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Kapitel 1

Erinnerungen

Erik Barnard stieß sich leicht von der gewölbten Innenwand der ISS ab und schwebte quer durch den Raum zu einem der Bullaugen der internationalen Raumstation. Er klammerte sich an die Umrandung des Bullauges und blickte hinaus. Er sah die PROMETHEUS neben der Raumstation im grellen Sonnenlicht glänzen und ihr Anblick löste in ihm eine Mischung aus Ehrfurcht und Stolz aus. Dabei glich die PROMETHEUS eher einer flügellosen Libelle als einem Raumschiff und, so wie sie konstruiert war, hätte sie keinen einzigen Höllenritt durch die irdische Atmosphäre überstanden. Aber das war ja auch nicht ihre Aufgabe, fuhr es Erik durch den Kopf. Sie sollte als interplanetarisches Raumschiff eine fünfköpfige Crew zum Mars und wieder zurück befördern. Sie war ein Weltraumvehikel und sollte nie in die dichte Atmosphäre eines Planeten eintauchen – hoffentlich nie, dachte Erik und seufzte.

Er hatte das Schiff wachsen gesehen. Beinahe 5 Jahre hatte es gedauert, bis es aus den Teilen, die Shuttles zur ISS befördert hatten, zusammengebaut war. Nun war es startbereit. Eriks Blick wanderte noch einmal von einem Ende des Konstrukts zum anderen. Es war beileibe nicht schön, aber sehr zweckmäßig. Vorne die kugelförmige Mannschaftskabine, dahinter der kegelförmige Mars-Lander, dann folgte eine 50 Meter lange Gitterkonstruktion mit den verstellbaren Sonnenkollektoren und ganz am Heck der Atomreaktor mit dem Plasmatriebwerk. Eine strahlungsabsorbierende Kunststoffschicht umhüllte die Mannschaftskabine und schützte die Crew vor den harten Gammastrahlen des Weltraums und vor dem Reaktor, und quer zur Gitterkonstruktion befand sich eine Wand, welche die Astronauten vor den radioaktiven Strahlen schützen sollte. Erik kam der Gedanke, dass das Schiff wohl eher einem Fisch als einer Libelle glich. Ein Bild tauchte in seinem Geist auf. Er sah die PROMETHEUS gleich einem riesigen Walfisch durch die Weiten des Alls gleiten. Bei dieser Vorstellung musste er unwillkürlich lächeln. Doch das mächtige Raumschiff war alles andere als vorsintflutlich, es war vielmehr das Modernste und technisch Ausgereifteste, was die Menschen in der Mitte des 21. Jahrhunderts auf die Beine zu stellen vermochten. Aber würde das reichen, um fünf Menschen zum Mars und wieder zurück zu bringen?

„Werden wir zurückkehren?“, dachte Erik wohl zum tausendsten Mal. Es lag ja nicht nur an der Technik, die versagen konnte – nein, Erik glaubte, dass die viel größere Gefahr vom Menschen, von der Besatzung selbst ausgehen mochte.

Man musste sich nur einmal vorstellen, wie Menschen in völliger Schwerelosigkeit und auf engstem Raum miteinander auskommen sollten, dabei in ständiger Gefahr, von Meteoriten getroffen, von Sonnenflares geröstet oder von technischen Pannen getötet zu werden – und schon stellten sich jedem risikobewussten Menschen die Nackenhaare auf. Dann, falls die Landung mit dem Mars-Lander glücken sollte, folgten eineinhalb Jahre Aufenthalt auf der lebensfeindlichen Marsoberfläche und nach dieser Zeit der Aufstieg zur PROMETHEUS in der Umlaufbahn und der Rückflug zur Erde. Erik gab es auf, sich auszumalen, was da alles schiefgehen konnte.

Er ließ das Bullauge los und hechtete gekonnt mit einem einzigen Satz hinüber zu seiner Schlafkoje, denn er wollte sich vor der letzten Mannschaftsbesprechung noch etwas ausruhen. Danach würden sie an Bord der PROMETHEUS gehen. Er schlüpfte in seinen an der Liege festgezurrten Schlafsack, denn in der Schwerelosigkeit musste der Körper selbst beim Schlafen fixiert werden, sollte er nicht durch eine unbewusste Bewegung davontreiben und sich Beulen holen.

Erik schloss die Augen, doch schlafen konnte er nicht. Zu viele Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. Er dachte an die handverlesene Crew, die er führen sollte, für deren unversehrte Rückkehr er sich verantwortlich fühlte, und er schwor sich: „Ich werde alles Menschenmögliche tun, um euch gesund zum Mars und wieder heim zur Erde zu bringen.“ Aber würde das Menschenmögliche genügen? Überstieg dieses Unternehmen nicht schlicht und einfach die Möglichkeiten der Menschen, trotz all ihrer Technik und ihrer minutiösen Vorbereitung?

Die Leute vom Missionszentrum der NASA versuchten zwar, alle denkbaren Notfälle und Eventualitäten zu berücksichtigen und Pläne für deren Lösungen zu machen, aber bei dieser nie dagewesenen Expedition konnte so viel passieren, dass man unmöglich für alle Notfälle Lösungen parat haben konnte. Blitzschnell die richtigen Entscheidungen vor Ort zu treffen, das war eine der Stärken von Erik, und deshalb hatte man ihn zum Kommandanten der Mars-Mission ernannt.

Vor einem Jahr allerdings war er nahe daran, alles hinzuwerfen und von seinem Kommando zurückzutreten. Das war exakt zu dem Zeitpunkt gewesen, als er erfahren hatte, dass eine Frau mitfliegen würde. Im Nachhinein erschien ihm seine Reaktion natürlich lächerlich, doch damals meinte er es bitterernst. Er hatte sich sofort das Dossier des zukünftigen Crewmitglieds besorgt und, nachdem er es durchgelesen hatte und vor allem ihr Bild zu Gesicht bekommen hatte, sah er erst recht rot. Mit der Akte in der Hand stürmte er wie ein gereizter Stier zum Büro des Missionsleiters Ernest Pullok. Vergeblich versuchte ihn die erschrockene Sekretärin aufzuhalten, aber Erik schob sie einfach zur Seite und drang wutschäumend in das Büro ein.

Beim Knall der Tür war Pullok hinter seinem Schreibtisch zusammengezuckt, hatte sich aber gleich wieder gefangen, als er Erik erblickte. Dieser stürmte mit hochrotem Kopf auf den Schreibtisch zu, schmetterte die Akte auf die blankpolierte Teakholzplatte und schrie: „Ernst, das kann nicht dein Ernst sein, jetzt soll auf einmal eine Frau mitfliegen!“ Pullok verzog keine Miene angesichts des wütenden Kommandanten und schon gar nicht wegen der Verballhornung seines Vornamens. Er deutete gelassen auf einen Sessel und meinte trocken: „Beruhige dich erst einmal und nimm Platz, Erik.“ Aber der wollte sich auf keinen Fall beruhigen, blieb stehen und starrte seinen Chef wütend an. Dieser jedoch wirkte überhaupt nicht eingeschüchtert, sondern blickte Erik, ein ironisches Lächeln auf den Lippen, fest in die Augen. Nach einer Weile, nachdem keiner der beiden Anstalten machte, den Blick zu senken, knurrte Erik: „Also, was ist, ich warte auf eine Antwort.“ Pullok erwiderte lakonisch: „Ja, sie fliegt mit, das ist definitiv.“ Da kochte die Wut in Erik erst richtig hoch. Mühsam um Selbstbeherrschung ringend, umklammerte er die Stuhllehne vor sich, bis seine Knöchel weiß hervortraten. Schwer atmend stieß er hervor: „Du und die Leute von der Einsatzleitung seid wohl alle auf einmal meschugge geworden! Hast du die junge Frau schon einmal angesehen. Sie ist erst 33 Jahre alt und würde bei jedem Schönheitswettbewerb als Siegerin vom Platz gehen. Glaubst du, ich bin scharf darauf, das Kommando über eine Gruppe von balzenden Hähnen zu übernehmen?“ Pullok meinte kopfschüttelnd: „Willst du ihr ihr gutes Aussehen zum Vorwurf machen? Im Übrigen werden sich deine Teamkollegen nicht so leicht den Kopf von ihr verdrehen lassen, sie sind immerhin alle, außer dir, verheiratet.“ „Als ob das ein Hinderungsgrund wäre“, knurrte Erik. In dem Bestreben, sein Gegenüber zu überzeugen, beugte sich Pullok nach vorn, wobei er seinen mächtigen Oberkörper mit seinen nicht minder gewaltigen Armen auf der Schreibtischplatte abstützte und erklärte: „Sieh es doch einmal von der positiven Seite! Dass ihr einen guten Arzt an Bord braucht, wirst nicht einmal du bestreiten. Nun, Julia Winter ist sowohl Fachärztin für Innere Medizin als auch für Chirurgie. Außerdem hat sie einen Master in Psychologie und besitzt einen Pilotenschein. Nur ein Blinder würde ihre Qualifikation infrage stellen. Ich bin mir sicher, dass ihr in ihr ein kompetentes Crewmitglied bekommt, das auch noch die Zustimmung der ESA hat.“

„Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, welches Gezerre es bei der Auswahl der Crewmitglieder gegeben hat. Jeder Staat, der Geld in das Marsprojekt gesteckt hat, will einen seiner Leute zum Roten Planeten schicken. Wenn es nach dem Willen prestigehungriger Politiker ginge, müssten wir an die 30 Leute zum Mars katapultieren. Letztendlich einigten wir uns mit Abstrichen darauf, dass die Hauptzahler auch die größte Mitsprache bei der Auswahl der Besatzung der PROMETHEUS erhielten – ganz nach dem bekannten Sprichwort: wer zahlt, schafft an.

Noch im Nachhinein scheint es wie ein Wunder, dass wir die 3 Billionen Dollar für das Projekt den Staaten aus dem Kreuz geleiert haben. Du hast ja selbst die Werbetrommel für unser Projekt gerührt und kennst auch die Argumente unserer Gegner, wie: gigantische Geldverschwendung, schafft mit diesem Geld doch erst mal Ordnung auf unserer Welt, bekämpft den Hunger in der Dritten Welt, etc., etc. Allerdings hatten auch wir von der NASA gute Gründe für unsere Expedition zum Mars. Neben den Erkenntnissen für die Wissenschaft war es vor allem die Einigung der Staaten auf der Erde unter einem gemeinsamen Projekt, die wir ins Feld führten, die womöglich Kriege verhindern könnten, und du weißt, Kriege, das war bisher wohl, abgesehen vom Leid, das sie über die Menschen brachten, sicherlich die größte und sinnloseste Ressourcenverschwendung.

Diese Argumentation hat die Staaten letztendlich dazu veranlasst, sich an der Marserforschung zu beteiligen. Allerdings gab es dann das schon erwähnte Gezerre um die Crewmitglieder, alle wollten dabei sein.“ Hier unterbrach Erik Pullok: „Du sprachst doch davon, dass man die Auswahl der Crewmitglieder von der Höhe der Geldbeträge abhängig machen wollte, den jeder Staat für das Projekt ablieferte. Wie steht es da mit Amerika? Die haben schließlich 40 Prozent der Gesamtsumme beigesteuert und müssten demnach auch zwei Astronauten losschicken dürfen.“ „Das ist richtig“, räumte Pullok ein, „aber dann hätten wir die anderen Geberländer nicht ausreichend berücksichtigen können, denn mehr als fünf Leute können wir in der PROMETHEUS nicht unterbringen. Überlege doch mal: Amerika und die NASA 40 %, Europa mit der ESA 25 %, die Chinesen und Japaner zusammen15 % und die Russen und die Südamerikaner je 10 %. Das sind schon einmal zwei Organisationen und mindestens sechs große Länder und wir haben nur fünf Plätze zu vergeben! Kannst du dir das Gerangel hinter den Kulissen vorstellen?

Am schwierigsten gestaltete sich die Suche und Auswahl eines geeigneten europäischen Kandidaten. Sowohl Deutschland, als auch Frankreich und England, wollten unbedingt einen ihrer Landsleute durchboxen, ja selbst Spanien und Italien waren sehr interessiert. Schließlich einigte man sich auf die hochqualifizierte Julia Winter. Vielleicht verschaffte ihr der Umstand, dass sie eine Frau ist, den Job eher, als es einem Mann gelungen wäre, denn einem deutschen Mann hätten die Franzosen oder Engländer wohl kaum zugestimmt. Nach langer Debatte gelang es uns jedenfalls, die Engländer und Franzosen so weit zu beruhigen, dass sie die deutsche Kröte schluckten. Die Franzosen köderten wir mit dem Hinweis, dass der Kommandant der Mission – also du – ja ein halber Franzose wärst, da deine Vorfahren vor 200 Jahren in die Staaten ausgewandert seien. Die Engländer konnten wir damit beruhigen, dass die Kommandosprache auf der PROMETHEUS Englisch sei und Engländer und Amerikaner sich schon seit jeher wie Brüder verhalten.

Du siehst also, Erik, du bist unser politischer Kompromiss-Kandidat, auf den wir nicht verzichten können.“ „Ich fühle mich geehrt“, brummte Erik.

„Aber das waren nicht die einzigen Schwierigkeiten, die wir hatten. Rate mal, wie sich das Kandidatenkarussell weiterdrehte.“ „Die Chinesen und Japaner?“, vermutete Erik. „Volltreffer!“, schnaufte Pullok. „Jeder der beiden großen Nationen wollte natürlich einen der ihren bei der Mission dabeihaben. Wir suchten lange nach einem Kompromiss und fanden ihn schließlich in Han Li, einem Hongkong-Chinesen, in dessen Adern sowohl chinesisches als auch japanisches Blut fließt. In Südamerika einigte man sich ziemlich schnell auf den Brasilianer Louis Vargas. Dazu trug nicht nur seine hervorragende Qualifikation als Planetologe und Astronom bei, sondern auch sein fröhliches Naturell und sein ungebremster Optimismus. Du bist ihm ja schon begegnet.“

„Ja, ich traf ihn auf einem astronomischen Kongress, ein wahrer Sonnyboy!

Das kann man von Gregori Danilov nun nicht gerade behaupten. Der wirkt eher miesepetrig und wortkarg, und diesen Finsterling habt ihr zu meinem Stellvertreter ernannt, ausgerechnet einen Russen!“ „Aber Erik, dass du unsere Entscheidung gerade in diesem Punkt infrage stellst, wundert mich doch sehr“, empörte sich Pullok. „Schließlich waren es die Russen, die als Erste eine Sonde in eine Umlaufbahn schossen, also sind sie die eigentlichen Pioniere des Weltraums. Ein Flug zum ‚Roten Planeten‘ ohne einen Vertreter Russlands ist doch schlichtweg nicht vorstellbar. Deine Aversion gegen Gregori ist unbegründet. Er ist wie du Testpilot gewesen. Außerdem gilt er als begnadeter Ingenieur, von dem man munkelt, er könne mit ein wenig Draht und einigen Transistoren wahre Wunderdinge zaubern.“

„Mag sein“, gab Erik zu, „doch ich tat mit ihm wohl zu lange Dienst auf der Internationalen Raumstation und das kann schon mal zu Aversionen führen. Zudem ist da sicherlich auch Konkurrenzdenken mit im Spiel, wie so häufig zwischen Amerikanern und Russen.“

Pullok wirkte aufgebracht, er hob den Zeigefinger und schnaubte: „Aversionen und Konkurrenzdenken bei einem langen und risikoreichen Raumflug kann zum Scheitern der ganzen Mission führen, Erik, das solltest du wissen! Die Psychologen haben mir steif und fest versichert, dass alle ernannten Crewmitglieder miteinander können, oder, wie sie sich in ihrem Kauderwelsch ausdrückten, dass deine Leute mental miteinander kompatibel sind, und nun muss ich so was von dir hören.“ „Die Sache mit Greg ist halb so wild“, beeilte sich Erik zu versichern. „Im Großen und Ganzen verstehen wir uns ja auch und jeder hat Achtung vor der Leistung des anderen. Übrigens, bin ich heute etwas gereizt, wie du sicherlich bemerkt hast, also solltest du meine Worte nicht auf die Goldwaage legen.“

Doch Pullok wollte sich anscheinend nicht beruhigen, sondern lamentierte weiter: „Da hat man nun alles Menschenmögliche für diese wichtige Expedition getan, hat sich abgerackert, hat versucht, alle Eventualitäten mit in Rechnung zu stellen, nur um am Ende festzustellen, dass die wichtigste Person, nämlich der Kommandant der Mission, selbst ein Risiko für das Unternehmen darstellt.“ Und Pullok wischte sich seufzend den Schweiß von der Stirn. Hätte es für Erik noch eines Fingerzeigs bedurft, dass Pullok wieder einmal seine Ablenkungsmasche durchzog, so machte diese theatralische Geste alles klar. „ Ach du Gauner, du Gauner!“, rief Erik entrüstet, „jedes Mal, wenn man dich in die Defensive drängt oder eine unangenehme Entscheidung von dir verlangt, weichst du aus oder redest einen besoffen. Hier geht es doch gar nicht um mich – Julia Winter ist das Problem, aber du redest wie ein Wasserfall, nur damit man das Offensichtliche aus den Augen verliert. Ich bezweifle ja gar nicht, dass diese Ärztin fachlich kompetent ist, sondern mir macht Sorge, dass sie die einzige Frau unter lauter Männern ist. Sie wird damit automatisch zu einem Objekt der Begierde, und das kann zu Zwietracht und Konkurrenzdenken unter der Mannschaft führen.

Nimm dazu die drangvolle Enge in der Mannschaftskabine und den Mangel an Intimsphäre für jeden Einzelnen von uns und du wirst zugeben, wie explosiv die Lage mit einer Frau an Bord werden kann. So alltägliche Dinge wie Toilettenbesuche oder Umkleiden werden angesichts einer gemischten Mannschaft bestimmt nicht einfacher. Außerdem glaube ich, dass eine Frau den Strapazen dieser Expedition einfach nicht gewachsen ist.“ Pullok gab ein ersticktes Lachen von sich, wurde jedoch gleich wieder ernst und sagte mit gefährlich leiser Stimme: „Deine Argumente sind so lachhaft, dass es einem nicht schwerfällt, sie in der Luft zu zerreißen. Eure männliche Begierde dürfte einen argen Dämpfer erhalten, wenn ihr eure Astronautenkost verdrückt, sie enthält nämlich ein Libido hemmendes Medikament. Außerdem ist Julia Winter als Ärztin bestimmt nicht prüde und weiß, worauf sie sich einlässt. Dein drittes Argument ist allerdings köstlich, denn es hat mir gezeigt, dass du von den wahren Stärken der Frauen keine Ahnung hast. Nach deinem Machoverständnis haben Frauen wohl nur etwas an Heim und Herd zu suchen. Frauen, mein Lieber, sind psychisch wesentlich stabiler, deutlich leidensfähiger und gehen weniger Risiken ein als Männer. Wenn wir nur genug technisch versierte Frauen hätten, würden wir eine reine Frauenmannschaft zum Mars schicken, denn die hätten eine deutlich bessere Überlebenschance.“ Erik fühlte, wie die Wut wieder in ihm hochstieg. „Na dann stell doch bitteschön eine reine Frauenmannschaft zusammen!”, rief er mit überkippender Stimme, „aber ich wette, wenn sie so risikoscheu sind, wie du behauptet hast, werden sie auf dein Angebot pfeifen! Im Übrigen – was würdest du sagen, wenn ich dich vor die Wahl stellen würde, entweder auf die Ärztin oder auf mich zu verzichten? Wie würdest du dich dann entscheiden?“

Pullok schüttelte in gespieltem Bedauern den Kopf. „Eine leere Drohung, Erik, halte mich nicht für dümmer, als ich bin. Ich weiß, du würdest sonst was anstellen, um bei diesem Raumflug dabei zu sein, eine Julia Winter ist für dich kein Hinderungsgrund. Ich kenne deinen Ehrgeiz und die Sehnsucht, die dich in den Raum zieht. Wie gern würde ich mit dir tauschen! Aber sieh mich an: keine Kondition, massives Übergewicht und dazu noch Diabetes. Die Ärzte würden mich zu ihren verdammten Gesundheitschecks nicht einmal einladen. So bin ich also an diesen verfluchten Drehstuhl in meinem Büro gefesselt und muss von hier aus versuchen, mein Bestes für die Mission zu geben. Nun gut, das ist wohl mein Schicksal, doch dir will ich einen Vorschlag zur Güte machen. Lerne Julia Winter erst einmal persönlich kennen, beobachte sie, studiere sie und wenn du dann immer noch Zweifel hast, ob sie in eure Crew passt, können wir immer noch einmal miteinander reden.“

„Ein fairer und akzeptabler Vorschlag“, brummte Erik und gab Pullok, der sich erhoben hatte, die Hand. „Was ich noch gerne wissen wollte: Weshalb fliegt sie eigentlich mit, welchen Grund könnte sie haben, ein solches Risiko einzugehen?“ Pullok wand sich, gab sich jedoch einen Ruck und erklärte: „Die Psychologen haben bei ihr einen ausgewachsenen Vaterkomplex festgestellt. Sie bewundert und liebt ihren Vater abgöttisch, der vor 5 Jahren den Nobelpreis für Medizin erhalten hat. Offenbar will sie sich ihm als ebenbürtig erweisen. Falls sie allerdings von ihrem Marsabenteuer zurückkehren sollte, wird sie ihn sicherlich an Berühmtheit übertreffen.“ „Hm, ich verstehe“, sagte Erik leise, obwohl er es nicht verstand, und marschierte gedankenversunken aus Pulloks Büro.

Die Sekretärin im Vorzimmer sah Erik erstaunt nach, wie er mit langsamen Schritten, scheinbar nichts um sich wahrnehmend, an ihr vorüberging. Dieser Mann wirkte auf sie wie verwandelt und hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem aufgescheuchten Irren, der vor einer guten halben Stunde ins Zimmer ihres Chefs gestürmt war.

Nachdem er den quadratischen Gebäudekomplex des Kontrollzentrums verlassen hatte, ging Erik wie ein Schlafwandler zu seinem Quartier hinüber. Die Unterkünfte der Astronauten befanden sich lediglich 100 Meter vom Kontrollzentrum entfernt, in ebenerdigen, schmucklosen Plattenbauten. Sie umschlossen das Kontrollzentrum von drei Seiten, während zur vierten Seite hin, in circa 400 Meter Entfernung, ein gewaltiger Rundbau, der an ein riesiges Silo erinnerte, in den Himmel ragte. Dies war das Trainingszentrum für die Astronauten, mit den Beschleunigungskarussellen, dem Unterwasserbecken als Übungsbecken für die Schwerelosigkeit und den Flugsimulatoren für die Space-Shuttles und nun auch für die PROMETHEUS. Auf dem Weg zu seinem Quartier ging Erik das Gespräch mit Pullok nicht aus dem Sinn.

Besonders erbost war er über die Äußerung des Missionschefs, er habe keine Ahnung von Frauen und er verhalte sich wie ein typischer Macho. Dabei hatte er, obwohl unverheiratet, durchaus Erfahrungen mit allen möglichen Frauen gesammelt. Zugegeben, sie hatten es ihm leicht gemacht, ihn als Test- und Shuttlepilot angehimmelt und vermutlich hatte ihn das ein wenig stolz und überheblich gemacht, doch als Macho empfand er sich nicht. Allerdings waren seine Beziehungen zu Frauen immer sehr flüchtig gewesen, sie gingen wohl niemals tiefer als bis ans Ende einer Vagina, musste er einräumen. Doch dies war nicht seine Schuld, denn schon von Berufs wegen führte er ein ruheloses Leben und nichts hielt ihn für längere Zeit an einem Ort. Wie sollte man unter diesen Umständen eine vertrauensvolle, tiefere Beziehung aufbauen?

Aber alle diese Überlegungen, die er zu seiner Beruhigung und zur Herstellung seines inneren Gleichgewichts anstellte, konnten nicht verhindern, dass die Worte Pulloks weiter an ihm nagten. Und plötzlich glaubte er, eine gemeine Stimme in seinem Kopf zu hören, die höhnisch fragte: „Na, du Held, wenn du schon meinst, so fabelhaft mit Frauen umgehen zu können, weshalb vermag dich dann eine Julia Winter so auf die Palme zu bringen?“ „Das kommt von meiner Überzeugung, dass eine Frau bei einer derart gefährlichen Expedition nichts zu suchen hat“, wies er die Flüsterstimme barsch zurecht. Doch diese ließ sich nicht einschüchtern, sondern fuhr hämisch fort: „Vielleicht liegt es daran, dass sie keines deiner Betthäschen ist, die du nach Herzenslust herumkommandieren konntest. Jetzt triffst du endlich einmal auf eine Frau, die auf gleicher Augenhöhe mit dir ist, und ich bin schon ganz gespannt, welche Figur DU dabei abgeben wirst.“

Mit Schrecken musste Erik feststellen, dass sein vorlautes, widerspenstiges ICH nicht so unrecht hatte. Diese Frau konnte ihm gefährlich werden, sie hatte sogar die Macht, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Eine eisige Woge schien ihn zu streifen, als ihm eine Zeile aus dem Missionsprotokoll wieder einfiel. Danach hatte der Psychologe, in dem Fall die Psychologin der Crew, das Recht, den Kommandanten abzusetzen, falls sie eine psychische Erkrankung bei ihm feststellen sollte. Sie musste dazu nur noch das Kontrollzentrum auf der Erde kontaktieren und er wäre seinen Job als Kommandant los. Der Russe Gregori Danilov würde ihn dann ersetzen; ein ungeheurer Affront, fand Erik, und zwar nicht nur ihm gegenüber, sondern gegenüber der ganzen amerikanischen Nation. Sofort beschloss er, seine Psychotests ausschließlich bei Louis Vargas zu absolvieren, denn den kannte er bereits und er hatte den Eindruck, dass der Brasilianer es mit der Psychologie nicht so genau nahm. Er stellte sich vor, wie er bei Louis in lockerer Atmosphäre – z. B. bei einem Glas Bier – die psychologischen Fragebögen ausfüllen würde. Danach könnten sie sich gegenseitig versichern, dass sie völlig normal seien.

Rechtzeitig fiel ihm allerdings ein, im Weltraum würde es kein Bier geben, nur diese unsäglichen Nahrungsmittel in Tuben. Er beglückwünschte die Missionsleitung zu ihrer weisen Voraussicht, alle Qualifikationen der Crewmitglieder doppelt besetzt zu haben, sodass sie sich gegenseitig ersetzen konnten. Louis Vargas, der Astronom und Planetologe, hatte zusätzlich Philosophie und Psychologie studiert, sodass er Julia Winter bei ihren psychologischen Tests ersetzen konnte. Diese wiederum war nicht nur Ärztin, sondern auch eine passable Biologin und konnte die wichtigste Aufgabe der Marsmission, nämlich die Suche nach primitivem Leben auf dem Planeten, fortsetzen, falls Han Li etwas zustoßen sollte.

Umgekehrt konnte Han Li, der gleichzeitig Arzt war, Julia Winter in dieser Funktion ersetzen. Er selbst war in der Lage, die Aufgaben von Gregori Danilov zu übernehmen, was natürlich auch umgekehrt galt. Schließlich konnte Erik darüber hinaus zur Not noch die Aufgaben von Louis Vargas übernehmen, da er Astronomie und Geologie studiert hatte. Und jeder von ihnen, also alle fünf Astronauten, waren darin unterwiesen worden, die PROMETHEUS und den Mars-Lander zu steuern, sodass selbst, wenn alle Stricke reißen sollten, ein einzelner Überlebender vom Mars zurückkehren konnte. Daran mochte Erik allerdings gar nicht denken, obwohl die Einsatzleitung diese allerletzte Möglichkeit mit sichtlichem Stolz verkündet hatte.

Das Schnarren seiner Armbanduhr ließ Erik von seiner Liege in der ISS hochfahren. Er hatte die Uhr gestellt, um sich vor der letzten Einsatzbesprechung vor Abflug der PROMETHEUS noch etwa frisch zu machen, falls er einschlafen sollte. So aber hatte er nur gedöst und sein Geist hatte in der Vergangenheit verweilt. Laut seiner Digitalanzeige blieb ihm noch eine gute Stunde bis zur letzten Einsatzbesprechung. Er fühlte sich zwar etwas abgespannt, doch nicht so müde, dass er einzuschlafen drohte. Deswegen blieb er liegen, genoss die Schwerelosigkeit und sträubte sich nicht, als seine Erinnerungen ihn wieder in die Vergangenheit zogen, damals, als er Julia Winter zum ersten Mal begegnete.

Er traf die Deutsche zum ersten Mal im Casino des Astronautentrainings-lagers in Houston, einen Tag nach seinem Gespräch mit Pullok. Da das Training für die Besatzung der PROMETHEUS tags darauf beginnen sollte, war er nicht überrascht, sie beim Mittagessen im Casino anzutreffen. Schon eher überrascht war er, als er Gregori in einer Ecke des Raumes beim Schachspiel entdeckte. Der Russe hatte nämlich die Angewohnheit, erst auf den letzten Drücker zu erscheinen. Von Louis Vargas und Han Li fehlte noch jede Spur. Erik war sich für einen Augenblick unschlüssig, wen von seiner Mannschaft er zuerst begrüßen sollte. Da Julia Winter noch beim Essen war, entschied er sich für Gregori.

Er schlenderte auf die Ecke zu, in der der Russe über seinem Schachspiel brütete, und sagte leise: „Hallo Greg, lässt du dich schon wieder von deinem Schachcomputer zur Schnecke machen?“ Gregori gab einen unwirschen Laut von sich und blickte zornig von seinem Schachbrett hoch. Als er Erik erkannte, verzog sich sein Gesicht zu etwas, was er wohl für ein Grinsen hielt, und brummte: „Ich staune, dass du dich überhaupt schon auf den Beinen halten kannst, bei der ungewohnten Schwerkraft.“ „Wahrscheinlich schaffe ich das besser als du“, griff Erik den flapsigen Ton seines Freundes auf, „schließlich war ich zwei Wochen in Florida beim Schwimmen, ehe ich hierher nach Houston flog. Und du, was hast du so getrieben, seit wir vor 3 Wochen von der ISS gelandet sind?“ „Familie“, antwortete der Russe in einer Art betrübten Stolzes, „ich habe selbstverständlich die ganzen 3 Wochen bei meiner Familie in Petersburg zugebracht. Bewegung im Wasser mag zwar gut sein für geschwächte Muskeln, doch Familienaktivitäten sind da wesentlich effektiver, wenn auch strapaziöser. Na, gestern konnte ich mich dann schließlich hierher nach Houston absetzen, doch morgen werde ich das vermutlich schon wieder bereuen, denn dann beginnt die Schinderei beim Training und das bei unseren schlaffen, vom Weltraum geschädigten Muskeln.“ „Wird schon nicht so schlimm werden, das haben wir ja schon oft überstanden“, meinte Erik tröstend. Dann nickte er mit dem Kopf in Richtung Julia Winter und fragte gedämpft: „Hast du dich schon mit unserer neuen Kollegin bekannt gemacht?“ „Nein, sie hat noch bis vor Kurzem gegessen, da wollte ich nicht stören. Entwickelt einen ganz schönen Appetit, das Mädel, hat das ganze Menü samt Nachtisch weggeputzt“, meinte der Russe. „Geh du schon mal vor, ich komme nach, sobald ich meinen Computer vernichtend geschlagen habe.“ „Das kann dauern“, brummte Erik und machte sich auf den Weg.

Erik ging zögernd auf den Tisch zu, an dem Julia Winter saß. Die junge Frau blätterte in einer Zeitschrift, während sich neben ihr das schmutzige Geschirr stapelte. Die Kantine wurde zur der Zeit nur von wenigen Leuten besucht, doch es kam Erik so vor, als ob alle Anwesenden ihn anstarrten, während er sich der hübschen blonden Frau näherte. Aufatmend kam er vor ihrem Tisch an, räusperte sich und sagte: „Miss Winter, wenn ich mich nicht irre?“ Die junge Frau blickte von ihrer Zeitschrift rasch auf und musterte ihn aus blitzenden blauen Augen, wie man ein störendes Insekt mustert. Als sie das Astronautenembleme auf seiner Uniform bemerkte, wurde ihr Gesichtsaus-druck eine Nuance freundlicher und sie erwiderte: „Erik Barnard, wenn ich mich nicht irre?“

Da haben wir’s, dachte Erik verärgert, kaum angekommen, äfft sie mich nach und macht sich über mich lustig. Aber geschieht mir ganz recht, meine Anrede war auch zu dämlich. In seiner Verlegenheit streckte er ihr die Hand entgegen und stotterte: „Freut, freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Miss Winter.“

Sie stand in einer einzigen fließenden Bewegung auf und reichte ihm die Hand. Die Leichtigkeit, mit der sie sich und ihre atemberaubende Figur bewegte, versetzte ihm einen Stich in der Herzgegend und vor seinem inneren Auge tauchte eine antike Gestalt auf: Aphrodite, wie sie, angeblich schaumgeboren, vor den Gestaden Zyperns dem Meer entstiegen sei. Er konnte nicht anders, er starrte sie unverwandt an und ihm wurde schmerzlich bewusst, dass sie noch viel schöner war als auf ihren Fotos. Als das Ganze peinlich zu werden begann, verzogen sich ihre Lippen zu einem ironischen Lächeln und sie sagte: „Wollen Sie sich nicht setzen?“

Erik gelang es, sich irgendwie in den Stuhl zu zwängen, auf den sie gedeutet hatte. Verzweifelt versuchte er, sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden, und die ersten Worte einer Konversation musste er sich förmlich abringen. „Hatten Sie einen guten Flug?“, begann er. „Der Flug zog sich hin“, erklärte sie bereitwillig. „Ich musste in New York umsteigen und der Anschlussflug hatte Verspätung. Außerdem macht mir die Zeitumstellung zu schaffen.“ Er schwieg, denn außer einem Kopfschütteln und einem Laut des Mitgefühls fiel ihm nichts ein. Als sich die Stille zwischen ihnen unangenehm in die Länge zog, ergriff sie die Initiative. „Ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt – ich meine Ihre Größe. Bisher habe ich nur das Bild in Ihrer Akte zu Gesicht bekommen und da wirkten Sie kleiner als in Natura. Ist es nicht so, dass Raumfahrer eine gewisse Größe nicht überschreiten sollten, schon wegen des Gewichtes und der Enge in den Raumfahrzeugen?“

„Im Allgemeinen stimmt das schon, ich bin mit meinen Eins-neunzig eigentlich zu groß für einen Raumfahrer, doch bei meiner Einstellung hat man eine Ausnahme gemacht“, brummte Erik. „Gilt das auch für die anderen Crewmitglieder?“, wollte sie wissen. „Wo sind sie übrigens, ich hätte sie gerne kennengelernt?“ „Die anderen sind eher mittelgroß, bis auf Han Li, der klein und zierlich sein soll. Louis Vargas und Han Li sind noch nicht eingetroffen, aber Gregori Danilov kann ich Ihnen zeigen. Er sitzt dort drüben in der Ecke und spielt Schach.“ Erik drehte sich um und wies auf Danilov.

Die Ärztin blickte interessiert auf den Russen, der jedoch so in sein Schachspiel vertieft war, dass er ihren Blick nicht bemerkte. Ehe sie noch weitere Fragen stellen konnte, betrat Louis Vargas das Casino und zog sofort alle Blicke auf sich. „He, Erik, lass deine Finger von unserer neuen Kollegin!“, rief er über die Tische hinweg und lachte laut über das verdutzte Gesicht seines Kommandanten. Leichtfüßig wie ein Sambatänzer steuerte der Brasilianer auf ihren Tisch zu. Er begrüßte zunächst Julia Winter und meinte galant: „Wenn ich gewusst hätte, dass eine so schöne Frau auf mich wartet, wäre ich selbstverständlich früher gekommen.“ Erik klopfte er zur Begrüßung lediglich kumpelhaft auf die Schulter, während er keinen Blick von der Ärztin ließ. Julia Winter schien Vargas auch zu gefallen, denn sie lächelte gutmütig über seine Scherze, während sie ihn interessiert betrachtete.

Der Brasilianer bot mit seiner athletisch wirkenden Figur, seinen ebenmäßigen, bronzefarbenen Gesichtszügen und seinem schwarzen, leicht gekräuseltem Haar auch keinen schlechten Anblick. Seine dunklen Augen, in denen der Schalk funkelte, sprühten vor Lebensfreude und, wenn er lachte, blitzten seine weißen Zähne gleich einer Perlenkette auf. „Na, wo steckt denn der Rest der Crew?“, wandte er sich an Erik, nachdem er die Ärztin so lange angestarrt hatte, bis diese errötend den Blick gesenkt hatte. „Danilov sitzt dort drüben und versucht, seinen Schachcomputer auszutricksen, und Han Li ist bis jetzt noch nicht aufgetaucht“, erwiderte Erik leicht irritiert.

In dem Moment, als der Brasilianer in die Richtung blickte, in die Erik gedeutet hatte, kippte der Russe frustriert seinen König um und verstaute seine Schachfiguren. Danach stand er auf und kam langsam, scheinbar immer noch über sein verlorenes Spiel grübelnd, auf ihren Tisch zu. Als er die Gruppe erreicht hatte, schien er beim Anblick von Julia Winter etwas aufzuwachen. Er rang sich bei der Begrüßung der Ärztin ein „Hallo“ ab und schüttelte Vargas wortlos die Hand. Danach setzte er sich unaufgefordert neben die Ärztin, stützte den Kopf in die Hände und grübelte vor sich hin. Die Ärztin betrachtete den Russen mit hochgezogenen Augenbrauen, deutete dann, zu Vargas gewandt, einladend auf die noch freien Plätze am Tisch, worauf auch dieser Platz nahm.

Julia Winter betrachtete die drei Männer neben sich mit den Augen der Psychologin. Gregori, der Russe, schien, ganz im Gegensatz zu dem Brasilianer, ein ziemlich introvertierter Typ zu sein. Wie er dasaß, das grobknochige Gesicht mit der Hakennase gänzlich unbewegt, da musste sie unwillkürlich an die titanischen Kunstfiguren der Stalin-Ära denken. Sein militärisch kurzer Bürstenhaarschnitt betonte die strengen Gesichtszüge noch und sein Körper, obwohl er nicht größer als der Brasilianer war, wirkte noch massiger und athletischer. Dieser Mann war vermutlich ein mit Eigensinn und Willensstärke ausgestattetes Kraftpaket.

Erik Barnards Anblick löste in der Ärztin widerstreitende Gefühle aus. Er war gut 15 Zentimeter größer als die beiden anderen und von eher schlanker Statur. Sein dunkelblondes Haar umrahmte ein Gesicht, das eher zu einem Künstler als zum Kommandanten eines Raumschiffs passte. Doch die sensible Mundpartie wurde konterkariert durch eine raubvogelartige Nase und kalt blickende Augen, die auf Willensstärke und Intelligenz hindeuteten. Im Augenblick wirkten seine Gesichtszüge allerdings angespannt, so, als ob ihm irgendetwas Sorgen machte.

Da die Ärztin ihre Kollegen musterte und Gregori, finster wie eine Gewitterwolke, vor sich hin brütete, herrschte am Tisch eine angespannte Stille.

Alle schienen erleichtert, als der Bann durch das Erscheinen von Han Li gebrochen wurde. Der Asiate betrat zögernd den Raum und sah sich suchend um. Dabei erinnerten die großen, leicht mandelförmigen Augen hinter einer schmalen Nickelbrille an die einer Eule. Han Li war höchstens einen Meter sechzig groß und von zierlicher Gestalt. Zudem schienen seine Arme und Beine, gemessen an seiner Körpergröße, etwas zu kurz geraten zu sein. Louis flüsterte Erik zu: „Ach herrje, diese halbe Portion übersteht doch nicht einmal den 1. Tag unseres Astronautentrainings.“ Erik erwiderte leise: „Täusche dich nicht, Asiaten sind oft zäher, als sie aussehen. Außerdem hätten ihn die Mediziner nie zum Training zugelassen, wenn er nicht fit und kerngesund wäre.“ Han Li hatte sie schließlich entdeckt und eilte, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen, auf ihren Tisch zu. Dort angekommen, verbeugte er sich, schüttelte jedem die Hand und piepste: „Freut mich sehr, Sie alle endlich kennenzulernen.“ Dabei schien ein höfliches Lächeln für alle Zeit auf seinem Gesicht festgefroren zu sein. Nachdem er glaubte, der Konvention der Begrüßung Genüge getan zu haben, setzte er sich und sah alle erwartungsvoll an. Louis ergriff als Erster das Wort: „Tja, nachdem wir nun vollzählig sind, ist es, denke ich, an der Zeit, auf gute Zusammenarbeit und das Gelingen unserer Mission anzustoßen.“ Er winkte einen Stuart herbei und bestellte eine Flasche Champagner.

Na toll, dachte Erik, Louis kommt mir wieder einmal zuvor, die Idee hätte eigentlich von mir kommen müssen. Er konnte es sich nicht verkneifen, Louis einen kleinen Seitenhieb zu verpassen, und sagte: „Das finde ich riesig nett von dir, dass du uns zu einem Glas Sekt einlädst.“ „Oh“, meinte der Brasilianer, „das muss ein Missverständnis sein – der Sekt geht natürlich, wie üblich, auf den Leiter der Gruppe, unseren hochverehrten Kommandanten!“ Erik schaute zwar etwas verwundert, wusste jedoch darauf nichts zu erwidern.

Nach dem Sekt lockerte sich die Stimmung merklich auf. Sie unterhielten sich angeregt über ihre Mission sowie über das anstehende Training, wobei sie es tunlichst vermieden, über die Risiken ihres Fluges zum Mars zu diskutieren. Julia Winter wollte vor allem wissen, wie das morgen beginnende Training ablaufen würde. Da Gregori nur einsilbig antwortete, wenn man das Wort an ihn richtete, wandte sie sich mit ihrer Frage an Erik: „Sie haben doch schon oft dieses Trainingsprogramm absolviert, ich würde gerne wissen, was da auf mich zukommt.“ „Die ganze Sache wird schweißtreibend“, begann Erik. „Unser Tagesablauf sieht in etwa so aus: Wecken um 6 Uhr, danach Frühstück, um 7 Uhr beginnt das Training mit Jogging zum Aufwärmen, dann folgt eine Stunde Konditionstraining im Fitnessstudio. Um 10 Uhr wird es dann spannend, denn dann ziehen wir uns die Raumanzüge an und hüpfen ins Wasserbecken. Dort, unter Wasser, das mit seinem Auftrieb die Schwerelosigkeit im Raum simulieren soll, traktiert man uns mit einer Shuttle-Imitation, an der wir allerlei Tests ausführen müssen.“

„Mit Raumanzügen unter Wasser?“, erkundigte sich die Ärztin und erbleichte, „Sie müssen nämlich wissen, ich habe Tauchen nie gemocht. Ich liebe diese dämmrige Tiefe nicht, wo man immer das Gefühl hat, irgendein Ungeheuer könne daraus hervorbrechen.“ „Nun, das Becken ist nur 10 Meter tief und zudem hell ausgeleuchtet, da verstecken sich bestimmt keine Ungeheuer“, versuchte Erik, die junge Frau zu trösten. „Na schön, wie geht es weiter?“, erkundigte diese sich tapfer. „Nach dem Mittagessen, so gegen ein Uhr, stehen Übungen am Flugsimulator auf dem Programm. Das Innere des Simulators entspricht dabei haargenau unserem Mannschaftsmodul auf der PROMETHEUS, mit der wir hoffentlich in etwa einem Jahr unterwegs zum Mars sein werden. Gegen 4 Uhr nachmittags wird es dann nochmals turbulent. Wir werden ins Beschleunigungskarussell gesetzt und nach und nach bis auf 7 g beschleunigt. Gregori hat allerdings schon 10 g für kurze Zeit ausgehalten. Ich kann Ihnen versichern, man fühlt sich dabei wie ein breitgetretener Fisch auf dem Trockenen! Wenig später dürfen Sie in der Unterdruckkammer bei minimalem Sauerstoffpartialdruck verzwickte Rechenaufgaben lösen. Damit will man ihre Konzentration bei Sauerstoffmangel testen. Danach … “ „Danach – ist hoffentlich Schluss“, stöhnte Vargas, „der Mensch muss schließlich einmal ausruhen und was essen.“ Gregori Danilov blickte den Brasilianer mitleidig an und verzog verächtlich den Mund. „Beinahe Schluss, Louis“, fuhr Erik ungerührt fort, „denn nach der Unterdruckkammer folgt nur noch das abendliche Jogging und ein kurzer Check beim Arzt, der dir mitteilt, ob du den Tag ohne größere Blessuren überstanden hast.“ „Das ist ja ein Horrorszenario!“, rief Louis aufgebracht. „Wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich mich zu diesem Marsabenteuer erst gar nicht gemeldet.“ In diesem Augenblick ergriff Han Li das Wort und gab Erstaunliches von sich. Mit gefalteten Händen sagte er andächtig: „Ein sehr, sehr gutes und ausgewogenes Trainingsprogramm, ich kann es gar nicht erwarten, morgen damit zu beginnen!“ Die anderen vier sahen ihn entgeistert an.

Der 1. Tag des Astronautentrainings lief für Erik nicht so ab, wie er sich das vorgestellt hatte. Das fing schon am frühen Morgen beim Joggen an. Han Li spurtete los, als wolle er unbedingt den Landesrekord über 10 Kilometer brechen. Natürlich ließen sich die anderen mitreißen, denn sie konnten einfach nicht glauben, dass Li mit seinen kurzen Füßen dieses mörderische Tempo lange durchhalten würde. Mit ihren geschwächten Muskeln vom kürzlichen Aufenthalt auf der ISS fielen zunächst Gregori und Erik zurück. Danach mussten auch Louis und Julia einsehen, dass das Tempo von Han für sie zu schnell war, und Han entschwand ihren Augen. Als Gregori und Erik schließlich schwer atmend als Letzte durchs Ziel liefen, fanden sie einen putzmunteren Han vor, der Lockerungsübungen machte. „Das gibt es doch gar nicht, dass uns diese halbe Portion so aus den Schuhen läuft“, keuchte Gregori. „Du vergisst, dass für unsere drei Leidensgenossen die Erdschwere, im Gegensatz zu uns, etwas ganz Normales ist“, stöhnte Erik. „Aber warte nur ab, unsere Zeit kommt noch!“

Zunächst kam jedoch die Plackerei im Fitnessstudio, und das fiel den beiden auch nicht leichter als das Laufen. Manchmal scheint es im Leben allerdings einen gerechten Ausgleich zu geben, denn beim Tauchgang im Raumanzug waren Gregori und Erik nicht zu schlagen. Nachdem die künftigen Raumfahrer die Sache hinter sich gebracht hatten, sagte Louis giftig zur bleichen Ärztin: „Kunststück, die beiden haben das ja schon bis zum Erbrechen geübt!“ Der Russe und der Amerikaner durften nämlich als Erste zeigen, was sie bei der simulierten Schwerelosigkeit alles draufhatten. Als schließlich die Ärztin an die Reihe kam, rief der Übungsleiter schon sehr bald: „Um Gottes willen, zieht sie hoch, bevor sie uns noch ersäuft!“

Julia Winter war ganz geknickt wegen ihrer Tollpatschigkeit, sodass die anderen sie zu trösten versuchten. „Kopf hoch, das wird schon mit der Zeit, man kann nicht überall erstklassig sein“, meinten sie unisono. Bei den Übungen am Flugsimulator waren der Amerikaner und der Russe als ausgebildete Shuttle-Piloten gegenüber den anderen wiederum im Vorteil. Erik wunderte sich allerdings, wie schnell auch die anderen drei dazulernten. Das war wohl der Tatsache geschuldet, dass auch sie alle einen Pilotenschein besaßen. Die schlimmste Schikane an diesem Tag war jedoch der Beschleunigungstest im Karussell. Erik hielt vor dem Test eine aufmunternde Ansprache an seine drei Neulinge. „Wenn man das Siebenfache seines Normalgewichts wiegt, fühlt man sich wie eine Flunder und man schafft es nicht einmal mehr, seine Hand schnell zu heben. Also atmet ruhig und geratet nicht in Panik, wenn ihr glaubt, der Kopf zerspringt euch, und das Herz wie eine überdimensionale Ölpumpe in euren Ohren dröhnt.“

Nach dem Test atmeten alle erleichtert auf, nur Han torkelte zum Klo und erbrach sich ausgiebig. Der Konzentrationstest in der Unterdruckkammer wurde ein Fiasko für die Männer, denn ausgerechnet die einzige Frau unter ihnen schlug sie um Längen. Das war auch ein schwerer Schlag für Eriks Selbstbewusstsein, denn bisher war immer er der beste Proband gewesen. „Frauen brauchen für ihre Hirntätigkeit eben weniger Sauerstoff, das haben wir Russen schon vor Jahren festgestellt“, knurrte Gregori.

Am Anfang stöhnten die fünf Menschen, die sich die Eroberung des Mars’ in den Kopf gesetzt hatten, unter den Anforderungen des Astronautentrainings, doch mit der Zeit gewöhnten sich ihre Körper an die Strapazen. Nach einigen Wochen wurde das körperliche Training reduziert, dafür wurde das wissenschaftliche Programm, das für die Erforschung des Planeten dienen sollte, intensiviert. So sollte Vargas den Mars mineralogisch untersuchen und sein Klima erkunden. Han Lis Aufgabe war es, nach primitivem Leben zu suchen. Die Ärztin sollte Studien über die Wirkung langer Schwerelosigkeit auf den menschlichen Organismus beisteuern und erforschen, was für Schäden die harte Gammastrahlung des Weltraums den Menschen zufügen konnte.

Danilov war sowohl für die Wartung der Technik in der PROMETHEUS als auch im Mars-Lander zuständig. Außerdem sollte er den Zusammenbau des Mars-Habitats leiten. Die Bauteile dafür, sowie genügend Vorräte an Luft, Nahrung und Ersatzteile für ihren 18 Monate dauernden Aufenthalt auf dem Planeten, waren schon 1 Jahr vor ihrer geplanten Landung mit unbemannten Lastraketen zum Planten befördert worden. Und Erik? Nun, der hatte die Aufgabe, alle Vorhaben zu koordinieren und zu überwachen.

Nachdem Erik mit seiner Crew 6 Monate im Trainingszentrum in Houston geschuftet hatte, erreichte sie eine freudige Nachricht. Zwei unbemannte Frachtschiffe hatten den Mars erreicht und ihre Ladung an Vorräten und Ausrüstung für die kommende Marsmission sicher an Fallschirmen zu Boden gebracht. Die zur Erde gefunkten Bilder sowie die in der Fracht befindlichen Sensoren zeigten, dass offenbar alles heil unten angekommen war. Pullok war so begeistert, dass er die künftige Crew der PROMETHEUS sowie seinen gesamten Stab zu einer kleinen Feier einlud. Er konnte es sich nicht verkneifen, eine kurze Rede zu halten, in der er freudestrahlend verkündete, dass man mit dem heutigen Tag der Eroberung des Mars’ einen gewaltigen Schritt näher gekommen sei.

Kaum hatte Pullok seine pathetische Ansprache beendet, stürmte man das Buffet und auch an „geistigen Getränken“ wurde nicht gespart. Erik saß neben Pullok, der begeistert ein Glas Rotwein nach dem anderen trank, bis seine Augen glasig und seine Zunge schwer wurden. Da wurde der Missionschef sentimental, umarmte mit seinen gewaltigen Armen den verdatterten Kommandanten und nuschelte: „Weißt du, Erik, du bist ja mein bester Mann und infolge der mentalen Konditionierung, die man dir verpasst hat, ja sozusagen mein verstecktes Ass im Ärmel! Dir kann ich es anvertrauen: Vorhin, bei meiner Rede, habe ich gelogen. Ich glaube nicht daran, dass alles in Butter ist, dass alle vorausgeschickten Gegenstände, die ihr für euren 18 Monate dauernden Aufenthalt braucht, heil geblieben sind. Dagegen spricht die Wahrscheinlichkeit. Also bitte ich dich nur um eines: Gehe kein Risiko ein, versäume um Himmels willen nicht das Startfenster zur Rückkehr vom Mars. Du weißt, wenn ihr innerhalb einer Woche nach Ankunft wieder startet, schafft ihr die ständig größer werdende Distanz zur Erde so gerade noch. Ich pfeife auf die Erforschung des ‚Roten Planeten‘, wenn es euch das Leben kostet. Ihr seid wie meine Familie und wenn ihr nicht zurückkehrt, erschieße ich mich, bei Gott, ich hänge mich auf oder nehme Gift!“, rief er mit überkippender Stimme und eine einsame Träne rollte über sein Gesicht.

Erik war die Entgleisung Pulloks in aller Öffentlichkeit äußerst peinlich und er sagte mit Nachdruck: „Nein, ich werde nichts vergessen, wir kehren zurück, Ernest, ganz sicher. Willst du dich nicht etwas ausruhen? Die Ansprache, das Fest, der ganze Rummel, das kann schon an die Nieren gehen.“ „Ausruhen, niemals!“, begehrte Pullok lautstark auf und kippte vor Empörung beinahe vom Stuhl.

„Ein Missionschef ist immer im Dienst, Urlaub gibt es nicht und ausruhen werde ich mich erst dann wieder, wenn ihr heil zurück seid!“ Endlich wurden zwei seiner Adjutanten auf die prekäre Verfassung ihres Chefs aufmerksam. Sie kümmerten sich um ihn, redeten begütigend auf ihn ein und erteilten ihm Ratschläge. Daraufhin wurde Pullok noch renitenter und wütender. Deshalb hakten sie ihn einfach unter und schleppten ihn aus dem Saal.

Erik verstand Pulloks Besorgnis, was ihr Marsabenteuer betraf, denn auch ihn plagten häufig vor dem Einschlafen Horrorvisionen. Da tummelten sich in seiner Fantasie Solarstürme und Meteoriteneinschläge auf ihrer Reise durch den Weltraum und was auf dem Mars selbst alles passieren konnte, daran wagte er noch nicht einmal zu denken. Kurz erwog er, die Feier einfach zu verlassen, denn der unrühmliche Abgang Pulloks hatte ihn seines Gesprächspartners beraubt. Anderseits hatte er, eben wegen seiner häufigen Albträume, wenig Lust, schon schlafen zu gehen. Als er sich unschlüssig umsah, bemerkte er, dass Julia Winter im Augenblick nicht von Männern umschwärmt wurde, und so schlenderte er zu ihr. Sie empfing ihn mit den Worten: „Ah, guten Abend, Erik, war das nicht Pullok, den man gerade aus dem Saal geführt hat? Es ist hoffentlich nichts Ernstes?“ „Nein, das Übliche, vermutlich Überarbeitung und zu viel Rotwein“, antwortete Erik ausweichend. „Na, dann bin ich beruhigt“, meinte die Ärztin. „Ich wundere mich nur, Sie so fit auf den Beinen zu sehen, haben Sie bei dem Saufgelage nicht mitgehalten?“ Es ist immer wieder erstaunlich, wie es ihr gelingt, mich in die Defensive zu drängen, dachte Erik irritiert. Dieses Mal würde er jedoch nicht mitspielen. „Ich mache mir nicht viel aus Alkohol – wenn es das ist, was Sie wissen wollten. Und Pullok ist auch kein Säufer, nur der Druck, ein so gefährliches Unternehmen zu leiten, macht ihn fertig. Im Übrigen sollten auch Sie sich langsam darüber klar werden, an welchem Himmelfahrtskommando Sie teilnehmen. Ich habe Mühe, Sie zu verstehen. Sie sind jung, Sie sind hübsch, haben eine gute Karriere als Ärztin vor sich und die Männer reißen sich um Sie. Also, warum haben Sie sich gerade eine Reise zum Mars in den Kopf gesetzt?“ „Kommen Sie mir jetzt mit dem typischen Klischee, das immer noch 90 Prozent der Männer vertreten, nämlich: Heirat, Kinder und Haushalt ist das Beste für den überwiegenden Teil der Frauen?“, erwiderte die Ärztin kalt, „doch da muss ich Sie enttäuschen, mein Lieber, es gibt noch mehr im Leben! Sie rätseln über meine Motive für den Flug zum Mars? Na gut, ich will sie Ihnen verraten.“ Aha, jetzt kommt ihr Vater ins Spiel, dachte er, doch zu seiner Verblüffung folgte eine ganz andere Erklärung. „Als Ärztin bin ich an allem interessiert, was mit dem Leben zusammenhängt“, fuhr Julia fort.

„Die Evolution und die Entwicklung des Lebens auf der Erde hat mich schon immer fasziniert. In der Paläontologie, die mein bevorzugtes Hobby ist, kann man verfolgen, wie sich im Verlaufe großer Zeitabschnitte Arten entwickelt, eine mehr oder minder lange Blütezeit durchlebt haben und wieder untergegangen sind.

Dabei fällt auf, dass sie im Verlaufe ihrer Existenz versucht haben, alle Lebensräume, auch die unwirtlichsten, zu besetzen. Nehmen Sie die Quastenflosser, wenn sie trotz aller Risiken nicht an Land gekrochen wären, gäbe es bis heute keine Landtiere und also auch keine Menschen. Man fragt sich unwillkürlich, was trieb diese Tiere zu solch einer riskanten Verhaltensweise? Offenbar muss es neben dem Trieb, sich zu vermehren, noch einen weiteren mächtigen Trieb geben, der die Lebewesen zwingt, alle ihnen gebotenen Nischen zu besiedeln, und seien sie noch so lebensfeindlich. Auch wir Menschen scheinen diesen Trieb zu besitzen und daher ist es nur folgerichtig, dass wir jetzt den ersten Schritt zur Besiedlung eines fremden Planeten tun. Da haben Sie mein Motiv: Ich will dabei sein, wenn wir diesen Schritt machen, denn auch in mir ist der ‚Wandertrieb‘ mächtig.“

Verblüffung zeichnete sich auf dem Gesicht Eriks ab, denn die Ärztin hatte etwas geschildert, das er selbst nur allzu oft verspürt hatte. Sein ruheloses Leben, es hielt ihn nie lange an einem Ort, immer trieb es ihn Gott weiß wo hin. Stets hatte er es für bloße Neugierde gehalten, doch Julias Erklärung passte besser. Mit aller Macht trieb es ihn in die Ferne und nun vermochte ihn nicht einmal mehr die Erde zu halten. Es zog ihn hinaus ins Weltall! Obwohl diese unerwartete Gemeinsamkeit zwischen ihm und Julia seine Vorbehalte ihr gegenüber dämpften, war seine Skepsis, was Frauen im Weltraum betraf, noch nicht ganz erloschen. Und so hörte er sich sagen: „Wandertrieb, meinen Sie, sei der Grund für Ihr Weltraumabenteuer? Das mag eine Rolle spielen, doch gibt es dafür nicht gewichtigere Gründe? Wie wäre es mit Ruhm und Selbstbestätigung?“ Julia lächelte wehmütig und meinte: „Ruhm ist in unserer schnelllebigen Zeit etwas sehr Vergängliches, Selbstbestätigung, ja das mag eine Rolle spielen, denn wer sucht die nicht?“ „Oder Bestätigung dem Vater gegenüber“, dachte Erik flüchtig und laut sagte er: „Sie erwähnten, dass Tiere, vor allem Herdentiere, einem unbezwingbaren Wandertrieb ausgesetzt sind. Ich muss da immer an die Lemminge denken. Stimmt es, dass sie nicht einmal an den Klippen halt machen, sondern sich hinabstürzen und jämmerlich ersaufen?“ Die Ärztin lachte laut auf. „Sie vergleichen uns offenbar mit diesen Tieren. Auch uns treibt es in gefährliche Regionen, allerdings hoffe ich doch sehr, dass wir nicht blindlings in unser Verderben rennen.“ „Wer weiß das schon?“, murmelte Erik.

Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, denn er musste seine Meinung über Julia Winter revidieren. Ihre Motive bei diesem Raumabenteuer ähnelten den seinen. Wie konnte er da Julia kategorisch infrage stellen? „Was ich Ihnen noch sagen wollte“, begann er zögerlich: „Sie machen sich bei Ihrer Astronautenausbildung erstaunlich gut. Also werde ich meine Meinung Ihnen gegenüber korrigieren und Sie als Crewmitglied akzeptieren.“ Julia Winter strahlte, als habe er ihr das schönste Kompliment gemacht. „Heißt das, Sie mindern Ihre Vorbehalte, was Frauen im Weltall betrifft?“

Er musste über ihre vorsichtige Ausdrucksweise lächeln. „Ganz recht, ich mindere sie, gebe sie aber nicht völlig auf!“

Ehe sie sich über ihre bessere Beziehung zueinander noch so recht freuen konnten, wurden sie gestört. Gregori und Louis kamen vom Buffet zurück. Der Russe, der seinen Teller bis zum Rand vollgeladen hatte, nahm wortlos links neben der Ärztin Platz und widmete sich sofort seiner Mahlzeit. Louis stand mit seinem Teller etwas unschlüssig herum und blickte mit gerunzelter Stirn auf Erik. Der bemerkte, dass er den Stuhl des Brasilianers in Beschlag genommen hatte, dachte jedoch nicht daran, aufzustehen. Er wollte sehen, wie Louis es anstellen würde, seinen Kommandanten vom Stuhl zu jagen. Der Brasilianer löste das Problem auf seine unnachahmliche lockere und charmante Art. „Wenn du mir mein Besteck herüberreichst, kann ich im Stehen weiteressen“, meinte er lächelnd. Erik tat erstaunt. „Ach, ich sitze auf deinem Platz, das tut mir leid. Ich hatte nicht vor, dich von der Seite unserer schönen Astronautin zu vertreiben, bitte sehr!“ Und er erhob sich. Natürlich hätte er sich auf die andere Seite des Tisches setzen können, doch er zog es vor, in sein Quartier zu gehen. So wünschte er den drei anderen noch einen schönen Abend und verließ das Casino.

Nie und nimmer hätte er sich eingestanden, dass er nur deshalb das Fest verließ, weil er nicht mit ansehen wollte, wie Louis Julia den Hof machte. Die Situation bestätigte ja geradezu seine Vorbehalte, was Frauen in einer Mannschaft mit Männern betraf: Sie schafften es immer wieder, Zwietracht zu säen. Dass Louis versuchte, heftig mit Julia zu flirten, war ja noch verständlich, Brasilianer fanden sich von Haus aus für unwiderstehlich; dass aber der introvertierte Russe der künftigen Astronautin kaum von der Seite wich und ihr, wie ein Sklave, den schweren Raumanzug nachschleppte, befremdete Erik doch sehr. Und selbst der kleine Chinese zog die Gesellschaft der Ärztin allen anderen Crewmitgliedern vor, wenn auch aus rein beruflichen Gründen, wie er immer wieder betonte.

Als Erik in die Nacht hinaustrat, empfingen ihn eine überraschend milde Luft und ein wolkenloser Himmel. Er atmete tief durch und begann, nach bekannten Sternbildern zu suchen. Das Frühjahrs-Dreieck war bereits untergegangen, doch das Sommer-Dreieck stand noch hoch am Himmel. Sein Blick glitt die Ekliptik entlang und dann hatte er gefunden, wonach er suchte: Er betrachtete das gelbrote Pünktchen, das nahe dem Stern Antares im Sternbild Skorpion stand, mit ergriffener Ehrfurcht. Da war er: der Mars, ihr fernes Ziel! Würden sie je den Fuß auf ihn setzen? Oder war alles nur ein flüchtiger, schöner Traum? In dieser stillen, wunderbaren Nacht besiegte er alle seine Zweifel und eine nie gekannte Zuversicht erfüllte ihn mit einem Mal.

Ja, dachte er entschlossen, wir werden dich trotz aller Hindernisse erreichen, ob dir das als antiker Kriegsgott nun passt oder nicht! In dieser Nacht plagten ihn keine Albträume und er schlief tief und fest bis zum nächsten Morgen.

Endlich war es so weit: Der Bau der PROMETHEUS im Erdorbit war abgeschlossen und auch die Ausbildung ihrer zukünftigen Besatzung ging ihrem Ende entgegen. Erik hatte den Zeitplan für die Marsmission von Pullok erhalten und mit seiner Mannschaft besprochen. Danach war vorgesehen, dass die fünf Astronauten Ende Dezember zur ISS fliegen würden, um sich dort 4 Wochen lang an die Schwerlosigkeit zu gewöhnen. Während dieser Zeit konnten sie die PROMETHEUS gründlich testen, sodass Ende Januar der Flug zum Mars starten konnte. Der Flug selbst würde etwa 4 Monate dauern.

Das Raumschiff sollte dabei den Planeten exakt zum Zeitpunkt seiner Opposition erreichen, also genau dann, wenn der Mars seine geringste Entfernung zur Erde aufwies. Pullok hatte die Ausbildung der Astronauten so geplant, dass sie kurz vor Weihnachten beendet war. Erik und seine Leute machten drei Kreuze und feierten, je nach Glaubensrichtung, ein ungetrübtes Christfest oder ihren gelungenen Abschluss. Erik musste zugeben, Pullok und sein Stab hatten, was die Mannschaft betraf, eine exzellente Auswahl getroffen. Insbesondere die drei Neulinge hatten sich bei der Astronauten-ausbildung bravourös geschlagen, während es für ihn und Gregori lediglich die ermüdende Wiederholung einer längst bekannten Prozedur gewesen war. Jeder der drei Weltraumneulinge vermochte nun die PROMETHEUS im Notfall allein zu steuern. Sie trugen ihre Raumanzüge wie eine zweite Haut und in simulierter Schwerelosigkeit beherrschten sie selbst die komplexesten Bewegungsabläufe. Zum Ausruhen und Feiern ließ ihnen Pullok allerdings wenig Zeit, denn schon eine Woche nach Weihnachten hatte er das Flugzeug bestellt, das sie nach Cape Canaveral bringen würde.

Der Abschied von ihrem Ausbildungscamp fiel ihnen trotz der Strapazen, denen sie dort ausgeliefert gewesen waren, nicht leicht. Dafür gab es vor allem zwei Gründe: Zum einen fühlten sie sich in dem Lager sicher und gut versorgt. Der andere Grund lag wohl an der Fürsorglichkeit und dem Engagement Pulloks, den sie alle schätzen gelernt hatten. Zum Abschied hielt er wieder einmal eine seiner feierlichen Reden. Im Blitzlichtgewitter der Kameras wurde es zu einer sehr emotionalen Rede, von der Pullok selber offenbar am meisten gerührt war. Das hektische Treiben der Reporter und die Sensationsgier der Menschen am Flughafen führten den Astronauten nur allzu deutlich vor Augen, dass diese feierliche Verabschiedung wie eine letzte Segnung von Opfertieren gesehen wurde, ehe man sie zur Schlachtbank führte.

Besonders Erik fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, denn er hasste den ganzen Zirkus, der da um sie gemacht wurde. Er war deshalb sogar mit Pullok in Streit geraten. „Geht es nicht eine Nummer kleiner?“, hatte er gefaucht. Pullok hatte gekränkt geantwortet: „Aber Erik, ich weiß nicht, was du hast, ohne Presse und Fernsehen läuft doch nichts mehr auf unserer medienbesessenen Welt.

Übrigens solltest du dich freuen, die in alle Teile der Welt übertragene Zeremonie steigert doch deine Berühmtheit!“ „Gerade die ist mit zuwider“, hatte Erik geknurrt. „Man kann keinen Schritt mehr tun, ohne dass einem die Medienhyänen auflauern. Das ganze Privatleben ist im Eimer! Und zu allem Überfluss muss ich von dir erfahren, dass wir das Fernsehen noch mit ‚Geschichten aus dem Cockpit der PROMETHEUS‘ beglücken dürfen. Seid Ihr jetzt ganz meschugge geworden? Wir sind doch keine Schauspieler! Ich versuche mir gerade Gregori als publikumswirksamen Weltraumhelden vorzustellen – ein reizender Gedanke!“

Pullok winkte ab: „Gregori kommt gar nicht ins Bild, er wird die Kamera bedienen. Wir haben das alles schon bis ins Kleinste geplant und die Fernsehrechte sind auch schon verkauft. Sie wurden uns förmlich aus den Händen gerissen.“ „Kann ich mir denken“, meinte Erik wütend. „Und uns hat man erst gar nicht gefragt!“ „Wir dachten, ihr wäret begeistert“, entgegnete Pullok unschuldig. „Schließlich wird dadurch eure langweilige Routine an Bord etwas aufgelockert und ihr werdet als angehende Filmstars noch berühmter, als ihr es eh schon seid. Denk doch auch mal an das viele Geld, das uns eure Show einbringen wird. Die NASA musste Milliarden an Krediten aufnehmen, um die Finanzierungslücke für euer Unternehmen zu schließen. Da ist es wohl nicht zu viel verlangt, wenn ihr auch einen kleinen Beitrag leistet.“ „Ich weiß zwar, dass die NASA notorisch klamm ist, aber dass du uns klammheimlich an die Medienhaie verhökert hast, ohne uns vorher auch nur zu fragen, das will mir nicht in den Kopf.“ „Ich teile es dir doch jetzt in aller Form mit und bis es so weit ist, vergehen noch Monate“, entgegnete Pullok erstaunt.

So war der Streit um die Übertragung von Fernsehsendungen noch einige Zeit weitergegangen, bis es Erik zu viel wurde und er Pullok wortlos stehen ließ. Jetzt, unter dem Ansturm der Medien auf dem Flugfeld, kochte die Erinnerung an den Streit in Erik wieder hoch. Er starrte Pullok finster an, der gerade in Anlehnung an Neil Armstrong den Flug zum Mars als einen riesigen Schritt für die Menschheit pries.

Metamorphose auf dem Mars

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