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Kapitel 1 von Helen Carter

Der letzte Patient war bereits lange gegangen, doch Dr. Ivy Newman saß noch immer an ihrem Schreibtisch und arbeitete sich durch scheinbar unendliche Stapel von Papier. Lediglich ihre Schreibtischlampe warf einen hellen Lichtkegel in das ansonsten dunkle Büro.

Sie hatte sich schon vor Stunden eine Kanne Kaffee gekocht, von deren Inhalt sie unermüdlich trank, um sich wach zu halten. Es gab wenig, was sie so sehr hasste, wie die Büroarbeit. Endlose Berichte, Abrechnungen, neue Gesetze, Behördenergüsse, Rechnungen. Und dazu noch der Antrag für einen Kredit, um das Ultraschallgerät anzuschaffen, das sie so dringend benötigte. Die Bank würde Ärger machen, das wusste sie. In Zeiten der Krise schienen sie jeden Penny umzudrehen, bevor sie ihn einer Selbständigen gaben. Selbst wenn diese Ärztin war. Leider war sie keine der schicken Society-Ärztinnen, die sich durch Botoxbehandlungen und Schönheits-OPs eine goldene Nase verdienten. Ihre Praxis lag an der Grenze zum Eastend und sie versorgte hauptsächlich Migranten und Londoner, die erst dann zum Arzt gingen, wenn es fast schon zu spät war, wodurch sich die Behandlungskosten exorbitant erhöhten.

Es gab ihr ein gutes Gewissen, aber schlechte Geschäftszahlen. Und ein gutes Gewissen stellte für eine Bank keine belastbare Sicherheit dar. Wie sie auch rechnete, die monatliche Belastung für das Gerät war zu hoch, zumal ihre Miete für die Praxis erhöht worden war.

Ivys Laune wurde auch dadurch nicht besser, dass es plötzlich an ihrer Tür klingelte. Sie rieb mit beiden Händen über ihr müdes Gesicht, reckte sich und gähnte dabei.

»Halb drei?«, murmelte sie, nachdem sie auf die Uhr geschaut hatte. Über all ihren finanziellen Problemen hatte sie die Zeit vergessen. Sie ärgerte sich, dass sie den Rollladen nicht heruntergelassen hatte. So hatte wohl dieser Patient das Licht in ihrem Büro gesehen. Für einen Moment überlegte sie, »Toter Mann« zu spielen und einfach nicht aufzumachen.

Es klingelte abermals. Diesmal hartnäckiger als zuvor.

»Ach verflucht!«, knurrte sie und erhob sich von ihrem Stuhl. Noch einmal dehnte sie ihre steifen Glieder, nahm mit beiden Händen ihr blondes, schulterlanges Haar zusammen und drehte es um sich selbst. Dann ging sie hinaus in den Flur, schaltete das Licht ein und trat an die Gegensprechanlage.

Es war gefährlich, in dieser Gegend nachts jemanden in die Praxis zu lassen. Ivys Chance auf einen Überfall stand gut. In ihrem Medikamentenschrank gab es genügend Substanzen, die für einen Dealer oder einen Süchtigen hochinteressant waren.

Gerade, als sie den Finger auf den Knopf der Gegensprechanlage legte, klingelte es abermals. Diesmal ohne Pause. Ein aufdringliches, zorniges Klingeln.

Sie presste die Lippen aufeinander. »Was?«, rief sie gedehnt gegen den metallenen Rost, hinter dem sich der Lautsprecher verbarg.

»Wir brauchen einen Arzt!«, kam es metallisch zurück.

Wir ... Das war schlecht. Also mindestens zwei Typen.

»Bitte, Miss ... Es ist dringend! Er verliert viel Blut ...«

Ivy hatte Erfahrung mit den Menschen und wer auch immer dort an der Tür stand – er war wirklich einer Panik nahe.

»Gehen Sie ins ›St. Peter’s‹. Die haben eine Notfallstation. Auch nachts.« Es war ein letzter, halbherziger Versuch, den Patienten loszuwerden.

»Er schafft’s nicht mehr weiter, Miss. Sagen sie dem Doktor, es ist wirklich dringend. Bitte!«

Ivy drückte auf den Türöffner. Vorsichtig zog sie die Tür zur Praxis einen Spalt auf. Wenn die Typen ihr bedrohlich vorkämen, so konnte sie noch immer abschließen und im Zweifel die Polizei rufen.

Der Anblick, der sich ihr aber jetzt bot, war mehr als bedrohlich. Ein gedrungener Typ mit Bart, der König Edward VII. ähnelte, schob sich ächzend den Flur entlang. Halb über sich einen riesenhaften Mann, der sich seine Seite hielt und von dessen Gesicht sie nichts sah, da eine unglaubliche Masse schwarzer, welliger Haare es verdeckte. Dazu trug er einen fast bodenlangen schwarzen Mantel, der ihn nicht vertrauenerweckender machte.

Der Gang hallte wider vom Ächzen der beiden.

Ivy war ein wenig erleichtert, dass der Große so gebeugt lief, sonst – so fürchtete sie – hätte er sich vermutlich den Kopf am Türrahmen gestoßen.

»Wo ist der Doktor?«, fragte der kleinere Mann, als er seinen Freund auf einem der schäbigen hölzernen Stühle im Praxisflur abgesetzt hatte.

Dieser saß nun vornüber gesunken und atmete flach.

»Ich bin der Doktor!«, sagte Ivy mit entschlossener Stimme. »Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«

Der Typ hatte zwei Fehler begangen: Erstens hatte er mitten in der Nacht geklingelt und zweitens hatte er sie unterschätzt. Ersteres konnte sie noch verzeihen, vor allem, da es diesem Vampir offensichtlich wirklich schlecht ging. Letzteres nicht.

»Ich bin Terrence Woodrow und das ist Jeff Armstrong. Ich bin sein Manager – und sein Freund.«

»So etwas habe ich mir gedacht ...«, murmelte sie. »Was hat er?« Da sie nicht einmal das Gesicht des Jeff Armstrong sehen konnte, wusste sie nicht, ob er einfach nur zu viel von irgendwas Ungesundem konsumiert hatte oder ob es etwas anderes war.

»Wir bringen ihn ins Behandlungszimmer.« Ivy hatte ihren Chefarzt-Ton angeschlagen.

Sofort schob Woodrow seinen Arm unter die Achsel seines Schützlings und zog ihn hoch. Ivy unterstützte ihn auf der anderen Seite des Patienten. Unter dem Leder des Mantels spürte sie seine Muskeln. Doch diese schienen nicht in der Lage, bei dem Transport in das entfernt gelegene Zimmer helfen zu können. Beinahe schlaff hing der große Mann zwischen ihnen und machte nur unsichere Schritte.

Als Ivy mit der anderen Hand seine Seite zu stützen versuchte, spürte sie die warme Feuchtigkeit. Doch sie schwieg, bis sie ihn im Behandlungszimmer hatten. »Wir müssen seinen Mantel ausziehen ...«, sagte sie ein wenig atemlos.

Als das Kleidungsstück zu ihren Füßen lag, betrachtete sie das weiße Hemd, das er trug. »Das muss auch weg.«

Ehe Woodrow eingreifen konnte, begann sie schon, die Knöpfe zu öffnen. Vorsichtig stützte sie seinen Kopf, als Armstrong sich mit verzerrtem Gesicht auf die Liege legte. Sein Haar glitt seitlich herab und hing bis zum Boden.

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