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HEIMKEHR
ОглавлениеIrgendwann hatte ich vergessen, wovor ich eigentlich weggelaufen war. Vielleicht war es vor mir selbst.
In Zyklen von etwa drei Jahrzehnten vollzieht sich ein Generationswechsel, ungeachtet dessen, ob die neue Generation bereit ist, sich der Herausforderung zu stellen oder nicht. In meiner Familie vollzog sich der Wechsel wie eine Feuertaufe, ohne jede Vorwarnung, mit einem tragischen Unglück, welches kaum durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung hätte erfasst werden können. Und dennoch war es geschehen.
»Jede neue Generation muss die Zeit besiegen, nicht umgekehrt.« hatte Großvater Chico dem Verfasser immer gesagt, obwohl dieser es lieber von seinem stets abwesenden Vater auf einer seiner mysteriösen Reisen gehört hätte — und zu diesem Zeitpunkt noch nicht verstand, was das eigentlich bedeuten sollte.
Um zu begreifen, in was für eine Zeit ich hineingeboren wurde, floh ich vor meinem eigenen Bruder davon und irrte in Europa herum, bis sowohl jene seltsame Form von Heimweh als auch ein zunächst als vollkommen sinnlos anmutender Zustand der Verwirrung unerträglich geworden waren.
Vielleicht hatte ich es aber nur satt, wegen meines berühmten Namens gehänselt zu werden. Von einem „Jesus“ wird eben Großes erwartet. Meine Mutter, die keineswegs jungfräulich war, hatte mich schlichtweg Jesus getauft, nicht aus Nazareth, sondern aus einem mediterranen Niemandsland. Sobald ich nur den Namen Jesus hörte, wurde mir flau im Magen und ich ergriff das Weite. Ich unterschrieb oft einfach nur mit Pico, um etwaigen Problemen vorzubeugen, im überaus nervigen Religionsunterricht hatte ich mir diese Angewohnheit antrainiert. Sobald ich nur irgendwie konnte, flüchtete ich und empfand keineswegs Saudade – das portugiesische Wort für Sehnsucht.
Vom semantischen Kaleidoskop des Wortes Saudade abgesehen, welches nur annähernd und unzulänglich mit Sehnsucht übersetzt wird, gibt es eine Reihe ungeklärter Bezeichnungen für portugiesische Lebensgefühle und Menschen, dessen präzise Umschreibung mit einem Bataillon von Synonymen lediglich die Oberfläche ankratzen und den Kern der Sache wohl kaum berühren. Aus der jeweiligen Situation heraus wird dem Zuhörer eine Interpretationsgabe abverlangt, die viel Erfahrung und eine mit Feingefühl gepaarte Beobachtungsgabe voraussetzt, die sowohl die Tonlage als auch die Mimik in die Waagschale wirft, ähnlich dem Plattdeutsch und dem Jodeln.
Später nannte man mich auch Compadre. Dem Substantiv Compadre werden hauptsächlich acht Bedeutungen beigemessen, wobei der portugiesisch-brasilianische Sinn völlig vom Kontext abweicht und sogleich gestrichen werden kann, sowie unzählige anderer Worte, die sich die Brasilianer anmaßen, Portugiesisch zu nennen, weil die portugiesische Sprache nur wegen der zahlreichen Brasilianer global Rang 5 erreicht. Unweigerlich beschäftigte ich mich zu lange damit, über dieses Wort Compadre nachzudenken.
Wer Jorge Amados O Compadre de Ogum gelesen haben sollte, der versteht sogleich, dass es sich hierbei nur um kaum mehr als einen Taufpaten handelt. Auch in Portugal ist die geläufigste volkstümliche Verwendung für Compadre sinngemäß für Patenonkel oder dessen Vater, Comadre wäre dann die Patentante. Aber dabei belassen es die Portugisen leider nicht. Zur allgemeinen Verwirrung beitragend werden auch die Schwiegereltern, willkommen oder nicht, als Compadres bezeichnet. Ebenfalls werden entfernte Verwandte, von denen man den Grad nur schätzen kann, Compadres genannt. Gute Freunde werden ebenfalls als Compadres geehrt, wie in Goethes Wahlverwandtschaften. Dann kommen noch obskure Bedeutungsnuancen wie die des Vorwurfs der Beteiligung an einer oder mehrerer Verschwörungen. Die Hauptrolle in einer Revue, auch compére bezeichnet, kann in Theaterkreisen auch ein Compadre übernehmen, nicht zu verwechseln mit der Komparsenrolle.
Im Süden Portugals werden die Karten aber anders gemischt, wo in jedem Dorf die Verschmelzung der Gene kaum nachvollziehbare, subtile, sogar überaus verwirrende Vernetzungen zwischenmenschlicher Beziehungen geschaffen hat, in denen jeder die Nachbarn, Freunde, Cousins ersten Grades, Cousins zweiten Grades und auch gute Bekannte zusammenfassend Compadre nennt. Aus genau diesem Grunde eignet sich diese wage Bezeichnung eines Individuums vortrefflich zu dessen Tarnung und Wahrung der Anonymität, weil jeder glaubt, alle Compadres zu kennen, doch im Grunde niemand genau weiß wer nun eigentlich damit gemeint ist, es sei denn, der Familienname wird in diesem Zusammenhang herangezogen in Verbindung mit den im Durchschnitt zwei Mittelnamen, die meist mütterlichen Ursprungs sind, denn auch in Portugal wird in der Regel der Familienname dem männlichen Nachkommen vererbt.
Es ist ein Höchstmaß an Taktgefühl nötig, um den Missbrauch dieses mehrdeutigen Wortes zu vermeiden, dass nur allzu schnell fehlgedeutet werden kann, sobald es aus dem ursprünglichen Kontext willkürlich herausgerissen wird. Es kann daher nicht schief gehen, wenn man beim Amigo bleibt, eine freundschaftliche Bezeichnung die auch in spanischen Kreisen akzeptabel ist. Und wird ein Ausländer mal mit der Anrede Compadre Heinrich angesprochen, so ist dies als eine öffentliche Freundschaftserklärung zu deuten, denn man wird sogleich im Kreise der Einheimischen akzeptiert und als rechtmäßiges Mitglied in der lokalen Gesellschaft willkommen geheißen und in diese auch integriert. Es herrscht dann Anlas zum Feiern, denn ein Compadre zahlt gerne unaufgefordert die erste Runde…
In seltenen Fällen kann Compadre auch mit Humor verwendet werden, als “Clown” oder “Witzfigur”, als eine indirekte Beschimpfung, ein Veräppeln, oder gar als eine abtrünnige Beleidigung missbraucht werden, um ein ahnungsloses Individuum in der Öffentlichkeit bloßzustellen und nach allen Regeln der Kunst zum Besten zu halten. Diese Sprachbarriere führt in den Fachbereich der Soziologie hinein, sowie der Verhaltensbiologie und Psychologie, was für das Verständnis der Handlung entbehrlich ist. Beim Veräppeln zieht der Sprecher das “Compaaadre” in die Länge, schaut einem dabei nicht in die Augen — und kommt es ganz schlimm — ersetzt er das e mit einem i zum Compadri, klopft einem dabei auf die Schulter oder den Rücken, ohne einen kräftigen Händedruck. Ist der Händedruck dann noch schlabbrig und schwächlich, dann ist äußerste Vorsicht geboten, denn wir könnten mit hoher Wahrscheinlichkeit einem neurotischen Spinner oder Schizophrenen gegenüberstehen, der sich auf unsere Kosten profilieren möchte, wie es gerne mit den “Alentejanos” gemacht wird, die es sich gerne gefallen lassen oder die Situation getrost für eine Schlägerei ausnutzen.
Da die Geistlichen, die Padres, den Ausdruck wegen des vulgären Charakters eher meiden, auch aus dem einleuchtenden Grund, dass wir bei einer rein wörtlichen Übersetzung auf den seltsamen Begriff Mitvater stoßen könnten, ein Neologismus, der leicht in Zusammenhang mit Mittäter, Mitwisser, im Sinne von unter einer Decke stecken, gebracht werden kann und daher vermeidbare Missverständnisse geradezu heraufbeschwört.
Mein Bruder Manuel verkörperte den Geist der Picos. Wie alle anderen Portugiesen machten die Picos einst vor der Schwelle des Südens halt und fühlten sich nirgends zugehörig als zu sich selbst. Wenn sie beisammen waren, im familiären Kreise und unter Freunden, dann tollte das Leben so laut, dass die Kirchenglocken im selben Raum nicht gehört werden konnten. Keinen fremden Klang der Außenwelt ließen sie durch den pulsierenden, wilden Lärm des Lebens an sich heran. Das Schreien und Quengeln der Kinder war Musik in ihren Ohren.
Bei der Arbeit brachen sie nur selten mit Anstrengung und Schweigen. Streit gab es nur wegen irgendeiner Landparzelle, aus deren Forderungen und Widerständen blutige Schlägereien erwuchsen, denn die Besitzurkunden waren unschlüssig und unpräzise wie die Charakterzüge der Faustschwingenden Landarbeiter. Aber die Kämpfe waren stets fair, der Feind stand sichtlich vor ihnen, Auge in Auge, ohne verborgene Tricks und hinterlistigen Manövern, eine längst vergangene Art der Kriegsführung. Der überlieferte Stolz bebte in der Geschlechterfolge unangefochten in seiner ursprünglichen Härte weiter.
Die Picos waren eingefleischte Händler und standen in der ersten Reihe, wenn es darum ging neue See- und Handelswege zu erschließen. Das sollte stets ein Trumpf im Spiel sein, seit Jahr und Tag.
Ein Wiedersehen nach vielen Jahren konnte ein leichter Schock werden, denn ich hatte gegen jede Vernunft noch das Jugendbild des Betreffenden vor Augen.
Fast vier Jahre war es her, seit ich Manuel Pico das letzte Mal gesehen hatte. Manuel saß an einem kleinen Ecktisch links von der Bar des Caravela in Quarteira, als wir uns begegneten. Er neigte sich tief über einen Stapel scheinbar ungeordneter Manuskripte, vor ihm ein Tumbler, ein vollgepfropfter Aschenbecher und eine halbvolle Flasche Whiskey. In seiner Existenzgrübelei versunken, geriet er dauernd in Konflikt mit einer Moral, die sich ihm quer vor dem Weg stellte.
Wir begrüßten uns ohne übertriebene Gefühlsäußerung, und ich nahm an, dass er mich schon länger beobachtet hatte als ich ihn. Sein durchdringender Blick lastete aufmerksam auf jede meiner Gesten und erriet, wie ich mich verändert hatte.
Schon immer hatte er das verschlossene Lächeln eines Blinden gehabt, unergründlich und eine Art egozentrische Verschwörung mit seinem Spiegelbild, so dass niemand in der Lage war, seine Zufriedenheit mit ihm zu teilen.
Von Anfang an waren bei Manuel die Weichen in Richtung Literatur gestellt. Er hielt sich in dem gefährlichen Grenzgebiet zwischen Wahn und Wirklichkeit auf. Mitten in einem Gespräch konnte es aus heiterem Himmel faszinierende und verrückte lyrische Beschreibungen hageln. Nahezu zügellos konnte die Kraft seiner schöpferischen Phantasie seine Zuhörer in eine andere Welt versetzen. In ekstatischen Augenblicken, in denen er sich voll und ganz in Worten auflöste, glich seine Persönlichkeit der von Virginia Woolf:
»Ich hatte fast Angst, als mir wieder die Stimmen einfielen, die vorauszueilen pflegten.«
Bei der kleinsten Sozialkritik machte Manuel sofort voller Behagen mit und steuerte skandalöse und zotige Einzelheiten bei – ganz Fachmann für die Beurteilung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lage. Konkrete Zahlen im Zusammenhang mit der Staatsverschuldung, der Verschuldung der Betriebe und der Familienhaushalte konnte oder wollte er jedoch nicht nennen.
Sein Unterbewusstsein eilte dem Bewusstsein voraus, bedingungslos der kreativen, schreibenden Zunft verschrieben, wie „Pegasus im Joch“, an einer Bar oder in seinem Appartement, versunken in einem verwahrlosten Chaos, alles um sich herum vergessend. Die Vollkommenheit der Jugend lag längst hinter ihm, er war nicht länger übermäßig hübsch – glänzte aber mit seiner Intelligenz. Ein Mann wird schnell müde und alt, wenn er merkt, dass er sich noch keine Gewinnerin herausgepickt hat und es fast zu spät ist, um noch etwas daran zu ändern. Manuel war schon fast in den Vierzigern, die ich schon bald selbst erreichen sollte.
Unermüdlich feilte er an mal wieder an jeder Seite seines Manuskripts. Aber nur selten gab er ein Werk der Öffentlichkeit preis; denn seine pathologische Empfindlichkeit gegenüber Kritik von außen war stärker als sein Selbstvertrauen. Sein Geld machte er mit Werbetexten, die dann in den Hochglanzbroschüren die Hotels die Region bewarben.
Da saßen wir nun in einer dunklen Ecke des überklimatisierten Caravela. Manuel ließ den Whiskey abräumen und bestellte drei Martinis. Erst nach dem zweiten Martini Medium Cocktail begann er mit dem Gespräch:
»Als du vor Jahren gingst, grübelte ich gerade über eine Beschreibung des Naturschutzgebietes Ria Formosa, so hast du mich auch jetzt vorgefunden. Als Werbetexter und Barbesitzer verdiene ich meinen Unterhalt, um mich in meiner Freizeit... na, du weißt schon. Was hat der kleine Bruder mit dem großen Namen in der weiten Welt so lange getan?« sagte er zwischen zwei Atemzügen. Er zog geduldig an seiner Zigarette und nahm den ersten Schluck von seinem dritten Martini – das erkannte ich an den drei Strichen auf dem Bierdeckel:
»Nun, ich habe mir eine Position erarbeitet«, antwortete ich nachdenklich, »die größtenteils ein Resultat meiner Erfahrungen ist, nicht das irgendeines Talents. Ich bin in einer großen Hotelgruppe als Development Manager beschäftigt und weiß, wovon ich rede, wenn ich dir sage, dass der Martini im Caravela überteuert ist.«
»Zu teuer? Du lenkst ab. Es steht jedem frei, sich in Konsumverzicht zu üben!« entgegnete er ironisch. Und wer wäre Manuel ohne eine beiläufige Stichelei:
»Es scheint, als ob du einen schlechtbezahlten Job ausübst, Jesus Rodrigues Pico. Aber du bist mein Gast, denn ich habe diesen heruntergewirtschafteten Club vor zwei Jahren gekauft...«
Während er austrank, machte er eine Geste zu seinem Barkeeper, der in regelmäßigen Abständen zu uns herüberschaute.
»Warum bist du damals nach Deutschland gezogen, ohne dich zu verabschieden?« Und schon waren wir bei der Gretchenfrage.
»Du und Formalitäten? Ich hatte Angst, du würdest mich mitreißen in deinem Wahnsinn. Immer habe ich versucht, dich zu verstehen, aber irgendwann musste ich...« er wusste, dass ich wie auf Nadeln saß.
»Du verstehst dich selbst nicht, Jesus. Lauf nicht vor dir selbst davon! Vergiss die Vergangenheit, das Unglück, die Toten!«
Diese Aussage überraschte mich, denn er hatte immer mit Vorliebe von der Vergangenheit gesprochen. Woher kam diese plötzliche Sinneswandlung? Warum ließ er sich nicht mehr auf ernsthafte Diskussionen über das ein, was damals wirklich passiert war?
Beim objektiver Betrachtung der Situation stellten wir beide fest, dass wir bis zum Abitur systematisch verwöhnt worden waren: keinerlei Miet-, Kleider- oder Büchersorgen, nicht einmal Versorgungssorgen. Von derartiger Unbeschwertheit sollten die Tage nie wieder werden. Danach sollten erst die wahren Probleme auftauchen. Der Lärm der Gäste übertönte unser Schweigen. Manuel entwickelte seine Gedanken im Stillen weiter, auf Spurensuche im Dschungel seiner Synapsen. Beide hatten wir einen leichten Silberblick, aber das war nichts Neues für uns.
Er erzählte irgendetwas über seine Art, die Wirklichkeit zu betrachten. In dieser Hinsicht habe er sich nicht verändert. Es ginge ihm nie um eine möglichst genaue Darstellung der Wirklichkeit. Wirklichkeit sei für Manuel nur das, was das Bewusstsein dafür hielt. Alles, was er schriebe, sei nur auf den ersten Blick objektiv wahrgenommen.
Er sprach zu mir in einem Monolog, jede Verästelung seines Bewusstseins offenbarend. Obwohl fast alle seine Freunde vorgäben, ihn zu verstehen, verstünden ihn die wenigsten. Er habe ohnehin sehr wenige Freunde, denn er gehöre zu jener Generation, die die Tatsache, sich möglichst viele Feinde zu schaffen, als ihr unabwendbares Schicksal akzeptiere.
Alle Generationen hätten eines gemeinsam. Jede von ihnen befinde sich in einer Emanzipation gegenüber der vorhergehenden, was bedeute, dass keine von ihnen die Lebens- oder Existenzformeln der anderen vollständig übernehme. Jede Generation akzeptiere die Erbschaft der vorhergehenden Generation oder weise sie zurück, je nachdem, ob das Vermächtnis die Kraft des Fortschritts der erbenden Generation bedeute oder nicht. Um Fortschritte zu machen, müsse eine Generation nicht aus Wissenschaftlern bestehen, aber sie müsse notwendigerweise gebildet sein.
Er sei zweifellos ein Mitglied jener Generation, die an allem zweifle, zunächst an Gott und schließlich an sich selbst. Er verweigere den Wehrdienst, kehre dem Spiel der Nationen den Rücken zu und wandere in Richtung Wahrheit, so weit wie möglich im extremen Limit von dem, was zu erwarten sei, auf verlorene und verzweifelte Weise, als wolle er sich dem utopischen Zustand absoluter Wahrheit nähern. Dieses Lebensgefühl stelle eine neue Erfahrung für ihn dar. Wem das zu kompliziert war, vor allem wenn genauere Bezeichnungen fehlten, verliehen die Älteren ihrer Fassungslosigkeit Ausdruck, indem sie versuchten, dieser Generation Namen zuzuordnen wie Hightech-Generation, Handy-Generation oder indem sie für die Bezeichnung des Generationswechsels die Wortwahl von Douglas Coupland übernähmen: Generation X. Was auch immer das X bedeuten sollte. Die selbstbezeichnende Ausdrucksweise für eine ähnliche Bestandsaufnahme der portugiesischen Jugend, war „Geração à Rasca“, die zwar gebildete, jedoch eher mittellose, größtenteils arbeitslose Jugend, der die Gesellschaft keine Entscheidungsbefugnis einräumt und die im relativ hohen Alter noch von den Eltern abhängig ist, sich folglich nicht entfalten und verwirklichen kann, außer sich in Massenprotesten auf der Straße bemerkbar zu machen.
»Ach Jesus — entweder der Überfluss oder der Mangel an Verstand sind die Kardinalfehler unserer Generation. Lebendige Erfahrung ist das Wichtigste. Durch die goldene Mitte, unauffällig durch die goldene Mitte.« stellte er fest, mit steigendem Alkoholpegel.
»Da magst du Recht haben. Aber was ich noch sagen wollte ist… es gibt noch eine Reihe Ungereimtheiten in unserer Vergangenheit, meinst du nicht?« bemerkte ich und entledigte mich endlich meiner Besorgnis, die mich zurück nach Portugal geführt hatte.
»Aber ja, sicher. Dazu werden wir genug Zeit haben. Ich glaube, ich habe zu viel getrunken. Aber einer geht noch. Im Moment möchte ich davon nichts wissen. Bin fast wahnsinnig geworden bei den Nachforschungen, wie besessen von irgendeinem Details, was keinem aufgefallen ist, ein Hinweis… dann die Therapie. Ich bin es los…« sagte er sichtlich angestrengt.
Manuel lenkte ab und sprach von der Zeit der Nelkenrevolution, als Portugal, der älteste Nationalstaat Europas, sich von der ältesten Diktatur Europas befreite, durch einen friedlichen Militärputsch. Er sprach von unserem Vater, der enthusiastisch von Europa geträumt hatte. Er selbst war eher ein anonymer Philanthrop, der der Politik mit Humor und der Theologie mit einem frechen Gesicht begegnete und hoffnungsvoll in die Zukunft blickte. Jede Form von Kontrolle war ihm suspekt. Nie wusste er, wohin er seine Ausweispapiere verlegt hatte, auch seine Steuernummer war ihm zutiefst verhasst. Manuel fühlte sich von der Revolution betrogen, und von der EU wusste er, dass sie ihn bisher nicht sonderlich bereichert hatte, ganz im Gegenteil, der Schuldenberg hätte monströse Dimensionen angenommen. Eine vorprogrammierte Staatspleite. Keineswegs vertrat er die damals weit verbreitete Meinung, dass sein Land den für eine halbwegs funktionierende Demokratie notwendigen Reifegrad erlangt hatte. Wo Europa sich ins Meer stürzt, herrschten von jeher andere Gesetze. Er formulierte das folgendermaßen: Der Portugiese guckt ins Glas, der Deutsche ins Reagenzglas. Patentanmeldungen, darauf komme es an.
Seine leisen und bedächtigen Worte klangen wie die Schwingungen einer fernen Telefonstimme. Er beschrieb irgendein Gefühl von Heimatlosigkeit und innerer Dürre. Zunächst begriff ich nicht, worauf er hinauswollte, bis seine Augen zu glänzen begannen und seine Gefühle in einem Rausch eskalierten, den ich in diesem Ausmaß noch nie zuvor an ihm beobachtet hatte. Hin und wieder legte er mir eine Hand auf die Schultern, als wolle er sich vergewissern, dass ich wirklich vor ihm saß.
Schlagartig wurde mir bewusst, worauf Manuel hinauswollte. Da war er nun im Caravela, als ob er all die Jahre nur darauf gewartet hatte, sich jemandem anzuvertrauen. Er hatte etwas Sonderbares erlebt - und er hatte eine Geschichte.
»Zunächst musst du mir einen Gefallen tun. Da sind einige Dokumente, die du anonym für mich veröffentlichen solltest. Du weißt schon - ich habe mir in den letzten Jahren viele Feinde gemacht. Ich schaffe es einfach nicht unauffällig zu bleiben. Du bist in Quarteira weitgehend unbekannt. Das Risiko ist kalkulierbar. Nun?« sagte er in der Erwartung eines bedingungslosen Einverständnisses.
»Aber Manuel, ich weiß doch nicht einmal, um was für Dokumente es sich handelt. Es ist nicht meine Art, blinde Versprechungen zu machen - aber red’ schon!« gab ich nach.
Meine Ungeduld kostete er aus, obwohl ich versuchte, reserviert zu bleiben, und mir auch sonst alle erdenkliche Mühe gab, keinerlei Bewegungen und Gesten zu machen, die auch nur den geringsten Hinweis darauf gaben, was in meinem Inneren vorging. Trotzdem schien Manuel zu wissen, wie es in mir aussah. Diese Gabe wirkte beängstigend auf mich.
Ich geriet in den Strom seiner Gedanken hinein. Der Barkeeper schien nur noch auf uns zu schielen, während er seine letzten Gläser polierte. Manuel vergewisserte sich, dass niemand anwesend war, der uns hätte belauschen können. Er warf einen misstrauischen Blick zu seinem Barkeeper hinüber und sagte:
»Morgen werde ich dich aufsuchen und das Beweismaterial mitnehmen, um alles zu klären. Wo kann ich dich finden?«
»Im Dom José. Die Aussicht vom Torre 20 auf den Raubbau kann ich nicht länger ertragen.«
»Gleich an der Strandpromenade, aus reiner Bequemlichkeit. Das hätte ich mir denken können. Du musst meine Geheimnistuerei entschuldigen, aber hier ist nicht der richtige Ort für derartige Angelegenheiten.«
Als wir aus dem Caravela gingen, war die Stadt verlassen, wie die Kulisse einer längst abgedrehten Szene. Noch brannte die Lichterkette der Fangboote am dunklen Horizont.
Nach einem Händedruck verschwand Manuel vergnügt in eine der dunklen Gassen. Ich setzte, einem Seemann gleich, breiten Schritts einen Fuß vor den anderen in Richtung des „Dom José“. Mir war, als segelte ich auf einer Nussschale am Kap der Guten Hoffnung entlang.
Am nächsten Morgen musste ich den leichten Rausch vom Vorabend bitter bezahlen. Aufgrund der anhaltenden Müdigkeit sah ich mich gezwungen, das Frühstück vom Zimmerservice servieren zu lassen. Da ich nicht gerne allein mein Frühstück zu mir nahm, griff ich nur selten auf diese bequeme Alternative zurück. Der Etagenkellner José Rosa war sehr gesprächig. Er war ein einfacher und unscheinbarer Mann und hatte allem Anschein nach die Fünfziger bereits überschritten. Seine Unterwürfigkeit bezeichnete er als anhängliche Selbstlosigkeit oder auch als Treue. Armut setzte er nicht unbedingt mit Elend gleich, seinen Stolz hatte er noch lange nicht verkauft. Seinen Stolz hielt er selbstbewusst fest wie ein Ritter sein Wappenschild. Ich mochte ihn, weil er ein Original war, ein authentischer algarvio, vor allem aber deshalb, weil er keinem Klischee entsprach. Wenn ich ihm Trinkgeld zustecken wollte, lehnte er zunächst ab, nahm es aber beim zweiten Versuch, oder wenn ich es ihm zusteckte:
»Nicht von ihnen, Compadre Pico. Es ist mir eine Ehre, Senhor...«
Er schien zu wissen, dass ich nicht irgendein Tourist war. Es gibt Begegnungen, bei denen es weniger auf die Konversation ankommt, sondern auf die Haltung und den Gesichtsausdruck der jeweiligen Individuen. José Rosa war schwerfällig, aber durch jede seiner Bewegungen schimmerte eine gewisse Würde. Allein mit seinen Blicken vermochte er sein Wesen und seine Empfindungen zu offenbaren. Sein ausdrucksvolles Schweigen hinterließ einen bleibenden Eindruck in meinem Gedächtnis. José Rosa wusste Dinge von mir, die er eigentlich nicht hätte wissen können. Ich war gerührt von seiner ruhigen Art, und es wirkte keineswegs lächerlich, wenn er behauptete, Wesen und Absichten eines Menschen allein vom Gesicht ablesen zu können.
Am späten Vormittag ging ich aus dem Hotel. Die Luft war herrlich und erfüllt vom Geruch der Pinien und des Eukalyptus, vermengt mit einer frischen Meeresbrise. Plötzlich hing der betäubende Duft gebratener Sardinen in der Luft. Das erinnerte mich an Dom Isidro, einen alten Fischer, der Großvater „Chico“ bereits zu der Zeit gekannt hatte, als er aus einer Laune heraus bis nach Afrika segelte, um nach einigen Wochen mit einer Ladung exotischem Plunder aufzutauchen — ich habe ihm nie ganz glauben können, dass er allein wegen des unbrauchbaren Zeugs nach Afrika gesegelt war, jedenfalls wird es für immer sein Geheimnis bleiben.
Dom Isidro hatte mir mal gesagt:
»Wenn du Afrika ein einziges Mal gesehen hast, verfolgt es dich wie eine unheilbare Sucht.«
Während ich in Richtung des Fischmarktes ging, fielen mir unzählige Veränderungen in Quarteira auf. Es hatte sich zur Touristenstadt gemausert. Eine ruppige Lebensenergie, die nicht nur von den vergnügungssüchtigen Touristen ausging, hing in der Luft. Nur der Fischmarkt hatte sich kaum verändert. Dom Isidro hatte seine halbgefüllten Fischkisten an der gewohnten Stelle aufgestapelt. Als ich näher trat, war er gerade damit beschäftigt, Salz und Eis über die Fische zu streuen.
»Dom Isidro, tüchtig wie immer!« begrüßte ich ihn überschwänglich. Er vergaß seine salzigen und eisigen Hände und umarmte mich fest.
»Du hast mich also nicht vergessen!« sagte er und klopfte mir dabei auf die Schulter. Nun roch ich ebenfalls stark nach Fisch. Davon nahm Dom Isidro keinerlei Notiz, stattdessen rief er lautstark zu einem seiner Kollegen rüber:
»Tóino, übernimm mal für eine halbe Stunde. Wir geh ‘n zu Martins!« Tóino winkte, ohne ein Wort zu sagen. Sie verstanden sich offenbar recht gut. Zu meiner Erleichterung waren bei Martins noch andere Fischer, so fiel der Abklatschgeruch meiner Kleidung weniger auf. Dom Isidro bestellte zwei „bicas“, ein besonders aromatischer Mocca, und zwei Macieiras, dessen cognacähnlicher Geschmack vortrefflich mit der „bica“ harmonierte. Ich fragte ihn, warum er als Serrenho, als ein Mann der Serra do Caldeirão, ausgerechnet Fischer geworden sei.
»Aus Tradition vielleicht. Vor allem aber, weil ich das Meer liebe und die Fische, bis auf die dummen, die sich fangen lassen.« Wir schmunzelten.
»Wohin, denkst du, wird der Tourismus uns führen?«
Als ich ihm diese Frage stellte, sah er abwesend in seinen Cognacschwenker wie in eine verheißungsvolle Kristallkugel, die einen Blick in die Zukunft gewährt. Dann sagte er mit starrem Blick:
»Der Mensch ist nicht wie ein Segelboot, das keine Spuren auf dem Meer hinterlässt. Wir bauen unsere Wirtschaft zu sehr auf den Tourismus auf. Wenn man damit anfängt, ist es immer schwierig zu kontrollieren. Die Ansprüche der Touristen steigen immer weiter. Nur wenige sind in der Lage, diesen Anforderungen zu entsprechen. Wo führt das hin? Noch mehr Raubbau? Der Druck ist gleichermaßen politisch wie finanziell. Wir sind dabei unsere kulturelle Identität zu verlieren.«
Kaum hatte er ausgesprochen, trank er den Macieira in einem einzigen Schluck aus. Dann wurde er wieder fröhlich und forderte mich auf, eine Havanna mit ihm zu rauchen:
»Dein Großvater „Chico“ hat immer gerne mit mir geraucht, obwohl er vierzig Jahre mehr auf den Buckel hatte als ich. Er war ein großartiger Mensch. Sein unbändiger Charakter...«
Ich genoss es, wenn Dom Isidro von meinem Großvater „Chico“ erzählte. Manchmal wurden seine Augen dabei feucht, und ich wusste nicht, ob es an den Erinnerungen lag, an der portugiesischen Epidemie, der sie die seltsamen Bezeichnung Saudade gaben, einer Art krankhaften Sehnsucht nach den alten Zeiten, an seiner Vorahnung von dem, was noch kommen würde, oder an allem zusammen. Wie schön es auch war, auf die Dauer wurde es eher unbehaglich, dieses Früher war ja alles so viel besser, oh diese Gegenwart…
Mir war völlig entfallen, dass Manuel mich aufsuchen wollte. Ich hatte vollkommen vergessen, wie wunderbar eine gute Zigarre schmecken konnte, besonders wenn man sich dabei mit einem alten Freund unterhielt. Wie wohltuend die einfachsten Dinge des Lebens sein konnten, wenn man sie zu schätzen wusste. Einfach herrlich, vorausgesetzt, man ignorierte den Fischgeruch, oder man hatte sich an ihn gewöhnt. Wir hatten wirklich gelernt, uns zu bescheiden und an den schlichten Dingen zu erfreuen, über die man in einer Wohlstandsgesellschaft längst hinwegsah. Man nahm sich Zeit, um einige höfliche Worte zu wechseln. Das Handy nahm man selten in die Hand, vergaß absichtlich das neu erworbene iPad aufzuladen, ignorierte die Nachrichten, die aus den überall ausgehangenen Flachbildschirmen zu uns drangen, besuchte sich dafür aber umso häufiger, ohne besonderen Anlass, spontan und unverhofft, so dass die Hand frei blieb für einen freundschaftlichen Händedruck. Wie sehr ich vermisste, was gerne als Belanglosigkeit bezeichnet wurde, weil es nicht mit dem Bild des fortschrittlichen, stressgeplagten Europäers oder mit den geräuschvollen Zeichen des Wandels in Einklang gebracht werden konnte.
Dom Isidro verabschiedete sich. Er entschuldigte sich, so wenig Zeit zu haben. Aber beide wussten wir, dass wir uns noch öfter sehen würden.
»Noch was – erinnere mich beim nächsten Mal daran, dir den Brief zu geben, den „Chico“ hinterlassen hat. Erst wenn mächtig Grass über die Sache gewachsen ist, sollte ich ihn dir übergeben. Komm morgen zum Fischmarkt, unbedingt, es ist wichtig!« warf er noch ein, als er sich bereits abwendete.
Ehe ich auch nur ein Wort sagen konnte, stand ich allein an der Theke, verwundert und brennend neugierig zugleich.
In der Hoffnung, dass Manuel nicht schon auf mich wartete, begab ich mich im Eilschritt ins Hotel. Erst als sich zahlreiche Gäste naserümpfend nach mir umdrehten, bemerkte ich den abartigen Fischgeruch, der aus den Fasern meines Hemdes strömte und einen Schweif hinterließ, der, wie mir José Rosa im Nachhinein bestätigte, noch für Stunden wie der Geist Neptuns in der Empfangshalle sein Unwesen trieb.
Ich fand eine Nachricht vor, und der Concierge überreichte mir gleichzeitig die Schlüssel von Manuels Wohnung. Nachdem ich ein Bad genommen und frische Kleidung angezogen hatte, besorgte ich mir eine Tageszeitung und machte mich auf den Weg. Auf der Titelseite protzte ein Foto des Palácio dos Viscondes de Estói. „Dornröschens Schloss“ war also endlich verkauft worden. Es war angeblich zu einer Pousada umfunktioniert worden. Die hohen Restaurationskosten, die aufgrund des Denkmalschutzes nicht gerade gering waren, übernahm in diesem Falle wieder der Steuerzahler.
Dann fiel mir eine weitaus interessantere Schlagzeile auf: HOTELKOMPLEX BEI FONTE SANTA GEPLANT. Ich konnte meinen Augen nicht trauen, blieb vor Entsetzen stehen und machte mir Luft:
»Wie ist das nur möglich?«
Einige Passanten musterten mich erstaunt. Nervös las ich weiter. Die Wasserqualität der Quelle „Fonte Santa“ sei mehreren Laborberichten der Wasserwerke in Faro zufolge, entgegen allen Erwartungen, nicht hochwertiger als gewöhnliches Trinkwasser. Schon Großvater „Chico“ hatte immer von dieser Quelle geschwärmt. In meiner frühesten Kindheit hatte mich dieses Wasser innerhalb von nur drei Tagen von lästigen Schuppen befreit. Und nun lag es an mir, die Quelle vor gewissenlosen Bauspekulanten zu schützen. Zahlreiche Bohrungen in unmittelbarer Nähe hatten die Quelle schon fast ausgetrocknet, weil der junge Erbe der umliegenden Ländereien offenbar unfähig war, sein Land rationell zu bewässern. Folglich sanken die Erträge, und er beschloss zu verkaufen. Quarteira war dabei, dem miserablen Beispiel anderer Städte zu folgen und seine Seele an den Tourismus zu verkaufen. Es war unerträglich, diesem Schauspiel tatenlos zusehen zu müssen.
Manuels Wohnung lag in der nördlichen Altstadt. Ich war angenehm überrascht vom glänzenden Marmor im Wohnzimmer, vom antiken Bechstein, von den hervorragenden Kopien von Marc Chagalls „Die Liebenden in Grau“, „Die blaue Landschaft“ und „La femme au bouquet“. In meiner Bewunderung übersah ich eine Blumenvase neben dem Kanapee und stolperte vornüber auf die Kommode. Die Vase blieb erstaunlicherweise unbeschädigt. Nachdem ich alles wieder auf seinen Platz gestellt hatte, ging ich ins Badezimmer, um mir die Hände zu waschen. Gleich neben der Badewanne stand ein winziger Marmortisch, auf dem sich ein einsames Glas, eine leere Flasche Dom Perignon und ein Diktiergerät befanden. Ich war neugierig und hörte mir das Band an. Nach Sekunden undefinierbarer Geräusche konnte ich ein Geplätscher identifizieren und dann Manuels Stimme, beinahe flüsternd und melancholisch:
»Meine liebe Patricia, es ist spät in der Nacht. In der Badewanne knistern leise die Schaumbläschen. Der Wasserdampf steigt auf, und ich atme den zarten Hauch von Eukalyptus ein. Nach einem anstrengenden Tag entfernt sich alles weiter und weiter von mir. Meine Haut wird geschmeidig, meine Muskeln entspannen sich, die Gesichtszüge glätten sich mehr und mehr. Mein Herz pocht immer schneller beim bloßen Gedanken an dich. Glühend treibt es mir den Schweiß aus den Poren. In diesem Zustand völliger Nacktheit durchjagen mich Erinnerungen an eine Berührung von dir... und ich liebe, liebe, liebe dich, dass es mir die Sinne raubt, die Sinne raubt... und die Worte...«
Es war erstaunlich, dass tatsächlich eine Frau existierte, die Manuels Anforderungen genügte und in die er sich auch noch verlieben konnte. Ich rauchte eine Zigarette und ging in die Küche, um mir einen Kaffee zu brühen. Mit einem Mal stand Manuel vor mir. Er schenkte mir ein Lächeln, das ich lange vermisst hatte. Er war unrasiert, schien aber zufrieden zu sein mit sich und der Welt. Auf dem Wohnzimmertisch lag die Zeitung, die ich dort hingeworfen hatte, ohne sie vollständig gelesen zu haben.
»Du hast es also gelesen?« fragte er.
Als ich keine Antwort gab, mir stattdessen eine weitere Zigarette anzündete, fuhr er fort:
»Das sind unsere Waffen, Brüderlein!« Er warf mir einen Umschlag zu.
»Das sind Photokopien der beiden amtlichen Analysen der Wasserproben und der Bodenproben. Die Unterschiede der ersten Analyse zur zweiten sind so deutlich, dass ein Blinder bemerkt, dass etwas nicht stimmt. Veröffentlicht wurde nur die zweite Analyse. Wenn wir das alles an die Öffentlichkeit bringen, ist der Skandal perfekt.«
Das Problem war damit zwar nicht aus der Welt geschafft, aber es verbesserte unsere Ausgangsposition erheblich.
»Wie bist du an diese Unterlagen herangekommen? Mensch, ich bin Projektentwickler, du bringst mich hier in eine Zwickmühle.«
Er winkte ab. »Das ist eine andere Geschichte!«
Erleichtert ging ich in die Küche, um mir einen Kaffee zu holen.
»Wie möchtest du deinen Kaffee, Manuel?«
»Heiß wie die Hölle, schwarz wie der Teufel, rein wie ein Engel und süß wie die Liebe, wenn es möglich ist!« Mit diesem Zitat von Talleyrand trumpfte er nur dann auf, wenn er besonders gut gelaunt war.
»Für wen hast du auf Band gesprochen?« wollte ich nun wissen, als ich ihm den Kaffee reichte.
»Für die Liebe meines Lebens.«
»Weißt du, wie lächerlich das aus deinem Munde klingt?«
»Nun, für Außenstehende wirkt die Liebe meistens lächerlich, das liegt in der Natur der Sache.«
»Komm mir nicht mit diesen Pessoa Spruch. Du könntest sie mir ja mal vorstellen.«
»Alles zu seiner Zeit. Jetzt habe ich keine Zeit. Ich muss noch mal kurz raus, um etwas erledigen. Die Faulheit und das fehlende Engagement der Behörden ist ein schlimmerer Feind des Fortschritts als die sogenannten Wirtschaftskrisen. Ein Typ aus dem Rathaus wollte mir noch ein paar Unterlagen besorgen. Nach mehrfachen Anrufen und zwei Wochen Überredungskunst, ist er so weit, dass er damit rausrückt.«
»Das ist sicherlich ein Teil der Geschichte, die du mir erzählen wolltest. Stimmt´s, oder habe ich recht?«
»Nein. Heute werde ich dir etwas erzählen, jeden Tag etwas mehr, ein Mosaiksteinchen nach dem anderen, bis du selbst dann alle Einzelteile zu einem Ganzen zusammenfügen kannst.«
»Aber du solltest dich nicht wieder manipulieren lassen wie ein Spielball im Kräfteturnier der politischen Intrigen. Du kannst das physisch nicht mehr verkraften.« erinnerte ich ihn an seinen labilen Zustand.
»Keine Sorge, ich habe alles unter Kontrolle. Bin auf der Warteliste. Ein neues Herz. Der Schrittmacher funktioniert prächtig.« versicherte er.
»Hoffentlich findet sich bald das kompatible Organ. Ich brauche meines ja noch. Hast du dich um die Erbschaft gekümmert?«
»Geld ist kaum noch da. Unser altes Haus in Almodovar, dieses Apartment hier und die Ruine am Eingang der Stadt Loulé; die Caravela Bar natürlich auch. Keine Hinweise auf irgendwelche wirtschaftliche Aktivitäten, Wertpapiere, die alte Büchersammlung Großvaters, einfach nichts.«
»Das ist seltsam. Ich hatte den Eindruck er wäre nach der Revolution regelrecht aufgeblüht.«
»Wer konnte denn ahnen, dass es ihr letzter Jachtausflug werden sollte? Fast wären wir dabei gewesen und ebenfalls ertrunken.«
»Schon gut, belassen wir dabei.« beendete ich das Gespräch, als ich bemerkte wie blass und entkräftet Manuel aussah. Lange genug emigrierte ich, vernahm immer deutlicher den dumpfen Ruf der Natur meiner südlichen Heimat, umgeben von der heilenden Meeresluft und der brennenden Hitze des Landes, fern der Furcht vor der eigenen unbändigen und rastlosen Natur, die mich schon oft gefährlich nahe der Grenze unheilvoller Überwältigung gebracht hatte. Mit noch unvollständig ausgepackten Koffern glaubte ich, alles rasch nachholen zu müssen, was ich verpasst hatte, auf meiner elenden Glückssuche, als wäre es ein statischer Zustand mit Ewigkeitscharakter.
Manuels Auffassung vom Glück beschrieb er wie die Freiheit vom Schmerz. Sein Familiensinn war derart überentwickelt, wie die Leute auf dem Lande unterentwickelt waren. Sie hielten sich lebenslänglich aus und beschimpften sich lautstark, weil sie sich leidenschaftlich aufeinander konzentrierten und dadurch einander die Fehler ausfindig Machten wie die Affen im Zoo die Läuse. Dann schmeichelten sie einander wieder, besonders wenn sie etwas voneinander wollten.
Wir hatten im vergangenen Jahrhundert Diktatur und Rebellion nach römischem Muster erlebt, nur etwas friedlicher. Seitdem wanderten alle vier bis acht Jahre, solange dauerten ein oder zwei Legislaturperioden, alle Engel aus und neue, verkappte, selbstsüchtige und verlogene Tyrannen übernahmen das Ruder und überschlugen sich in immer größeren Schuldenbergen, ganze Gebirgsketten von Schulden, dass die Opferlämmer auf Generationen hin damit beschäftigt sein würden, alles zurückzuzahlen, was unter den oberen Zehntausend verteilt worden war, in der blinden Hoffnung, der nächste Regierungswechsel ließe ihnen den Grundbesitz und die Offshore-Konten.
Während der Wintermonate machte es sich eine neue Kategorie von Touristen im Süden gemütlich. Dieses Mal waren es keine gewöhnlichen Touristen aus dem kalten Nord- und Mitteleuropa, sondern Ruheständler, die für eine Mittelschichtrente ein warmes und vor allem erschwingliches Plätzchen suchten. Mit den eingesparten Heizkosten ihrer kühlen Heimat ließ es sich in der Algarve angenehm überwintern, vorausgesetzt man wusste wie und wo, ohne in eine Touristenfalle zu tappen. Und dazu musste man sich unter die Einheimischen mischen, ihre Sprache lernen, ihre Geheimnisse erforschen — etwas von sich selbst preisgeben, aus der dicken Schutzhaut des Touristen herausschlüpfen oder aus dem Wohnwagen.
Unserer mangelnden Rationalität erlegen, waren wir beide in ein tiefes Loch der Empfindsamkeit gestürzt. Der durchschnittliche Portugiese hinkt ein wenig der Evolution hinterher, wenn es darum geht, die Empfindungen zu bändigen — als handle sich es sich um einen noch wenig dressierten Lusitaner. Jene Empfindungen, noch so alt, waren zäh wie Rindsleder, alte Lieder aufdringlich — selbst die alten Schlagzeilen sprangen immer wieder in neuen Varianten aus dem Sack hervor und konnten schneiden wie ein Skalpell — wo immer wir auch versuchten vor ihnen zu fliehen. Überall begleitete uns eine mysteriöse, verborgene Ironie. Was wir auch taten, es schien niemals genug zu sein, immer zu spät, als seien alle Engel bereits fortgewandert, um in ihrer List die langsame Zerstörung ihrer Fassade zu verheimlichen, ohne forsch aus dem Dunkel ihrer Traumfabrik ins Licht der Wahrheit zu treten. Vollkommen abseits standen wir oft da, während andere sich amüsierten, bohrten beständig im Verborgenen kleine Löcher in die Wand, um die Menschengeschöpfe zu beobachten, formten uns unsere kleinen Teilansichten, um am Ende unser Mosaik zu vollenden, zufrieden mit unseren pedantischen Bohrversuchen.