nicht deine Unterhose. Alles zusammengenommen. Das Gesamtpaket.“
Damit war ihm Manfred doch zuvorgekommen. Alles zusammen konnte eigentlich niemand sonst wissen, insbesondere das mit der Unterhose. Ob Manfred nun wirklich ein Gott war, ließ Guntram zunächst dahingestellt. Auf jeden Fall war er ganz offensichtlich ein verblüffend interessanter Gesprächspartner: „Sag mal, Manfred, was interessiert dich an mir so sehr, dass du mich anrufst?“
„Deine Zukunft“, war Manfreds lapidare Antwort.
„Meine Zukunft?“, fragte Guntram überrascht. „Ich dachte du weißt einfach alles.“
„Ja, prinzipiell schon. Vergangenheit und Gegenwart, wobei die Gegenwart doch so eng mit der Vergangenheit verbunden ist, dass sie mit der Vergangenheit quasi eine Einheit bildet, denn einen Wimpernschlag nach ihrem Geschehen gehört sie ihr bereits an. Mit der Zukunft ist es ein bisschen kniffliger, weil wir ja bekanntlich nur beobachten und nicht eingreifen. Das macht die ganze Geschichte ja so wahnsinnig interessant.“
Nachdem sich Guntram mit einem sehr vorsichtigen Kniff in den Unterarm vergewissert hatte, dass er nicht etwa träumte, fasste er die Sache eher für sich selbst zusammen: „Du gehörst also zu einer Gruppe von Göttern, die das Treiben der Menschen aus Interesse beobachten und ihr greift prinzipiell nicht in das Geschehen ein.“
„Wir beobachten nicht nur die Menschen, sondern einfach alles, was so im Universum geschieht“, verbesserte Manfred.
„Ihr beobachtet einfach alles, was so im Universum geschieht und greift grundsätzlich nicht in das Geschehen ein.“
„Korrekt.“
Guntram wollte der Sache etwas weiter auf den Grund gehen: „Aber, wenn du jetzt gerade mich beobachtest und sogar mit mir sprichst, gehen dir dann nicht die anderen Dinge, die im Universum aktuell passieren, durch die Lappen?“
„Eigentlich nicht, denn das, was ich gerade mache, geht so rasend schnell, dass praktisch keinerlei Zeit vergeht.“
Guntram sah auf seine Uhr, die immer noch 9:41 Uhr anzeigte: „Das heißt, wir könnten uns jetzt über das Leben, das Universum und einfach alles unterhalten und es wäre danach immer noch 9:41 Uhr?“
„Ja.“
„Okay“, Guntram merkte, dass er jetzt den Horizont seiner geistigen Fähigkeiten erreichte und setzte einige Level tiefer wieder an: „Gibt es denn im gesamten Universum nichts Interessanteres zu beobachten als die Erde und die Menschen und dabei zudem ausgerechnet mich?“
„Du stellst aber einfache Fragen.“
„Ich bin ja auch einige Level zurückgegangen“, gab Guntram zu.
„Verstehe“, erwiderte Manfred. „Es gibt durchaus andere interessante Orte, die es zu beobachten lohnte, doch mein Aufgabenbereich beschränkt sich auf organisches Leben und da ist die Erde zurzeit wirklich das spannendste Objekt.“
„Was meinst du mit zurzeit ?“
„Die letzten zwei bis drei Millionen Jahre.“
„Du meinst seit der Entstehung intelligenten Lebens auf der Erde, wie Lucy, Homo erectus, Homo sapiens usw.?“
„Seit der erneuten Entstehung bewussten Lebens auf der Erde. Mit dem Begriff intelligentes Leben wäre ich da ein bisschen vorsichtig“, korrigierte ihn Manfred.
Guntram war verblüfft: „Willst du damit sagen, es gab bereits vorher, also bevor sich der Homo sapiens entwickelte, denkende Wesen auf der Erde?“
„Aber ja! Doch die waren bei weitem nicht so putzig wie das, was sich danach entwickelt hat. Sie haben nicht an ihrer Selbstzerstörung gearbeitet. Zu ihrem Aussterben bedurfte es tatsächlich eines kosmischen Ereignisses…“
„Das wird mir jetzt zu kompliziert“, unterbrach ihn Guntram. „Beschränke dich bitte lieber auf die letzten zwei bis drei Millionen Jahre.“
„Gerne! Unter allen bewussten Lebensformen des Universums beobachte ich die Menschen auf der Erde am liebsten, weil sie so vollkommen aus der Art schlagen, dass sie einfach unvergleichlich unvollkommen sind.“
„Es gibt also aktuell noch weitere bewusste Lebensformen im Universum?“
„Selbstverständlich. Doch was ich so erstaunlich an euch Menschen finde, ist eure geistige Entwicklung.“
Guntram wusste, dass jetzt etwas Überhebliches von Manfred zu erwarten war, ließ sich aber gleichwohl zu der Bemerkung hinreißen: „Ja, unser Fortschritt und unsere geistigen Fähigkeiten sind schon enorm.“
„Wenn man das satirisch betrachtet, hast du wohl recht.“
Ich habe es doch gewusst , dachte Guntram und forderte: „Wie meinst du das?“
„Nun, wenn ihr euch etwas nicht erklären könnt, vermutet ihr, dass irgendein höheres Wesen dafür verantwortlich sein muss. Dann sind aber einige wenige von euch mit dieser Vermutung nicht zufrieden und denken so lange über das Unerklärliche nach, bis eine irgendwie schlüssige Erklärung gefunden ist.“
„Das ist doch ein Beweis von Intelligenz!“, warf Guntram rasch ein.
„Wenn du meinst…“, erwiderte Manfred, um dann fortzufahren: „Das Lustige an der Sache ist aber, dass die weitaus überwiegende Masse von euch nicht gern lernt, sondern an einmal liebgewonnenen vermeintlichen Erkenntnissen hartnäckig festhält und die neuen Ergebnisse partout nicht anerkennen will.“
Guntram nahm die Rolle eines Verteidigers ein: „Das führt doch aber dazu, dass neue Erkenntnisse stets bewiesen werden müssen und wir nicht blind allen neuen Ideen folgen. So wird eben alles so lange einer gründlichen Prüfung unterzogen, bis das Ergebnis wirklich gesichert ist.“
„Ein prinzipiell kluger Einwand, wenn es denn wirklich so wäre. Das Schlüsselwort für das Verhalten der Masse ist Ablehnung und nicht Prüfung . Deshalb kommt ihr nicht oder wenn, dann nur sehr langsam voran. Allerdings könnte man bei näherer Betrachtung zu dem Ergebnis kommen, dass ihr in den letzten zweihundert Jahren doch gewaltige Fortschritte gemacht habt…“
„Sag ich doch!“, beharrte Guntram.
„Wenn es denn euer Plan wäre, euren Planeten zu zerstören“, fuhr Manfred fort. „In dieser Hinsicht seid ihr hinter der nächsten Kurve bereits auf der Zielgeraden.“
„Warum ändert ihr Götter das denn nicht? Ihr hättet doch die Macht dazu, oder?“
„Wir sind doch nicht für euch verantwortlich! Wir beobachten nur und ein Eingreifen würde die Spannung dabei bloß verderben.“
„Wir sind doch schon dabei, unsere Sünden aus der Vergangenheit zu erkennen und Maßnahmen zu verabreden, den Weltuntergang noch zu verhindern. Den Atomkrieg haben wir vermieden …“
„Ja, damit wäre es in der Tat schneller gegangen.“
„Und wir haben uns aktuell vorgenommen, die Belastung der Atmosphäre mit Treibhausgasen zu verringern …“
„Ihr habt es euch vorgenommen , aber ihr setzt es nicht um!“
„Was könnte die Erde denn noch retten?“
„Euer Aussterben. So, genug geplaudert.“
„Halt!“
„Was denn noch?“
„Wie kann ich dich erreichen?“
„Gar nicht. Wenn nötig, melde ich mich wieder.“ Manfred beendete das Gespräch.
Guntram stand an der Kommode in der Nähe der Flurgarderobe mit dem Telefonhörer am Ohr und hörte das Freizeichen. Dass die Leute aber auch immer so ungeduldig sind, es hatte doch erst sieben Mal geklingelt. Na, dann wird es nicht so wichtig gewesen sein , dachte er bei sich und sah auf seine Uhr. Es war 9:41 Uhr. Er würde jetzt duschen und die Unterhose wechseln.