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MANUELS GESCHICHTE

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Überhaupt war es für einen Weltbürger des einundzwanzigsten Jahrhunderts ein guter Morgensport, tatsächlich vor dem Frühstück eine beliebte Hypothese einzustampfen, um jung zu bleiben. Unumstößlich erschien mir doch die darwinistische These der Mutation, Selektion oder natürlichen Zuchtwahl, was bei Tieren wohl zutreffend ist. Der Mensch verzerrt und biegt sich diese Gesetze nach seinem Ermessen zurecht und korrumpiert die Chancengleichheit, um seine Konkurrenten auszuschalten.

Alles war erlaubt, solange man nicht dabei erwischt wurde. Wo kein Kläger, da kein Richter. Besonders ausgeprägt im Verhalten des portugiesischen Volkes ist dessen Reaktion auf subtile Erbänderungen, die ein Organ oder Organgefüge ein wenig leistungsfähiger ausfallen lassen. Die Träger dieses Merkmals samt seiner Nachkommen wurden für alle nicht gleicherweise begabten Artgenossen zu einer Konkurrenz, der sie zahlenmäßig unterlagen. Schafften die Träger dieses Merkmals es nicht, ihren Unterschied geschickt zu tarnen, verschwanden sie über kurz oder lang aus dem Genpool oder wurden gesellschaftlich isoliert und ausgeschlossen, wie Virenträger unter Quarantäne.

Saramago, der Nobelpreisträger, wanderte aus. Selbst Columbus verweigerte man bekanntlich sein Schiff in Portugal. Endlose Beispiele zogen sich wie Schandflecke durch die Geschichte hindurch bis in die Gegenwart hinein.

Der Portugiese neigte nicht zur Aggression als mögliche Arbeitshypothese. Es konnte selbst einen begabten Wortschmied überfordern, das Wirkungsgefüge eines nationalen Systems darzustellen, in dem jedes Teil mit jedem anderen in einem Verhältnis wechselseitiger ursächlicher Beeinflussung stand.

Zu meinem Leidtragen kam noch erschwerend hinzu, dass das Wirkungsgefüge der triebmäßigen und kulturell erworbenen Verhaltensweisen, die das Gesellschaftsleben der Portugiesen ausmachten, so ziemlich das komplizierteste und paradoxeste aller Systeme war. Um nur wenige kausale Zusammenhänge anhand des Verhaltens verständlich zu machen, musste ich weit ausholen und die Charaktere in zeitlich springenden Handlungssträngen hindurch verfolgen. Wie seltsam suspekt erschienen mir die Berater und Experten, die eine kurze Weile verbleiben durften, alles oberflächlich betrachteten, um alles über den gleichen Kamm der Prozeduren zu ziehen und den Einheimischen anschließend eine fremde Denkweise aufzwingen wollten mit ihren endlosen Verbesserungsvorschlägen. Es bedarf hinreichender Kenntnisse über die Menschen, deren Kultur und Verhaltensparameter, bevor irgendwelche voreiligen Strategien entworfen werden können. Wie umso erstaunter waren sie dann, als sie im Nachhinein die Lösung der eigenen Probleme vorfanden, in einem interessanten Prozess des respektvollen, kulturellen Austauschs.

An den weiß gestrichenen Wänden machte sich die Kristallisation von Salzen bemerkbar, als Beweis dafür, dass die Bauunternehmer sich nicht einmal mehr die Mühe machten, das Salz aus dem Sand zu waschen. Man konnte sie zwar verklagen, aber angesichts der endlosen Gerichtsprozesse, rieten die Anwälte eher davon ab. Und sollte man vor Gericht gewinnen, so erst dann, wenn die Baufirmen bereits nicht mehr existierten und dieselben Inhaber unter einem anderen Namen ihr Unwesen trieben. Auf die Gefügigkeit der Portugiesen war eben schon immer Verlass. Sie ändern die Probleme nicht, sondern gewöhnen sich eher an die selbst eingebildete und bequeme Frustration und Resignation, diese nicht ändern zu können. Man las ratlos die Zeitung. Großvater Chico las die Zeitung ebenfalls und sagte immer wieder seine eigenen Verse auf:

Wieder nehmen wir Unsinn in Kauf.

Mein Volk, wann wachst du auf?

Wann wachst du endlich auf mein Volk?

Wann ist das Maß endlich voll?

Wie kannst du das nur dulden?

So bleiben dir nichts als Schulden.

Trojanische Pferde galoppieren hier —

Nichts als Schulden bleiben dir!

So trafen die Portugiesen fast alle ihre Fehlentscheidungen aufgrund einer negativen Bewertung der Kausalität der Sachverhältnisse und eines pfauenhaften, geistigen Hochmuts, der sich im Laufe der Jahrhunderte als ein Widerstand aus stumpfsinniger Beratungs- und Lernresistenz erwies.

Erst fiel ein leichter Nieselregen, dann wurden die Tropfen größer und ein Dauerregen hing über der Stadt. Stundenlang glänzten die Straßen vor Nässe, Rinnsale flossen entlang der Gehsteige, die Autos spritzten Fontänen auf die Passanten, die unter Schirmen in Mäntel gehüllt mit nassen Schuhen Zuflucht in den Hotels, Läden und Einkaufszentren nahmen, an dessen Fassaden sich der Vogelkot in Wasserfäden auflöste. Der darauffolgende Nebel schien ewig anzuhalten und schwebte über der Stadt mit seiner Grippeepidemie, die zwar nicht lebensgefährlich war, dennoch die Apotheken füllte und die Algarvios ungeduldig und ratlos in ihren bescheidenen Appartements hin- und herlaufen ließ, des Fernsehens und der Zeitungen überdrüssig, alle zwanzig Minuten aus dem Fenster blickend in Erwartung eines erlösenden Sonnenstrahls. Auch ich saß, für derartig lang andauernden Regen völlig unvorbereitet, in meinem Hotelzimmer fest und starrte auf meine rostigen Golfschläger in der Ecke hinter der Eingangstür und wärmte meine Gedanken mit der Vorstellung einer graziösen, wohlproportionierten Gestalt einer ungewissen, von Manuel schwärmerisch beschriebenen Schönheit vom Lande, mit ihren betörenden Grünen Augen, der ich nun bald begegnen würde, wehrlos ihren Regungen und Neigungen ausgeliefert, dem bevorstehenden Wunder des ersten Augenblicks entgegen eifernd, der, Manuels Andeutungen zufolge, sich als ebenso unbegreiflich wie überwältigend entpuppen würde.

Unmerklich hatte der Regen sich verzogen und der Nebel gelockert. Mit einem Male schimmerte der blaue Himmel zwischen den Nebelmassen hervor, undeutlich zuerst, dann klarer und mächtiger. Lange Schatten machten sich auf dem nassen Asphalt bemerkbar und glänzten im niederbrechenden Licht. Die Straßen wimmelten von herausgeputzten Spaziergängern und unter dem strahlend blauen und unwirklichen Himmel schien sie die ganze Stadt zu grüßen.

Von der Sonne erheitert trat ich vom Hotelausgang direkt auf die Strandpromonade Quarteiras, dessen erweiterte Fußgängerzone zu einer autofreien Zone erklärt worden war, was den Erholungswert in nicht unbeträchtlichem Maße steigerte.

Bläulich-grüne, energische Wellen brachen schäumend über schwerfällige, rothäutige Urlauber, die, kaum war die Sonne hervorgetreten, unverzüglich den Strand in Beschlag nahmen und weiterhin dem dummen Glauben verfielen, die Sonnencreme mit hohem Faktor biete einen halben Tag lang genügend Schutz vor einem Sonnenbrand.

Zwar gab es in der Region wohl kaum Boulevards vom Reiz und der urbanen Anziehung wie Portos Avenida da Boavista oder Lissabons Avenida da Liberdade, die sich in einem eleganten Bogen aufwärts schwingt, oder wie die schöne Harmonie des Chiado in perspektivischer Flucht zu der Höhe der Häuser verhält, aber die Schönheit Quarteiras war eher nüchtern, ein wenig hausbacken vielleicht, mit der weit ausschwingenden Bucht, etwas entstellt von den in regelmäßigen Abständen ins Meer ragenden, künstlichen Felsblockreihen, die sich der drohenden Erosion entgegenstemmten.

Auf dem Weg zum Fischmarkt, wo ich Dom Isidro treffen wollte, um diesen mysteriösen Brief in Empfang zu nehmen, dessen Existenz er während unseres letzten Treffens angedeutet hatte, beschloss ich, einen kleinen Abstecher in die alte Kirche zu machen. Der alte Pfarrer Azevedo da Motta hätte vielleicht zugegen sein können und da er immer ein Freund der Familie gewesen war, hätte ein pflichtgemäßer Besuch nicht schaden können.

Jener Straßenverkäufer, der schon seit einer halben Ewigkeit drei Tage in der Woche seine Produkte anprangerte, war noch da. Nichts hatte sich verändert. Keine Neuheiten, keine Evolution, stets das gleiche Sortiment. Ein melancholischer Straßenhändler, der die Mandelspezialitäten der Region feilbot, kunstvoll verzierte Kuchensorten, mit einer dünnen Glasur, Schokolade und Orangencreme; eine hoffnungslos üppige Vielfalt auf einer Balustrade ausgelegt, über die hinweg er sich mit den Kunden unterhielt, mit bescheidenem Umsatz. Früher hatte es wohl Tage gegeben, in denen er sein gesamtes Sortiment in nur 3 Stunden verkaufte. Mensch, dachte ich, bald ist er weg, kauft einen Laden, expandiert, wächst, entwickelt sich zu einem großen Unternehmer. Falsch gedacht, denn das Geschäft war klein geblieben wie eh und je. Ich trat an ihn heran:

»Ich hätte schwören können, sie wären längst ein großer Unternehmer geworden!« rief ich ihm über die Balustrade zu.

»War ich auch, zwei Jahre lang, 15 Angestellte. Eine eigene Marke, alles.« erzählte er traurig.

»Was ist schiefgelaufen?«

»Die Kreditzinsen haben mich aufgefressen, als es mal weniger gut lief.« antwortete er verbittert.

»Das ist schade, sie haben den besten Mandelkuchen weit und breit.«

Er musterte mich von oben bis unten, dann sagte er:

»Danke, nehmen sie sich ein Stückchen, der ist frisch.«

»Oh, danke, was macht das?«

»Nur ein Lächeln, mein Herr!«

»Dann packen sie mir ein Dutzend ein. In etwa zwei Stunden komme ich wieder vorbei. Ich muss noch einige Besorgungen machen und möchte den Mandelkuchen nicht ständig mit mir herumschleppen.«

»Das geht schon in Ordnung, also bis nachher.« sagte er und richtete seine Aufmerksamkeit einem Kind, dass große Augen machte vor dem Anblick der kleinen Versuchungen, die sich einladend vor ihm ausbreiteten.

Das Ave-Maria des Kirchenchors drang zwischen die halb geöffnete Pforte nach draußen und weckte in mir alte Erinnerungen an Manuels Kinderstreiche als Messdiener. Schon früh ministrierten wir in der Kirche und verweigerten dem altmodischen Pfarrer da Motta traditionsgemäß die Soutane zu küssen. Verdächtig oft half er in der Pfarrküche aus und die jüngste der Pfarrköchinen belohnte ihn mit süßem Johannisbrot, haugemachter Butter und Marmelade, während ich in der Küche kiloweise Rüben schaben durfte, Kartoffeln aus eigenem Anbau schälte und sonst nichts zu denken brauchte und Manuel einen Bauch voll von Delikatessen hatte, die allen anderen versagt blieben. Nur um ihretwillen hatte er in der Pfarrküche ausgeholfen. Als er mir die Pfarrköchin mal vorstellte, begriff ich die Herkunft seiner seltsamen Motivation sofort. Mit einem Mal verstummte der Chor und es wurde still in der Kirche. Einige ältere, allesamt schwarzgekleidete Frauen knieten ehrfürchtig und gesenkten Hauptes auf den knarrenden Holzleisten vor ihren selbstangezündeten Kerzen und der heiligen Madonna.

Der Chorleiter wollte soeben nach draußen eilen, da fragte ich ihn nach der rothaarigen Pfarrköchin und bemerkte, dass ich mich eigentlich nach dem Pfarrer hätte erkundigen sollen.

»Die Pfarrköchin«, sagte der Chorleiter sichtlich erstaunt, »hat in Loulé ein Restaurant aufgemacht. Das Alegríssimo, glaube ich.«

»Und der Herr Pfarrer?« besann ich mich.

»Pfarrer da Motta ist in Lissabon. Geldprobleme, wegen der dringend notwendigen Restauration. Die Kirchenorgel hat auch einige Reparaturen nötig, sie wissen ja, Krisenzeiten. Wenn sie mich jetzt bitte entschuldigen möchten.«

»Selbstverständlich, vielen Dank für die Auskunft«, konnte ich noch hastig von mir geben, aber der Chorleiter, der mich offensichtlich nicht erkannt hatte, war bereits verschwunden. Die Abwesenheit des Pfarrers stimmte mich etwas traurig, weil ich mich auf ein Wiedersehen gefreut hatte. Obwohl er recht altmodisch sein konnte, so waren seine Predigten einfach großartig und inspirierend. Und die Wirkung derselben spiegelte sich an jedem Sonntag in einer regelmäßig überfüllten Kirche wieder, was selbst in einem nahezu rein katholischen Land wir Portugal leider immer seltener wurde. Die orientierungslose Jugend, wie auch Manuel in frühen Jahren, wich fast gänzlich von der Religion ab und hegte von Anbeginn der religiös-sittlichen Unterweisungen des Katechismus ernsthafte Zweifel an den religiösen Grundwahrheiten und kam über das Niveau eines Laienkatecheten nicht recht hinaus. Aber was die Pfarrköchin anbelangte, so ließ Manuel gelegentlich auch während der Messe Einblick in seine Gedankenwelt. Eines Sonntags, als wir gerade in Reihe und Glied in Richtung Altar marschierten, um demütig die Hostie entgegenzunehmen, flüsterte er mir über meine Schulter hinweg zu:

»Niemand kitzelt meinen Gaumen so sehr wir die Pfarrköchin, aber in der Polarität der Geschlechter stehend, gestehen wir unseren Leibern nicht zu, was wir unseren Seelen erlauben«, hauchte er, als hätte er den ganzen Morgen lang darüber nachgesonnen. Als wir wieder auf unseren Plätzen saßen, sah ich ihn an und mir wurde bewusst, dass er die Pfarrköchin zwar liebte, aber diesen persönlichen Sachverhalt niemals als Vorwand dazu benutzen würde, dass junge Mädchen über die Stränge einer platonischen Liebe hinauszuziehen. Und somit wandelte er eine profane Beziehung um in eine sakrale, den niederen Instinkten entsagende geistliche Verwandtschaft. Ihr reiner, eher naiver Glaube, faszinierte ihn. Meine Wenigkeit hingegen hätte den Verlockungen dieses überaus hinreißenden Wesens nicht lange widerstehen können. Und Gott weiß was geschehen wäre, wenn ich mich nicht aus reinem Selbsterhaltungstrieb in der Diaspora der Emigration verstrickt hätte.

Bei einem relativ hohen Tidenhub der vergangenen Saison könnte ein Strandspaziergang allzu leicht zu einem unangenehmen Stapfen durch weichen Sand ausarten, so dass ich es vorzog, für den kurzen Weg bis zum Fischmarkt die Standpromenade zu benutzen. Die angebotene Artenvielfalt war erstaunlich. Zu meiner Verwirrung nahmen die Fischer neunzehn verschiedene Bezeichnungen in der Umgangssprache auf, für die etwa 11 Thunfischarten, neben den beiden amtlichen Bezeichnungen Atum und Bonito. Um diesen verwirrenden Sachverhalt zu kompensieren, hatten die etwa sechs Rochenarten nur eine einzige Bezeichnung: Raia.

Unter der Woche war die Nachfrage gering, folglich bot man den Fisch zu etwa zwei Drittel des Wochenendpreises an. Die emsigen Algarvios meisterten ein mysteriöses Chaos, das unsereins zur Verzweiflung brächte. Seit Jahrhunderten waren sie versierte Händler und schienen mir auch als Charaktere viel zu konzentriert und ehrgeizig, als dass sie sich mit Imitationen und Nachäfferei zufriedengeben könnten. Das Meer würde immer eine Hauptrolle in der Zukunft der Portugiesen spielen. Es war nicht einmal fehlende Phantasie, sondern primitive Maulfechterei, die hinter der Unfähigkeit gähnte, sich auf taktvoller Art mit dem Tatbestand unseres menschlichen Daseins abzufinden. Den Ausweg aus der Wirtschaftskrise ausfindig machen zu wollen in den vergangenen 40 Jahren Demokratie, verwirrt mit einem aus den naturalistischen Menschenbild resultierenden, gekränkten Weltverbesserungswillen, der seine endgültige Niederlage zwar bereits eingesehen hatte, aber noch nicht aufgabt, um den Feind durch den Überraschungseffekt zu schwächen, war zum Scheitern verurteilt.

Um Dom Isidros Fischtheke zu erreichen, musste ich quer durch die laute Halle gehen. Er bediente soeben eine reichlich mit Schmuck beladene Dame, die mit ausgestrecktem Zeigefinger unschlüssig zwischen den auf Eis gelegten Fischen hin und her wedelte, ohne auch nur einen beim Namen nennen zu können:

»Ein Kilo von diesem dort, ja den, zwei Mittelgroße von diesen da, ja richtig, nein, die Kleineren. Perfekt, Danke! Oh – ich glaube ich habe die Schilder vertauscht. Entschuldigen Sie. «

Beim Anblick jener weitverbreiten, wohlhabenden Beschränktheit befiel mich jedes Mal ein tagelang anhaltendes und dann immer wieder aufflammendes Entsetzen, angesichts der schreienden Gegensätze, einer fatalen Widersprüchlichkeit, in der unmäßiger Reichtum sich schamlos in der Gegenwart erniedrigender Armut brüstete.

Dom Isidro deutete auf seine Uhr und gestikulierte weitere 5 Minuten. Nach einer Weile sprang er um die Theke herum und führte mich aus der Halle hinaus über den Parkplatz in ein kleines Kaffee. Nachdem wir in der Ecke Platz genommen hatten schaute er sich wiederholt bedächtig um und reichte mir einen Umschlag.

»Olá. Ich war gerade kurz in der Kirche, da dachte ich mir, geh einfach mal den Isidro besuchen.«

»Nur wegen meiner frommen Frau, um den Hausfrieden zu bewahren betrete ich noch eine Kirche oder kümmere mich um den Pfaffenkram.« warf er entschieden ein.

»Was soll dieser Brief?«

»Gut, dass ich das endlich los bin. Steckt ihn sofort weg. Wo kommst du eigentlich nach so langer Zeit her?«, sagte er in einem leisen Ton, in nur einem Atemzug, beugte sich noch näher heran und sprach zügig, »Man könnte uns beobachten. Hör genau zu, wir haben nicht viel Zeit. Damals war ich der einzige Überlebende des Unglücks. Der Tanker hat uns bei Nacht aus heiterem Himmel gerammt. Dein Großvater Chico hatte mir den Brief in der Nacht vor unserem Ablegen in Vilamoura zugesteckt. Ich war jahrelang sein Skipper gewesen und er vertraute mir. Jedenfalls konnte ich gerade noch zur Schwimmweste greifen und kam dann an Bord eines Kutters wieder zu mir. Dein Großvater war besorgt um euch wegen der Penha Lourinhos, Lancastre do Monte und Ferreiras – die immer noch an der Macht stehenden, einflussreichsten Familien Portugals. Seit Jahrzehnten versuchen sie an gewisse Familienerbschaften der Picos ranzukommen. Du musst der Sache nachgehen, sobald du kannst. Versprich mir das, hörst du? Ich muss jetzt aber los« ließ er verlauten und ging schnellen Schrittes, mit seinem breiten Seemannsgang zwischen den Tischen hindurch nach draußen.

Mit einem Brief in der Tasche saß ich nun vor meiner vollen Tasse lauwarmen Kaffees und wünschte mir alles andere auf der Welt, als einen Abschiedsbrief oder irgendetwas, was mich noch weiter deprimieren konnte, als ich ohnehin bereits war. Außerdem wartete Manuel sicherlich schon, wie vereinbart vor dem Hotel, ohne auszusteigen oder sein Handy zu benutzen, in der Annahme ich wäre pünktlich.

Wie angenommen, saß er in seinem gelben VW Käfer 1303 Cabrio gegenüber vom Hotel, dem Meer zugewendet, im Genuss von Beethovens Symphonie Nr. 5. Mit aufgedrehter Musik, war es ein leichtes ihn ausfindig zu machen. Sogar die Passanten drehten sich nach dem Spektakel um, während er im Rhythmus der Musik sein Ta-Ta-Taaam, Ta-Ta-Taaam von sich gab.

Ein deutsches Touristenehepaar hielt vor dem VW, bewunderte das Auto:

»Deutsches Auto – gutes Auto!« sagte der Mann, und hielt den Daumen gestikulierend vor dem Auge. Wie ich Manuel kannte, würde sogleich die Antwort herausschießen:

»Die Portugiesen befinden sich seit rund 900 Jahren an der Schwelle der Rührseligkeit, während die Deutschen sich über jede einzusparende Sekunde in den Produktionsprozessen ihrer Autofabriken den Kopf zerbrechen.«

»Donnerwetter, das ist ja ´n Deutscher!« murmelte der Tourist zu seiner Frau und machte eine 180-Grad-Kehrtwende.

Stumm, ohne jede persönliche Begrüßung, wie üblich, fuhren wir hinaus aufs Land. Als aber nun Beethovens Moonlight Sonata erklang, konnte ich es nicht länger ertragen und schaltete das Kassettenradio unter Protest aus. Noch ging ihm kein Wort über die Lippen. Manuel führte mich bei Loulé in ein mir bis dahin unbekanntes Restaurant, das Alegríssimo. Als der Kellner an uns herantrat und die Menu-Karten reichte, erkundigte er sich nach der Chefin. Sie sei heute nicht da.

»Das ist bedauerlich, es ist immer wieder eine Freude mit ihr zu plaudern. Die Pfarrköchin, erinnerst du dich?« klärte er mich auf. Dann bestellte für beide eine Caldeirada, begleitet von einem roten Vinho Verde aus Amarante, weil, wie er immer wieder betonte, die angenehm frische Säure auf so wunderbarer Weise mit dem Fischgeschmack und den Gewürzen harmoniere. Als die mir die Warterei auf die angekündigte Geschichte sichtlich auf die Nerven ging, waren wir bereits beim Dessert angelangt. Als dann die Bica serviert wurde, bestellte er noch einen dieser Medronhos, der gewöhnlich aufs Haus ging, bevor er mit seiner Geschichte begann.

»Eines möchte ich aber noch wissen. Wohin bist du am Tag vor deiner Abreise abgetaucht? Ich konnte dich nirgends finden.«

»Vor dem Flug nach Deutschland bin ich Richtung Norden gewandert, einfach drauf los.«

»Erzähl!« beharrte er auf eine Erklärung.

»Also gut. Ich ging ziellos umher. Zwei Wandertage nördlich der Serra do Caldeirão, kurz nach dem Ausgang des Dorfes, hinter der Stelle, wo die Straße von Guedelhas nach Monte da Vinha zweigt, im Süden des Alentejo, sah ich eine Gruppe von Feldarbeitern. Sie hatten sich unter der schützenden Baumkrone der weit und breit einzigen Korkeiche versammelt und gingen in alle Himmelsrichtungen auseinander. Ein junges Mädchen blieb in zurück und summte ein Liedchen vor sich her, während sie mühevoll mit der Sichel die Arbeit verrichtete, die ein Mähdrescher in Sekunden erledigt hätte. Allein in der heißen Öde, unter der blendend hell leuchtenden Glocke des Himmels, vernahm sie meine Schritte, richtete sich auf, legte die Hand über die Augen und sah zu mir hin. Es mussten weniger als zehn Meter gewesen sein, die uns noch voneinander trennten. Als unsere Blicke sich kreuzten war es lediglich die kleinste subtilste Reizenergie, die ein Mann bemerken kann. Jene absolute Schwelle, jener Minimalbetrag physikalischer Energie, der nötig war, damit zuverlässig und deutlich wahrnehmbar eine Sinnesempfindung zustande kommen konnte und sogleich maßlos überschritten wurde. Von einer pulsierenden Faszination ergriffen schritt ich über die Stoppeln zu ihr hin. Zunächst ging kein Wort über unsere Lippen. Was dann folgte war möglicherweise nur die logische Konsequenz der natürlichen Anziehungskraft. Was dann gesprochen wurde, das vermag ich niemals zu sagen. Gewiss war, dass mein Rucksack nach wenigen Minuten zu Boden viel und nur noch eine Handbreite zwischen unseren verschwitzten Körpern lag. Sie trug nur ein weißes Hemd über einem T-Shirt, das heiß war und feuchtgeschwitzt. Auf ihrer Stirn bildeten sich Schweißperlen, die sie in kurzen Abständen mit den Ärmeln abtupfte. Der Hauch, der von ihrer jungen Kraft ausging, raubte mir die Sinne und sogleich den Atem, der immer jungen, fruchtbaren Erde. Nur einen vergänglichen Augenblick lang war jene überaus seltsame, unterschwellige Wahrnehmung präsent, welche sich nicht dingfest machen ließ, weil sie über die Dimensionen visueller Erfahrungen hinausging. Und es waren auch keine Phantasien die sich freizügig ihrem Lauf hingaben oder notwendigerweise eskapistische Unternehmungen, sondern ein Weg, dem Mysterium des Lebens mit respektvollem Staunen zu begegnen. Gerade als ich ganz hingerissen war von der natürlichen Schönheit, zwang eine innere Stimme mich dazu, die Contenance zu bewahren. Die langen Montage städtischer Enthaltsamkeit, in denen ich als Angestellter zu körperlicher Untätigkeit verdammt war, türmten sich vor mir auf wie eine Mauer. Der Drang meiner jungen Jahre hätte in diesem Augenblick in gleichem Maße mein Leben zerstören sowie ein neues schaffen können, wäre ich nicht rechtzeitig zur Besinnung gekommen. In Gedanken nur stellte ich mir vor, ihren weiten, offenen, gesunden, törichten Mund zu küssen, an den Knöpfen ihres Hemdes zu reißen, ihre reifen, festen Brüste zu liebkosen, mein Gesicht in ihre Brust zu wühlen, Augen und Mund badend in ihrem jungen Duft, von einer ungeheuren, brausenden Anziehungskraft in ein neues, ungewisses Schicksal gestoßen. Als mir das Blut in die Augen stieß und ein Taumeln meine Sinne ergriff, wurde ich mir schlagartig bewusst über die Gefahr der Situation und machte mich ebenso schnell davon wie ich in der ländlichen Idylle erschienen war. Wie leicht wäre es gewesen, sich von den Gefühlen treiben zu lassen unter der brennenden Glut des Gestirns, ohne zu wissen, wer ich war, was ich tat oder wen ich besaß. Was kümmerte die Natur diese Grenze? Doch wehe dem der sie überschritt.«

»Sieh an, sieh an, ganz der Verführer. Beachtliche Selbstbeherrschung. Meine Geschichte ist anders. Aber vorher noch dieses Foto – ich möchte, dass du es behältst.«

Er reichte mir ein altes Schwarz-Weiß-Foto von der Heuernte. Es hatte auf der Rückseite einen Vermerk: meine glückliche Familie bei der Heuernte. Das vergilbte Foto schleuderte mich sogleich in die längst vergangene Zeit zurück. Nach der Heuernte waren die Schuppen randvoll. Ärmere Nachbarn durften sich nehmen, was sie brauchten. Als der erste Mähdrescher kam, ein blaulackiertes, heuballenspuckendes Monster, und die Produktion stieg, wurden viele Arbeiter eingestellt, um eine regionale Logistik aufzustellen, mit langen Listen bedürftiger Bauern, die das Heu kostenlos geliefert bekamen. Die Postboten wurden dazu erwählt, diese Listen zu erstellen, weil sie täglich Kontakt mit den Bauern hatten und bestens über dessen Schuldenverhältnisse informiert waren. Das Foto war während der Heuernte 1975 aufgenommen worden und zeigte eine glücklich grinsende Gruppe vor einem Pferdekarren, der stets herangezogen wurde, wenn der LKW wieder monatelang wegen fehlender Ersatzteile in der Werkstatt stand. Großvater Chico trug eine Lederweste und hielt einen Heurechen in der Hand. Sein Hut warf einen Halbschatten auf eine Gesichtshälfte, die vor Schwärze unkenntlich war. Neben ihm Großmutter, die sich in ihrem Baumwollkleid mit blauen, aufgedruckten Azulejos-Muster dazugesellt hatte, vor ihr auf dem Boden, Manuel und ich, beide mit gekreuzten Beinen. Anstatt in die Kamera zu schauen, blickten wir hinab auf den vor uns sitzenden Hund, der Labrador des Nachbarn, der sich bewegt hatte und auf dem Bild als ein grauverschwommener Schatten zu sehen war. Das war die Zeit in der Manuel versucht hatte mir zu erklären, wie man mit dem Pflug umging. Die Furche, die ich durch das Feld zog glich der Kurve eines Elektrokardiogramms. An der ersten Hecke begriff ich, dass mich das Unterfangen überforderte, denn bei der Kehrtwende erschraken die großen Pferde, verwirrt von meinem ungestümen Ziehen an den Riemen.

»Schau dir die Furchen im Hintergrund an. Erkennst du die Linienführung?« erinnerte sich Manuel.

»Wie eine Aktienkurve!« bestätigte ich und reichte ihm ein Stückchen Mandelkuchen. Wortlos nahm er an.

»Mmmh, vorzüglich! Schmeckt wie, na eben wie, früher?« sagte er mit vollem Munde.

»Gleicher Ort, gleicher Händler, gleicher Bäcker!« bestätigte ich.

In den darauffolgenden Tagen lebte ich nur noch in der Erwartung der Fortsetzung. Manuels Erzählstil war geprägt von Zeitsprüngen und Erinnerungsfetzen, indirekter Rede und wechselnder Perspektive; aber doch in sich geschlossen, erfüllt von Sehnsucht, Sinnlichkeit und Leidenschaft, Tristesse und Tragik. Manuels religiöse Anläufe konnten für die gelassene Seelenruhe eines begnadeten Gläubigen nur die Verrenkungen eines Ästheten sein.

Noch war mir schleierhaft, inwiefern ich Teil der Geschichte werden sollte. Er erzählte zunächst von der visuellen Kraft der Bilder, verlor sich anschließend aber in Beschreibungen des ihn umgebenden, exotischen Landschaftstableaus. Seine Wortwahl ließ unweigerlich auf das Vokabular eines im Künstlermilieu angesiedelten Verliebten schließen, der sich in eine Beziehung gestürzt hatte, die auf rätselhafte Weise ein Mysterium auflöste. Da aber diese Beziehung in keinerlei Hinsicht etwas mit dem schnellen Konfetti-Konsum unserer Zeit zu tun hatte, stellte er es als eine Herausforderung dar, dessen Physiognomie möglichst realitäts- und wahrheitsgetreu darzustellen.

Weder um die Berührung von Schwertern und Bomben mit menschlichen Leibern, noch um die Berührung von Stahl und Fleisch zum Zwecke des Todes, weder um die lukullischen Berührungen von Nahrung und Gaumen, noch um die Berührungen, die in unzähligen Benimm-Büchern ausgiebig abgehandelt wurden - sondern ihm ging es um die wirklichen Berührungen der Menschen, ihrer Herzen und ihrer Liebe. Wie grenzenlos und unfassbar diese Berührungen auch sein mochten, so glaubte er fest daran, sie in Worte fassen zu können.

Alles begann damit, dass Manuel Pico sich auf die Suche nach einem Ort machte, in dem nicht nur die Zeit, sondern bewusst auch die Uhren stehengeblieben waren. Von Loulé aus ging er in Richtung der Serra do Caldeirão, einem der entlegensten Gebiete der Algarve. Eine Alternative zum Meer, dachte er, und weniger bekannt als der Fóia und der Picota, die höchsten Punkte der westöstlichen Mittelgebirgsriegel. Nach Norden hin lenkten hintereinanderliegende Hügel und Senken seinen Blick fast zehn Kilometer weit bis zum Fuß des Caldeirão Gebirges. nach Süden hin sah er alle Täler, sie sich wie Adern auf einer Greisenhand zur Küstenebene und dem stahlblauen Meer hinzogen.

Die Erinnerungen kamen schon eine Wanderstunde später in großen Schüben. Es war an einem der ersten sonnigen Tage im Frühjahr. Manuel ging mit seinem verschlissenen Rucksack einen schmalen Weg entlang, der in sanfter Windung zu einem kleinen Tal führte, an Wiesen und Gärten vorbei, die von gewölbten Steinmauern umsäumt waren. Die einst wohl bestellten Weingärten waren verdorrt und verkümmert, weil ihr Verkauf des Landes lukrativer war als der schweißtreibende Weinbau oder die Medronho Produktion, zumindest kurzfristig.

Im Winter bemerkte man den auffälligen Charakter der Feigenbäume, deren bizarres, sonst von großen Feigenblättern verdecktes Geäst sich entblößte. Den Sommertouristen blieb dies vorenthalten, ebenso wie der Anblick reifer Orangen und Zitronen, die dem üppigen Farbspektrum eine besondere Note verliehen. Doch was den Touristen nicht entging, war das Meer, die Steilküsten mit den Vorgebirgen, Buchten, Klippen und Grotten, Inseln und Sandbänken, den weit ausgedehnten Sandstränden, Dünen und Lagunen. Immer mehr Hotels eroberten die Küste. Tief war die Wunde, die der Tourismus zurückließ. Jeder ausgeplauderte Geheimtipp stellte nur einen weiteren Verrat dar.

Nie konnte Manuel sich sattsehen am Schauspiel der Natur. Manchmal, wenn er morgens die Augen öffnete, war es, als bräche in ihm eine Welt zusammen - doch dann, sobald er wanderte, war es, als blühe neues Leben aus den weit verstreuten Ruinen. Und in jenen Tagen ergötzte er sich wieder, auf eine scharfsinnige und hingebungsvolle Weise, an allem Schönen seiner kleinen Welt.

Die schmalen Wege schlangen sich im ständigen Auf und Ab um die Berge. Etwas in ihm war tief beeindruckt von der Unberührtheit dieses Reiches. Die weiten Aussichten wirkten wie die Farbtupfer eines Van-Gogh-Gemäldes auf den stillen Betrachter ein. Doch schließlich vermengte sich Freude mit der Furcht, Furcht gegenüber einer ungewissen Zukunft.

Er ging über die gestoppelten Hügelwellen in Richtung Norden. Damals war er oft mit Großvater „Chico“ in diese Gegend gewandert, auf alles eine Antwort suchend in seiner kindlichen, unersättlichen Neugierde. Zu seinem Erstaunen hatte er immer eine Antwort bekommen, zumindest eine vorläufige. Mit zunehmender Müdigkeit fühlte er sich freier und zugleich benommen von dem Rausch dieses Ausflugs an die Vorgebirgsketten seiner Kindheit.

Unten im Tal breitete sich königsblau ein See aus, dessen Namen er längst vergessen hatte. In ihm schlummerte noch die Erinnerung an jenen Spätsommernachmittag, an dem er seinen ersten Fisch geangelt hatte. Er hatte sich auch gleich mit dem Fisch angefreundet, so dass ihm am Abend die Caldeirada, der berühmte und besonders schmackhafte Fischeintopf, den er immer bestellte, nicht bekommen war. Die Aussicht auf das Tal hypnotisierte ihn. Ihm war, als hätte er einen geheimen Ort betreten, der nicht für menschlichen Besuch gedacht war. Eine Weile verharrte Manuel noch stumm am Abhang, dann holte er etwas Schafskäse mit Brot und Rotwein aus seinem Rucksack. Während er aß, ließ er alles auf sich einwirken. Die Vegetation erschien ihm wuchtiger und archaischer als in der Übrigen Region. Wo sonst, wenn nicht an diesem Ort, konnte er seine verschwommene und mythische Vorstellung von der Provinz vervollständigen und dingfest machen? Das Wesen der ursprünglichen Gesellschaft hatte sich in den umliegenden Dörfern am reinsten erhalten: eine extreme, nahezu mittelalterliche Armut. In dieser erstarrten Gegend eines unruhigen Europas hatte er einst beobachten gelernt, regungslos und tagelang.

Ein knarrendes Geräusch, wie das einer alten Kutsche, riss Manuel aus seinem Tagtraum. Er wandte sich erschrocken um und sah einen alten Mann missmutig neben einem Carrinha hergehen, einem großen zweirädrigen, mit allen Grundfarben bemalten Karren. Als der alte Mann Manuel am Wegesrand bemerkte, erschrak er ebenfalls, hielt den Karren an und gab dem Maultier mit gravitätischer Gelassenheit einen entschiedenen Klaps:

»Ruh´ dich aus, Brauner!«

Das Zugtier schien an derlei Sprüche gewöhnt zu sein. Der alte Mann kam auf Manuel zu:

»Schöne Gegend, nicht wahr?«

Manuel verstand die rhetorische Frage.

»Ich bin Magnussen, guten Tag!«

»Angenehm, Pico, Manuel Pico, guten Tag!«

»Pico?! Kommt mir irgendwie bekannt vor. Na ja, haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich eine Weile zu Ihnen setze? Ich möchte mich ein wenig ausruhen. Das Pferd ist zwar ein hervorragender Zuhörer, aber ein miserabler Gesprächspartner.«

»Keineswegs! Sagen Sie, Senhor Magnussen, Ihr Name klingt aber nicht nach dem eines Algarvios, wenn ich das so sagen darf.«

»Nein, ich bin vor fast fünfzig Jahren aus Schweden hierher umgesiedelt, weil ich mich schlicht und einfach verliebt habe in dieses Fleckchen Erde.«

»Damals gab es Abba nicht. Warum also weglaufen alter Schwede?« Sie lachten, als seien sie schon länger miteinander befreundet. Senhor Magnussen erzählte von seinem Bruder in den USA, wo mehr Portugiesen leben als südlich vom Tejo.

»Dort kann man gutes Geld verdienen, aber«, er unterbrach sich selbst, blickte auf die Berge, sich behutsam wendend, um keinen von ihnen auszulassen, nahm jeden Farbton in sich auf und sah auf ein kleines, weißes Dorf unterm blauen Himmel und verharrte dann mit seinem Blick in südlicher Richtung auf irgendeinem fiktiven Fluchtpunkt in der Ferne, »wo auch immer man ist, die Sehnsucht lässt nicht eher locker, bis man schließlich hierher zurückkommt. Diesen besonderen Ort kann man nicht richtig verlassen. Man hat mir niemals das Gefühl vermittelt, Ausländer zu sein. Die Gastfreundschaft der Menschen hier ist einfach bewundernswert. Aber ich fürchte um die kulturelle Identität dieses Landes. Sie wird verfremdet vom Konsumdenken Europas. Was nützen uns die neuen Hotels überall, wenn unsere Provinz bald von keiner anderen mehr in Europa zu unterscheiden ist? Kahle Küstenplateaus verschwinden unter Bungalowsiedlungen. Selbstverständlich - innerhalb von fast vier Jahrzehnten haben die Portugiesen eine schnelle und unkontrollierte Entwicklung durchgemacht, die zu sehr vom Tourismus abhängig ist, da sind Bausünden unvermeidbar.«

»Wie wahr! Sagen Sie, was machen Sie beruflich?«

»Ich bin weit und breit der einzige Töpfer, der noch alcatruzes herstellt. Ich stamme aus einer wohlhabenden Familie, aber ich mag keinen Luxus und muss mich irgendwie beschäftigen. Mein Handwerk habe ich damals von Senhor Barros gelernt, der seiner Zeit sehr bekannt war. Er ist wie ein Vater zu mir gewesen. Nach seinem Tod habe ich die Tradition weitergeführt.«

Senhor Magnussen sagte das ohne Wehmut, wie jemand, der sich längst nicht mehr damit beschäftigen musste, Geld zu verdienen und Reichtum anzuhäufen, um es wie eine Amme zu wiegen. Wie einäugig der Mensch sein konnte, der nur die zurückgebliebene Wirtschaft der „Hinterwäldler“ beachtete! Wer Argusaugen hatte, entdeckte die eigentlichen Werte und die alten Traditionen der friedliebenden Algarvios wieder. Anhand der vielen Details war es Manuel möglich, ganze Episoden seiner Vergangenheit zu rekapitulieren.

»Erzählen Sie mir etwas über die alcatruzes!« bat Manuel.

»Das sind große Tonkrüge, etwa 25 cm hoch und mit einem Durchmesser von mehr oder weniger 20 Zentimetern. In Abständen von drei Metern binde ich sie zu einer rejêra, einem Netz, zusammen. Eine rejêra lässt sich beliebig verlängern. Das können bis zu 400 Krüge werden, die dann markiert, versenkt und bis zu einem Jahr lang im Meer zurückgelassen werden. Die festgesogenen Kraken lassen sich nur mit Salz wieder aus vom Krug lösen. Noch ein oder zwei Jahre, dann werde ich das lassen müssen. Ich bin zu alt geworden für diese Schwerstarbeit.«

Manuel sah den Töpfer an, den Schlag von Mensch, der auf einem Vulkan tanzt, frohen Mutes, den Schnee verflossener Jahre im Herzen, fernab von den Plänen Europas. So geschah es, dass sie in einen Diskussionsstrudel um das Wertebewusstsein der Algarvios gerieten. Wenn Manuel auch nur den Versuch andeutete, Senhor Magnussen zu widersprechen, breitete sich ein Lächeln über sein Gesicht aus, wie ein Betäubungsgas in einem abgeschlossenen Raum - absolut wirksam. Dann redeten sie über die Emigration, über Ausländerhass - ein Fremdwort, das die Algarvios nur aus Zeitungsberichten kannten. Die Rassendiskriminierung hielt bereits ihren schleichenden Einzug in den westlichen Teil Quarteiras, den Wellblechhüttenslums, in denen vorwiegend die billigen Arbeitskräfte aus den ehemaligen Kolonien hausten, ausgemergelt und ausgebeutet, um die Betonwüste zur Befriedigung der Touristenmassen zu vergrößern, vor allem aber zur Bereicherung skrupelloser Bauspekulanten. Die soziale Ungerechtigkeit wucherte einem Tumor gleich in den dunkelsten Gehirnwindungen der Unterdrückten. In der Nacht wurden die Straßen unsicher. Von der Zeit, in der die Häuser nicht abgeschlossen worden waren, weil fast alle miteinander verwandt oder befreundet gewesen waren, erzählten nur noch einige wenige Geschichtsbücher, deren Verfasser der Salazar-Diktatur den einen oder anderen positiven Aspekt abgewinnen konnten - und das waren die wenigsten.

Senhor Magnussen war längst weitergezogen, und Manuel schaute wieder auf das Tal hinab. In seinem Kopf stauten sich die Gedanken. Der alte Drang zum Schreiben stellte wieder ein und ergriff von ihm Besitz. Er nahm das Schreibzeug, das er immer bereithielt, ganz gleich wohin er ging, bloß damit er sich seine Visionen aus dem Leib schreiben konnte, oder um die Texte anschließend an die Fado-Sänger oder sogar den neulich in der Musikszene auftauchenden „Luso-Rappern“ zu verkaufen:

Emigration

Ein alter Mann unbekannter Nation

fragte mich nach der Emigration;

was ihr Grund sei und ihr Wesen,

man könne es nirgends lesen.

Ein Selbstverrat, eine ungewisse Heirat,

Verhängnis, Schicksal, blutiges Hemd -

in der Fremde keine Heimat

und die Heimat so fremd...

Eine vage Hoffnung innerer Unruhen

sehnsüchtiger Träumer in Wanderschuhen…

Ein Wort ergab das andere, sowie die Emigration den Ausländerhass nach sich zog. Die Verse reihten sich aneinander wie ein langer Güterzug, ratarataratt - und die Ladung konnte eine teure Ware sein. Jede Facette seiner Weltanschauung wurde von neuen Erfahrungen korrigiert.

Er musste sich schließlich selbst eingestehen, dass doch etwas mehr an diesem Land dran sein musste, als er sich in seiner lückenhaften Erinnerung vorgestellt hatte. Wie eine Wundsalbe trug Manuel die Worte zusammen und massierte sie sich sanft ein, flößte sich Mut und Selbstvertrauen ein, flickte sein zertrümmertes Ego wieder zusammen und glaubte wieder an eine mysteriöse Kraft, die seine eigene Bedeutungslosigkeit überstieg.

Trotz der vielen Rückschläge und Enttäuschungen arbeitete er beharrlich weiter an dem, woran er glaubte. Seine außergewöhnliche Begabung zur Hartnäckigkeit war keine Garantie für den Erfolg. Ihm war bewusst, dass er durch die Zuversicht, die ihm sein Talent schenkte, nur allzu leicht dazu verleitet werden konnte, weniger erfolgsorientiert an seinen Zielen zu arbeiten. Er wünschte sich, dass dieses Land niemals heimgesucht werden würde von der Seuche, der Senhor Magnussen erfolgreich entronnen war:

Ausländerhass

Wie gern ignorieren wir ihn,

wenn wir beängstigt unser Leben führen?

Wenn wir der Menschlichkeit entfliehen,

bekommt der Fremde ihn zu spüren.

Unermüdlich ist die Jagd nach dem Geld,

und jeder sich selbst der nächste,

auf Kosten der hungernden Welt -

Hand in Hand in heuchlerischer Geste.

Ein Bericht steht in der Zeitung

und wird gelesen nach sattem Essen;

es wird gesendet als eine Aufbereitung,

hingenommen, verdaut, vergessen.

Schon die Wortwahl ist suspekt,

scheint nicht recht zu passen -

Staatsbürgerhass wäre korrekt.

Es sind nicht die Ausländer, die hassen.

Nun hatte er Zeit und Muße, um zu schreiben, frei heraus, seine persönliche Geheimtherapie.

Die unberührte Vegetation, die sich vor seinen Augen erstreckte, ließ nach unzähligen, scheußlichen Tagen den gewaltigen Eisblock in seinem Herzen schmelzen. Seine Einsamkeit störte ihn nicht länger, denn die Natur hatte auf alles eine Antwort. Auch hatte er eingesehen, wie wahnsinnig und vermessen es gewesen war, jahrelang geglaubt zu haben, einen Menschen besitzen und die Welt um sich herum nach eigenen Interessen gestalten zu können.

Er sah in der Ferne ein Dorf an einem Abhang. In den winzigen Reihenhäusern saßen die Familien bei Tisch, im Fernsehen liefen die Telenovelas, so die portugiesische Bezeichnung für die stets neu aufgewärmten Seifenopern mit stets das gleiche Darstellen und wechselndem Hintergrund. Die Kartoffelreste vom Mittagstisch wurden zu Bratkartoffeln aufbereitet oder eine der über tausend Stockfischgerichte à Brás serviert — den Gerüchen nach zu beurteilen.

Die Jalousien waren noch lange nicht heruntergezogen in dieser fröhlich-betriebsamen Nacht. Niemand störte sich an die sich überschneidenden Geräusche verschiedener Musikinstrumente, dessen Besitzer fleißig bis tief in die Nacht übten, ohne dass sich jemand beschwerte, denn sie wussten, wer beim Dorffest Musik haben wollte, der musste diese Prozedur über sich ergehen lassen.

In der Dunkelheit stolperte Manuel einige Male, ehe er einen geeigneten Schlafplatz ausfindig gemacht hatte. In dieser Nacht genoss er sorglos den Duft der Mandelbäume, der ihn sanft in einen tiefen Schlaf wog, lange genug, um etwaige trübe Gedanken zu vertreiben. So lange schon hatte er sich danach gesehnt, im Freien zu schlafen. In dieser Flucht, die auch zugleich eine Suche war, fieberte er einem gewissen Etwas entgegen, das noch ganz im Verborgenen lag, frei von den konventionellen Meditationen der Christensippe, von einem paradoxen, unklaren Zögern ergriffen, als ob er an der Schwelle eines entscheidenden Ereignisses stünde, das Glückseligkeit oder auch den Tod mit sich bringen könnte. Dieser mehrdeutige Zustand hatte ihn inspiriert, während er alles Religiöse verdrängte und sich alle Christen und Jesuiten als Minensetzer eines eitlen und intoleranten Gottes ausmalte. Das helle Licht des vom Mondschein beleuchteten Tals überstrahlte seinen friedlichen Gesichtszug und sein tiefes Geheimnis. Schlafend vollzog er seine metaphysischen Streifzüge auf der Suche nach einem Schutzwinkel und dem Rhythmus eines neuen Lebens, zu dem er sich notwendigerweise erst herantasten musste.

BIBELJAGD

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