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ОглавлениеKapitel 2
Auf der ISS
Die Verabschiedung der Astronauten auf dem Flughafen von Houston war, was die Medien betraf, allerdings ein Klacks im Verhältnis zu dem, was sie auf Cape Canaveral erwartete. Praktisch jede Fernsehstation, die etwas auf sich hielt, hatte ein Aufnahmeteam vor Ort, als die fünf Astronauten zur ISS starteten. Erik atmete auf, als bei ihrem Shuttle die Türe des Cockpits hinter ihnen einrastete und die Augen der Öffentlichkeit ausschloss.
Seine ärgerliche Anspannung wich, denn was jetzt kam, war ihm vertraut. Bei den drei Raumflugneulingen dagegen nahm sie eher noch zu. Julia wirkte ungewöhnlich bleich, als sie sich mit fahrigen Bewegungen die Gurte ihrer Andrucksliege umschnallte. Auch Louis hatte viel von seiner Fröhlichkeit eingebüßt und musterte mit ernster Miene das Innere des Shuttles. Das Gesicht von Han war zwar wie immer ausdruckslos, doch in seinen Augen blinkte die Angst. Nur Gregori schien für seine Verhältnisse gut gelaunt, als er die Checkliste für den Start durchging. Pullok hatte nämlich ihn und nicht Erik damit beauftragt, das Shuttle zu fliegen. Erik fühlte sich bemüßigt, die drei Neulinge zu beruhigen, und sagte forsch: „Der Flug zur ISS wird ein Katzensprung. Wenn Gregori das Andockmanöver gleich beim ersten Mal gelingt, sind wir in ca. 3 Stunden dort!“
„Ich muss immer an die Shuttle-Katastrophen aus dem vorigen Jahrhundert denken, und jetzt sitze ich selbst in so einem Ding“, meinte die Ärztin gepresst. „Aber, aber, das kann man doch nicht miteinander vergleichen“, gab Erik zu bedenken. „Unser Gefährt ist ein wieder verwendbarer Raumgleiter, der wie ein Flugzeug startet und landet. Wir nennen es nur aus Tradition Shuttle. Es funktioniert viel zuverlässiger, denn es besitzt keine absprengbaren Teile. Glauben Sie mir, hier sind Sie viel sicherer, als wenn Sie sich mit Ihrem Wasserstoff-Auto in den Verkehr von New York stürzen.“ Von Louis kam ein ersticktes Lachen: „Netter Vergleich, nur sitzen wir hier auf mehr flüssigem Wasserstoff, als unsere verehrte Kollegin mit ihrem Minicar in ihrem ganzen Leben verbrauchen kann.“ „Exakt 110 Tonnen“, ließ sich Han mit piepsiger Stimme vernehmen. „Schluss mit dem Gequassel!“, rief Gregori. „Wir haben grünes Licht von der Bodenstation, es geht los!“
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass alle gut festgeschnallt waren, startete er die Triebwerke. Ein gedämpftes Brausen drang in die Kabine und der Gleiter begann sanft zu vibrieren. Gregori blickte kurz auf Erik, der neben ihm im Copiloten-Sessel saß, und als dieser nickte, schob er den Hebel für die Raketentriebwerke leicht nach vorne. Das Ergebnis der vergleichsweise winzigen Bewegung war frappierend.
Die Triebwerke heulten auf und die Insassen des Shuttles wurden durch die rasante Beschleunigung in ihre Sitze gepresst. Die Lichter der Startbahn glitten immer schneller vorbei, wurden schließlich zu einer grellgelben Linie – und die Maschine hob ab. Sie durchstieß in einem irrwitzigen Steigflug die niedrig hängenden Wolken und verschwand aus den Augen der gaffenden Zuschauer. Die vielen Leute, die den Start des Shuttles verfolgt hatten, wollten sich schon wegen der Kürze des Schauspiels enttäuscht abwenden, als sie ein lauter Knall zusammenzucken ließ. Das Shuttle hatte die Schallmauer durchbrochen.
Im Inneren des Gleiters wurde es für die Insassen langsam ungemütlich. Nach dem Durchbrechen der Schallmauer hatte Gregori die Nase des Shuttles senkrecht nach oben gerichtet und auf vollen Schub geschaltet. Wie ein Geschoss raste der Gleiter in den Himmel, während seine Besatzung unter der Beschleunigung von 6 g ächzte. Zum Glück währte der mörderische Andruck nur einige Minuten. Den Astronauten wurde dabei der Brustkorb zusammengeschnürt und ihr Herz dröhnte in ihren Ohren wie ein Dampfhammer und vermochte dennoch ihr sirupartiges Blut kaum durch die Adern zu treiben. Dann erreichte der Gleiter die vorgesehene Geschwindigkeit, die ihn in einer Parabel zur ISS tragen würde, und Gregori schaltete die Triebwerke ab.
Die Neulinge unter Eriks Kommando seufzten erleichtert auf, um gleich darauf festzustellen, dass die plötzliche Schwerelosigkeit auch so ihre Tücken hatte. Auf die besorgte Frage Eriks: „Na, wie geht’s, sind alle wohlauf?“, entgegnete Louis stöhnend: „Der Druck ist Gott sei Dank weg, doch jetzt ist mir speiübel und ich habe das Gefühl, kopfüber zu Teufels Großmutter zu stürzen.“ Erik lachte und meinte: „Ja, die Schwerelosigkeit, simuliert im Wasserbecken, oder sie tatsächlich im freien Fall zu erleben, macht schon einen gewaltigen Unterschied. Aber tröste dich, Louis, mit der Zeit gewöhnt man sich daran und das Gefühl ständigen Fallens verschwindet allmählich.“ „Eine simple Störung unseres Gleichgewichts-Organs im Innenohr“, erklärte Julia mit müder, schleppender Stimme, „die Lymphe in den Bogengängen und die Statolithen im Innenohr funktionieren nur bei vorhandener Schwerkraft oder Beschleunigung. Unter null Gravitation leiden wir quasi unter einer verschärften Form der Seekrankheit.“ „Na toll, Ihre Erklärungen, Frau Doktor, haben mir ungemein geholfen! Mir wäre es allerdings lieber gewesen, Sie hätten mir ein Mittel gegen diese ‚Seekrankheit‘ verordnet.“ „Ich habe bereits vor dem Start ein Antiemetikum genommen und mir geht es ausgezeichnet“, meldete sich Han Li mit vergnügter Stimme. Ich dachte, das hätten Sie alle getan, sonst hätte ich Sie daran erinnert.“ Die anderen starrten Han entgeistert an, bis ihnen einfiel, der kleine Chinese war nicht nur Biologe, sondern auch Arzt, und wie es schien, ein umsichtiger dazu. Erik räusperte sich: „An Bord haben wir leider keine Antiemetika, aber auf der Raumstation sind wir gewiss damit ausgestattet. Also, habt noch etwas Geduld!“
Der Flug zur Raumstation dauerte jedoch nicht so lange, dass die Geduld der Besatzung überstrapaziert wurde. Schon wenige Minuten, nachdem sie in den freien Fall übergegangen waren, machte Gregori sie auf einen glänzenden Punkt vor ihnen aufmerksam. Es war die aus Modulen zusammengesetzte, in der Sonne funkelnde ISS. Mit ihren ausladenden Sonnenpaddeln wirkte sie wie ein bizarres, riesiges Insekt, das die Erde umkreiste.
In den letzten 50 Jahren hatte man die ISS ständig ausgebaut und vergrößert, sodass sie schließlich bis zu 40 Leute aufnehmen konnte. Die routinemäßige Besatzung betrug 25 Astronauten und Forscher aus verschiedenen Ländern. Sie erforschten die Erde aus dem All und beschäftigten sich mit Dingen, wie die Drift der Kontinente, das Klima und Experimente in der Schwerelosigkeit. In den letzten 5 Jahren waren allerdings mehr Ingenieure und Techniker als Forscher auf der ISS anzutreffen gewesen, denn sie hatten die Aufgabe, die PROMETHEUS in der Erdumlaufbahn zusammenzubauen. Die Teile des Raumschiffes wurden auf der Erde gefertigt und dann mit computergesteuerten Shuttles in die Umlaufbahn gehievt. Jetzt, da die PROMETHEUS endlich nach 5 Jahren Bauzeit fertiggestellt worden war, waren die Ingenieure zur Erde zurückgekehrt und die Astronauten und Forscher hatten wieder das Regiment auf der Raumstation übernommen. Die derzeitige Besatzung freute sich schon auf die Ankunft der fünf Mars-Astronauten. Sie wurden sogar schon sehnlichst erwartet, denn sie würden die Routine auf der ISS unterbrechen und neues Leben in die Bude bringen.
Gregori gelang das heikle Andockmanöver gleich im ersten Anlauf und die Astronauten krochen aus der Enge ihres Shuttles in die komfortable Luftschleuse der Raumstation. Hier wurden sie von Bob Miller, dem derzeitigen Kommandanten der ISS, begrüßt. Miller winkte Erik und Gregori, die er schon von früheren Aufenthalten kannte, freundschaftlich zu, während er die drei Neulinge interessiert musterte. Überflüssig hinzuzufügen, dass sein Blick dabei am längsten bei Julia Winter verweilte. Erik stellte Miller die drei Neuankömmlinge vor. Ganz Kavalier, begrüßte dieser Julia Winter zuerst, doch tat er es auf eine etwas sonderbare Weise. Er stieß sich von der Wand der Luftschleuse ab, segelte auf die Ärztin zu, doch anstatt sich an der Haltestange abzufangen, die rings um die Luftschleuse angebracht war, umklammerte er die schöne Frau. Ja, dachte Erik amüsiert, Bob versteht es meisterhaft, die Schwerelosigkeit zu seinen Gunsten auszunützen. Die Ärztin sah das offenbar genauso, denn nach einem kurzen Augenblick der Überraschung erschien eine steile Falte auf ihrer Stirn und ihre blauen Augen sprühten Feuer. Bob ließ die indignierte Frau los und entschuldigte sich mit den Worten: „Ja, ja, die Schwerelosigkeit, sie spielt einem hier oben immer wieder Streiche. Sie werden das bei sich selber auch noch erfahren, daher schlage ich vor, dass Sie sich anfangs an den Haltestangen entlanghangeln, bis Sie sich an Ihre Gewichtslosigkeit gewöhnt haben.“
Nachdem Bob, unverschämt lächelnd, bei der Ärztin einen Handkuss angedeutet hatte, segelte er gekonnt zu Han Li hinüber. Diesmal passierte ihm natürlich nicht das Malheur, dass er die Haltestange verfehlte. Dennoch verlief auch hier seine Begrüßung nicht glatt. Han ließ nämlich die Haltestange los, um Bob die Hand zu schütteln, und als er sich, in typischer asiatischer Höflichkeit, tief verbeugen wollte, stieß er mit dem Fuß gegen die Wand der Luftschleuse. Der Stoß ließ ihn einen Salto nach vorne machen und er schwebte davon. Gregori fing den schmächtigen Biologen auf und bugsierte ihn zurück zu Miller.
Louis Vargas hingegen hatte aus der schwierigen Begrüßungszeremonie schnell gelernt. Offenbar musste man seinen Körper dafür irgendwo fest verankern. Er klammerte sich deshalb wie ein Ertrinkender mit der linken Hand an die Führungsstange, während er mit der Rechten den Händedruck von Bob erwiderte. Miller wandte sich nach seiner Begrüßung den fünf Neuankömmlingen zu und sagte mit unüberhörbarer Ironie in der Stimme: „Nachdem ich Sie als die künftigen Helden der Raumfahrt, die sich anschicken, den Mars zu erobern, nun alle kennengelernt habe, zeige ich Ihnen wohl am besten zunächst Ihre Quartiere. Ja, noch was! Von Ihrer Bodenstation habe ich grünes Licht erhalten, die Wissenschaftler unter Ihnen in das Forschungsprogramm der Station zu integrieren. Ich freue mich also auf ihre kompetente Mitarbeit, die Ihnen die Langeweile hier oben hoffentlich vertreiben wird. Erik und Gregori haben den Auftrag, die PROMETHEUS zu testen und einsatzbereit zu machen. Wenn Sie mir bitte folgen wollen!“
„Die PROMETHEUS testen“, knurrte Gregori neben Erik, „darauf wäre ich von alleine nicht gekommen. Bob kann es schon wieder einmal nicht lassen, den Chef heraushängen zu lassen.“ „Hier oben ist er der Chef, also sollten wir seine Anordnungen befolgen“, bemerkte Erik lakonisch.
In den kommenden Wochen fehlte den Neuankömmlingen auf der ISS, genau wie Bob verkündet hatte, schlichtweg die Zeit, sich zu langweilen. Die drei Wissenschaftler der Crew, nämlich Dr. Winter, Professor Han Li und Dr. Dr. Vargas fügten sich nahtlos in das Forschungsprogramm der Internationalen Raumstation ein. Erik und Gregori hingegen testeten die PROMETHEUS auf Herz und Nieren. Besonders der Russe war in seinem Element und kein Relais oder Stromkreis, kein Computer oder Schalter entgingen seiner sorgfältigen Prüfung.
Endlich war es so weit: Ein Probeflug mit der PROMETHEUS konnte riskiert werden. Erik wollte diese erfreuliche Nachricht seiner Crew mitteilen und bat sie zu einem Treffen im Gemeinschaftsraum der ISS. Als alle versammelt waren, begann er forsch: „Meine Herrschaften, unser Raumabenteuer rückt näher, morgen starten wir zu einem Probeflug mit der PROMETHEUS.“
„Was heißt, wir?“, wollte der Brasilianer wissen. „Na, Gregori und meine Wenigkeit, wir sind schließlich die ausgebildeten Piloten für dieses Vehikel“, entgegnete Erik. „Ich denke, wir sollten bei diesem Jungfernflug alle dabei sein“, wandte Han Li ein. „Wir haben doch alle am Simulator geübt und sollten uns beim Steuern des Schiffes abwechseln, um etwas Praxis im Umgang mit der PROMETHEUS zu bekommen.“ „Erprobungen neuer Fluggeräte sind etwas für Testpiloten“, brummte Gregori, „wenn etwas schiefgeht, dann verglühen wenigstens nur zwei von uns in der Erdatmosphäre.“ „Du machst mir Spaß, Gregori!“, rief Julia Winter und zog einen Schmollmund. „Wie sollen wir denn mit diesem Vehikel bis zum Mars kommen, wenn du schon einen kurzen Probeflug für gefährlich einstufst?“ „Wir haben natürlich Vertrauen in die Konstrukteure des Raumschiffes“, versuchte Erik, die Gemüter zu beruhigen. „Trotzdem halten wir einen Probeflug unbedingt für erforderlich, allein schon wegen des neuen Plasma-Triebwerkes. Das muss schließlich monatelang einwandfrei funktionieren, sonst können wir den Flug zu einem fremden Planeten gleich ganz vergessen. Zwar wurde es schon auf der Erde im Dauerbetrieb getestet, doch noch niemals unter Weltraumbedingungen. Das herauszufinden, ist Aufgabe von Greg und mir, denn wir waren Testpiloten, ehe wir zur Raumfahrt wechselten. Wie ihr euch denken könnt, gehören Risiken zu unserem Beruf, und deshalb wollen wir sie so klein wie möglich halten.“ „Das heißt, ihr wollt uns nicht dabeihaben“, konstatierte Louis etwas verschnupft. „Ist das definitiv?“ „Ja, das ist definitiv“, betonte Erik in ungewohntem Befehlston. „Ja, dann“, meinte Louis und verließ gekränkt das Casino. Han und Julia folgten seinem Beispiel.
„War das nicht etwas zu grob, Erik?“, gab der Russe zu bedenken, nachdem die Wissenschaftler den Raum verlassen hatten. „Ich meine, musstest du so den Kommandanten heraushängen lassen, da Wissenschaftler doch gewohnt sind, das Für und Wider einer Entscheidung ausgiebig zu diskutieren. Schließlich sind wir ein Team und auf sie angewiesen.“ „Das musste sein“, brummte Erik. „Je eher sie sich daran gewöhnen, wer hier die Befehle erteilt, desto besser. Und apropos Diskussionen! Meinst du, wir können uns in Notsituationen den Luxus von Diskussionen leisten? Ich denke, nein! Je früher die Kommandostrukturen geklärt sind, desto schneller können Entscheidungen getroffen und durchgeführt werden. Das habe ich schon früh auf der Militärakademie lernen müssen.“ „Okay, du bist der Kommandant“, räumte Gregori mit undurchdringlicher Miene ein.
Wie ein überdimensionaler Elefantenrüssel spannte sich der Verbindungs-Tunnel von der ISS zur PROMETHEUS. Durch diesen ziehharmonikaartigen Tunnel stapften Gregori und Erik mit ihren Magnetstiefeln und versetzten ihn in rhythmische Schwingungen. Beide wirkten angespannt, denn nun musste es sich erweisen, wie raumtüchtig das Schiff, mit dem sie den Mars erreichen wollten, tatsächlich war.
Während der Russe unter der Anspannung noch wortkarger als sonst wirkte, versuchte Erik, sie durch Reden erträglicher zu machen. „Siehst du, unsere Kameraden haben es uns nicht übel genommen, dass wir sie auf der Station zurückgelassen haben“, wandte er sich an Gregori. „Alle drei sind im Kontrollraum erschienen, um uns zu verabschieden und uns Glück zu wünschen.“ Da der Russe schwieg, fuhr er fort. „Na ja, wer begibt sich schon freiwillig in diese Konservendose, wenn er nicht muss. Außerdem fügen sich unsere drei Koryphäen so brillant in das Forschungsprogramm der Station ein, dass es eine Schande wäre, sie von dort früher als nötig wegzubeordern. Erst neulich hat mir Louis ganz begeistert berichtet, wie toll er die Erderkundung aus dem Orbit findet. Vom Wettergeschehen über die Erderwärmung bis zur Drift der Kontinente, das alles kann mit nie gekannter Präzision registriert werden. Zurzeit arbeitet er, mittels Radarabtastung, an einer Reliefkarte unserer guten alten Erde. Mit dieser Methode kann man die Höhe des Mount Everest bis auf 3 Zentimeter genau messen. Man stelle sich das einmal vor!“ Der Russe grunzte, schritt jedoch ungerührt weiter.
Erik blickte Gregori irritiert von der Seite an, da dieser offenbar durch nichts zu beeindrucken war. Er nahm einen neuen Anlauf: „Und unser Professor für Biologie testet unentwegt das Wachstum der Pflanzen in der Schwerelosigkeit, mit typischer asiatischer Ausdauer.“ Als der Russe auch dazu keinen Kommentar abgab, versuchte es Erik mit Humor. Er blieb stehen, grinste zweideutig und meinte: „Ist dir schon aufgefallen, mit welchen Wehwehchen die Besatzung der Raumstation der Krankenstation die Türen einrennt, seit unsere hübsche Ärztin dort dem Stationsarzt assistiert? Die Männer haben schon ein halbes Jahr keine Frau mehr gesehen, und dann gleich ein solches Exemplar! Nun ist mir auch klar, weshalb Bob Miller damals in der Luftschleuse Julia so offensichtlich umklammerte.“ „Hm, ich verstehe“, brummte der Russe und machte sich konzentriert an der Tür der Luftschleuse zu schaffen, denn sie hatten das Ende des Verbindungstunnels erreicht.
Die kreisrunde Tür glitt zur Seite und sie krochen in die Luftschleuse der PROMETHEUS. Nachdem Gregori die Türe wieder sorgfältig verriegelt hatte, begaben sie sich in das kreisrunde Kommandomodul des Schiffes. Zwei Andruck-Liegen befanden sich vor einer ovalen Steuerkonsole, die mit einer schier unübersehbaren Anzahl von Konsolen, Schaltern und Bildschirmen bestückt war. Ein Handgriff, und die Liegen verwandelten sich in zwei komfortable Pilotensessel. Die beiden Raumfahrer nahmen Platz, schnallten sich an und Erik öffnete als Erstes einen Kommunikationskanal zur ISS. Das erwartungsvolle Gesicht von Bob Miller, der sich ein Lächeln abrang, tauchte auf. „Ich grüße das Himmelfahrtskommando auf der PROMETHEUS“, flachste er, „können wir mit der Prozedur beginnen?“ „Nur mit der Ruhe, wir müssen erst noch die Bordcomputer hochfahren“, entgegnete Erik und drückte die entsprechenden Knöpfe. Eine Reihe von Displays leuchtete auf und ein Ventilator begann zu summen.
„Vor das Vergnügen hat Gott die Arbeit gesetzt“, seufzte Erik und griff auf der Konsole vor sich nach einer ellenlangen Checkliste. Die Prozedur, wie Bob sich ausdrückte, war nichts anderes als die penible Überprüfung aller wichtigen Funktionen des Raumschiffes. Das war nicht nur eine Riesenarbeit für die beiden an Bord, nein, das Ganze wurde auch noch von den Leuten auf der ISS und von der Bodenstation gegengecheckt. „Dreifach genäht hält eben besser“, dachte Erik in einer Art Galgenhumor und zu Gregori gewandt knurrte er: „Du kannst anfangen.“ Der Russe begann, das Protokoll herunterzuleiern: „Computer hochgefahren, Außen-Kommunikationskanäle eingeschaltet, Kreiselkompass auf ‚on‘, Vorwärmpumpe für Steuertriebwerke auf ‚on‘ und so ging es endlos weiter. Würden sie nur eine Position des Protokolls übersehen, würde sie Bob mit erhobenem Zeigefinger darauf aufmerksam machen und der Bordcomputer Alarmgeräusche von sich geben. Die Prozedur war zwar nerv-tötend, aber absolut notwendig, denn schon eine kleine Nachlässigkeit konnte in der lebensfeindlichen Umgebung des Weltraums tödlich sein.
Endlich war den Initialisierungs- und Sicherheitschecks Genüge getan und Erik lehnte sich aufatmend zurück. Nach einer kurzen Pause erkundigte er sich bei Miller: „Na, wie sieht es bei euch aus, Bob?“ „Unsere Instrumente bestätigen die Ergebnisse eurer Bordinstrumente. Falls die Bodenstation nichts dagegen hat, habt ihr grünes Licht für den Start. Ich trenne jetzt den Verbindungstunnel ab und ihr könnt dann nach eigenem Ermessen loslegen. Viel Glück und Hals- und Beinbruch! Ja, noch etwas: Achtet auf euer rechtes Seitentriebwerk, damit ihr keinen Schaden an unserer Station anrichtet.“ „Wird gemacht, Bob“, erwiderte Erik, „obwohl, etwas Feuer unterm Hintern könnte euch doch bei der Kälte hier draußen nur willkommen sein. Adieu, wir sehen uns dann, so Gott will, in zwei Tagen wieder.“
Bob winkte lächelnd zum Abschied und verschwand vom Bildschirm. Ein Rumpeln ertönte und sie spürten eine leichte Erschütterung, als der Verbindungstunnel vom Schiff abgetrennt wurde. Trotzdem schwebte die PROMETHEUS noch nicht frei im Raum, denn drei Streben, mit Magnetklammern versehen, verbanden das Schiff noch mit der ISS. Erik befahl Gregori, die Klammern zu lösen. Danach blickte er zu seinem Copiloten hinüber und fragte: „Sind wir startbereit?“ Gregori deutete auf die zahllosen Anzeigen vor sich, die alle in beruhigendem Grün leuchteten, und meldete: „Der Computer meint, ja.“ Da atmete der Kommandant tief durch und befahl: „Rechte Steuerdüse auf ein Viertel, Heckdüse auf halben Impuls.“
Langsam, wie in Zeitlupe, löste sich die PROMETHEUS von der ISS und trieb davon. Während die Raumstation hinter ihnen langsam ihren Blicken entschwand, hatten die beiden Männer nun freie Sicht auf die blau schimmernde, leicht gekrümmte Planetenoberfläche.
Schweigend, ja geradezu andächtig, beobachteten Erik und Gregori, wie weit unter ihnen federartige Wolken zogen. In den Wolkenlücken konnte man die dunklen Konturen der Kontinente ausmachen, umspült vom Blau der Weltmeere. Erik brach als Erster das Schweigen: „Erst aus dem Orbit kann man die ganze Schönheit und Einzigartigkeit unsere Erde erfassen“, meinte er sinnend. „Ich weiß nicht, von welchen Teufeln wir geritten werden, dass wir dieses Juwel partout verlassen wollen, um uns dem kalten lebensfeindlichen Weltall auszuliefern.“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Was ich schon immer wissen wollte, Greg, was trieb dich in dieses riskante Abenteuer?“ Gregori, aus seinen Betrachtungen gerissen, schnaubte ärgerlich: „Es geht zum Mars, dem ‚Roten Planeten‘, da darf ein Russe nicht fehlen, du Speichellecker des Kapitalismus! Außerdem solltest du wissen, dass in Wahrheit Russland die Pionierarbeit im Weltall geleistet hat.“ „Sehe ich das richtig, allein zum Ruhm von Mütterchen Russland, allein aus Patriotismus, sitzt du hier neben mir?“, staunte Erik. Als der Russe nicht antwortete, ahmte Erik einen Tusch nach und rief: „Leute, feiert mit mir den Helden der Sowjetunion! Er hält den Kommunismus immer noch eisern hoch, obwohl schon alles den Bach hinuntergegangen ist.“
Damit hatte es der Amerikaner endgültig geschafft, den Russen auf die Palme zu bringen. „Du solltest Ideale, von denen du nichts verstehst, nicht in den Schmutz ziehen“, erwiderte Gregori mit gefährlich leiser Stimme. „Natürlich ist das Experiment eines real existierenden Sozialismus’ im vorigen Jahrhundert leider gescheitert. Doch das lag weniger an der Idee selbst als an dem Unvermögen der Menschen, die mit der Realisierung dieser Idee betraut waren. Schon in der Urkirche gab es Bestrebungen, das Eigentum abzuschaffen und die Interessen der Gemeinschaft über die des Individuums zu stellen. Daran siehst du, dass diese Idee nicht so schlecht sein kann!“
„Das ist alles ideologischer Humbug und geht völlig an der Realität vorbei“, unterbrach Erik den Russen heftig und fuhr fort: „Ich kann dir auch verraten, weshalb das Ganze scheitern musste. Der Mensch ist nämlich in erster Linie ein eingefleischter Egoist und benützt den Altruismus nur, um dies zu bemänteln. Eure ganze Erziehung zum Sozialismus ist am Menschen abgetropft, denn die Selbstsucht des Menschen ist in seinen Genen verankert und kann durch Umerziehung nicht beseitigt werden. Und selbst wenn ihr bei einer Generation Erfolge gehabt hättet, die nächste hätte alles wieder zunichtegemacht.“ „Wir haben Erfolge gehabt“, fiel Gregori Erik wütend ins Wort, „aber nicht die kommende Generation, sondern unsere Partei, unsere oligarchische Führung hat sie zunichtegemacht. Das kann man im Nachhinein deutlich erkennen. Die Menschen in unserem Land hätten vielleicht noch weiter an den Kommunismus geglaubt, hätte nicht unsere Führung eine Karikatur aus der Idee gemacht.“ „Gut erkannt, Gregori“, stimmte ihm Erik zu, „aber gerade das stützt meine These – Egoismus dominiert Altruismus!“
Nach kurzem Schweigen fuhr Erik fort: „Wenn ich dich also recht verstehe, so hat dich Idealismus und Patriotismus zu diesem Marsabenteuer getrieben?“ „Nicht ganz – es gibt noch andere Gründe“, erwiderte der Russe zur Eriks Überraschung. „Ich bin wie du Testpilot gewesen und da habe ich mich daran gewöhnt, Risiken einzugehen. Seien wir doch einmal ehrlich: als Testpiloten brauchen wir den Adrenalin-Kick und, wie jeder Junkie, erhöhen wir die Risikodosis.“ Gregori starrte gedankenverloren auf die blau schimmernde Erde unter ihnen und fuhr dann etwas verlegen fort: „Ich glaube, es gibt noch einen weiteren Grund, doch den wirst du als Junggeselle wohl kaum verstehen. Du kennst nicht die russische Großfamilie! Meine Familie, meine Eltern und die Eltern meiner Frau, wir alle leben unter einem Dach. Da sind Reibereien vorprogrammiert. Versteh mich nicht falsch, ich liebe meine Familie und kehre gern zu ihr zurück. Zunächst ist die Wiedersehensfreude groß, doch nach ein paar Tagen stehe ich plötzlich in der lästigen Pflicht, ständig Familienstreitigkeiten zu schlichten oder meine drei Lausbuben zu züchtigen und dann, ob du es glaubst oder nicht, fühle ich mich erleichtert, wenn mich eine dringliche Aufgabe von zu Hause wegholt.“
Erik, der bei den letzten Worten des Russen immer mehr zu grinsen begonnen hatte, konnte sich nicht länger zurückhalten und prustete los: „Greg, das ist köstlich, du bist also in erster Linie bei diesem Himmelfahrtskommando dabei, weil du vor deiner stressigen Großfamilie davonläufst?“ „Quatsch“, knurrte der Russe, „meine ersten beiden Gründe wiegen natürlich viel schwerer, aber warum erzähle ich dir das alles? Seit wann versteht ein Junggeselle etwas von Familienangelegenheiten?“
„Ah, ich verstehe, Patriotismus und Adrenalin-Kick“, japste Erik, der sich immer noch nicht beruhigen konnte und sich die Tränen aus den Augen wischte. „So viel zu meinen Gründen“, brummte Gregori beleidigt. „Nun würde ich aber im Gegenzug gerne wissen wollen, was dich zu diesem Selbstmordkommando veranlasst hat?“ Erik wurde wieder ernst. „Am besten fragst du dazu unsere Musterpsychologin, Julia Winter, denn die hat längst herausgefunden, weshalb ich hier bin“, antwortete er ausweichend. Der Russe lächelte zynisch und meinte: „Das glaube ich dir aufs Wort, denn unsere hübsche Kollegin versteht es meisterhaft, Männer einzuwickeln und ihnen die Würmer aus der Nase zu ziehen. Besonders gut gelingt ihr das bei unbedarften Machos, die hinter jedem Rock herlaufen.“ Diesmal reagierte Erik erbost und wütend: „Das ist doch lachhaft! Wer hat denn Miss Winter ständig den Raumanzug hinterhergeschleppt, war das nicht ein gewisser Gregori Danilov? Oder sieh dir mal Louis an! Seit er unsere Ärztin zum ersten Mal zu Gesicht bekommen hat, balzt er um sie herum wie ein betrunkener Auerhahn. Und selbst Han Li, dieser Zwerg, verbringt fast seine ganze Freizeit mit Julia, angeblich, um mit ihr über extraterrestrisches Leben auf dem Mars zu diskutieren.“ „Mein Gott“, amüsierte sich Gregori, „hat es dich aber erwischt. So eifersüchtig habe ich dich ja noch nie erlebt!“
„Eifersüchtig!“, donnerte Erik, „spinnst du jetzt komplett? Ich mache mir lediglich Gedanken darüber, wie wir dieses gefährliche Unternehmen über die Bühne bringen wollen, wenn wir, statt wie ein zusammengeschweißtes Team zu handeln, ständig untereinander Privatfehden und Rivalitäten austragen.“ „Na, dann würde ich an deiner Stelle schon mal damit anfangen, Job und Privates voneinander zu trennen, denn du bist der einzige Junggeselle unter uns, während wir drei anderen bereits erprobte Ehegatten und beziehungs-gefestigte Persönlichkeiten sind“, erklärte Gregori schmunzelnd. Erst jetzt bemerkte Erik, dass ihn der Russe auf die Schippe genommen hatte, und wiederholte lachend: „Erprobte Ehegatten und gefestigte Persönlichkeiten, das ist gut, das muss ich mir merken. Ich fürchte nur, wenn ihr nicht aufpasst, seid ihr bald tote gefestigte Persönlichkeiten. Aber Schluss mit dem Geplänkel, wir müssen das Plasmatriebwerk testen!“
„Sind wir weit genug von der ISS entfernt?“ Der Russe zog eine Anzeige zu Rate und meinte: „In 10 Minuten ist es so weit, dann können wir den Reaktor hochfahren, ohne die Station zu gefährden, wenn wir ihn im Notfall absprengen müssten.“ „Ich würde das an deiner Stelle nicht beschreien, doch ich bin sicher, ein solcher Notfall wird nicht eintreten. Schließlich wurde der Reaktor auf der Erde monatelang im Dauerbetrieb getestet.“ „Ja, ganz recht, auf der Erde, doch noch nie im Weltall!“, brummte Gregori. „Weißt du übrigens, dass ich seit Wochen den gleichen Albtraum habe? In diesem Traum versagt das Plasmatriebwerk gerade auf halber Strecke zwischen Erde und Mars.“ „Ein reizender Gedanke“, knurrte Erik. „Du weißt schon, was das bedeutet? Adieu Erde und her mit den Giftkapseln!“
„Das wird nicht so einfach sein“, gab der Russe zu bedenken. „Was?“ „Na die Sache mit den Giftkapseln. Ich denke, der Überlebenswille jedes Einzelnen von uns ist so übermächtig, dass wir die Kapseln nicht schlucken würden, wenn auch nur noch ein kleines Fünkchen Hoffnung bestünde.“ „Hoffnung?“, fragte Erik mit diabolischer Miene, „wo siehst du da Hoffnung, 30 Millionen Kilometer von der Erde entfernt? Wir hätten nur die Wahl zwischen Ersticken oder Erfrieren, denn wenn der Reaktor ausfiele, hätten wir im Mannschaftsmodul auch keine Energie mehr für die Lebenserhaltung.“ „Falsch“, behauptete Gregori, „wir hätten immer noch die Sonnenpaddel und wer sagt denn, dass bei einem Ausfall des Plasmatriebwerkes gleichzeitig auch der ganze Reaktor ausfallen müsste.“ „Aber wir hätten keinen Antrieb mehr und eine derartige Havarie im Weltraum hat noch keiner überlebt. Doch ich sehe schon, du hast auch darauf eine Antwort.“ „Ganz recht, ich habe mir Gedanken über eine derartige Situation gemacht und du wirst zugeben, dass permanente Albträume ein starker Anreiz dafür sind, nach Lösungen für solche Probleme zu suchen. Also hör dir an, was mir dazu eingefallen ist, und unterbrich mich, wenn ich deiner Meinung nach anfange, Blödsinn zu verzapfen.
Sagen wir, auf der Hälfte der Strecke zum Mars fiele unser Antrieb aus, dann hätten wir in etwa unsere Maximalgeschwindigkeit erreicht, stimmt es?“ „Ja, stimmt“, räumte Erik ein. „Und da wir nicht abbremsen können“, fuhr Gregori fort, „würden wir den Mars früher als geplant erreichen. Das heißt doch, wir könnten noch innerhalb des Startfensters zurückfliegen. Und, was noch toller ist, wir könnten sogar durch ein Swingby-Manöver um den Mars herum noch mehr Geschwindigkeit für den Heimflug aufnehmen. Wir wären dann, sagen wir mal, in 2 Monaten wieder in Erdnähe.“ „Ah, ich verstehe“, staunte Erik. „Du spielst das Apollo 13 Szenario nach. Aber bedenke, wir hätten immer noch keine Energie für die Lebenserhaltung und wir kämen mit einer affenartigen Geschwindigkeit bei der Erde an.“
„Bei dieser kurzen Flugdauer könnten die Plutonium-Batterien im Mars-Lander und die Energie aus den Sonnenpaddeln durchaus reichen“, behauptete Gregori. „Die PROMETHEUS könnten wir ohne Antrieb natürlich nicht abbremsen. Sie würde in der Atmosphäre verglühen. Doch wir könnten zuvor in den Mars-Lander umsteigen und diesen durch mehrmaliges Umkreisen der Erde in der oberen Stratosphäre langsam abbremsen. Vielleicht könnten uns die ISS oder die Bodenstation auch ein Shuttle entgegenschicken, dann müssten wir das nur für den Mars konstruierte Gerät nicht einmal landen. Du siehst, wir hätten eine Chance.“ „Ja, eine Chance hätten wir, wenn auch eine sehr geringe“, gab Erik zu.
Gregori deutete auf den Bildschirm über ihren Köpfen, der die im Sonnenlicht strahlende Erde zeigte und sagte: „Um sie noch einmal aus der Nähe zu sehen, um zu ihr zurückzukehren, dafür würde ich alles Menschenmögliche tun, du etwa nicht?“ „Natürlich“, seufzte Erik. „hoffen wir, dass wir es irgendwie schaffen!“
Eine Weile herrschte Schweigen im Cockpit und die beiden Piloten hingen ihren Gedanken nach. Erik unterbrach schließlich die Stille und meinte: „Da ich nun deinen Albtraum kenne, ist es nur recht und billig, dass du auch meine diesbezüglichen Träume kennenlernen solltest. Das Ganze fing schon während unseres Trainings auf der Erde an. So durchschlug z. B. in einem meiner Träume ein Meteor das Mannschaftsmodul und die Luft entwich – wie aus einem Gummiballon. Danach träumte ich, die zum Mars vorausgeschickten Ausrüstungsgegenstände seien defekt und wir säßen für immer auf diesem verrosteten Planeten fest. Soll ich fortfahren?“ „Um Himmels willen, nein, du bist ja ein heilloser Pessimist, mit so jemandem zu fliegen, ist ja geradezu eine Strafe! Wenn unsere Mission schon so brandgefährlich ist, sollten wir dann nicht zum Rückzug blasen? So könnten wir beispielsweise bei unserem Probeflug den Reaktor absprengen und behaupten, er sei defekt gewesen. Das würde die Mission um Monate verzögern. Wir würden das Startfenster verpassen und andere lebensmüde Astronauten müssten den Flug zum Mars antreten.“
„Was?“, rief Erik entsetzt, „du willst ein 500 Milliarden-Dollar-Projekt an die Wand fahren? Bist du noch bei Trost? Doch was wundere ich mich, ihr Russen wart ja schon immer die geborenen Saboteure!“
Gregori schüttelte in gespieltem Bedauern den Kopf: „Wie gesagt, du bist ein heilloser Pessimist, ohne einen Funken Humor. Erik, du würdest einen Scherz nicht einmal erkennen, selbst wenn er dir vor der Nase baumelte. Hältst du mich wirklich für so feige, dass ich zu so einer Tat fähig wäre?“ „Für einen Moment … , du hast so ernst und überzeugt geklungen“, meinte Erik kopfschüttelnd. „Das ist ja der Witz beim Scherz, der Erzähler muss überzeugend klingen, ansonsten kann man es gleich bleiben lassen“, erklärte der Russe lächelnd. „Du mäkelst also an meiner pessimistischen Einstellung herum?“ Erik klang immer noch etwas beleidigt. „Hast du dir schon einmal überlegt, welch schwere Verantwortung als Kommandant dieses Unternehmens auf mir lastet? Das Ganze ist doch absolutes Neuland und es ist nur natürlich, dass ich mir auch Katastrophen ausmale, auf die ich eine richtige und schnelle Antwort finden muss. Da wird man zwangsläufig zum Pessimisten und findet nur noch wenige Dinge witzig.“ „Willst du jetzt als armer geplagter Kommandant Mitleid bei mir schinden?“, fragte Gregori. „Aber du hast wohl recht, um nichts in der Welt möchte ich mit dir tauschen! Mir reicht vollauf mein Ingenieursjob. Wie du gesehen hast, führt schon die Verantwortung, all die Technik am Laufen zu halten, bei mir zu Albträumen.“ „Vergessen wir die blöden Albträume und testen wir lieber das Plasmatriebwerk“, schlug Erik vor.
„Reicht der Abstand zur ISS inzwischen?“ „Ja, der Abstand ist o. k., fangen wir also an“, stimmte Gregori zu. Er drückte auf den Knopf, der den Reaktor hochfahren würde. Während sie beide auf die Temperaturanzeige der Reaktorkammer starrten, knurrte der Russe: „Eines solltest du allerdings wissen, Erik, wenn der atomare Antrieb nur ein einziges Mal ins Stottern gerät, setze ich keinen Fuß mehr in diese Blechkiste, denn meine Großmutter hat gesagt, man soll auf seine Träume hören.“ „Wollen wir wetten, du Angsthase, dass nichts dergleichen passieren wird?“, bot Erik seinem Ingenieur an. Doch der Russe zeigte ihm nur den Vogel und schwieg.
Erik lag mit seiner Vermutung völlig richtig, die Initialisierung des Plasma-Triebwerkes verlief völlig reibungslos. Erik teilte die gute Nachricht sowohl Bob Miller als auch der Bodenstation mit. Pullok geriet vor Begeisterung ganz aus dem Häuschen. „Hab ich es euch nicht gesagt, ihr habt das beste Raumschiff, das ihr kriegen könnt. Also testet es jetzt 48 Stunden auf Herz und Nieren – wie ausgemacht!“ Der Schub, den dieser neuartige Antrieb erzeugte, war zwar minimal, doch das Ergebnis summierte sich im Laufe der Zeit und die PROMETHEUS wurde in immer höhere Umlaufbahnen gehoben. Nach 24 Stunden befanden sich die beiden Astronauten weiter von der Erde entfernt als jeder Erdsatellit und jeder Mensch. Pünktlich nach 24 Stunden schaltete Erik auf Umkehrschub.
Die PROMETHEUS näherte sich in Spiralen wieder der Erde und erreichte schließlich erneut die Umlaufbahn der ISS. Mit den von flüssigem Wasserstoff betriebenen Steuertriebwerken näherte sie sich wieder der Raumstation und dockte an.
Die beiden Männer waren hundemüde, obwohl sie sich bei der Steuerung des Raumschiffes abgelöst hatten. Dennoch konnten sie mit Ablauf der letzten beiden Tage zufrieden sein, denn die PROMETHEUS hatte sich als raumtüchtig erwiesen. Als das Raumschiff wieder sicher mit der ISS verbunden war, vertrieb die Euphorie über den gelungenen Testflug Eriks Müdigkeit. Er knuffte Gregori in die Seite und sagte aufgekratzt: „Na, was sagst du nun, ist das Schiff jetzt startbereit oder nicht? Endlich hat die elende Warterei ein Ende.“ Der Russe ließ sich Zeit mit der Antwort. Schließlich meinte er nüchtern: „Sieht so aus, als ob die alte Blechkiste o. k. ist. Du solltest aber bedenken, wenn wir damit zum Mars und zurück fliegen wollen, muss das Schiff zwei Jahre lang einwandfrei funktionieren. Die lächerlichen zwei Tage unseres Testflugs sagen da noch herzlich wenig aus.“ „He, wer ist nun eigentlich der Pessimist von uns beiden?!“, rief Erik verwundert aus, „oder hat dir am Ende die Müdigkeit das Hirn vernebelt. Komm, lass uns aussteigen, sonst schläfst du mir hier am Ende noch ein.“
Das Schnarren seiner Armbanduhr weckte Erik am anderen Tag aus einem unruhigen Schlaf voller bizarrer Träume. Für einen Moment glaubte er, sich noch auf der PROMETHEUS zu befinden, bis er seine eigene Kabine auf der ISS erkannte.
Es war schon seltsam, wie Bilder aus der Vergangenheit den Geist gefangen zu halten vermochten. Das Gespinst von Erinnerungen zeigte doch mehr Verknüpfungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, als dem Menschen je bewusst werden konnte. Erik schüttelte benommen den Kopf, um seine Schlaftrunkenheit loszuwerden, denn die Zeit drängte. Morgen würde er mit der PROMETHEUS zu einem nie gekannten Abenteuer aufbrechen und heute … ja heute würde er zu spät zur Pressekonferenz kommen. Er befreite sich vorsichtig aus seinem fixierten Schlafsack, stieß sich leicht von seinem Bettgestell ab und segelte hinüber zu einem Spiegel, der an der Schmalseite des Raumes angebracht war. Was ihm da entgegenblickte, quittierte er mit einer Verwünschung. Der Spiegel zeigte ein müdes Gesicht mit verquollenen Augen und Haare, die in allen Richtungen vom Kopf abstanden. So konnte er unmöglich vor eine Fernsehkamera treten! Wie gern hätte er jetzt eine heiße Dusche genommen, doch in der Schwerelosigkeit war das so gut wie unmöglich. Er griff deshalb zu einer Tube, die unterhalb des Spiegels befestigt war, quetschte aus ihr etwas Haargel heraus und verteilte es vorsichtig auf seinem Kopf. Danach griff er zu einem Kamm und versuchte, sein Haar zu bändigen. Er zerrte ein Taschentuch aus seiner Hose, befeuchtete es an einer aufgehängten Wasserflasche, fuhr sich damit über das Gesicht und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
Das Ergebnis seiner Bemühungen war zwar dürftig, doch es war alles, was er im Moment tun konnte. Toilette zu machen und ein Minimum an Ordnung in seiner Kabine aufrechtzuerhalten, war auf der ISS, verglichen mit der gleichen Tätigkeit auf der Erde, eine wahre Sisyphusarbeit. Buchstäblich alles, was man vergaß festzuzurren, schwebte irgendwo im Zimmer herum oder war unauffindbar. Erik schnitt seinem Ebenbild im Spiegel eine Grimasse, stieß sich von der Wand ab und hechtete zur Tür. Er hatte es wirklich eilig.
Draußen auf dem Bogengang vor seiner Koje angekommen, hangelte er sich mit affenartiger Geschwindigkeit an einem Geländer entlang. Er wurde immer schneller, bis er sich wie ein Habicht im Sturzflug fühlte und prallte prompt an der nächsten Gangkreuzung mit einem Crewmitglied der Station zusammen. Beide verloren den Halt an ihrer jeweiligen Führungsstange und schlugen Purzelbäume. Der Mann starrte Erik grimmig an, denn er gab ihm die Schuld an dem Zusammenstoß, da er von links gekommen war. Trotz ihrer misslichen Lage musste Erik unwillkürlich grinsen. Wie bescheuert waren doch die Menschen, dass sie selbst auf einer Raumstation die Regel rechts vor links beibehalten hatten. „Haben Sie sich verletzt?“, erkundigte sich Erik bei dem Mann, nachdem sich das Menschenknäuel entwirrt hatte. Der Mann winkte ab und wurde sogar eine Spur freundlicher, als er in Erik den Kommandanten der PROMETHEUS erkannte. Erik hastete weiter und landete kurze Zeit später im Konferenzraum der ISS.
Dort war schon seine ganze Crew versammelt und selbst Bob Miller hatte sich mit einigen seiner Männer eingefunden, um an der Pressekonferenz teilzunehmen. Doch ehe die Konferenz begann, hatte man es so eingerichtet, dass zuerst die Astronauten sich von ihren Familien verabschieden konnten. Da Erik von niemandem Abschied nehmen konnte (seine Eltern waren bereits tot und Geschwister hatte er keine), nahm er in der zweiten Reihe neben Miller Platz. Der flüsterte ihm zu: „Na, gerade noch geschafft, gleich geht das Heulkonzert los. Sie fangen mit Südamerika an.“ Eriks Crew saß angeschnallt in der ersten Reihe und starrte auf den großen Bildschirm vor ihnen, als hinge ihr Leben davon ab. Plötzlich erglühte der Bildschirm, eine Art Schneegestöber wanderte über sie hinweg und dann stand die Leitung zur Erde. Man sah ein Studio in Rio und darin saß Maria Vargas. Sie hatte ein süßes, etwa 8-jähriges kaffeebraunes Mädchen auf dem Schoß, das eine rote Schleife im Haar trug. Ihre rechte Hand umklammerte die Hand eines etwa 10-jährigen Jungen, der erschrocken in die Kamera blickte. Durch den Körper von Louis ging ein Ruck, er zwang ein Lächeln auf sein zuvor ernst blickendes Gesicht und er begann sofort, seine Familie mit einem Schwall portugiesischer Worte zu überschütten. Erik erkannte die rassige, fröhliche und bildschöne Frau von Louis nicht wieder, wie sie mit großen, traurigen Augen an den Lippen ihres Mannes hing, damit ihr nur ja keines seiner Worte entging.
Auch ihr Sohn schien den Ernst der Lage erfasst zu haben, denn er blickte genau so traurig wie seine Mutter. Nur das kleine Töchterchen lachte und klatschte in die Hände, als sie ihren Vater erkannte. Der Brasilianer wollte offenbar die Stimmung seiner Familie etwas auflockern, denn er schnallte sich los und zeigte, wie man in der Schwerelosigkeit schweben konnte. Da verzog sich auch das Gesicht seines Jungen zu einem schwachen Lächeln. Doch seine Frau konnte er damit nicht aufheitern. Sie rief ihm mit trauriger Stimme einige Abschiedsworte zu, denn ihre Sendezeit ging dem Ende zu. Augenblicke später wurde die Verbindung unterbrochen. Das gezwungene Lächeln schien auf dem Gesicht des Brasilianers zu gefrieren. Er blickte zu Boden und schlug die Hände vors Gesicht.
„Es ist eine Schande“, brummte Bob neben Erik, „die Sender opfern gerade einmal fünf Minuten für die Verabschiedung jeder Familie, obwohl das ein Abschied für immer sein könnte.“ „Ja“, knurrte Erik, „und dann nehmen sie sich zwei Stunden dafür Zeit, dass uns Klatschreporter mit ihren dämlichen Fragen löchern können.“
Er wollte sich noch weiter über die unbegreiflichen Gepflogenheiten von Fernsehsendern auslassen, kam aber nicht dazu, weil schon ein neues Bild über den Monitor flimmerte. Es wurde von St. Petersburg aus gesendet und zeigte Nastassia Danilowa mit ihren drei Söhnen. Erik kannte die Frau von Gregori nur aus dessen Erzählungen, aber genauso hatte er sie sich vorgestellt. Konnte man die Frau des Brasilianers mit einem rassigen Rennpferd vergleichen, so hatte man es hier offenbar mit einem biederen Ackergaul zu tun. Frau Danilowa war ebenso athletisch gebaut wie ihr Mann und hatte ein breitflächiges Gesicht mit hohen Wangenknochen. Dass etwas mongolisches Blut in ihren Adern floss, war offensichtlich. Gregori redete in gutturalem Russisch auf sie ein und sie antwortete ihm mit tiefer Altstimme und unbewegtem Gesicht. Nur in der Art, wie sie ihren jüngsten Sohn auf ihrem Schoß umklammerte, konnte man ihre Erregung erraten. Wie Wachsoldaten standen die beiden älteren Söhne von Gregori, in strammer militärischer Haltung, rechts und links von ihrer Mutter. Ein Vaterschaftstest erübrigte sich beim Anblick dieses Nachwuchses, dachte Erik amüsiert. Die Buben waren dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.
Nachdem Gregori einige Worte mit seiner Frau gewechselt hatte, wandte er sich seinen Kindern zu. Mit strenger Miene und erhobenem Zeigefinger schien er sie zu ermahnen. Mein Gott, dachte Erik, selbst in so einer Situation liest er ihnen noch die Leviten, das darf doch nicht wahr sein! Doch offenbar geschah genau dies, denn Bob, der perfekt russisch sprach, lachte plötzlich laut auf und gluckste: „Das ist Gregori, wie er leibt und lebt! Er macht seine Söhne zur Schnecke und droht ihnen gar Prügel an, wenn sie der Mutter nicht aufs Wort folgen.“ Zum Glück wurde Gregoris Gardinenpredigt unterbrochen, als die 5 Minuten Sendezeit vorüber waren und seine Frau samt Kinder vom Bildschirm verschwanden.
An ihrer Stelle erschien nun Hans Gattin mit ihrer Tochter, die von einem Studio in Hongkong zugeschaltet waren. Genau genommen, sah man nur die Frau von Han, denn seine Tochter hatte sich hinter dem Rücken der Mutter versteckt und lugte nur mit einem ihrer mandelförmigen Augen dahinter hervor. Han gelang es, mit beruhigenden Worten das Mädchen hinter ihrer Mutter hervorzulocken. Jetzt sah man, dass die Kleine einen Wimpel der Volksrepublik China in der Hand hielt, während sie sich mit der anderen Hand ängstlich an ihre Mutter klammerte. Ihre Mutter schaffte es, ihren eh schon kleinwüchsigen Gatten noch um 10 Zentimeter an Größe zu unterbieten.
Sie war eine zierliche Kindfrau mit hochgestecktem schwarzem Haar und einem Gesicht wie aus Meißener Porzellan. Sie antwortete ihrem Gatten mit glockenheller Stimme, was in Eriks Ohren wie Vogelgezwitscher klang. Ihr Gesicht wirkte dabei maskenhaft, war jedoch von unnatürlicher Blässe, was auf ihre innere Erregung hindeutete. Als sie sich schließlich am Schluss der Sendung, mit gefalteten Händen, vor ihrem Gatten verbeugte, war es mit Hans mühsam aufrechterhaltener Beherrschung vorbei. Seine sonst so undurchdringlichen Gesichtszüge verzerrten sich wie im Krampf und eine einsame Träne rollte über seine rechte Wange.
Hans Familie verschwand vom Monitor und an ihrer Stelle erschien ein würdiger alter Herr mit schlohweißem Haar und einem Oberlippen-Bärtchen. Es war der Vater von Julia Winter, der sich in einem Hamburger Studio eingefunden hatte, um Abschied von seiner Tochter zu nehmen. Die Ärztin versteifte sich etwas beim Anblick ihres Vaters, hatte sich jedoch gleich wieder gefasst und versuchte, ihm freudige Begrüßungsworte zuzurufen.
Das Gleiche hatte offenbar auch ihr alter Herr vor, sodass sie am Anfang ihres Gespräches etwas aneinander vorbeiredeten. Die Spannung zwischen den beiden war mit Händen zu greifen, obwohl sie sie tunlichst unter den Teppich zu kehren versuchten. Erik konnte sich gut vorstellen, wie der Vater lange Zeit versucht hatte, die Tochter von diesem „irrsinnigen Schritt“ in den Weltraum abzuhalten. Doch die Tochter hatte letztendlich ihren Kopf durchgesetzt. Ihre Querelen wollte allerdings keiner der beiden beim Abschied wieder hochkochen lassen. So verschwand der Medizinprofessor nach letzten aufmunternden Worten an seine einzige Tochter vom Bildschirm.
„Geschafft“, seufzte Bob neben Erik, „wenigstens den ersten Teil der Tortur, denn das Schlimmste steht uns ja noch bevor! Gleich wird Pullok eine ganze Meute von Reportern auf euch hetzen.“ „Ah, Pullok leitet die Pressekonferenz, das hätte ich mir denken können. Unser Missionsleiter lässt doch keine Gelegenheit aus, wenn es um Publicity geht.“ „Ich glaube, da tust du ihm unrecht“, wandte Bob ein. „Er wirbt ja nicht für sich selbst, sondern für die ewig klamme NASA.
Ich sitze doch ebenfalls nur hier, um die Belange der ISS ins rechte Licht zu rücken, damit der Kelch der nächsten Kürzung unseres Budgets an uns vorübergehen möge. Und dabei würde ich noch lieber als Straßenbahn-Schaffner arbeiten, als mich hier von bescheuerten Reportern löchern zu lassen.“ „Wann fängt der Zirkus an?“, wollte Erik wissen. „In fünf Minuten“, brummte Bob. „Man lässt uns, oder besser gesagt deiner Crew noch etwas Zeit, damit sie den Abschied von ihren Familien verdauen kann.“
Die 5 Minuten mussten längst verstrichen sein, als der Bildschirm vor ihnen wieder zum Leben erwachte. Er zeigte einen großen Saal, der bis auf den letzten Platz besetzt war, und selbst entlang der Wände standen die Leute. Die Menschen im Saal waren erregt, diskutierten, gestikulierten – der Lärmpegel war beachtlich. An der Stirnseite des Raumes hatte man ein Podium errichtet, dort thronte Pullok, von zwei seiner Assistenten flankiert. Er hatte seinen mächtigen Oberkörper, durch seine nicht minder gewaltigen Arme abgestützt, nach vorne gebeugt und maß mit dem Blick eines Raubtierdompteurs die Meute der Reporter. Nachdem ihm durch ein Zeichen mitgeteilt worden war, dass man bereits auf Sendung war, straffte sich sein Oberkörper und er griff zum Mikrophon. In kurzen Worten erklärte er, wie die Pressekonferenz ablaufen würde. Zunächst kämen die Reporter zu Wort, die ihre Fragen schriftlich eingereicht hätten, danach diejenigen, die sich spontan zu Wort meldeten. „Würde mich nicht wundern, wenn der alte Gauner die Fragen, die der NASA unangenehm werden könnten, gleich in den Papierkorb geworfen hätte“, meinte Bob lachend. „Darauf kannst du wetten, dass der Schlaumeier alle Fragen zensiert hat“, brummte Erik. „Apropos Wette: wetten, dass die erste Frage, wie auch die meisten anderen, an unsere hübsche Astronautin gehen werden?“ Bob lachte, „das könnte dir so passen, mein Lieber, aber gegen aussichtslose Wetten bin ich immun.“
Erik sollte recht behalten. Ein Reporter der „Herold Tribune“ hatte die Ehre, die erste Frage zu stellen. Aus der Masse der Reporter erhob sich ein Herr mit graumeliertem Haar und griff zum Mikrofon. Sich der weltweiten Aufmerksamkeit bewusst, legte er zunächst eine kleine Kunstpause ein, ehe er mit sonorer Stimme verkündete: „Meine erste Frage geht an Dr. Winter. Miss Winter, wie fühlen Sie sich als einzige Frau unter lauter Männern, sozusagen als Henne im Korb?“
Über das Gesicht der Ärztin lief ein unheilverkündendes Zucken, doch sie beherrschte sich und antwortete kühl: „Jeder im Team der Mars-Astronauten hat seine speziellen Aufgaben und dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob es sich dabei um einen Mann oder eine Frau handelt.“ Der Mann wollte eine weitere Frage stellen, doch Pullok schnitt ihm einfach das Wort ab und erteilte es stattdessen einem kleinen agilen Mann, der den größten Fernsehsender Brasiliens vertrat.
Der Mann kam ohne Umschweife zur Sache und seine Frage richtete sich – wie könnte es auch anders sein – dachte Erik ergeben, an Julia Winter. „Frau Dr. Winter, Sie sind meines Wissens die einzige Ärztin an Bord der PROMETHEUS“, begann er, „wie steht es mit der medizinischen Ausrüstung an Bord ihres Schiffes? Sind Sie damit in der Lage, Notoperationen durchzuführen? Sagen wir: Knochenbrüche oder Blindarmentzündungen zu behandeln?“ „Die medizinische Ausrüstung an Bord ist exzellent“, antwortete die Ärztin lebhaft. „Wir sind damit durchaus in der Lage, leichte bis mittelschwere Operationen durchzuführen. Im Übrigen bin ich nicht der einzige Arzt an Bord. Professor Han Li hat neben Biologie auch noch Medizin studiert und könnte mir daher im Notfall, der hoffentlich nicht eintreten wird, assistieren.“
Offenbar hatten sich die Reporter auf Julia Winter eingeschossen, denn auch die nächste Frage ging an sie. Ein junger Mann mit modischer Brille und einem sorgfältig gestutzten Oberlippenbärtchen fragte sie, wie das Mannschaftsmodul der PROMETHEUS vor den harten Gammastrahlen aus dem Weltraum geschützt sei. Doch die schöne Ärztin leitete die Frage geschickt an Gregori weiter, indem sie behauptete, nicht so viel von Technik zu verstehen wie der Ingenieur der Crew.
Gregori antwortete auf seine unnachahmliche brummige Art: „Natürlich ist unser Mannschaftsmodul gegen Strahlen geschützt, und zwar durch eine 5 cm dicke Schicht aus Nano-Kohlenstoffröhren. Trotzdem kriegen wir noch jede Menge an Sekundärstrahlen ab. Die einzige Möglichkeit gegen größere gesundheitliche Schäden besteht darin, unseren Aufenthalt im Weltraum so kurz wie möglich zu halten. Daher wurde eine direkte Route zum Mars gewählt, während er in Opposition zu uns steht, was wiederum nur durch das neu entwickelte Plasma-Triebwerk möglich wurde.“
Endlich wurde auch eine Frage an den Kommandanten der Mission gestellt. Erik hatte sich schon gefreut und gemeint, man habe ihn vergessen. Eine junge Reporterin, die ihn anstrahlte, wollte wissen, wie er sich verhalten würde, wenn das zum Planeten vorausgeschickte Material Mängel aufweisen sollte. „Würden Sie dann sofort wieder die Heimreise antreten oder würden Sie improvisieren, um die Mission doch noch zu einem Erfolg zu führen?“ Erik wunderte sich, dass Reporter immer wieder Fragen stellten, bei denen die Antwort bereits auf der Hand lag. „Ich würde selbstverständlich noch innerhalb des Startfensters umkehren“, antwortete er mit fester Stimme. „Sie machen mir vielleicht Spaß, junge Frau, improvisieren auf einem fremden Planeten mit unbekannten Gefahren, das wäre das reinste Vabanque-Spiel. Außerdem bin ich nicht der Meinung, dass damit die Mission komplett gescheitert wäre. Die Menschheit hätte zum ersten Mal einen fremden Planeten erreicht und allein die gesammelten Bodenproben hätten einen unschätzbaren wissenschaftlichen Wert.“
Die junge Reporterin, der langsam klar wurde, dass sie eine überflüssige, wenn nicht gar dumme Frage gestellt hatte, setzte sich errötend. An ihrer Stelle erhob sich eine grauhaarige Dame mit modischem Pagenschnitt und griff gelassen zum Mikrophon. „Professor Li“, scholl ihre klare Altstimme durch den Saal, „erwarten Sie, auf dem Mars extraterrestrisches Leben vorzufinden?“ Oh je, Volltreffer, dachte Erik bekümmert. Die Reporterin hatte das Lieblingsthema von Han getroffen. Jetzt würde der Professor niemanden mehr zu Wort kommen lassen und den Rest der Pressekonferenz alleine bestreiten! Han legte auch sogleich los: „Hochverehrte Reporterin, der Mars war nicht immer der knochentrockene, verrostete Wüstenplanet, der nun kaum noch eine Atmosphäre besitzt. Vor circa 4 Milliarden Jahren ähnelte der Mars vielmehr der Erde in ihrer Frühphase. Das heißt, es gab flache Meere, Vulkanismus, die Atmosphäre war dichter und selbst die Temperaturen lagen höher als heute. Etwa zu dieser Zeit, also schon vor 4 Milliarden Jahren, begannen sich in den irdischen Weltmeeren Vorstufen des Lebens zu bilden. Diese haben sich schon eine Milliarde Jahre später zu kompletten Einzellern entwickelt, die man heute als Fossilien in 3 Milliarden altem Felsgestein nachweisen kann. Diese schon erstaunlich hochentwickelten Blaualgen, sogenannte Eukaryonten, besaßen bereits Zellkerne und Mitochondrien und … “
Hier wagte die Reporterin, den Professor zu unterbrechen. „Hochverehrter Herr Professor, mich interessiert weniger die irdische Evolution, ich wollte lediglich wissen, ob sich auch auf dem Mars Leben entwickelt haben könnte.“ „Aber diese Frage bin ich ja im Begriff zu beantworten“, polterte Han ungehalten über die Unterbrechung seiner Ausführungen, „denn so die glasklare Schlussfolgerung: Warum sollte auf dem Mars denn nicht auch eine biologische Evolution in Gang gekommen sein, wenn die Ausgangsbedingungen auf dem Mars mit denen der Erde fast identisch waren?“ „Aber die Marssonden aus dem vorigen Jahrhundert“, warf die Reporterin schüchtern ein – doch weiter kam sie nicht. Han Li gebot ihr mit einer herrischen Geste zu schweigen und rief erzürnt: „Die früheren Marssonden, diese uralten Marssonden, haben doch nur an der Oberfläche des Planeten gekratzt. Dort konnten sie ja gar kein außerirdisches Leben finden! Es befindet sich nämlich meiner Meinung nach exakt dort, wo auch das Wasser des Planeten verschwunden ist, nämlich in der unterirdischen Permafrostschicht.“ „Im Eis?“, fragte die Reporterin zweifelnd. „Selbstverständlich!“, behauptete der Professor kühn, „natürlich in partiell geschmolzenem Eis, denn Wasser benötigt das Leben in jedem Fall. Und wenn Sie nun meinen, das sei unmöglich, so will ich Ihnen gern vor Augen führen, unter welch lebensfeindlichen Bedingungen Einzeller auf der Erde zu überleben vermögen.“ Doch dazu kam der Professor nicht mehr. Pullok dankte ihm für seine interessanten Ausführungen und entzog ihm schlicht das Wort. Er rief einfach den nächsten Reporter auf.
Der Aufgerufene, ein kleiner schlanker Mann mit Hakennase und stechenden Augen, wandte sich an Louis. „Dr. Vargas, weshalb schickt man ausgerechnet einen Astronomen auf die gefährliche Reise zum Mars?“ Louis zeigte sein schönstes Kameralächeln, seine weißen Zähne blitzten auf, doch seine Augen lächelten nicht mit. In ihnen glitzerte eher so etwas wie Mordlust. Schließlich siegte jedoch seine gute Erziehung über sein brasilianisches Temperament und er erklärte gelassen: „Wie Sie vielleicht wissen, obwohl ich da wegen Ihrer Frage so meine Zweifel habe, bin ich Spezialist im Fach Planetologie und schließlich fliegen wir ja zu einem Planeten und wollen ihn erforschen. Dies ist für alle Planetologen ein äußerst spannendes Unterfangen, denn wir können dabei zwei Himmelskörper, die sich vor Jahrmilliarden aus der protoplanetaren Scheibe unserer Sonne gebildet haben, miteinander vergleichen. Wir Wissenschaftler erwarten uns davon insbesondere neue Erkenntnisse über die Entstehung unseres Sonnensystems.“ Der Reporter blickte etwas verwirrt drein, setzte sich dann und begann, sich eifrig Notizen zu machen.
Auch an Bob Miller hatte man Fragen. So wollte eine Reporterin wissen, welchen Beitrag die ISS zur Durchführung der Marsmission geleistet habe. Hier war Bob in seinem Element, denn er konnte für seine Station kräftig die Werbetrommel rühren.
Er antwortete, dass es ohne die ISS die PROMETHEUS gar nicht gäbe, denn schließlich sei sie von der Station aus zusammengebaut worden. Er wies darauf hin, wie wichtig die ISS für die Wissenschaft und die Raumfahrt sei, und nannte sie gar das „Sprungbrett zu den Sternen“.
Je länger sich das Karussell der Fragen und Antworten drehte, desto klarer erkannte Erik den Tenor dieser ganzen Veranstaltung. Hier ging es weniger um wissenschaftlichen Fortschritt oder um ein epochales Ereignis in der Menschheitsgeschichte, sondern um eine Werbeveranstaltung und um pure Sensationsgier. Die Reporter wetteiferten darin, ihrem Publikum Sensationen zu liefern. Die Zuschauer indes hatten sich sicher längst ihre Meinung gebildet. Für sie waren die fünf Astronauten lediglich Opfertiere, die man auf dem Altar der Wissenschaft zu opfern gedachte. Interessant war dabei nur, auf welche Weise die fünf Leute umkommen würden.
Schafften sie es bis zum Mars? Kamen sie auf dem Planeten um? Oder erwischte es sie erst auf dem Rückflug? Wetten wurden noch angenommen! Die wenigsten glaubten daran, dass sie die vier Männer und die hübsche junge Frau je wiedersehen würden. Besonders eine Frage machte deutlich, dass es hier im Wesentlichen um reine Sensationsgier ging. Sie wurde von einem untersetzten glatzköpfigen Mann an Julia Winter gestellt.
Der Mann lächelte süffisant und begann: „Frau Dr. Winter, stimmt es, dass die harte Gammastrahlung des Weltraums insbesondere das Erbgut in den Keimdrüsen schädigt, sodass man eventuell mit Missgeburten rechnen muss? Stimmt es ferner, dass die NASA Ihnen deshalb angeboten hat, die Keimzellen der Astronauten kryostatisch zu konservieren? Und haben Sie von diesem Angebot Gebrauch gemacht?“ Die Ärztin fixierte den kleinen käferartigen Mann mit einem derartig eisigen Blick, dass Erik glaubte, dem Mann müsste auf der Stelle das Blut in den Adern gefrieren. Dann antwortete sie mit frostiger Stimme: „Ad 1: ja, ad 2: ja, ad 3: kein Kommentar!“ „Was meinen Sie damit?“, fragte der Reporter verblüfft. „Das ist doch klar“, entgegnete die Ärztin verächtlich. „Ja, es ist wahr, die Gammastrahlung schädigt das menschliche Erbgut und ja, es stimmt, die NASA hat uns dieses Angebot gemacht. Doch Sie werden sicher nicht im Ernst erwarten, dass ich Ihnen und der ganzen Weltöffentlichkeit auf die Nase binden werde, ob ich dieses Angebot angenommen habe. Wenigstens einen Hauch von Intimsphäre sollte man auch Astronauten lassen!“
Der Reporter, einer von der hartnäckigen Art, wollte sich mit dieser Antwort nicht zufriedengeben und versuchte sein Glück bei Erik. „Kapitän Barnard, Sie sind doch ein liberaler Geist und ein Mann von Welt“, begann er schmeichlerisch, „vielleicht können Sie mir sagen, ob Sie vom Angebot der NASA Gebrauch gemacht haben?“ Erik verschlug es angesichts der Frechheit des Mannes für einen Moment die Sprache und er überlegte fieberhaft, wie er es dem unverschämten Frager heimzahlen könnte. Nach kurzem Nachdenken erwiderte er: „Sie scheinen sich ja mächtig für Spermien-Konservierung und extrakorporale Befruchtung zu interessieren. Daher würde ich Ihnen raten, probieren Sie es selbst einmal aus, d. h., falls Sie dazu noch in der Lage sind und die Sache nicht mangels Masse in die Hose geht.“ Der Reporter lief rot an, wollte noch etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders und setzte sich. Unnötig zu erwähnen, dass die Astronauten an diesem Tag vor weiteren unverschämten Fragen verschont wurden.
Glücklicherweise gehen im Leben selbst die unangenehmsten Dinge einmal zu Ende – wie übrigens alles einmal enden wird … so auch diese Pressekonferenz. Bob sprach ihnen allen aus der Seele, als er meinte: „Zum Teufel mit diesem neugierigen Reporterpack, das einen besoffen schwatzt und Löcher in den Bauch fragt! Ich glaube, wir haben uns etwas Erholung verdient, daher ließ ich in der Kantine ein Abschiedsessen für uns vorbereiten. Dafür opfere ich blutenden Herzens meinen letzten Whisky-Vorrat.“ „Oh“, rief Gregori, „habe ich mich da verhört, ich dachte immer, Alkohol sei auf der ISS verboten?“ „Ist er auch“, meinte Bob grinsend, „aber gerade du als Russe solltest wissen, dass Alkohol selbst auf den verschlungensten Pfaden seinen Weg zum Endverbraucher findet.“
Eine Abschiedsfeier, noch dazu mit reichlich Whisky, das war wirklich ein gelungener Einfall von Bob und ein versöhnlicher Abschluss eines stressigen Tages. Die fünf Astronauten folgten Bob in die Kantine und sämtliche Besatzungsmitglieder der ISS, die keinen Dienst hatten, schlossen sich ihnen an. Die gedämpfte Stimmung, ausgelöst durch den anstehenden Abschied der fünf Astronauten, wurde mit reichlich Alkohol vertrieben. Erst gegen Mitternacht löste Miller die Feier mit den Worten auf: „Alles beim Teufel, mein ganzer vom Mund abgesparter Whisky! Es wird Zeit, schlafen zu gehen. Gute Nacht, ihr Halunken.“ Manche der Zecher fanden nur mit Mühe ihre Schlafkojen, dafür schliefen sie tief und fest, wie Steine.