Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman - Helen Perkins - Страница 6

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Lisa Wagner blickte gedankenverloren aus dem Fenster. Staubgrau lag die Dämmerung des frühen Märzmorgens über dem weitläufigen, parkähnlichen Garten in einer der besseren Gegenden Münchens. Die Villa stammte aus der Zeit der letzten Jahrhundertwende. Ein reicher Tuchhändler hatte sie nach dem damaligen Geschmack für sich und seine Familie erbauen lassen. Das hieß hohe Räume, Stuck, knarrendes Parkett, Bleiglas und hier und da eine bunte Einlegearbeit aus Künstlerhand.

Der Tuchhändler hatte hier nur wenige Jahre gelebt, seine Frau war früh verstorben, eines der Kinder an Diphterie. Danach war er einsam gewesen, hatte das Haus verkauft, die Stadt verlassen. Ein arrivierter Kunstmaler hatte den Besitz erstanden, hier viele Jahre verbracht und war hoch betagt in seinem Schaukelstuhl auf der Veranda aus gesägtem Naturstein gestorben. Später war das Haus von wechselnden Regimes und Machthabern besetzt worden, abgewohnt, zerschlissen. Es hatte Jahre lang leer gestanden, war schließlich zu einem sehr moderaten Preis von Kai Wagner erstanden und grundsaniert worden.

Der begüterte Unternehmer hatte ein Schmuckkästchen daraus gemacht, umgeben von einem herrlichen Garten in englischen Stil.

Lisa hatte sich mit der Geschichte des Hauses beschäftigt, in langen, einsamen Stunden. Sie seufzte leise und fuhr sich mit einer unbewussten Geste über ihren rechten Unterarm. Ein unangenehmes Jucken hatte sich dort ausgebreitet. Sie strich über den Pulloverärmel aus feinstem Kaschmir, ohne ihn nach oben zu schieben und die bläulichen Verfärbungen zu offenbaren, die ihren Unterarm in Form von fünf Fingern überzogen.

Unvermittelt musste sie an das denken, was ihre Mutter immer gesagt hatte, wenn sie sich als Kind verletzt hatte. »Wenn’s juckt, dann heilt’s.«

Edith Hansen war eine einfache, aber kluge Frau gewesen, geboren und gestorben in Ulm, nach einem Leben mit Mann und zwei Kindern, Hausarbeit und ab und an einer Ferienreise in die Berge.

Es heilt nicht, Mama, dachte Lisa in einem Anflug von kalter Verzweiflung. Es kann nicht heilen …

Sie dachte an die wenigen Jahre mit Rolf, ihrer Jugendliebe. Rolf Schubert, der Junge von nebenan. Sie hatten sich verliebt und waren ein Pärchen gewesen, hatten am Samstagabend in der Disco Händchen gehalten und Zukunftspläne geschmiedet. Rolf hatte Mechaniker gelernt, war ganz verrück gewesen nach allem, was schnell und gefährlich war. Verliebt, verlobt, verheiratet. Und dann war Torben auf die Welt gekommen. Rolf hatte ihr hoch und heilig versprochen, endlich einen Kombi zu kaufen und sich von seinem Motorrad zu trennen. Ein letztes Mal noch eine Runde drehen, das hatte er gesagt mit Wehmut in den Augen. Eine letzte Runde im Novembernebel, bei schlechter Sicht und tückischer Straßenglätte. Und dann war Lisa Witwe geworden, mit Anfang zwanzig und einem Baby.

Lisas Eltern hatten sich gekümmert, auch Mark, ihr älterer Bruder war regelmäßig heim nach Ulm gekommen, um ihr zu helfen, ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen. Damals, fünf Jahre war das nun her, hatte er noch in München studiert. In der Zwischenzeit war er Wasserbauingenieur, projektierte überall auf der Welt, zuletzt eine riesige Brückenanlage im westlichen Kenia. Lisa und Mark standen sich sehr nahe, noch näher jetzt, nachdem die Eltern kurz hintereinander gestorben waren und sie nur noch einander hatten. Trotzdem hatte Lisa sich einsam gefühlt in ihrer Heimatstadt, überall nur noch Erinnerungen, Vergangenheit. Sie wollte weg, irgendwo neu anfangen. Und dann hatte sie eine Stelle in der PR-Agentur Wagner in München angenommen. Der Ortswechsel hatte ihr gut getan, Torben hatte sich problemlos im neuen Kindergarten eingewöhnt. Nach und nach verblassten die Bilder ihres früheren Lebens, vernarbten die Wunden, die Schmerz und Trauer gerissen hatten. Und dann hatte Lisa sich wieder verliebt, in ihren Chef Kai Wagner. Der schlimmste Fehler ihres Lebens, wie sie nun wusste.

Kai war gut aussehend, charmant und begütert. Er besaß Geschmack, war gebildet. All das, was man sich nur wünschen konnte. Als er angefangen hatte, Lisa zu umwerben, hatte sie sich gefühlt wie im Märchen. Kai liebte sie. Er war ein wunderbarer Vater für Torben. Lisa tauschte ihr altes Durchschnittsleben gegen einen Traum, aus dem es jedoch schon sehr bald ein überaus bitteres Erwachen geben sollte.

Es fing wenige Monate nach ihrer Hochzeit mit Kleinigkeiten an. Lisa musste feststellen, dass ihr Mann kleinlich war, pingelig. Alles hatte genau so zu sein, wie er das wollte. Wenn nicht, reagierte er gereizt, auffahrend. Er bestimmte alles in ihrem Leben, jedes Detail. Sie durfte nicht mehr arbeiten, hatte zu Hause auf ihn zu warten, obwohl sie nicht mehr zu tun hatte, als Torben zur Schule zu bringen und abzuholen, seine Hausaufgaben zu kontrollieren. Die tüchtige Haushälterin Elfriede Kramer hatte alles im Griff, zudem kam mehrmals die Woche eine junge Frau für die groben Arbeiten. Lisa blieb nur, daheim auf ihren Mann zu warten, bis er, meist übellaunig und abweisend heimkam. Er ließ sie nicht mehr an dem Leben außerhalb der Villa teilhaben. Er schloss sie von allem aus. Im Gegenzug verlangte er von ihr über jede Minute ihres Tages Rechenschaft. Er entpuppt sich als Tyrann, krankhaft eifersüchtig und ein echter Kontrollfreak. Doch das war nicht alles. Lisa konnte sich noch genau an den Tag erinnern, als ihm zum ersten Mal die Hand gegen sie ausgerutscht war. Es war nur eine leichte Ohrfeige gewesen. Doch sie wusste heute, dass Kai damit eine Grenze überschritten hatte. Das Land, das dahinter lag, hieß Demütigung, Gewalt, Verzweiflung.

Lisa stöhnte gepeinigt auf bei diesem Gedanken. Sie war in den vergangenen Monaten durch die Hölle gegangen. Unzählige Male hatte sie versucht, sich von ihrem Mann zu trennen. Sie war mit Torben fortgefahren, sie war weggelaufen, einmal sogar nachts und barfuß. Doch Kai hatte sie immer wieder zurückgeholt. Er duldete keine Flucht, er betrachtete sie mittlerweile als sein Eigentum. Lisa war zutiefst verzweifelt, sie sah keinen Ausweg. Einzig mit Mark hatte sie darüber gesprochen. Er hatte sie holen wollen, aber sie mochte ihn nicht in ihr Unglück hinein ziehen. Dachte sie an Kais Anfälle von Jähzorn, die immer heftiger wurden, fürchtete sie nicht nur für ihr eigenes Leben, sondern auch für jeden anderen, den sie um Hilfe anging. Elfriede Kramer stand auf ihrer Seite. Sie war schon lange im Haus, hatte die Dramen der beiden vorangegangenen Ehen miterlebt, von denen Lisa nicht einmal etwas geahnt hatte. Die Haushälterin hatte es gewagt, ihr bei jeder Flucht zu helfen, doch sie hatten nichts erreichen können. Es war wie ein Anrennen gegen Betonmauern.

Nun hatte sich etwas geändert. Am Vortag hatte Kai Torben wegen einer Kleinigkeit geschlagen. Das hatte für Lisa den Ausschlag gegeben, sich nun nachdrücklich um Hilfe zu bemühen. Es konnte so nicht weitergehen. Schlimm genug, was sie zu erdulden hatte. Doch sie würde es nicht zulassen, dass ihr Sohn nun ebenfalls zum Opfer wurde. Etwas musste geschehen!

»Fertig, Mama!« Torbens Stimme holte Lisa aus ihren trüben Gedanken. Die schlanke Blondine mit den tiefblauen Augen wandte sich vom Fenster ab, trat neben den Küchentisch, an dem der Junge eben seine Müslischüssel gelehrt hatte, wuschelte ihm die blonden Locken und sagte mit erzwungener Fröhlichkeit: »Schön, dann zieh deine Jacke an, wir müssen allmählich los.«

Elfriede Kramer betrat die Küche, die beiden Frauen tauschten einen einvernehmlichen Blick. Die rundliche Mittfünfzigerin besaß ein mütterlich mitfühlendes Herz. Sie hatte mit Kai Wagners beiden ersten Frauen gelitten, doch für Lisa empfand sie beinahe wie für ihre eigene Tochter. Und der kleine Bub war ihr ganz fest ans Herz gewachsen.

Die Haushälterin stellte das Frühstücksgeschirr aus dem Esszimmer ab, wo Kai Wagner stets allein aß, dann strich sie Lisa mit einem aufmunternden Lächeln über den Arm.

»Das wird schon. Denken Sie daran, Ihren Bruder anzurufen. Er müsste längst wieder in Ulm sein.« Sie schaute die junge Frau ernst an. »Sie dürfen keine Zeit mehr verlieren, Lisa.«

»Ja, ich weiß«, murmelte diese mit brüchiger Stimme.

Torben wartete bereits gestiefelt und gespornt in der weitläufigen Diele. Lisa zog ihren Mantel über und folgte dem Buben, der es nun eilig hatte. Torben ging gern in die Schule, er hatte viele Freunde und lernte leicht. Alles hätte so schön sein können, wenn … Ja, wenn sie sich nicht in Kai Wagner verliebt hätte und seine Frau geworden wäre.

Lisa nahm ihren Sohn an die Hand, sie verließen das Haus, spazierten durch die ruhige Allee. Die hohen Bäume waren noch kahl, die breiten Stämme feucht vom Nacht­regen. Doch die Knospen schwollen jeden Tag ein wenig mehr, und erste Meisen hüpften zwitschernd in den Ästen herum.

»Mama, guck mal, da vorne sind Nils und Lucy! Darf ich mit denen gehen? Sie sind in meiner Klasse, weißt du?«

»Ja, ich weiß, lauf nur«, sagte sie lächelnd.

Torben strahlte sie mit seiner Zahnlücke an, die sie immer wieder daran erinnerte, dass er bald die letzten Milchzähne verloren hatte. Ein weiterer Schritt ins Leben, weg von der Zeit an Mamas Rockzipfel, voller Neugierde auf das, was hinter dem Horizont der frühen Kindheit wartete und lockte.

»Bis heute Mittag, Mama!« Weg war, wuselte auf seinen noch kurzen Beinen zu den beiden anderen ABC-Schützen, die lachend und knuffend Richtung Schultor stiefelten. Unbeschwerte Kindheit. Was für ein Hohn. Bitterkeit stieg in Lisa auf. Sie war nun dafür verantwortlich, dass er wieder so wurde und blieb. Torben hatte die Ohrfeige klaglos weggesteckt, er war ein robustes Kind, das nicht so leicht erschrak. Doch das, was am Vortag geschehen war, durfte sich nicht wiederholen. Nie mehr.

Die junge Frau hatte die Grundschule erreicht, es klingelte eben zur ersten Stunde. Lisa blieb vor dem großen, geöffneten Tor stehen, schaute zu, wie die Kinder schreiend und lachend ins Gebäude strömten. Das Trampeln ungezählter Füße, das leiser wurde und schließlich verstummte. Dann senkte sich Stille über den Platz. Im nahen Park sang ein Buchfink sein Frühlingslied.

Mit einem leisen Seufzen kehrte Lisa nach Hause zurück.

Elfriede Kramer war damit beschäftigt, das Mittagessen vorzubereiten. Lisa setzte sich an den großen Küchentisch und begann, Kartoffeln zu schälen. »Das sollen Sie doch nicht tun«, mahnte die Haushälterin nachsichtig. »Rufen Sie lieber Ihren Bruder an.«

»Ich weiß nicht, ob das richtig ist.«

»Aber, Lisa, Sie brauchen Hilfe. Mehr, als ich Ihnen bieten kann. Sie brauchen jemanden, dem Sie ganz vertrauen können.«

»Ja, ich weiß.« Sie schloss die Augen, denn sie spürte nun Tränen in sich aufsteigen. Aber sie wollte nicht weinen, nicht mehr. Sie hatte viel zu viele Tränen vergossen. »Ich habe nur Angst, dass ich Mark auch in Gefahr bringe. Kai mag meinen Bruder nicht, das wissen Sie. Und wenn er mir nun hilft …«

»Was wollen Sie sonst tun?« Elfriede Kramer blieb sachlich, auch wenn sie wusste, dass es die junge Frau große Überwindung kosten würde, ihren geliebten Bruder in diese unglückliche Geschichte hineinzuziehen. Aber es musste sein. Lisa musste überzeugt werden. Nur dann konnte dieses Drama noch einen halbwegs guten Ausgang nehmen.

»Ich weiß nicht …« Sie atmete tief durch und nickte. »Ja, Sie haben vermutlich recht. Es gibt keinen anderen Weg. Ich werde wieder nach Ulm ziehen und die Scheidung einreichen.«

»Eine weise Entscheidung. Sie brauchen dabei aber Hilfe«, erinnerte die Haushälterin sie noch einmal eindringlich. »Jemanden, der Sie schützt, wenn Ihr Mann herausfindet, wo Sie sind. Jemanden, der Ihnen nach der Trennung beisteht.«

Lisa erhob sich mit einem Seufzen. »Ich rufe Mark an.«

Elfriede Kramer nickte und schaute ihr bekümmert hinterher. Es würde schwer werden, sie fort zu lassen. Das Haus würde dann wieder leer und trostlos sein. Doch es gab keinen anderen Weg.

*

Mark Hansen saß an seinem Schreibtisch in seiner geräumigen Wohnung mit Blick auf das Ulmer Münster und war damit beschäftigt, seine Unterlagen zu ordnen. Er war am Vortag aus Nairobi zurückgekehrt und litt noch unter dem Jetlag. Er konnte nicht schlafen, musste erst mal mit der Klimaumstellung zurecht kommen. Das beste Rezept war für ihn in einer solchen Situation, seinen Schreibtisch aufzuräumen. Er war zwei Monate in Kenia gewesen und hatte nun eine Woche Urlaub. Die brauchte er nach einem solchen Projekt erfahrungsgemäß, um wieder fit zu werden und seinen Bürojob auszufüllen, bis sein Boss mit einem neuen Projekt aufkreuzte. Er hielt große Stücke auf Mark, der ganz in seinem Beruf aufging und schon viel geleistet hatte.

Projekte in Afrika, Asien und Europa wechselten sich für die Hochtief Schuhmann ab. Mark hatte quasi auf allen Kontinenten seine baulichen Spuren hinterlassen. Er war auf Dämme, Brücken und maritime Bauwerke spezialisiert und liebte seine Tätigkeit.

Sein Privatleben litt unter seinem beruflichen Engagement. Er betrachtete Lisa und Torben als seine Familie. Eine eigene zu gründen, das wollte er schon, aber dafür hatten ihm bislang schlicht Zeit und Gelegenheit gefehlt. Er war nicht der Typ, der gern in Bars ging oder zu gesellschaftlichen Anlässen. Dating-Plattformen wie Tinder waren ihm fremd und peinlich. Wenn er nach einem langen Auslandsaufenthalt heimkam, rief er Lisa an. Ihre Stimme zu hören, ihr Lachen, das bedeutete für ihn Heimat.

Als das Telefon sich nun meldete, lächelte der junge Mann mit dem gut geschnittenen Gesicht und den erstaunlich blauen Augen.

»Lisa, ich habe gerade an dich gedacht. Wie geht’s euch?«

Eine kurze Pause entstand, die bereits nicht Gutes verhieß. Dann die Stimme seiner Schwester, sehr bemüht, ruhig und gefasst zu klingen. Doch er hörte die unterdrückten Tränen darin und machte sich sofort Sorgen. »Nicht gut. Es hat sich nichts geändert seit unserem letzten Gespräch, Mark. Es ist … eher noch schlimmer geworden. Viel schlimmer.« Sie verstummte, als ihre Stimme kippte.

Der junge Mann schwieg einen Moment, dann bat er behutsam: »Erzähl mir, was passiert ist. Erzähl mir alles, bitte.«

Lisa brauchte eine Weile, um das zu tun. Immer wieder musste sie Pausen einlegen, weil die Tränen sich nicht länger zurückhalten ließen, weil die Verzweiflung sie so massiv überwältigte, dass ihr einfach die Worte fehlten, sie ihr Leid nicht mehr ausdrücken konnte. Mark kannte das bereits.

Der junge Mann litt mit seiner Schwester. Und er spürte Zorn und Empörung, wenn er an seinen Schwager dachte. Diesen eingebildeten Schnösel, der ihn wie einen Bittsteller behandelt hatte, der sich ihm gegenüber stets hochnäsig und gönnerhaft gab. Wie hätte es ihm wohl gefallen zu wissen, dass Lisas Bruder über ihn Bescheid wusste, sein kleines, dreckiges Geheimnis kannte? Seine Schwäche, seine Minderwertigkeitsgefühle, die er mit Schreien und Schlagen zu kompensieren suchte? Gerne hätte Mark ihm all das einmal ins Gesicht gesagt. Doch es ging hier nicht um seinen gekränkten Stolz oder eine persönliche Abneigung, sondern nur um Lisa, darum, ihr Leben endlich wieder in Ordnung zu bringen.

Schließlich hatte sie ihre Schilderung beendet und war erschöpft verstummt. Mark lauschte in den Hörer, auf das flache, gequälten Atmen seiner Schwester, aus dem nur Angst und kalte Verzweiflung sprachen. Seine Hand krampfte sich um das Telefon, er fühlte sich hilflos, wie stets, wenn es um Lisas Leid ging, ohnmächtig und schwach. Zu weit weg, um sie tröstend in den Arm zu nehmen, unfähig, sie vor diesem Monster, das sie geheiratet hatte, zu beschützen. Ein Gefühl, das er ebenso hasste wie Kai Wagner, der nur Leid und Unglück in das Leben seiner Schwester gebracht hatte. In einem Anflug von naiver Sehnsucht wünschte er sich in eine bessere Vergangenheit, in eine Zeit, als er ein Schulbub gewesen war und die kleine Schwester vor den großen Rüpeln bewahrt, sie getröstet hatte, wenn sie sich die Knie aufgeschürft hatte, als er einfach für sie da gewesen war. Ganz selbstverständlich. Niemals hätte er sich vorstellen können, dass sich daran je etwas ändern könnte. Aber die Zeit änderte so vieles, das Meiste nicht zum Guten. Wie sehr hatte er Lisa nach Rolfs frühem Tod ein neues Glück gegönnt. Doch es war gründlich schief gegangen. Und nun blieb ihm nichts, als ihr dabei zu helfen, die Scherben zusammenzufegen und einmal mehr die Reset-Taste zu drücken. Wenn es denn möglich war.

»Ich komme morgen nach München und hole euch ab«, sagte er schließlich entschlossen. »Das kann keinen Tag so weitergehen, Lisa. Ihr müsst weg von dort.«

»Ja, ich weiß. Aber so schnell geht es nicht. Ich muss das erst vorbereiten, einen sicheren Platz suchen, an dem wir uns treffen können. Heimlich ein paar Sachen packen. Und einen geeigneten Moment abwarten.«

»Also wann?«, hakte er geduldig nach.

»Sagen wir, übermorgen. Du kannst morgen schon nach München kommen, wenn du willst. Ich rufe dich an und sage dir, in welcher Pension wir uns treffen. Dort kannst du dich dann einmieten, damit alles reibungslos abläuft.«

»Das klingt wie eine Flucht aus Alcatraz.«

»Es ist nichts anderes.« Lisa seufzte schwer. »Ich habe schon so oft versucht wegzugehen. Kai hat mich immer zurückgeholt. Und danach wurde es dann schlimmer und schlimmer. Diesmal darf nichts schiefgehen, hörst du? Ich möchte mir nicht mal vorstellen, was danach kommen würde.«

»Keine Sorge, es wird alles klappen, verlass dich auf mich.«

»Ja, das tue ich doch schon immer. Eigentlich ist es mir nicht recht, dass ich dich in diese Sache hineinziehen muss. Aber ich sehe einfach keine andere Möglichkeit.«

»Darüber müssen wir nicht reden. Ich helfe dir gern. Und ich werde erst wieder ruhig schlafen können, wenn du in Sicherheit bist. Ich nehme morgen den Spätzug, dann hast du noch genügend Zeit, mich wegen der Pension anzurufen, okay?«

Lisa lächelte ein wenig, schloss kurz die Augen und murmelte: »Okay. Ich bin trotz allem froh, dass du herkommst.«

»Übermorgen um diese Zeit werden wir in meiner Wohnung Kaffee trinken und über unseren konspirativen Plan lachen.«

»Das glaube ich nicht. Ich weiß gar nicht mehr, wie das geht.«

»Du wirst es wieder lernen. Dann bis übermorgen, Lisa.«

»Ja, bis übermorgen.«

Mark lauschte noch einen Augenblick ihren letzten Worten nach, dann legte er das Telefon beiseite. Er blickte bekümmert vor sich hin, war nun bemüht, seine Gedanken ebenso zu ordnen wie eben noch seine Akten. Lisa und Torben konnten in seinem Gästezimmer wohnen, zumindest fürs Erste. Seine Wohnung war geräumig, es gab genügend Platz für sie alle. Er überlegte, ob er einen guten Scheidungsanwalt kannte, durchforstete sein Filoflex nach Adressen und wurde schließlich fündig. Der gute alte Simon Berger, ein Studienfreund von ihm. Er hatte Lisa sehr gemocht, war sogar ein wenig in sie verliebt gewesen. Er würde den Fall übernehmen, sie mit einer dicken Abfindung von dem Monster befreien und ihr vielleicht auch wieder neuen Lebensmut geben. Soviel Mark wusste, war er noch nicht verheiratet.

Der Ingenieur lächelte schmal. Schon seine Mutter hatte ihm immer vorgeworfen, ein Johnny Kontrolleti zu sein. Er plante zu sehr in die Zukunft und verlor sich manchmal in Details. Bei seinen Projekten war das nicht unbedingt ein Nachteil, im wahren Leben aber manchmal doch.

Wie auch immer, am nächsten Tag ging die Reise nach München. Mark musste noch einiges vorbereiten, schließlich sollte seine Rettungsaktion ohne Pannen über die Bühne gehen.

»Es wird schon werden«, sagte er, wie um sich selbst ein wenig aufzumuntern. Was sollte auch schief gehen? Noch ehe Kai Wagner ahnte, was los war, würden sie bereits im Zug nach Ulm sitzen.

Mark Hansen ahnte nicht, dass alles ganz anders kommen sollte.

Dr. Daniel Norden hat dem Kollegen Berger Urlaub verordnet, trotzdem taucht Erik Berger ständig in der Notaufnahme auf und nervt seine Vertretung, Dr. Christina Rohde. Da erteilt Daniel Norden ihm vorübergehend Hausverbot, womit Erik überhaupt nicht zurecht kommt. Ihm fällt zu Hause die Decke auf den Kopf … Um sich ein wenig zu zerstreuen, sucht er eines Abends ganz gegen seine Gewohnheiten einen Club auf. Da hat das Schicksal ihm einen bösen Streich gespielt, denn was ihm hier widerfährt, war weiß Gott nicht vorauszusehen. Erik gerät in Lebensgefahr und erfährt in dieser Situation etwas, was er nie erwartet hätte: dass jemand sein Leben für ihn riskiert!»Ja, das ist so okay. Der Kunde war zufrieden. Aber bei dem neuen Projekt musst du noch nacharbeiten, Silvia. Tut mir leid, das ist so noch längst nicht vorzeigbar.«

»Okay, Chef, wie du meinst. Schiebe ich eben mal wieder ein paar Überstunden«, sagte die junge Angestellte.

»Braves Mädchen.« Kai Wagner lächelte ihr charmant zu und kehrte dann in sein eigenes Büro zurück. Der große, sportliche Unternehmer mit dem dichten, dunklen Haar und den rehbraunen Augen blickte eine Weile aus der verspiegelten Stirnseite des Raums auf die abendliche Münchner City. Sein Büro wie die ganze PR-Agentur war hypermodern gestylt, sollte die Kundschaft gleich beim ersten Besuch beeindrucken und für ihn einnehmen. Er pflegte ein freundschaftliches Verhältnis zu all seinen Mitarbeitern, legte große Wert auf ein entspanntes, lockeres Betriebsklima. Der sympathische Strahlemann, den man einfach gern haben musste, das war sein sorgsam aufgebautes Image. Wie es dahinter aussah, ging keinen was an.

Ein kleines, hartes Lächeln legte sich um seine schmalen Lippen, als er an diesen Spruch dachte, den sein Vater bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit vom Stapel gelassen hatte.

»Wie’s drinnen aussieht, geht keinen was an, Jungchen.« Der begüterte Geschäftsmann mit den eisblauen Augen hatte eine Vorliebe für solche Lebensweisheiten gehabt. Besonders als krönende Belehrung nach einer unvorbereitet heftigen Ohrfeige oder einem gemeinen Schlag mit einem seiner unzähligen Spazierstöcke, die fast alle ein harter Knauf als Silber geziert hatte. Fein ziserliert, in ihrer wuchtigen Wirkung auf den blassen, ängstlichen Knaben aber nicht zu unterschätzen.

Hubert Wagner war ein passionierter Jäger gewesen, ein Weiberheld, wie er das gerne selbstgefällig ausgedrückt hatte. Und das Hascherl mit dem schönen Erbe, Kais Mutter, hatte nie den Mund aufgetan und die veilchenblauen Augen vor jedem Schlag verschlossen, ob dieser nun auf den Sohn oder sie selbst niedergegangen war.

Kai hatte viele Jahre die unverhältnismäßig brutalen Züchtigungen des Vaters ertragen, nicht schweigend wie die Mutter, meist weinend und dem Hohn und Spott des Alten zudem ausgesetzt. Dann war er vierzehn geworden, hoch aufgeschossen, hatte nach dem Stimmbruch angefangen, Sport zu machen. Irgendwann hatte der Alte es nicht mehr gewagt, die Hand gegen ihn zu heben. Mit seinem Bierbauch und dem vom Bluthochdruck geröteten Gesicht war er schließlich in den Fünfzigern einer koronaren Verstopfung zum Opfer gefallen, standesgemäß auf seinem Lieblingshochsitz in seinem Revier, in der Rechten noch die geladene Flinte, in der Linken den versilberten Flachmann.

Kai hatte bittere Tränen an seinem Grab geweint, und nur er hatte gewusst, dass er den Jahren nachweinte, in denen er diesen Schinder hatte ertragen müssen. Warum nur hatte seine Pumpe nicht viel früher den Geist aufgegeben?

Die Mutter war wenige Jahre später in einem Sanatorium bei Meran verstorben, dement und bar aller bösen Erinnerungen.

Dann endlich war Kai frei gewesen. Begütert, beruflich erfolgreich, blendend aussehend. Die Münchner Schickeria hatte ihm zu Füßen gelegen, die Frauen waren hinter ihm her wie der Teufel hinter der armen Seele. Er hatte viele erobert, er hatte zweimal geheiratet. Doch er hatte nichts empfunden, keine Freude, keine Liebe, keine Lust. Nur den Wunsch, etwas von den Hieben und Schmerzen weiterzugeben, die der kleine, blasse Knabe im Jagdzimmer der elterlichen Villa empfangen hatte.

»Wie’s drinnen aussieht, geht keinen was an.«

Er lachte kalt und spöttisch auf. Selbst heute noch, nach all den Jahren, wäre es ihm eine Lust gewesen, es seinem Vater heimzuzahlen, einmal nur einen von dessen glatt polierten Gehstöcken aus Erle oder Rosenholz auf seinem massigen Rücken zu zertrümmern. Doch der Alte war fort. Und die Sammlung seiner Stöcke hatte Kai im offnen Kamin seines Elternhauses zu Asche verbrannt.

Der Unternehmer kehrte an seinen Schreibtisch zurück, um noch einige Telefonate zu führen. Dabei betrachtete er das Foto von Lisa und Torben, das in einem schweren Silberrahmen aus der Zeit des Jugendstils steckte. Lisa, die süße Lisa. Ihr Blick hatte etwas in seinem Herzen berührt. Das war niemals zuvor geschehen. Er wusste nun, dass es Schmerz gewesen war, Verlust und Trauer. Sie hatte ihren ersten Mann sehr früh und plötzlich verloren. Die Tränen hatten einen Schatten auf ihrer Seele hinterlassen, einen Schmerz in ihren Augen, dem er sich spontan verwandt gefühlt hatte. Er hatte sie heiraten müssen, es war ihm einfach ein Bedürfnis gewesen.

Als die hübsche kleine Sekretärin und ihr pflegeleichter Sohn in sein Haus gekommen waren, da hatte er tief im Herzen in beinahe naiver Inbrunst darauf gewartet, dass sich etwas ändern würde. Dass er endlich in der Lage sein würde, zu fühlen, zu empfinden, so wie alle anderen. Dass Lisas zarte, schmale Hände den Eispanzer schmelzen würden, der sein Herz umgab.

Aber das heimlich ersehnte Wunder war nicht geschehen. Kai hatte erkennen müssen, dass hinter dem Eispanzer nichts war, nur weiteres Eis, Kälte und Gefühllosigkeit. Sein Herz war lange gestorben, tot und gefühllos lag es wie ein Stein in seiner Brust. Diese Erkenntnis hatte wieder seinen alten Freund geweckt; den Jähzorn.

Vor Jahren, kurz nach seiner ersten Scheidung, hatte er sich in Therapie begeben, um diesen unkontrollierbaren, weißglühenden Kerl endlich aus seinem Kopf zu verbannen. Er hatte über Monate in seiner Kindheit gewühlt, mit beiden Armen tief in Herzblut und Innereien, ohne aber etwas zu erreichen. Der Therapeut war der Meinung gewesen, dass er zu schnell aufgab, doch Kai hatte schließlich keinen Sinn mehr in dieser ergebnislosen Selbstzerfleischung gesehen. Er hatte sich damit abgefunden, dass der andere er war, dass er zu ihm gehörte. Geboren aus dem Schmerz der frühen Kindheit, war er mit seinem Denken und Fühlen untrennbar verwachsen. Es gab keinen Ausweg, keine Heilung. Schnitt man die Geschwulst weg, blieb nichts übrig. Das war die nackte Wahrheit.

Und als auch Lisa versagt hatte, ihn enttäuscht, zu schnell zurückgezuckt war, nachdem sie einen kleinen Blick hinter die Fassade geworfen hatte, da musste er dem alten Freund die Zügel lassen, um wieder klar denken zu können.

Die Angst in Lisas Augen, der Schmerz, die Verzweiflung, sie waren anders als alles zuvor. Sie verschafften ihm keine Befriedigung, kein Gefühl der Macht und Überlegenheit. Sie schmerzten ihn in zunehmendem Maße. Je härter er zuschlug, desto tiefer verletzte er sich selbst. Es gab keinen Ausweg. Er liebte Lisa, aber er würde diese Liebe niemals leben können.

»Wie’s drinnen aussieht …«

Wenig später verließ Kai Wagner seine Firma, um nach Hause zu fahren. Er stoppte seinen dunkelblauen Jaguar Roadster vor einer kleinen Bar am Stachus, um schnell noch zwei Whisky zu kippen. Der Alkohol entspannte ihn ein wenig, brachte das Mühlrad in seinem Kopf zwar nicht zum Stehen, verlangsamte seine Umdrehungen aber zumindest.

Als er dann darauf wartete, dass das übermannshohe Tor aus kunstvoll geschmiedetem Eisen vor seiner Auffahrt lautlos aufschwang, spürte er bereits wieder, wie sein weißglühender Freund sich regte. Ärger stieg in ihm auf. Er biss die Zähne zusammen, gab etwas zu heftig Gas, was der schwere Motor mit einem unangenehm hohen Kreischen kommentierte. Plötzlich sah er seinen Vater in der Auffahrt stehen, im grünen Loden, beide Arme in die Hüften gestemmt, und den Mund zu einem hähmischen, bösen Grinsen verzogen.

Kai gab Gas und musste dann vor den Garagen eine Vollbremsung hinlegen. Er atmete tief durch, doch sein Herz schlug viel zu schnell und der Zorn, der ihn erfüllte, wurde zu einem spitzen, schmerzhaften Kratzen, so als ziehe jemand in seinem Hals eine Nadel hin und her. Er knallte die Autotür zu, dass es sich anhörte wie ein Schuss. Dann stampfte er mit geballten Fäusten ins Haus. Und in diesem Moment hätte man ihn tatsächlich mit seinem Vater verwechseln können.

*

Mark Hansen nahm den Intercity, der am nächsten Abend kurz nach zehn in Ulm abfuhr. Er hatte vor zwei Stunden noch einmal mit seiner Schwester telefoniert und wusste nun, dass sie sich in einer kleinen Pension am Stachus treffen würden. Pension Mecking. Er hatte den Namen und die Adresse in sein Filoflex geschrieben, um sie ja nicht zu vergessen. Während der Zug durch den Frühlingsabend rauschte, dachte Mark an ein anderes Telefonat, das er noch am Vorabend mit seinem Studienfreund Simon Berger geführt hatte. Simon war erfreut gewesen, von ihm zu hören, sie hatten sich eine ganze Weile nett unterhalten, bis Mark auf den eigentlichen Grund seines Anrufs zu sprechen kam. Er kannte Simon gut genug, um ganz ehrlich zu ihm zu sein, und der hatte sich sehr betroffen gezeigt.

»Klar übernehme ich den Fall«, war seine spontane Reaktion gewesen. »Aber ich dachte, deine Schwester wäre mit diesem KFZ-Fritzen verheiratet, wie war doch gleich sein Name …«

»Rolf Schubert. Nein, der ist vor ein paar Jahren mit dem Motorrad tödlich verunglückt. Lisa ist nach München gezogen, um neu anzufangen. Sie hat zuerst als Sekretärin für Wagner gearbeitet und sich dann in ihn verliebt. Er ist so ein Frauentyp, weißt du, kann jeder den Kopf verdrehen. Es dauert, bis sie hinter seine Fassade sehen können. Und dann ist es meist schon zu spät, um unbeschadet da heraus zu kommen. Für ihn war es bereits die dritte Ehe. Lisa wusste nichts davon, auch nicht, dass er seine beiden ersten Frauen krankenhausreif geprügelt hat, bevor sie die Scheidung einreichten.«

»So ein Schwein. Ich kenne solche Fälle, leider kommt das gar nicht mal selten vor. Und ich kann dir ver­sichern, dass es einem keine wirkliche Befriedigung verschafft, diesen ›Herren‹ ihr Geld abzunehmen. Eine Abfindung ist in einem solchen Fall nichts weiter als ein Trostpflaster.«

»Das klingt, als würdest du sie gerne zusammenschlagen.«

Simon hatte zwar gelacht, doch ein wenig Befangenheit hatte darin durchaus mitgeschwungen. Mark konnte ihn verstehen. Und er fand es gut, dass der Freund sich emotional nicht abkapselte, sondern Mitleid mit seinen Klientinnen zeigte. Das machte ihn vermutlich zu einem guten Anwalt und zu einem sympathischen Menschen. Was Lisas Scheidung betraf, erschien dem jungen Ingenieur also alles in trockenen Tüchern. Simon würde den Fall übernehmen, und schon bald war Kai Wagner für Lisa nur noch eine schlechte Erinnerung …

Die Fahrt nach München verlief entspannt. Kurz nach elf Uhr abends kam der junge Ingenieur am Münchner Hauptbahnhof an. Immer wenn er hierher reiste, erinnerte ihn das an seine Studienzeit. Es waren angenehme Erinnerungen. Mark kaufte sich an einem Kiosk noch eine Zeitung und strebte dann zum Ausgang. Er wollte ein Taxi zur Pension Mecking nehmen, wo er bereits vorbestellt hatte. Schließlich durfte er nichts dem Zufall überlassen, das war nun wichtiger denn je.

Ganz in Gedanken versunken passierte er die langen Wände mit den Schließfächern und sah bereits den Ausgang vor sich, als er unvermittelt Schritte direkt hinter sich hörte. Da erst wurde ihm bewusst, dass um diese Zeit hier nicht mehr viel Betrieb herrschte. Obwohl alles hell erleuchtet war, man sich sicher fühlte, war der große Komplex doch fast menschenleer. Die wenigen Mitreisenden, die mit ihm zusammen ausgestiegen waren, hatten sich rasch verlaufen. Mark stoppte und drehte sich irritiert herum. Unvermittelt sah er sich einer Gestalt gegenüber, die sehr nah vor ihm stand. Er sah ein schmutziges, dunkelgraues Hoody, dessen Kapuze tief in die Stirn gezogen worden war. Ausgeleierte Jogginghosen und auffällige Sneaker, orange und gelb abgesetzt mit einer dicken, weißen Sohle. Er roch ein seltsames Gemisch aus Alkohol, altem Schweiß und noch etwas, das er nicht näher bestimmen konnte. Der Kerl blies ihm seine Fahne ins Gesicht, öffnete den Mund, in dem einige Zähne fehlten, und bellte: »Geld her, Alter!« Dann machte er noch einen Schritt auf Mark zu, der sah, dass der andere etwas in der Hand hielt, das er aber nicht genau erkennen konnte. Es war länglich, hatte die Farbe von Eisen und eine stumpfe Spitze. Der Angreifer hielt es Mark unters Kinn und wiederholte seine Forderung.

Der junge Ingenieur ließ sich nicht so leicht einschüchtern. Er war kein ängstlicher Mensch und konnte sich verteidigen. »Verschwinde!«, war alles, was er erwiderte, dann wandte er sich zum Gehen. Doch der Angreifer war nicht allein gekommen.

Im nächsten Moment sah Mark sich zwei weiteren Kerlen gegenüber. Einer trug nur ein weißes, geripptes Unterhemd und war opulent tätowiert. Sein Gesicht verschwand hinter einer Skimaske. Der Dritte war klein und dick. Sein rötliches Haar stand fettig von seinem runden Kopf ab. Er trug eine billige Sonnenbrille und erinnerte Mark an Schweinchen Dick. Doch das Ganze war nicht zum Lachen, das schien klar.

»Los, rück die Penunze raus, Alter, oder du wirst es bereuen«, forderte der Tätowierte rüde.

»Ich gebe euch was, aber bleibt ruhig!«, erwiderte Mark.

Der kleine Dicke kicherte. »Spendabel, was?«

Als Mark nach seiner Brieftasche griff, traf ihn ein brachialer Schlag auf den Hinterkopf. Er hatte das Gefühl, als müsse sein Schädel bersten, meinte, ein hässliches Knirschen zu hören, und sah zugleich tausend Sterne vor seinen Augen explodieren. Kaum eine Sekunde später verglühten sie im Schwarz einer Neumondnacht. Der junge Ingenieur ging zu Boden. Die drei Kerle machten sich wie Aasgeier über seine Sachen her, stahlen alles von Wert und waren kaum zwei Minuten später wie vom Erdboden verschluckt.

Es dauerte noch gut eine halbe Stunde, bis zwei Beamte der Bahnhofspolizei den Bewusstlosen auf ihrer Streife fanden. »Sieht übel aus«, sagte einer von ihnen, der einen Notarzt und die Kollegen von der Kriminalpolizei alarmierte. »Raubüberfall. Der Mann hat nichts mehr bei sich, keine Papiere, kein Geld.«

Sein Kollege hatte Mark vorsichtig in eine entlastende Lage gebracht und erhob sich nun. »Er lebt noch. Aber der Puls ist sehr schwach. Hoffentlich kommt der Notarzt bald.«

*

»Sie sollten jetzt gleich los fahren.« Elfriede Kramer schaute Lisa beklommen an. Sie dachte an den Streit, den ihr Mann am Vorabend wegen einer Nichtigkeit vom Zaun gebrochen hatte. Lisa war sehr bemüht gewesen, ruhig zu bleiben, Kai nicht unnötig zu provozieren. Doch er fand immer einen Grund, sie zu beschimpfen, ihr absurde Vorwürfe zu machen und sie mit seiner sinnlosen Eifersucht zu quälen. Schließlich hatte der Abend mit einem blauen Auge für Lisa geendet. Torben war weinend und verschreckt in seinem Zimmer verschwunden und bislang nicht mehr heraus gekommen. Der Junge hatte den ganzen Tag nichts gegessen, war nicht zur Schule gegangen. Elfriede Kramer ahnte, dass dies die letzte Gelegenheit war, Lisa und ihren Buben aus dem Haus zu schaffen. Wer konnte sagen, was als Nächstes kam?

»Ich habe mit meinem Bruder ausgemacht, dass wir uns erst morgen in der Pension treffen. Vielleicht ist er noch gar nicht dort«, murmelte Lisa bekümmert. Sie war einmal mehr völlig eingeschüchtert und wagte es kaum, einen Fuß vor das Haus zu setzen. Obwohl nun alles mit Mark abgesprochen war, fühlte Lisa sich unsicher und voller Angst.

»Das ist egal. Sie müssen hier raus!«, beharrte Elfriede.

Lisa seufzte schwer. »Ja, Sie haben recht. Kai kommt erst später, da ist ein Empfang im Interconti, an dem er teilnimmt. Es ist wohl die beste Möglichkeit, die sich uns bietet.«

»Die beste und vielleicht die einzige Möglichkeit. Ich hole Torben und rufe Ihnen ein Taxi.«

Lisa atmete tief durch und bemühte sich, halbwegs ruhig zu bleiben, was alles andere als einfach war. Der vergangene Abend schwebte wie eine dunkle Wolke über ihr, die Erinnerung daran machte ihr noch immer so sehr zu schaffen, dass ihr die Tränen kamen. Sie konnte den Ausdruck in Kais Augen nicht vergessen, als er sie geschlagen hatte. Dunkel waren sie gewesen, fast schwarz vor Zorn und unbändiger Wut. Sie fragte sich, was mit ihrem Mann los war. Hatte er den Verstand verloren? War er einer jener Irren, die nach außen eine nette und freundliche Maske trugen, um in der Nacht heimlich als Dunkelmänner ihr Unwesen zu treiben? Sie schob diesen Gedanken entsetzt von sich, während sie ins Schlafzimmer eilte, um ihre bereit gestellten Koffer zu holen. Doch so sehr sie sich auch gegen diese Vorstellung wehrte, sie nicht wahr haben wollte, Tatsache blieb, dass mit Kai etwas nicht stimmte. Diese Wut war nicht normal. Sie kam scheinbar aus dem Nichts, ohne Sinn und Grund. Und sie entlud sich in immer schlimmeren Gewaltexzessen.

Elfriede Kramer hatte recht; sie musste dieses Haus so schnell wie möglich verlassen. Alles war besser als das. Und wenn sie in einem Schlafsack an der Isar hätte übernachten müssen …

Wenige Minuten später kam das Taxi.

Die Haushälterin half Lisa dabei, ihre Koffer einzuladen. Torben stand blass und stumm neben dem Wagen und rührte sich nicht.

Erst als seine Mutter davon sprach, dass sie Onkel Mark besuchen würden, kam wieder ein wenig Leben in den Jungen.

»Fahren wir wirklich nach Ulm, Mama? Heute Abend?«

»Wir fahren morgen nach Ulm, jetzt erst mal in ein Hotel. Du wirst sehen, das wird lustig«, versicherte sie ihm mit erzwungener Ruhe. »Steig ein, mein Schatz, wir müssen los.«

»Und ich muss morgen nicht in die Schule? Ich habe ja schon heute gefehlt …«

»Ich habe dir ein paar Tage frei genommen«, schwindelte Lisa.

Nun war Torben zufrieden und kletterte ohne weitere Widerworte auf die Rückbank des Taxis.

»Ich danke Ihnen, Elfriede. Für alles.« Lisa umarmte die Haushälterin mit feuchten Augen, und auch diese weinte leise.

»Geben Sie gut auf sich und den Jungen acht. Alles Gute!«

Schon fuhr das Taxi ab. Auch wenn den beiden so verschiedenen Frauen der Abschied schwer fiel, durften sie ihn doch nicht unnötig in die Länge ziehen. Erst wenn Lisa und Torben vor Kai Wagner in Sicherheit waren, konnten sie alle aufatmen.

Elfriede Kramer kehrte ins Haus zurück und räumte noch ein wenig auf, bevor sie zu Bett ging. Es war noch nicht spät, doch sie brauchte ihren Schlaf. Der nächste Tag würde ganz sicher nicht leicht werden, auch für sie nicht.

*

Die Pension Mecking am Stachus war ein schmalbrüstiges, unauffälliges Haus in einer ebenso unauffälligen Seitenstraße. Lisa hatte sie eher durch Zufall entdeckt und war gleich sicher gewesen, dass sie sich für ihre Flucht eignete. Trotzdem achtete sie darauf, keine direkten Spuren zu hinterlassen. Sie ließ das Taxi zwei Straßen früher anhalten und schleppte ihre Koffer dann selbst zur Pension. Außer Atem und bis aufs Äußerste angespannt erreichte sie ihr Ziel.

Die gepflegte Dame in mittleren Jahren hinter der Rezeption begrüßte sie freundlich. Lisa meldete sich unter ihrem Mädchennamen an. Alles ging glatt. Als der Hausbursche ihre Koffer aufs Zimmer brachte, fragte sie nach ihrem Bruder.

»Herr Hansen hat ein Zimmer vorbestellt«, gab die Dame freundlich Auskunft.

»Er ist noch nicht hier? Ich dachte…«

»Bis jetzt ist er nicht angekommen. Soll ich Ihnen vielleicht Bescheid geben, wenn er eincheckt?«

Lisa bemerkte den leicht ironischen Unterton in ihrer Stimme und fühlte sich bemüßigt, richtig zu stellen: »Herr Hansen ist mein Bruder. Es geht um eine Familienangelegenheit.«

»Ah, verstehe. Möchten Sie morgen geweckt werden?«

»Nicht nötig, vielen Dank.« Sie gab ein großzügiges Trinkgeld und hoffte, sich damit auch das Schweigen der Dame erkauft zu haben. Zumindest so lange, bis Mark sie am nächsten Morgen abholte. Dass er noch nicht angekommen war, beunruhigte Lisa. Sie kannte Mark gut genug, um zu wissen, dass er stets Wort hielt. Er hatte ihr gesagt, dass er an diesem Abend bereits nach München kommen und in der Pension einchecken wolle. Wieso war er noch nicht hier? Sie beschloss, ihn später anzurufen, um zu erfahren, was los war. Vermutlich war er einfach aufgehalten worden, und es gab einen harmlosen Grund dafür.

Torben schaute sich im Zimmer neugierig um und war viel zu munter, um schlafen zu gehen. Lisa brauchte eine Weile, bis sie ihn so weit beruhigt hatte, dass ihm die Augen zufielen. Immerhin war seine Schlafenszeit längst überschritten.

Als der Junge endlich im Bett lag, trat sie kurz auf den Gang, um Mark anzurufen, erreichte aber nur die Mailbox. Sie hinterließ eine Nachricht und kehrte dann gleich ins Zimmer zurück, denn sie wollte kein Aufsehen erregen oder die Aufmerksamkeit eines neugierigen Gastes auf sich lenken, der sich später an sie erinnerte. Denn dass Kai die Pension über kurz oder lang ausfindig machen würde, daran bestand für Lisa nicht der geringste Zweifel …

In dieser Nacht fand die junge Frau keinen Schlaf. Sie wanderte voller Angst und Unruhe in dem kleinen Zimmer auf und ab, lauschte auf Torbens gleichmäßige Atemzüge und wünschte sich nur, dass Mark endlich bei ihr wäre.

Als es hell wurde, hielt es Lisa nicht länger in dem Zimmer, das ihr zunehmend wie eine Falle vorkam. Sie ging hinüber ins Badezimmer und versuchte noch einmal, ihren Bruder anzurufen. Wieder nur die Mailbox. Nun war sie überzeugt, dass etwas nicht stimmte. Panik fiel sie an wie ein wildes Tier. Tapfer kämpfte sie das Gefühl nieder, bemühte sich krampfhaft, wieder ruhig zu werden, nicht die Nerven zu verlieren. Was sollte sie tun?

Es gab niemanden, den sie anrufen, niemanden, an den sie sich wenden konnte. Sobald Kai erfuhr, dass sie ihn verlassen hatte, durfte sie auch zu Elfriede Kramer keinen Kontakt mehr aufnehmen. Was sollte sie nur tun?

Das Einzige, was ihr blieb, war abzuwarten. Mark würde kommen, darauf baute sie fest. Er hatte sie noch nie im Stich gelassen. Sie musste nur die Nerven behalten und abwarten.

Als Lisa schließlich in ihr Zimmer zurückkehrte, saß Torben wach im Bett und schaute sie unsicher an. »Wo sind wir, Mama? Was machen wir hier? Muss ich denn nicht zur Schule?«, quengelte er unleidlich. »Hier gefällt es mir gar nicht …«

»Wir fahren nach Ulm, Onkel Mark besuchen. Das habe ich dir doch gestern schon erklärt. Du hast ein paar Tage schulfrei. Freust du dich denn gar nicht darüber?«

»Ich wäre lieber zu Hause, da ist es viel schöner.«

»Aber bei Onkel Mark ist es auch schön. Und du magst ihn doch, nicht wahr?«

»Ja, er ist nett.«

Torben blinzelte scheu zu seiner Mutter auf, die sich neben ihn aufs Bett gesetzt hatte. »Warum hat Papa das gemacht? Tut es sehr weh?«, fragte er leise.

»Wir haben uns gestritten, so was kommt vor. Aber damit ist nun Schluss, ein für alle Mal, das verspreche ich dir.«

»Wirklich? Wird Papa dich nie wieder hauen?«

»Er wird es nicht können, weil wir nicht mehr zu ihm zurück gehen. Mama und Papa lassen sich scheiden, Torben. Jetzt gibt es nur noch uns beide. Wir halten fest zusammen, dann wird alles gut. Und wir lassen nicht mehr zu, dass uns einer schlecht behandelt. Nie wieder.«

Torben schwieg eine Weile, dann stellte er fest: »Das ist gut. Wir halten fest zusammen!«

»Ja, das tun wir.« Lisa drückte ihren Sohn und küsste ihn auf die Stirn, dann bestimmte sie: »Jetzt wird aber aufgestanden, dann frühstücken wir. Und bald wird Onkel Mark uns abholen.«

»Au fein!« Der Bub war nun wieder ganz munter, hüpfte aus dem Bett und ließ sich sogar ohne Widerrede waschen. Beim Frühstück in dem kleinen Speisesaal der Pension plapperte Torben dann unbekümmert und schien sich schon sehr auf das Wiedersehen mit seinem Onkel zu freuen.

Lisa hingegen blieb einsilbig. Immer wieder wanderte ihr Blick über die wenigen Tische in dem nicht sonderlich großen Raum. Sie maß jeden anderen Gast mit Argusaugen, immer die Frage im Hinterkopf, ob sie schon entdeckt worden waren. Sie wusste natürlich, dass das unmöglich war. Doch das Martyrium, das sie in ihrer Ehe durchlitten hatte, ließ Kai in ihrem Kopf zu einer Art Pate werden, der wie ein großer, dunkler Schatten über der ganzen Stadt lag, der alles wusste und kontrollierte.

Sie versuchte mit aller Kraft, ihre Ängste in den Griff zu bekommen, um keinen Fehler zu begehen, der ihre Flucht im letzten Moment vereitelte. Um nichts in der Welt wollte sie noch einmal einen Fuß in die alte Villa setzen.

Doch je länger sie mit Torben hierblieb, umso größer wurde die Gefahr, dass Kai sie letztendlich doch wieder ausfindig machte und zurückholte. Und dass er sie bestrafte. Ihr Herz klopfte angstvoll bei diesem Gedanken. Das durfte einfach nicht geschehen! Nicht dieses Mal! Wenn nur Mark endlich eintraf. Wo mochte er bloß sein?

*

»Monitor anschließen, Blutdruck, EKG, Sättigung. Wir brauchen in den nächsten zehn Minuten eine Schädel- und Wirbelsäulen CT, geben Sie oben Bescheid, presto.« Dr. Erik Berger, Leiter der Notfallambulanz in der Münchner Behnisch-Klinik, untersuchte die Kopfwunde des Bewusstlosen, der gerade gebracht worden war. Schwester Anna ging ihm zur Hand, reichte ihm geduldig und präzise jedes Instrument, das er mit kurzen, bellenden Befehlen verlangte. Als ihre Kollegin Schwester Inga sagte: »Dr. Heinrich ist noch im Haus. Sollen wir …«, reagierte er unwirsch.

»Jetzt nicht.« Dr. Bergers eisblaue Augen streiften sie mit einem unwilligen Blick, der zugleich Zurechtweisung war. »Verdammt noch mal …«

Schwester Inga biss sich auf die Lippen. Sie konnte es nicht leiden, wenn ihr Chef verbal entgleiste. Das war bei ihm leider Dauerzustand und begleitete fast immer seine ansonsten brillante Arbeit. Angesichts der späten Stunde und der Tatsache, dass der Notfallmediziner bereits eine Doppelschicht schob, weil die Unfälle in dieser Nacht einfach kein Ende zu nehmen schienen, verkniff sie sich aber die sonst übliche Zurechtweisung.

Dr. Berger hatte es wohl bemerkt. »Keine Abmahnung?«, hakte er nach, während er die stark blutende Platzwunde an Mark Hansens Hinterkopf behandelte. »Sie lassen nach. Müde?«

»Ich hole den Patienten ab, wenn Sie so weit sind«, war alles, was sie erwiderte. Es waren nicht nur Dr. Bergers Kraftausdrücke, die Schwester Inga gegen den Strich gingen. Sie mochte es auch nicht, wenn er locker daher redete, während er einen Patienten in kritischem Zustand versorgte. Und der junge Mann auf der Behandlungsliege war in sehr kritischem Zustand.

»Blutdruck 80 zu 40, sackt ab«, mahnte Schwester Anna. »Die Sättigung liegt unter vierzig. EKG-Linien alle unter Niveau. Der Blutverlust war sehr hoch.«

»Ich werde den Verdacht nicht los, dass er noch mehr abbekommen hat«, murmelte Dr. Berger konzentriert. »Der Kollege Heinrich soll ihn mal ganz durchleuchten. Ich will nichts übersehen. Die subkutane Einblutung ist erheblich. Da könnte sich ein Ödem bilden, das müssen wir im Auge behalten.«

Wenig später war Mark Hansen so weit stabilisiert, dass Schwester Inga ihn hinauf zur Radiologie bringen konnte. Noch immer war der Verletzte ohne Bewusstsein. Man kannte weder seinen Namen noch wusste jemand, was ihm zugestoßen war. Außer dem, was rein äußerlich sichtbar war und darauf hinwies, dass er zum Opfer eines Überfalls geworden war. Was sich in dieser Nacht tatsächlich abgespielt hatte, das sollte allerdings noch eine ganze Weile im Unklaren bleiben …

Dr. Nils Heinrich, der Chef der Radiologie, untersuchte Mark Hansen gründlich. Bald stand fest, dass er keine inneren Verletzungen hatte, sein schlechter Zustand einzig auf das Schädel-Hirn-Trauma zurückzuführen war, das der Schlag ausgelöst hatte. Dr. Heinrich riet dazu, ihn auf die Intensivstation zu verlegen, denn die Einblutung unter der Schädelhaut, von der Dr. Berger gesprochen hatte, war schwer zu stillen.

So wurde der junge Ingenieur noch in dieser Nacht auf Intensiv verlegt, wo sein Zustand permanent überwacht werden konnte. Bis zum Morgen kam Mark nicht zu sich. ­Seine Vitalwerte stabilisierten sich, doch sein Allgemeinzustand blieb schlecht.

Dr. Daniel Norden, der Chefarzt und Leiter der Behnisch-Klinik, erfuhr am nächsten Morgen von dem Fall. Er besprach die Details bei der täglichen Visite mit dem Intensivmediziner Dr. Schulz.

»Diese Einblutung macht uns Sorgen«, sagte er zu Dr. Norden und wies auf eine Stelle des Monitors, die dunkel aussah. Es handelte sich um die CT-Aufnahmen, die Dr. Berger noch in der vorigen Nacht angefertigt hatte. Dr. Norden betrachtete sie aufmerksam, dann sagte er: »Das sieht nach einem Ödem aus.«

»Wir haben die Blutung gestoppt, aber der Pfopf ist ziemlich groß. Bei dem jetzigen Zustand des Patienten verbietet sich eigentlich eine operative Entfernung.«

»Warten wir, bis die Schwellung abklingt.«

Dr. Schulz nickte. »Das scheint mir momentan auch die einzige Option zu sein.«

»Sagen Sie mir Bescheid, wenn der Patient zu sich kommt«, bat der Chefarzt noch, dann ging es weiter zum nächsten Bett.

Dr. Daniel Norden nahm sich für jeden Patienten die Zeit, die nötig war, um den Fall ganz zu erfassen und seiner Pflicht als Mediziner gerecht zu werden. Er hatte dadurch schon oft den Unmut seiner Kollegen auf sich gezogen, doch das nahm er in Kauf. Er war Arzt mit Leib und Seele und engagierte sich immer voll und ganz. Nur so sah er in seinem anspruchsvollen und sehr anstrengenden Beruf einen wirklichen Sinn.

Als der Chefarzt der Behnisch-Klinik eine ganze Weile später in sein Büro zurückkehrte, warteten dort zwei Besucher auf ihn. Katja Baumann, Dr. Nordens Assistentin, hatte sie bereits mit Kaffee versorgt und sagte nun halblaut zu ihrem Chef: »Kripo. Es geht um den Mann, der letzte Nacht im Hauptbahnhof ausgeraubt worden ist.«

Dr. Norden nickte, wandte sich an die Besucher und drückte beiden die Hand. »Kommen Sie in mein Büro.«

»Kommissar Müller, das ist mein Kollege Schindler«, stellte der untersetzte Mann in Jeans und Lederjacke sich vor.

»Setzen Sie sich«, bat Dr. Norden.

Der Jüngere der beiden, ein sportlicher Typ mit dichtem, blondem Haar und Sommersprossen, hatte seinen Kaffee mitgebracht und suchte nun nach einer Möglichkeit, die Tasse abzustellen. Etwas verschämt schob er sie auf die äußerste Kante von Dr. Nordens Schreibtisch, der wissen wollte: »Was kann ich für Sie tun, meine Herren?«

»Wir haben keine Anhaltspunkte, was den Überfall angeht«, gab Kommissar Müller zu. »Der Geschädigte hatte keine Papiere mehr, nichts, was auf seine Identität schließen lässt. Die Überwachungsbänder aus dem Bahnhofsgebäude bringen uns da auch nicht weiter. Können Sie uns sagen, wie sein Zustand ist, Herr Doktor? Eventuell, wann wir mit ihm reden dürfen?«

»Er liegt auf der Intensivstation und ist noch ohne Bewusstsein. Ich kann leider keine Prognose abgeben. Es tut mir leid, aber momentan kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.«

Die Polizisten wechselten einen betretenen Blick, dann erhob der Kommissar sich und bat: »Geben Sie uns Bescheid, wenn der Mann vernehmungsfähig ist. Auf dem Video sind die Angreifer nicht zu identifizieren. Wir sind auf seine Aussage angewiesen, er hat sie ja vermutlich genau gesehen.«

»Es waren demnach mehrere?«

»Ja, drei, wie es aussieht, junge Kerle. Sie sind sehr brutal vorgegangen, wir schätzen, dass sie der Drogenszene zuzurechnen sind. Je eher wir sie festnehmen können, umso besser. Solche Typen leben von Beschaffungskriminalität. Es wird vermutlich nicht lange dauern, bis sie wieder zuschlagen.«

»Ich melde mich bei Ihnen«, versprach Dr. Norden, dann verabschiedeten die Polizisten sich.

Katja Baumann brachte frischen Kaffee und die Post. »Schlimm, nicht wahr? Manchmal kommt es mir so vor, als ob man nirgends mehr seines Lebens sicher wäre.«

Daniel Norden seufzte. Er warf einen Blick auf das Foto seiner Zwillinge, das neben dem seiner Frau Fee auf seinem Schreibtisch stand. Sie waren eben neunzehn geworden, wohl geratene Abiturienten mit vielerlei Plänen und Ideen im Kopf. Mit ein bisschen weniger Glück hätte alles auch ganz anders sein können. Er dankte dem Schicksal im Stillen, dass es nicht so war. »Es ist nicht schlecht, wenn man ab und zu an die harte Realität erinnert wird«, sinnierte er, während er die Post überflog. »Es gibt einfach zu viele soziale Schieflagen in unserer Gesellschaft. Ein Grund mehr, nicht nur die medizinischen Aspekte eines solchen Falles zu sehen.«

*

»Wo ist meine Frau?« Kai Wagner stand in der offenen Tür zur Küche, wo Elfriede Kramer gerade damit beschäftigt war, sein Frühstück zu richten. Die Haushälterin warf ihm einen kurzen Blick zu und fand ihre Vermutung bestätigt. Sie schob das Tablett mit dem Frühstück beiseite und nahm eine Packung Aspirin aus einem der Hängeschränke. Der Unternehmer war weiß wie die Wand, er hatte es am gestrigen Abend wieder einmal übertrieben.

Seit er mit Lisa verheiratet war, hatte er sich seltener solche intensiven Absacker gegönnt. Früher war das häufig vorgekommen. Kein Wochenende, an dem Kai Wagner nicht zumindest einen Vollrausch gehabt hatte.

Elfriede Kramer füllte ein Glas mit Wasser und stellte es auf den Küchentisch. Daneben legte sie die Tabletten. »Sie sollten wieder ins Bett gehen«, riet sie ihm mit ruhiger Stimme. »Sie sehen aus wie der Tod.«

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Ich bin nicht blind, ich weiß, was los ist. Lisa hat ihre Sachen und den Jungen mitgenommen. Wo ist sie?«

»Ich weiß es nicht, sie hat es mir nicht gesagt.«

»Das glauben Sie doch selbst nicht.« Er warf drei Tabletten ein und spülte sie mit dem Glas Wasser herunter. »Bei dem ewigen Getue zwischen Ihnen soll Lisa Sie nicht eingeweiht haben?«

»Ich weiß nur, dass sie sehr unglücklich gewesen ist und weg wollte.« Die Haushälterin schnaubte verächtlich. »Was nicht schwer zu verstehen ist, nicht wahr? Welche Frau läuft schon gerne mit einem Veilchen herum? Nicht sehr schmeichelnd.«

»Lassen Sie das dumme Gerede. Sie wissen genau, dass Lisa es verdient hatte. Es war ihre eigene Schuld. Sie hätte mich nicht provozieren sollen.«

»Sie hatte keine Chance, es nicht zu tun.«

Kai bekam schmale Augen. Er rieb sich über das bartstopplige Kinn und bellte: »Schluss mit dem Unsinn! Ich will auf der Stelle wissen, wo meine Frau ist. Machen Sie den Mund auf, oder aber Sie werden es bereuen, Kramerin! Sie wissen ganz genau, dass ich in der Beziehung keinen Spaß verstehe!«

»Ich auch nicht.« Als der Unternehmer einen Schritt auf sie zu machte, schloss sich ihre Rechte um den Griff der schweren Pfanne aus Gusseisen, die sie vorsorglich parat gelegt hatte. »Ich warne Sie, das könnte schmerzhaft werden …«

Kai Wagner starrte sie einen Moment lang mit einer Mischung aus Verblüffung und Wut an, die aber allmählich verrauchte. Schließlich ließ er sich schwer auf einen der Küchenstühle fallen, fuhr sich durchs Haar und brummte: »Ich liebe Lisa, ich will sie nicht verlieren.«

»Damit kommen Sie bei mir auch nicht weiter. Ich weiß nicht, wohin sie wollte. Ich weiß nur eins: Ganz egal, wo sie jetzt ist, es geht ihr besser als bei Ihnen.«

»Verdammt!« Er schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte, dass es knallte.

»Nehmen Sie sich mal zusammen, Herr Wagner, sonst sind Sie mich auch los«, mahnte sie streng, stellte die Pfanne fort und trat neben den Tisch. »Wie sehr Sie Ihrem Vater ähneln, es ist manchmal wirklich zum Erschrecken.«

Er blickte zu ihr auf, etwas wie Reue spiegelte sich in seinen Augen. Und – Elfriede meinte, sich zu täuschen – Scham.

»Ich habe ihn gehasst. Ich bin froh, dass er tot ist.«

»Das meinen Sie ja nicht im Ernst.«

»Was soll ich jetzt tun? Ich kann ohne Lisa nicht leben.«

»Das hätten Sie sich früher überlegen müssen«, ließ sie ihn lapidar wissen, drehte sich um und nahm das Tablett mit dem Frühstück. »Jetzt ist es zu spät.«

Während Elfriede Kramer den Tisch im Esszimmer für eine Person deckte und dabei sehr hoffte, dass es noch lange so bleiben würde, telefonierte Kai Wagner mit einem Bekannten. Sein Name war Thilo Groß, er betrieb eine große Detektei in München. Es war nicht das erste Mal, dass Kai sich an ihn wandte, der Detektiv wusste gleich Bescheid.

»Wie ist ihr Name und der des Jungen?«, fragte er knapp.

»Lisa. Ihr Sohn ist sieben und heißt Torben.« Er beschrieb die beiden bis ins Detail, während Thilo Groß sich Notizen machte.

»Wann sind sie verschwunden?«

»Gestern Abend, die genaue Uhrzeit kann ich dir nicht sagen, ich war nicht zu Hause.«

»Kein Anhaltspunkt, wohin oder zu wem sie wollte? Hat sie Freunde, gute Bekannte, Verwandte in der Stadt?«

»Nur einen Bruder, der lebt in Ulm.«

»Gut, ich mache mich gleich dran und melde mich, sobald ich sie gefunden habe.«

»Danke, Thilo. Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.« Kai Wagner beendete das Gespräch ein wenig erleichtert, auch wenn die Unsicherheit noch immer sein Denken bestimmte. Was, wenn Lisa ihre Flucht diesmal besser geplant hatte als bei den letzten Versuchen, was, wenn sie entkam?

Nein, das durfte nicht geschehen! Das würde er nie erlauben! Thilo würde sie ausfindig machen. Und dann gnade ihr Gott …

Elfriede Kramer bedachte ihren Brotherren mit einem kühlen Blick, als er im Esszimmer erschien, um noch einen Kaffee zu trinken, bevor er in die Agentur fuhr. Schließlich musste nach außen hin alles so weitergehen wie bisher. Kein Fleck sollte seine weiße Weste beschmutzen.

»Was ist?«, fragte er irritiert.

»Sie werden sie nicht finden, diesmal nicht. Selbst wenn Sie den ganzen Münchner Polizeiapperat in Bewegung setzen könnten. Sie ist fort. Und das ist gut so. Sie haben ihr lange genug das Leben zur Hölle gemacht.«

»Der Kaffee ist zu bitter, Kramerin. Nehmen Sie das nächste Mal etwas weniger. Sonst könnte ich auf den Gedanken kommen, eine neue Haushälterin einzustellen.«

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, war alles, was sie darauf antwortete.

Kai Wagner betrachtete sie spöttisch. »Kommen Sie lieber von Ihrem hohen Ross herunter, meine Gute. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich weiß, wo Lisa ist. Und Sie sollten beten, dass es nicht allzu lange dauert. Denn je länger ich auf ihre Heimkehr warten muss, desto höher wird ihre Strafe ausfallen. Und, wer weiß, vielleicht auch die Ihre …«

*

»Die Commotio ist nicht das eigentliche Problem. Das sitzt nach wie vor hier.« Dr. Daniel Norden deutete auf die Einblutung unterhalb der Haut an Mark Hansens Hinterkopf. »Das Ödem hat sich noch vergrößert und beeinträchtigt diese Areale.«

Die Neuropsychologin Dr. Amelie Gruber nickte. »Ich habe eben das erste Gespräch mit dem Patienten geführt. Er leidet unter einer retrograden Amnesie, das heißt, alles, was vor dem Trauma geschehen ist, ist zunächst einmal verloren.«

»Sie sagen, zunächst einmal, Frau Kollegin.«

Die dunkelhaarige Fachärztin warf einen Blick auf ihre Notizen. »Bei der Erstprüfung der Gedächtnisleistung, von Aufmerksamkeit und Exekutivfunktionen, also den gesamten höheren mentalen Prozessen, hat sich eine komplette Amnesie abgezeichnet. Dieser Zustand ist allerdings nicht von Dauer. Erfahrungsgemäß wird der Patient innerhalb von achtundvierzig Stunden grundlegende, tief eingeprägte Fähigkeiten und Fakten zurückerlangen. Klartext: Wir können damit rechnen, dass er dann wieder seinen Namen kennt, seine Adresse, seinen Beruf. Alles Persönliche.«

»Und der Überfall?«

»Der wird weiterhin im Dunkel bleiben. Das Trauma aufzulösen, damit die Erinnerung daran zurückkehrt, ist ein etwas längerfristiger Prozess. Und zwar therapeutisch wie medikamentös.«

»Die Polizei wartete auf seine Aussage.«

Dr. Grubers tiefblaue Augen begannen ironisch zu funkeln. »Sie werden warten müssen. Das Gehirn lässt sich nichts befehlen. Wir können es bitten, uns seine Geheimnisse zu verraten. Aber ein Trauma ist eine zähe Angelegenheit, die Zeit braucht.«

Dr. Norden hatte bereits etwas Ähnliches erwartet. »Wie werden Sie behandeln, Frau Kollegin?«, wollte er noch wissen.

»Neben der regelmäßigen Prüfung seiner kognitiven Fähigkeiten und einer Gesprächstherapie mit Donepezil und Rivastignin. Beide Wirkstoffe erhöhen die Konzentration des Neurotransmitters Acetylcholin.«

»Gut, halten Sie mich bitte auf dem Laufenden, Frau Kollegin. Sie wissen ja, es gibt ein besonderes Interesse daran, dass der Patient sein Gedächtnis wieder erlangt.«

»Das habe ich bei all meinen Patienten«, erwiderte Dr. Gruber mit einem kleinen, vielsagenden Lächeln. Sie verließ das Büro des Chefarztes und kehrte auf die Innere zurück. Mark Hansen war am Morgen dorthin verlegt worden, nachdem sein Zustand sich nachhaltig stabilisiert hatte. Physisch ging es langsam bergauf mit ihm, doch er hatte sich sehr verwirrt und unsicher gezeigt. Amelie Gruber war eine erfahrene Psychologin und recht schnell auf den Grund seines Verhaltens gestoßen. Der schwere Schlag auf dem Hinterkopf hatte bei Mark Hansen einen kompletten Gedächtnisverlust ausgelöst. Er hatte das Gefühl, dass sein Kopf leer sei, hatte er beim ersten Gespräch angegeben. Dieser Zustand war mehr als beängstigend, denn er konnte sich tatsächlich an nichts erinnern.

Als Dr. Gruber nun sein Krankenzimmer betrat, schaute er ihr noch immer verstört entgegen.

»Wie fühlen Sie sich?«, fragte sie freundlich, griff sich einen Rollhocker und ließ sich neben dem Bett nieder.

»Mein Kopf tut höllisch weh. Außerdem ist mir übel.«

»Sie haben eine Gehirnerschütterung.«

»Und da ist dieser Druck, sehr unangenehm.«

»Ein Ödem. Es ist entstanden, weil Blut unter die Haut geflossen ist. Der Bereich ist entzündet und geschwollen. Es wird ein paar Tage dauern, bis der Körper es abtransportiert hat. Danach werden Sie sich besser fühlen.«

»Das würde ich jetzt schon, wenn ich wüsste, wer ich bin.«

»Auch das werden Sie bald wieder wissen. Sie müssen nur ein bisschen Geduld haben.«

»Sagen Sie das zu all Ihren Patienten?«

»Nur zu denen, die Geduld brauchen.«

»Was geschieht mit mir? Der Pfleger sagte, ich sei in München. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass ich hier lebe. Was tue ich also hier? Und wie bin ich hierher gekommen?«

»Mit dem Zug, soviel steht fest.«

»Mit welchem Zug?«

»Dafür kommen mehrere infrage. Die Polizei recherchiert.«

»Und was wissen Sie noch, Frau Doktor?«

»Nun, Sie sind mit einem späten Zug nach München gekommen und im Bahnhof überfallen worden. Man hat sie niedergeschlagen und ausgeraubt. Das ist schon so ziemlich alles. Diese Kerle haben Ihre Sachen gestohlen und nichts zurückgelassen, was einen Hinweis auf Ihre Identität ermöglichen würde. Sie werden also selbst darauf kommen müssen, wer Sie sind, woher Sie kommen und was Sie hier in München tun wollten.«

»Ich …« Mark schloss kurz die Augen, denn plötzlich flammte etwas davor auf, das wie ein Erinnerungssplitter wirkte, wie eine matte Reflexion eines Bildes in einer trüben Pfütze, nicht länger als einen Sekundenbruchteil, dann war es fort.

»Erinnern Sie sich an etwas?«, fragte Dr. Gruber nach.

»Ja, ich glaube. Ich habe etwas gesehen, ein Bild.«

»Können Sie es beschreiben?«

Mark überlegte kurz, dann sagte er: »Es war ein hohes Bauwerk, wie eine Brücke aus Stahl. Daneben Urwald. Und weiter hinten blau, vielleicht der Ozean …«

Die Ärztin machte sich eine Notiz. »Was könnte das gewesen sein? Haben Sie eine Ahnung?«

»Nein, keine. Vielleicht ein Kalenderbild. Denken Sie, dass es eine Erinnerung an etwas war, was ich erlebt habe? An einen Platz, an dem ich gewesen bin?«

»Möglich. Es ist eigentlich noch zu früh. Mehr können wir heute nicht erwarten. Versuchen Sie, sich zu entspannen. Ich sehe später wieder nach Ihnen.«

Mark nickte und schloss die Augen. Er war erschöpft, die Schmerzen in seinem Kopf setzten ihm zu. Noch mehr setzte ihm aber die Frage zu, wer er war und was er in München hatte tun wollen. Etwas wie eine Ahnung sagte ihm, dass es wichtig gewesen war. Und ein Gefühl der Unzulänglichkeit erfüllte ihn. Es war, als hätte er jemanden im Stich gelassen, der seine Hilfe dringend brauchte, jemanden, der ihm nahe stand und sich voll und ganz auf ihn verließ. Jemanden, den sein Versagen ebenso hart treffen konnte, auch wenn es nicht seine Schuld war. Er fühlte sich wie ein Verräter an einem geliebten Menschen. So als hätte er einem Ertrinkenden nicht die Hand gereicht. Obwohl er nicht wusste, was hinter dem dunklen Schleier in seinem Kopf lag, verstärkte sich dieses ungute, bohrende Gefühl immer weiter und sorgte dafür, dass Mark Hansen sich noch schlechter fühlte.

*

»Mama, wann fahren wir heim? Mir ist langweilig.« Torben schaute missmutig zu seiner Mutter herüber, die den ganzen Tag nur am Fenster stand und hinaus starrte. »Gehen wir mal raus?«

Lisa reagierte nicht, sie hörte die Worte ihres Sohnes zwar, aber ohne sie wirklich wahr zu nehmen. Ihre schlanken Hände waren so fest ineinander geschlungen, dass die Knöchel weiß hervortraten. Blicklos starrte sie auf die Straße, während es in ihrem Kopf unablässig arbeitete und die Frage »Was soll ich tun?« sie quälte. Vorgestern hatte sie sich mit Mark hier treffen wollen. Er war nicht gekommen. Seine Reservierung war nicht storniert worden. Lisa hatte in Ulm bei seiner Firma angerufen, dort aber nur erfahren, dass er nach dem Kenia-Projekt wie immer eine Woche Urlaub genommen hatte.

Ihm ist etwas zugestoßen, dachte sie nicht zum ersten Mal.

Was, wenn sie sich durch einen dummen Zufall verpasst hatten? Was, wenn Mark zur Villa gefahren war, sich auf einen Streit mit Kai eingelassen hatte. Was …

Unablässig drehte sich dieses sinnlose Gedankenkarusell in ihrem Kopf, ohne dass sie zu einem Ergebnis gekommen wäre. Allein, völlig auf sich gestellt, konnte sie das auch nicht. Doch an wen sollte sie sich in ihrer Lage wenden? Der einzige Mensch, der ihr einfiel, war Elfriede Kramer. Wenn zwischen Kai und Mark tatsächlich etwas vorgefallen war, dann wusste sie sicher darüber Bescheid. Aber es bedeutete ein hohes Risiko, die Haushälterin ihres Mannes anzurufen.

Lisa stöhnte gequält auf. Was sollte sie nur tun? Sie fand keine Antwort auf diese immer drängendere Frage. »Mama!« Torben zupfte Lisa am Ärmel. »Sag doch was!«

Da wandte sie endlich den Blick vom Fenster ab, schaute ihn eine Weile ratlos an, bückte sich schließlich und umarmte ihn so fest, dass er zurückschreckte.

»Mama, was hast du? Warum kommt Onkel Mark nicht?«

»Ich weiß es nicht.« Lisa atmete tief durch und straffte sich. »Aber ich werde es herausfinden!« Entschlossen griff sie nach ihrem Handy, das die ganze Zeit ausgeschaltet gewesen war. Lisa war entsetzt, als sie die vielen Sprachnachrichten entdeckte, die darauf hinterlassen worden waren. Sie sah gleich, dass diese nicht von ihrem Bruder, sondern von Kai stammten. Und sie konnte sich denken, dass es nur böse Drohungen waren. Mit zitternden Fingern löschte sie alles, ohne es anzuhören. Dann rief sie Elfriede Kramer an. Die Haushälterin erschrak, als sie Lisas Stimme hörte.

»Sie sind doch in Ulm, bei Ihrem Bruder, nicht wahr?«, fragte sie sofort. »Hier ist die Hölle los. Ihr Mann versucht alles, um Sie zu finden!«

»Ich bin noch in München«, flüsterte Lisa mehr, als sie sprach. Sie wagte es nicht einmal, in normaler Lautstärke zu sprechen, aus Angst, Kai könnte sie hören.

»Lisa, das ist nicht Ihr Ernst … Was ist denn um Himmels willen geschehen?«, entsetzte die Haushälterin sich.

Noch ehe sie antworten konnte, hörte sie Kais Stimme.

»Lisa, du kommst sofort heim«, bellte er in den Hörer. »Ich warne dich! Es wird dir leidtun, wenn du nicht gehorchst!«

Sie war einen Moment lang wie gelähmt. Dann unterbrach sie die Verbindung und schaltete das Handy sofort ab. Sie warf es aufs Bett und starrte es an wie ein giftiges Insekt.

»Was ist los, Mama?«, fragte Torben sie ängstlich.

»Ich muss hier raus.« Lisa hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. »Du bleibst auf dem Zimmer, Torben, hast du mich verstanden? Ich bin gleich wieder da.«

»Aber ich möchte …«

»Sei lieb und tu, was ich dir sage, bitte!«

Der Junge zuckte zusammen, denn so herrisch hatte sie noch nie mit ihm gesprochen. Er senkte wortlos den Blick und nickte.

Lisa stürmte aus dem Zimmer, die Treppe herunter und ins Freie. Die kalte Märzluft, in der ein Hauch von Frost lag, machte ihr den Kopf sogleich frei. Sie zwang sich, logisch nachzudenken. Es war offenkundig, dass Elfriede Kramer nichts vom Verbleib ihres Bruders wusste. Das bedeutete, auch Kai hatte – noch – keine Ahnung von ihrem Plan, nach Ulm zu fahren. Was immer Mark zugestoßen war, ein Unfall oder eine plötzliche Erkrankung, sie durfte sich nicht länger auf ihn verlassen und musste nun selbst handeln. Die einzige Möglichkeit, die ihr bleib, war allein mit Torben nach Ulm zu fahren. Lisa hatte einen Schlüssel zu Marks Wohnung, die ihr momentan wie ein sicherer Hafen erschien. Sie musste München verlassen, noch an diesem Tag. Entschlossen kehrte sie in die Pension zurück und bat die Dame an der Rezeption, ihr die Rechnung fertig zu machen. Diese fragte sie lächelnd, ob sie ihren Aufenthalt in der Pension Mecking denn genossen habe. Lisa schenkte sich eine Erwiderung. Die Dame hätte sie doch nicht verstanden.

Während Lisa in Windeseile packte und alles für ihre Abreise vorbereitete, erhielt Kai Wagner einen Anruf von Thilo Groß.

»Sagtest du nicht, dass Lisas Bruder aus Ulm stammt und Mark Hansen heißt?«, wollte er wissen. Und als Kai dies bestätigte, fuhr der Detektiv fort: »Der ist vor zwei Tagen mit dem Intercity nach München gefahren. Er hat das Ticket und die Platzreservierung online bestellt und bezahlt. Außerdem hat er ein Zimmer in einer kleinen Pension nahe dem Bahnhof reserviert.«

»Und? Hat er sich mit Lisa getroffen?«, fragte Kai ungeduldig.

»Nein, er ist wie vom Erdboden verschwunden. Eine seltsame Geschichte. Willst du, dass ich dran bleibe?«

»Mark Hansen ist mir egal. Es geht mir nur um Lisa und den Jungen. Wo sind sie?«

»In dieser Pension wohnt eine junge Frau, auf die Lisas Beschreibung passt, mit einem kleinen Jungen. Sie hat sich unter dem Namen Marie Hansen eingetragen.«

»Das ist sie! Marie ist ihr zweiter Vorname.«

Kai lachte kalt auf. »Gute Arbeit, Thilo.«

»Und die Geschichte mit ihrem Bruder? Soll ich da nicht …«

»Wie gesagt, der kümmert mich nicht. Sag mir, wie die Pension heißt, und schick mir die Rechnung. Ich bin dir sehr dankbar.«

»Keine Ursache. Pension Mecking am Stachus.«

*

»Mark Hansen!« Der junge Ingenieur lächelte Dr. Gruber jungenhaft zu. »Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass es sich so gut anfühlt, den eigenen Namen auszusprechen.«

»Sie sind ein Musterpatient, Herr Hansen. Die ersten Erinnerungen sind viel früher zurückgekommen, als das sonst im Durchschnitt geschieht. Sie sind also Bauingenieur und leben in Ulm. Erinnern Sie sich auch an Ihr letztes größeres Projekt?«

»Nein, tut mir leid. Ich fürchte, Sie haben mich zu früh gelobt, Frau Doktor. Das schwarze Loch in meinem Kopf klafft nach wie vor. Nur hier und da leuchtet ein kleines Licht.«

»Herr Hansen, Sie sind ein Poet. Ich dachte immer, Ingenieure wären trockene Typen mit einem Rechenschieber im Kopf.«

»Und ich habe mir eine Psychologin um einiges älter und weniger hübsch vorgestellt«, parierte er gut gelaunt.

Amelie lächelte fein. »Wir werden wohl beide unsere Vorstellungen ein wenig überdenken müssen …« Sie machte sich ein paar Notizen, während Mark sie versonnen betrachtete. Amelie Gruber war eine hübsche junge Frau. Sie war klug und warmherzig und hatte einen herrlichen Humor. Er fragte sich …

»Was geht Ihnen durch den Kopf, Herr Hansen?«, fragte sie nun und lächelte ihn noch immer an.

»Sie. Ich wüsste gern …«

»Ich stehe hier aber nicht zur Debatte. Sie sind der Patient, es ist meine Aufgabe, Ihren Kopf wieder zum Funktionieren zu bringen, nichts weiter.«

»Gar nichts?« Er wirkte so ehrlich enttäuscht, dass es Amelies Herz rührte. Sie musste aufpassen, dieser Mann hatte eine gefährliche Wirkung auf sie. Dabei war es eine ihrer Maximen, sich nie in einen Patienten zu verlieben. Normalerweise hatte sie damit aus nahgeliegenden Gründen auch kein Problem. Menschen mit psychischen Störungen waren eben nur hilfsbedürftig. Bei Mark Hansen aber war alles ganz anders …

Sie seufzte. »Sie sind hartnäckig. Also, was wollen Sie wissen? Ich gestatte Ihnen eine Frage, damit wir uns wieder auf unsere eigentliche Arbeit konzentrieren können.«

»Nur eine Frage? Ich weiß nicht, ob das genügt.«

»Seien Sie froh, dass ich Ihnen diese Frage nicht anrechne …«

»Also schön. Gibt es einen Mann in Ihrem Leben?«

»Nein, ich bin Single. Sozusagen mit meinem Beruf verheiratet. Ich hoffe, diese Antwort genügt Ihnen, denn nun sollten wir uns wieder über Sie unterhalten, Herr Hansen.«

»Ich bin auch nicht gebunden. Es liegt daran, dass ich einen so anspruchsvollen Job habe. Ich komme eigentlich kaum dazu, auszugehen, Bekanntschaften zu schließen …« Er blickte sinnend vor sich hin, bis Dr. Gruber ihn bat, weiterzureden.

»Ich erinnere mich daran, dass die Firma, für die ich arbeite, Hochtief Schuhmann heißt. Und ich erinnere mich daran, dass meine Eltern beide tot sind.«

»Haben Sie Geschwister?«

Mark nickte langsam. »Eine Schwester, ihr Name ist Lisa.«

»Erzählen Sie mir etwas über Ihre Schwester, Herr Hansen.«

Mark dachte eine Weile nach, dann schüttelte er leicht den Kopf. »Ich kann mich nicht genau erinnern, es ist irgendwie verschwommen. Sie war verheiratet. Und da ist auch ein Kind, aber ich … kriege das einfach nicht zusammen, tut mir leid.«

»Das macht nichts. Da ist so viel, woran Sie sich erst wieder neu erinnern müssen. Ihr Kopf leistet Schwerarbeit. Lassen Sie ihm Zeit, überfordern Sie sich selbst nicht, das hat noch nie etwas eingebracht. Ich sehe später wieder nach Ihnen.«

»Warten Sie, Frau Doktor. Ich weiß jetzt, wie ich heiße und wo ich wohne. Da müsste es doch möglich sein herauszufinden, wieso ich nach München gekommen bin, was ich hier will. Ich habe nämlich die ganze Zeit das Gefühl, etwas Wichtiges zu verpassen.«

»Ich werde mal mit dem zuständigen Polizisten reden.«

»Das wäre sehr nett von Ihnen, danke!« Er lächelte ihr so strahlend zu, dass Amelies Herz anfing, viel zu schnell zu schlagen. Rasch verließ sie das Krankenzimmer und mahnte sich selbst zu etwas mehr Abstand.

Es war unprofessionell, Gefühle für einen Patienten zu entwickeln. Amelie Gruber hatte Kollegen, denen das passierte, bislang belächelt. Nun sah es allerdings so aus, als hätte sie ihre überlegene Warte als Beobachter menschlichen Lebens ohne es zu merken verlassen. Mark Hansen hatte ihr Herz berührt, daran konnte es nun keinen Zweifel mehr geben. Ob zum Guten oder zum Schlechten, das musste sich erst noch erweisen …

*

Lisa schaute sich hektisch im Zimmer um. Sie schien nichts vergessen zu haben. Ihre Koffer waren gepackt, den kurzen Weg zum Bahnhof wollte sie zu Fuß zurücklegen.

»Fahren wir jetzt zu Onkel Mark?«, fragte Torben.

Die junge Frau nickte zerstreut. »Ja, wir fahren …« Sie verstummte, als das Zimmertelefon zu läuten begann. Das war bislang noch kein einziges Mal geschehen und bedeutete, dass die Dame an der Rezeption etwas von ihr wollte. Doch was?

Lisa überlegte fieberhaft. Sie hatte die Rechnung in bar bezahlt, alles hatte seine Ordnung. Was …

»Wer ruft uns denn an, Mama?«, wollte Torben wissen. »Soll ich ran gehen? Ich weiß, wie man sich meldet.« Er wollte schon nach dem Hörer des altmodischen Apparats greifen, da schüttelte seine Mutter den Kopf und murmelte: »Lass nur, ich mache das.«

Es war tatsächlich die Empfangsdame. »Frau Hansen?«, hörte Lisa ihre freundliche Stimme. »Ich weiß, Sie wollten gerade abreisen, aber nun ist er doch noch eingetroffen.«

»Eingetroffen?«, wiederholte Lisa irritiert, während ihr Herz vor Angst zum Zerspringen klopfte. »Wer denn?«

»Ihr Bruder, Mark Hansen. Er steht hier neben mir und lässt fragen, ob er zu Ihnen hinaufkommen darf.«

Für ein paar Sekunden wusste die junge Frau nicht, was sie tun oder sagen sollte. Sie war einfach zu überrascht, völlig perplex. Mark war endlich gekommen? Aber das war … wunderbar!

Lisa atmete laut auf, ein erleichtertes Lächeln brachte ihre ebenmäßigen Züge zum Strahlen. Die unerträgliche Anspannung der vergangenen schlimmen Tage fiel von ihr ab, und sie hatte das Gefühl, federleicht und einfach nur glücklich zu sein.

»Frau Hansen, sind Sie noch da?«, erkundigte sich die Empfangsdame irritiert, als das Schweigen am anderen Ende der Leitung einfach zu lange dauerte.

»Ja, ich …« Lisa musste schlucken, sich räuspern, denn ihre Stimme kippte. Sie spürte Tränen der Erleichterung in ihren Augen brennen. »Herr Hansen soll hinaufkommen!«, rief sie, warf den Hörer auf die Gabel und eilte aus dem Zimmer, um ihren Bruder, der ihr mehr denn je wie ein rettender Engel erschien, in die Arme zu schließen.

Mit wenigen Schritten hatte sie den schmalen Gang hinter sich gelassen und den Treppenabsatz erreicht. Sie hörte Schritte von unten und rief: »Mark, endlich! Wo hast du nur so lange …«

Mitten im Satz schienen die Worte in Lisas Hals stecken zu bleiben. Zugleich hatte sie das Gefühl, als friere ihre Umgebung ein, entferne sich wie hinter Nebel und trete trotzdem überdeutlich scharf hervor.

Die altmodische Tapete an den Wänden, die schäbigen Läufer auf der Trepppe, das Geländer aus dunkel lackiertem Holz, das verblasste Werbeplakat vom Oktoberfest … und inmitten all dieser Belanglosigkeiten Kai Wagner! Er kam mit raschen Schritten die schmale Treppe hinauf, näherte sich ihr, als wäre nichts dabei, als hätte sie ihn erwartet. So als wäre alles ganz normal.

Doch nichts war normal. Und dann trafen sich ihre Blicke. Lisa stieß einen unterdrückten Entsetzenslaut aus, als sie die Kälte in Kais Augen sah. Und die Wut. Hatte sie in den paar Tagen allein bereits vergessen, wie es sich anfühlte, in diesem kalten Spiegel nur Leid und das Versprechen von Angst und Schmerzen zu erblicken? Hatte sie sich zu lange in Sicherheit gewiegt, angefangen, nachlässig zu werden, Kai zu unterschätzen, seinen Irrsinn nicht mehr als das zu sehen, was er war? Ebenso allumfassend wie vernichtend? Nun aber, im Bruchteil einer Sekunde, kehrte die Gewissheit all dessen, vor dem sie so panisch und sinnlos geflohen war, zurück, erfüllte ihr Fühlen und Denken und brachte eine kalte Todesangst mit sich, die mit nichts anderem zu vergleichen war, was Lisa je erlebt hatte. Dabei war sie sozusagen ein Profi als Opfer und Leidtragende.

Im nächsten Augenblick schienen sich alle Stromkreise in ihrem Körper zu schließen und den Fluchtreflex zu aktivieren. Sie warf sich auf dem Absatz herum und wollte laufen. Doch ihre Füße gehorchten ihr nicht. Jedenfalls nicht so, wie sie es sich wünschte. Sie schienen aus Blei zu sein, festgewachsen am Boden, unwillig, sie in Sicherheit zu bringen, bewegten sie sich nur in Zeitlupe. Verzweifelt kämpfte Lisa.

»Bleib hier!«, hörte sie Kai zischen. Er war direkt hinter ihr, und diese Erkenntnis pushte ihr Adrenalin noch einmal in einer steilen Spitze nach oben, sodass sie alle Willenskraft aktivieren konnte, um ihm zu entkommen. Lisa sah bereits die Zimmertür in greifbarer Nähe, und – zu ihrem grenzenlosen Entsetzen – Torben, der in der offenen Tür stand.

Sie öffnete den Mund und schrie: »Geh ins Zimmer, schließ ab, schnell!«, doch es war zu spät. Torben starrte geschockt auf Kai, dessen Rechte sich in Lisas Haar grub und sie mit einem Ruck nach hinten zerrte. Sie schrie. Und sie fiel. Unterbewusst hörte sie ihren Sohn weinen. Kai packte sie an den Schultern, zog sie hoch, presste sie gegen die Wand und herrschte sie mit gedämpfter Stimme an: »Nimm dich gefälligst zusammen, du Stück Malheur! Du hast mir genug Ärger gemacht! Sei still!« Er schüttelte sie, bis nur noch ein leises Wimmern über ihre Lippen drang. Durch einen Schleier von Tränen starrte sie ihn an wie ein hypnotisiertes Kaninchen die Schlange. Kai nickte. »Schon besser. Du kommst jetzt mit, ohne Aufsehen, verstanden?«

»Mama!« Torben stürmte auf sie zu und umfing sie mit seinen kurzen Ärmchen. »Geh weg, lass sie in Ruhe!«

Kai reagierte nicht auf den Jungen, seine ganze Aufmerksamkeit war auf Lisa gerichtet. »Los, beweg dich!«

»Wo ist Mark?«, flüsterte sie tonlos. »Was hast du ihm angetan?«

»Nicht mehr, als ich dir antun werde«, versprach er ihr mit einem kleinen, kalten Lächeln.

»Lass meine Mama in Ruhe!« Torben begann, mit seinem Fäustchen auf Kai einzuschlagen. Der zuckte nicht mit dem Wimper, packte den Jungen am Schlafittchen und warnte ihn: »Lass das, oder es wird deiner Mama noch sehr viel schlechter gehen!«

»Mama, Mama, Hilfe!« Torben wehrte sich wie wild, Lisa versetzte Kai einen Stoß, der ließ den Jungen los, ging daraufhin aber sofort wieder Lisa an.

»Ich werde dich lehren, mich zu blamieren, du wirst schon sehen …« Er wollte sie packen, aber sie wich ihm geschickt aus und rannte dann, so schnell sie konnte zur Treppe. Sie hörte Kai hinter sich keuchen und fluchen, und sie wusste, dass dies ihre letzte Chance war, seinem Irrsinn zu entkommen. Sie musste es nur schaffen, die Anmeldung zu erreichen. Kai hatte eine panische Angst, vor anderen bloß gestellt zu werden. Er würde ihr nichts tun, wenn es Zeugen gab. Nur noch ein kurzer Weg, nur noch wenige Schritte …

Lisa hatte den Treppenabsatz erreicht, als sich ihr rechter Fuß in dem Läufer verhedderte. Sie wollte ihn hektisch heraus ziehen, strauchelte bei dem Versuch und verlor das Gleichgewicht. Im nächsten Augenblick fiel sie, sah die Treppe rasend schnell auf sich zukommen. Mehrere harte Schläge trafen sie, als sie den Boden berührte, durch ihren Schwung weiter nach unten geschleudert wurde, bis an den Fuß der Treppe.

Dort blieb Lisa wie leblos liegen. Torben stand am oberen Treppenabsatz, bleich wie die Wand, reglos, mit unnatürlich geweiteten Augen starrte er auf seine Mutter. Kai Wagner hatte sich bereits abgewandt, und im nächsten Moment, noch bevor jemand Lisa entdecken konnte, die Pension Mecking verlassen.

*

»Erkennen Sie es wieder?« Kommissar Müller hielt Mark Hansen ein reichlich ramponiertes Smartphone unter die Nase. »Ein Kollege von der Drogenfahndung hat es heute einen Junky abgenommen. Sehen Sie die Initialen auf der Hülle? MH. Könnte Ihres sein, oder?«

Der junge Ingenieur betrachtete das flache Telefon von allen Seiten, dann schaltete er es ein und stutzte. »Es ist entsperrt, das geht doch eigentlich nur mit dem Code.«

»Es wurde geknackt, von einem Hacker. Ihre persönlichen Daten sind erhalten, aber Ihr Guthaben ist abtelefoniert worden.«

Mark suchte eine Weile in verschiedenen Dateien, bis er auf den Namen seiner Schwester stieß. Er starrte ratlos auf die daneben stehende Nummer und Adresse. Beides sagte ihm nichts.

Amelie Gruber wechselte einen fragenden Blick mit Dr. Norden, der Kommissar Müller zu dieser ersten Vernehmung begleitet hatte. Der Chefarzt der Behnisch-Klinik wollte verhindern, dass der Polizist seinem Patienten zuviel zumutete. Dr. Gruber hatte ihn auf dem Laufenden gehalten, sodass er genau über den Zustand von Mark Hansen informiert war. Dieser hatte zwar in der Zwischenzeit einen Großteil seiner Erinnerungen wieder erlangt. Aber noch immer klafften zwei größere Lücken in seinem Gedächtnis. Zum einen konnte er sich nach wie vor nicht an den Überfall erinnern. Zum anderen war und blieb der Grund seiner Münchenreise ihm auch weiterhin suspekt.

Kommissar Müller musterte den jungen Ingenieur ungeduldig.

»Ja, es gehört mir«, bestätigte der schließlich zögernd.

»Dann haben Sie wohl auch den Grund Ihrer Reise darin notiert«, schloss der Beamte. »Ein Termin, eine private Verabredung vielleicht?«

Mark schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe ein Notizbuch, darin schreibe ich alles auf, ein Filoflex.«

»Das habe ich schon lange nicht mehr gehört«, wunderte der Kommissar sich. »Ein bisschen altmodisch, oder?«

Dr. Norden hob leicht irritiert die Augenbrauen und warf ein: »Ich benutze das auch, schon seit meiner Studienzeit. Es ist kompakt und praktisch. Warum also wechseln?«

»Wie Sie meinen«, brummte der Polizist und hielt eine Plastiktüte auf. »Bitte da hinein mit dem Telefon, es muss noch zur Untersuchung ins Labor. Dann kriegen Sie es zurück.« Er zögerte kurz. »Und was den Überfall betrifft …«

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass mein Patient sich noch nicht daran erinnert«, warf Dr. Gruber ärgerlich ein. »Sie müssen warten, bis sein Gedächtnis die Lücken geschlossen hat.«

»Ja, aber wie lange? Wir brauchen eine Beschreibung der Täter, sonst können wir nicht arbeiten.«

»Na schön, wenn Sie mir einen Zaubertrick verraten, wie ich sein Gedächtnis zurückholen kann …«, murmelte Amelie Gruber, ärgerlich über so wenig Einfühlungsvermögen.

»Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn sich etwas ändert«, versprach Dr. Norden, woraufhin sich der Beamte kurz angebunden verabschiedete.

»Sie hätten ihn nicht so anfahren sollen, Frau Kollegin. Er tut ja auch nur seine Arbeit.«

»Ja, ich weiß.« Dr. Gruber hob mit einem Seufzen die Schultern. »Es nervt nur, wenn manche Leute von uns Wunder erwarten und dann beleidigt sind, weil das nicht funktioniert.«

»Sie leisten gute Arbeit«, lobte Dr. Norden sie.

»Nicht gut genug. Aber leider sind auch der Medizin Grenzen gesetzt. Manche Dinge gehen eben nur mit Geduld.«

»Ein rares Gut in unserer schnelllebigen Zeit. Halten Sie mich bitte weiter auf dem Laufenden.«

Nachdem der Chefarzt gegangen war, sagte Mark: »Sie sollten sich nicht ärgern, es läuft doch. Bald bin ich wieder gesund. Und das habe ich nur Ihnen zu verdanken.«

»Mir und meinen Medikamenten«, scherzte Amelie spröde.

»Wissen Sie …« Der junge Mann verstummte plötzlich, denn unvermittelt schien die Umgebung zurück zu treten, zu verschwimmen. Er sah etwas vor seinem geistigen Auge, womit er zunächst nichts anzufangen wusste. Es war eine prächtige Villa, umgeben von einem parkähnlichen Grundstück. Ein Mann, eine Frau und ein Kind standen davor und unterhielten sich. Als Mark genauer hinsehen wollte, um festzustellen, ob er eine der Personen kannte, war das Bild verschwunden, und er blickte in das fragende Gesicht von Dr. Gruber.

»Haben Sie sich an etwas erinnert?«, hörte er sie die Frage stellen, die ihm mittlerweile so vertraut geworden war wie ihr hübsches Gesicht mit den tiefblauen Augen.

»Ich glaube, ja. Ich habe ein Haus gesehen, Menschen, die davor standen. Einen großen Garten. Aber ich habe keine Ahnung, wer oder wo das sein könnte …« Er schlug sich mit der flachen Hand entnervt gegen die Stirn. »Warum funktioniert mein Kopf denn nicht endlich wieder so, wie er soll?«

»Nicht.«

Amelie nahm seine Hand und hielt sie fest.

Für eine Weile schauten sie einander in die Augen, versanken gleichsam im Blick des anderen. Dann zog die junge Ärztin ihre Hand zurück und senkte verlegen die Lider.

Mark lächelte ihr ein wenig zu. »Sie sind sehr geduldig. Ich fürchte, diese Eigenschaft geht mir ab.«

Da erwiderte sie sein Lächeln weich und versicherte ihm: »Sie werden es lernen, Mark Hansen. Sie sind doch ein heller Kopf.«

*

»Ist sie stabil?« Dr. Erik Berger trat an den Geräteturm neben der Behandlungsliege, um die Werte der Notfallpatientin zu checken, die vor gut einer Stunde in die Behnisch-Klinik eingeliefert worden war. Angeblich war sie eine Treppe herunter gefallen. Das war eine schon klassisch zu nennende Umschreibung für einen Sturz im Rauschzustand, eine Prügelei oder Misshandlung. Für Dr. Berger nur noch zu toppen durch ›Bin gegen eine Tür gelaufen‹, die Nummer Eins auf seiner persönlichen Zynismusliste. Doch bei Lisa Wagner schien alles seine Richtigkeit zu haben. Sie war gestürzt, hatte sich eine schwere Gehirnerschütterung zugezogen und zwei Rippen gebrochen. Knochenfragmente hatten das periphere Lungengewebe verletzt. Sie musste dringend operiert werden, doch ihr Zustand war einfach nicht stabil geworden, so sehr der Notfallmediziner sich auch um sie bemüht hatte. Nun endlich stabilisierte sie sich, wenn auch auf niedrigem Niveau.

»Geben Sie oben grünes Licht, Schwester Anna. Wer hat Dienst?«

»Frau Dr. Rohde, aber denken Sie nicht …«

Dr. Bergers eisblaue Augen lösten sich von den Werten und musterten die Pflegerin knapp. »Was?«

»Ach, nichts.« Sie seufzte. »Da war ein Kind bei ihr.«

»Und? Was geht mich das an? Kümmern Sie sich darum, dass die Patientin auf die Chirurgie kommt.« Damit wandte er sich ab und fegte ins nebenliegende Behandlungszimmer, wo ein weiterer Patient auf ihn wartete.

Schwester Anna wies einen Kollegen an, die Verletzte zur Chirurgie zu bringen, dann trat sie an die Anmeldung und fragte Schwester Inga, die dort gerade Dienst hatte: »Wo ist der Junge?« Anna hatte ein weiches Herz und liebte Kinder.

»Im Wartezimmer. Ich habe Dr. Fee Norden noch nicht erreichen können. Sie wird sich um den Kleinen kümmern wollen.«

Die Frau des Chefarztes war zugleich Leiterin der Pädiatrie in der Behnisch-Klinik. Und sie war eine ausgezeichnete Kinderpsychologin, genau das, was nun benötigt wurde, um Zugang zu Torben Wagner zu finden. Seit dem Unfall seiner Mutter hatte er kein Wort gesprochen. Dabei war er der einzige Augenzeuge.

Schwester Anna warf einen Blick in den Wartebereich, der sehr hell und nüchtern gehalten war. Die Menschen, die hier auf Nachricht aus den Behandlungszimmern warteten, brauchten kein gedimmtes Licht oder Grünpflanzen. Das Einzige, was jeder, der hier schon einmal Minuten als Stunden empfunden hatte, brauchte, war eine gute Nachricht.

Der kleine Torben saß wie verloren in einem Stuhl, ließ die Beine baumeln und den Kopf hängen. Dieser Anblick rührte Anna ans Herz. Sie besorgte einen Becher Kakao und setzte sich dann zu Torben, bis Fee Norden erschien. Es dauerte eine Weile, Anna bemühte sich, den Buben ein wenig zu trösten, doch er reagierte nicht. Der Kakao kühlte langsam ab.

Dr. Fee Norden war eine attraktive, schlanke Ärztin mit blonden Locken und erstaunlich blauen Augen. Sie fand stets intuitiven Zugang zu ihren kleinen Patienten, was wohl auch an ihrer sehr mütterlichen Art lag. Immerhin hatte sie selbst fünf Kindern das Leben geschenkt und aus allen das gemacht, was ihr Mann auf seine etwas trockene Art als ›vernünftige Erwachsene‹ bezeichnete.

Der kleine Torben hob den Blick, als sie ihm sacht übers Haar strich und leise sagte: »Deiner Mama wird geholfen, schon bald darfst du sie besuchen. Bis dahin werde ich mich ein bisschen um dich kümmern. Ich heiße Fee.« Sie streckte ihm die Hand hin. »Magst du mit in mein Büro kommen? Da ist es gemütlicher.«

Noch immer schwieg Torben, doch nach kurzer Bedenkzeit schob er seine kleine Rechte in die der Ärztin und trottete dann tapfer neben ihr her.

Schwester Anna schaute Fee Norden bewundernd nach. Sie schaffte es immer wieder, Zugang zu den verstörtesten kleinen Seelen zu finden. Das grenzte schon an Zauberei …

Während Fee Norden sich um Torben kümmerte, wurde Lisa mehrere Stunden lang operiert. Dr. Christina Rohde musste nicht nur zwei Rippen der Verletzten richten und neu fixieren, es galt auch, eine ganze Menge Knochensplitter sauber zu entfernen, die zum Teil in das seitliche Lungengewebe eingedrungen waren. Es war das, was Dr. Berger als ›Fizzelarbeit‹ bezeichnete. Eine wahre Sisyphusaufgabe, die Dr. Rohde alles abverlangte. Über einen so langen Zeitraum ein Höchstmaß an Konzentration zu halten, war alles andere als einfach und nötigte ihrem OP-Team Hochachtung ab. Als es geschafft war, wurde Lisa Wagner auf die Intensiv verlegt, denn ihr Zustand war nicht wirklich stabil.

Dr. Norden schaute nach der neuen Patientin und unterhielt sich bei einem starken Kaffee eine Weile mit Dr. Rohde. Dann wechselte er auf die Pädiatrie, um seiner Frau einen Besuch abzustatten. Fee war froh, ihren Mann zu sehen.

»Was ist eigentlich los in dieser Stadt?«, seufzte sie mit einem Blick auf Torben, der im Nebenraum ihres Büros erschöpft eingeschlafen war. »Wie oft werden bei uns Verbrechensopfer eingeliefert? Ein, vielleicht zweimal im Monat, wenn überhaupt. Und nun gleich zwei. Zuerst dieser Ingenieur mit der Amnesie, nun die junge Frau, deren Kind durch einen Schock verstummt ist. Da liegt es doch nahe anzunehmen, dass er etwas Schlimmes gesehen hat. Nicht nur, wie seine Mutter einen Unfall hatte.«

»Ich kann dir nicht widersprechen, Liebes«, gestand Daniel ihr zu. »Und ich mag es, ehrlich gesagt, nicht, wenn die Polizei ständig hier aufkreuzt. Zumal es da seltsame Parallelen gibt.«

»Was meinst du, Dan?«

»In beiden Fällen gibt es keine Zeugen. Es heißt, Frau Wagner sei in einer Pension am Stachus eine Treppe herunter gefallen. Aber sie war nicht betrunken, stand nicht unter Drogen. Und ihr Sohn, der alles gesehen hat, steht unter Schock. Ich bin da, ehrlich gesagt, auch ratlos.«

»Frau Wagner wird sich erinnern, oder?« Fee bedachte ihren Mann mit einem unsicheren Blick. »Sie hat doch wohl nicht ebenfalls ihr Gedächtnis verloren?«

»Sie hat ebenfalls eine Gehirnerschütterung. Aber wir sollten positiv denken, Schatz.«

In diesem Moment hörten sie leises Reden aus dem Nebenzimmer. Fee erhob sich, drückte die Tür leise auf und lauschte. Der kleine Torben sprach im Schlaf.

»Lass meine Mama in Ruhe! Wir lassen uns scheiden«, nuschelte er. »Dann darfst du uns nie wieder hauen, nie wieder!«

Daniel Norden trat neben seine Frau, sie tauschten einen beklommenen Blick. Behutsam schloss sie die Tür und stellte fest: »Sieht mir nach einem häuslichen Drama aus. Da wartet wohl eine Menge Arbeit auf mich …«

*

Dr. Heike Kreisler arbeitete erst seit kurzem als Kinderpsychologin in der Behnisch-Klinik. Fee Norden hielt große Stücke auf die junge Kollegin, die in jedem Fall einen anderen Zugang zu dem kleinen Patienten wählte und unkonventionell arbeitete. Sie schreckte nicht davor zurück, mit einem Kind durch Pfützen zu springen oder sich als Ronald MacDonald zu verkleiden, wenn es sie weiterbrachte. Als die schlanke, junge Frau mit den brandroten Zöpfen und dem aparten Piercing in der rechten Augenbraue an diesem Morgen Fees Büro betrat, erinnerte Heike sie mal wieder ein wenig an Pipi Langstrumpf. Sie brachte wirklich Farbe in den Klinikalltag. Das war zunächst auch für Fee Norden gewöhnungsbedürftig gewesen. Doch mittlerweile mochte sie Heike und schätzte ihre fachliche Kompetenz.

»Morgen, Chefin, was liegt an?«, fragte sie locker.

»Ein neuer Fall, bei dem ich allein nicht weiterkomme.« Sie reichte der jungen Kollegin die Krankenakte, die diese eine Weile konzentriert studierte. »Der Junge verweigert sich völlig. Er schweigt, seit er mit ansehen musste, was seiner Mutter zugestoßen ist. Was immer es auch gewesen sein mag.«

»Das sollten wir herausfinden.«

Fee stimmte zu. »Machen Sie sich mit Torben bekannt, ich warte erst mal ab, wie es zwischen Ihnen beiden läuft.«

Dr. Kreisler nickte und erhob sich. »Okay.«

Torben hockte im Nebenzimmer auf der Couch und starrte trübsinnig vor sich hin, als Heike Kreisler hereinkam. Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich mit etwas Abstand zu dem Jungen hin. Zunächst wartete sie ab, ob vielleicht von ihm etwas kam. Und da sie sehr geduldig war, dauerte dies eine Weile.

Ihr Handy meldete sich. Sie hatte mal wieder vergessen, es auszuschalten. Eigentlich konnte sie es nicht leiden, bei der Arbeit unterbrochen zu werden, doch nun nahm sie den Anruf entgegen, denn er kam von ihrem Freund. Jo Braun arbeitete als Pfleger in einem Heim für Schwerstbehinderte.

Heike liebte ihren ›Bären‹, wie sie ihn nannte, denn der Hüne hatte das sanfte Gemüt eines Lammes und schaffte es sogar, in den billigen Plastikkästen an Heikes Balkon schmackhaftes Gemüse zu ziehen. Was er mit seinen großen Händen anpackte, schien zu neuen Leben zu erwachen, wie kaputt oder traurig es vorher auch gewesen sein mochte.

»Süße, ich muss heute Überstunden machen, zwei Kollegen sind krank«, ließ er sie wissen. »Sei mir nicht böse.«

»Ist schon okay.«

»Echt?«, wunderte er sich. »Wir wollten doch heute Abend zusammen ins Kino. Schon vergessen?«

»Ist nicht so wichtig. Ich hab einen schwierigen Fall.« Sie erzählte ihm knapp, worum es ging. Jo überlegte kurz, dann riet er ihr: »Erzähl ihm doch was von Waldo. Das wird ihn bestimmt ablenken. Und dann kriegst du vielleicht Zugang zu ihm.«

Heike grinste. Waldo! Natürlich. Seit sie sich kannten, spannen sie in jeder freien Minute die Geschichte von der gefleckten Ratte weiter, die sich allein durchschlagen musste, weil sie anders war als die anderen. Heike hatte schon öfter daran gedacht, ein Kinderbuch daraus zu machen. Hätte sie nur etwas mehr Zeit dafür … Aber in der jetzigen Situation war Waldo eine richtig gute Idee.

»Du bist ein Schatz, ich hab dich lieb«, sagte sie und legte das Handy weg. Torben hatte bis jetzt keine Reaktion gezeigt. Also setzte Heike sich nun zu ihm auf die Couch und begann, ihm die ›Waldo-Saga‹ zu erzählen. Auch wenn der Junge nicht direkt reagierte, merkte sie doch nach einer Weile, dass er zuhörte. Wenn sie eine Pause einlegte, begann er, unruhig zu werden. Er hob den Kopf, schaute sie aber nicht an. Doch er wartete darauf, dass sie weiter redete. Und wenn sie das tat, dann entspannte Torben sich und versank nach und nach in der Fantasiewelt, die die junge Kinderpsychologin für ihn malte wie ein buntes Bild.

Nach mehr als zwei Stunden wurde Torben müde und schlief schließlich ein, neben Heike zusammengerollt wie ein Baby.

Auf leisen Sohlen verließ sie den Raum und schloss behutsam die Tür. Dr. Fee Norden war nicht in ihrem Büro. Heike hinterließ ihr eine kurze Nachricht und kümmerte sich dann um ihre anderen kleinen Patienten.

Bei der Visite sahen die beiden Ärztinnen sich wieder.

»Wie ist es gelaufen? Als ich in mein Büro gekommen bin, waren Sie weg und Torben hat geschlafen.«

»Ich habe ihm von Waldo erzählt.« Dr. Kreisler seufzte. »Er leidet unter einem akuten Trauma. Es wird dauern, es aufzulösen und Zugang zu dem Jungen zu finden. Wir müssen uns auf eine längere Behandlung einstellen.«

»So sehe ich es auch. Bitte verbringen Sie so viel Zeit mit Torben wie möglich. Und halten Sie mich auf dem Laufenden. Ich habe den Jungen heute offiziell auf meine Station genommen.«

Heike Kreisler versprach es. Sie war eine sehr engagierte Medizinerin, wie eigentlich alle, die in der Behnisch-Klinik arbeiteten, ob Ärzteschaft oder Pflegepersonal. Und da ihr ›Bär‹ an diesem Abend länger arbeitete, beschloss sie, es ihm einfach gleich zu tun. Sie verbrachte den Abend in Torbens Krankenzimmer mit weiteren Episoden aus Waldos Leben in den Kanälen der Stadt und hatte dabei bald noch mehr kleine Zuhörer. Fast fühlte sie sich wie eine Märchentante. Und die glänzenden, aufmerksamen Augen in den blassen Kindergesichtern taten ihr richtig gut. Nur das eigentliche Ziel, das erreichte Waldo an diesem Abend leider nicht: Eine Reaktion, ein Wort von Torben Wagner. Was Heike Kreisler sah, das war der Schrecken, der den Bub verfolgte und einfach nicht mehr los ließ, und der sich in seinen großen Augen voller Angst allzu deutlich zeigte, deutlicher vielleicht, als Worte dies vermocht hätten …

*

»Ich habe mit meinem Chef telefoniert.« Mark Hansen warf Dr. Gruber einen betretenen Blick zu. »Leider hat das auch nichts gebracht. Was das Berufliche angeht, weiß ich längst wieder über alles Bescheid. Ich erinnere mich auch an die Zeit in Kenia, mein letztes Projekt, die große Brücke am Meer.«

»Das Kalenderbild«, scherzte Amelie.

»Genau das. Ich habe Herrn Schuhmann offen gesagt, was mir passiert ist. Immerhin wollte ich ihn ja bitten, mir etwas über meine Schwester zu erzählen.« Er seufzte. »Es war eine vage Hoffnung. Leider wusste er nur wenig.«

»Was hat er Ihnen denn erzählt?«

»Dass Lisa nach München gezogen ist. Das wusste ich ja mittlerweile auch wieder. Sonst konnte er mir nichts sagen.«

»Es war einen Versuch wert.« Sie reichte ihm seine Medikamente. »Wir müssen dran bleiben.«

Nachdem er die Tabletten geschluckt hatte, fragte er sie offen: »Glauben Sie wirklich daran, dass meine Erinnerungen vollständig zurückkehren? Oder ist das nur Zweckoptimismus?«

»Ich bin von meinen Fähigkeiten als Psychologin überzeugt.«

»So habe ich das nicht gemeint. Ich wollte nicht an Ihnen zweifeln, ich frage mich nur …« Er schaute sie bekümmert an. »Wäre es nicht möglich, dass ich einige Dinge einfach für immer vergessen habe?«

Amelie Gruber schüttelte angedeutet den Kopf. »So etwas ist mir noch nicht untergekommen.«

»Aber es wäre trotzdem möglich.«

»Das Ödem hat sich vollständig zurückgebildet, die Commotio ist ebenfalls abgeklungen. Es bestehen keine körperlichen Gründe, die eine solche Prognose stützen könnten.«

»Es könnte trotzdem sein. Sie haben gesagt, dass man dem Gehirn nicht befehlen kann. Was, wenn ich mich nicht erinnern kann, weil ich es unterbewusst nicht will?«

»Welchen Grund sollte es dafür geben?«

»Ich habe den Überfall vielleicht verdrängt. Und was meinen Grund für die Reise hierher angeht, nun, den hatte ich wohl im Kopf, als ich überfallen wurde.«

»Sie denken an eine geistige Verbindung dieser beiden Erinnerungen? Eine gewagte These. Aber sehen Sie, Herr Hansen, das Gehirn ist kein Computer, Erinnerungen sind keine Dateien, die beschädigt werden können. Sie sind in lebendem Gewebe gespeichert. Der Körper arbeitet mit Aminosäuren, nicht mit Bits und Bytes. So rein mechanisch kann man das nicht erklären, da würde eine Schieflage entstehen.«

»Dann sagen Sie mir, warum ich diese Dinge nicht mehr weiß.«

Dr. Gruber wirkte ratlos. Offen gab sie zu: »Ich wünschte, ich könnte es …«

»Ich würde gerne raus, an die frische Luft. Geht das?«

»Warum nicht?« Die junge Ärztin warf einen Blick aus dem Fenster. Es war ein schöner Vorfrühlingstag, der Himmel spannte sich in klarem Hellblau über die Weltstadt mit Herz, im Klinikpark spitzten bereits die ersten Blütensterne. Amelie Gruber empfand plötzlich auch das Verlangen nach frischer Luft und Vogelgezwitscher.

»Ein Gang durch den Park kann nicht schaden. Wenn Sie ein wenig Geduld haben, begleite ich Sie. Ich habe aber vorher noch etwas zu erledigen.«

»Sie kommen mit?« Mark war ein wenig zu begeistert, wie sie lächelnd feststellte.

»Möchten Sie lieber allein sein?«

»Nein, ich dachte nur, ein Pfleger würde mich begleiten. Haben Sie denn Zeit für so was?«

»Es wird Sie überraschen, aber auch Ärzte haben manchmal Freizeit, essen, schlafen oder gehen mal spazieren.« Ihr Lächeln vertiefte sich. »Ich opfere Ihnen meine Mittagspause, wenn Sie es ganz genau wissen wollen. Aber ich tue es freiwillig, Sie müssen also kein schlechtes Gewissen haben.«

»Das ist wirklich nett von Ihnen.« Er bedachte sie mit einem Blick, der sie tatsächlich erröten ließ. Dr. Gruber schwankte zwischen Ärger und Verlegenheit und machte sich dann recht schnell aus dem Staub. Fast schien es Mark, als bereute sie ihre Einladung und er müsste wohl umsonst auf ihre Rückkehr warten. Doch sie kam eine halbe Stunde später in einer warmen Jacke und mit einer Tüte, in der sich zwei belegte Semmeln aus der Kantine befanden, wieder. Mark hatte sich inzwischen angezogen. Er war noch ein wenig wacklig auf den Beinen, lehnte aber einen Rollstuhl entschieden ab. Amelies Arm war ihm bedeutend lieber …

Der junge Ingenieur war sportlich und es gewöhnt, ein flottesTempo vorzulegen. Nun aber bremste ihn sein Körper auf ungewohnte Weise aus. Er fühlte sich schlapp und kam sogar nach ein paar Schritten außer Atem. Beschämt dachte er über den wenig positiven Eindruck nach, den er auf seine Angebetete machte.

»Ich hätte vielleicht besser den Rollstuhl genommen«, murmelte er verlegen. »Ich fühle mich wie ein alter Mann.«

»Sie haben eine Weile nur gelegen, daran gewöhnt sich unser Körper leider allzu gern. Es dauert, wieder in die gewohnte Form zu kommen. Machen Sie Sport?«

»Ja, ich gehe jeden Morgen laufen.«

Amelie lächelte erfreut. »Ich auch!«

»Und ich fahre mit dem Rad zur Arbeit.«

»Ich auch!«

»Und im Sommer habe ich immer eine Dauerkarte fürs Schwimmbad.« Er schaute sie fragend an. »Sie auch?«

»Nein, aber ich gehe schon gerne schwimmen. Leider fehlt mir oft die Zeit dazu.«

»Wir haben ein schönes Freibad, ganz in der Nähe, wo ich wohne. Waren Sie schon mal in Ulm?«

»Eine Tante von mir lebt da. Eine schöne Stadt.«

Sie hatten die Klinik verlassen und spazierten nun durch den frühlingshaften Park. Mark war einen Moment lang ganz überwältigt. Nach der Zeit in seinem Krankenzimmer empfand er die Umgebung beinahe als märchenhaft schön. Den blauen Himmel, die frische Luft, in der schon leichte, süße Blütendüfte lagen, die gepflegten Rabatten, wo das neue Grün spitzte.

Neben einer Bank blühte eine Zaubernuss und verströmte einen süßen Duft.

Mark blieb stehen, pflückte vorsichtig eine der schmalen, gelben Blüten und überreichte sie seiner Begleiterin.

»Hamamelis, sehr gut für eine zarte Haut. Und der Duft … hm!« Dr. Gruber lächelte versonnen. »Während meines Studiums habe ich mich mit Naturheilkunde beschäftigt. Das ist immer noch mein Steckenpferd.«

»Als Neuropsychologin?«

»Das eine muss das andere nicht ausschließen. Die Grundlagen aller heute bekannten medizinischen Wirkstoffe sind Pflanzen. Im Grunde genommen kommt all das aus der Natur.«

»Auch wieder wahr. Setzen wir uns einen Moment?«

»Ach ja, unsere Brotzeit.« Sie reichte ihm eine Semmel.

»Machen Sie das öfter? Picknick mit einem Patienten?«

Dr. Gruber lachte. »Um Himmels willen, nein!«

»Aber bei mir machen Sie eine Ausnahme. Und wenn ich mir nun etwas darauf einbilde?« Er betrachtete verliebt ihr ebenmäßiges Profil. »Wären Sie mir dann böse?«

»Mark, ich …« Sie biss sich auf die Lippen, als ihr bewusst wurde, dass sie ihn beim Vornamen genannt hatte. Da legte er ganz behutsam seine Rechte auf ihre, drückte sie sacht und gab zu: »Ich habe bis jetzt nicht an das Schicksal oder die Vorsehung geglaubt. Aber mittlerweile bin ich fest davon überzeugt, dass ich nur aus einem Grund in diese Klinik gekommen bin. Nämlich um Ihnen zu begegnen, Amelie.«

»Das wäre aber eine schmerzhafte Art und Weise, jemandem kennenzulernen«, scherzte sie spröde.

»Nicht jemanden, Sie. Den einen Menschen für mich.« Er lächelte in ihr erschrockenes Gesicht. »Keine Sorge, ich falle jetzt nicht vor Ihnen auf die Knie, dazu bin ich noch nicht wirklich in der Verfassung. Aber ich werde Ihnen bald eine Frage stellen, die für uns beide sehr wichtig ist. Bereiten Sie sich schon mal seelisch und moralisch darauf vor.«

»Das klingt bedrohlich.«

Mark lachte. »Nur für Ihre Freiheit …«

Eine Weile später kehrten die beiden auf die Innere zurück. Sie unterhielten sich leise und bemerkten nicht, dass ihnen Dr. Kreisler entgegenkam. Die junge Psychologin hatte an jeder Hand drei Kinder, sie unternahm mal wieder einen ihrer speziellen Rundgänge für kleine Patienten, die wenig Besuch bekamen und sich einsam fühlten. Auch Torben Wagner ging neben ihr her.

Dr. Gruber nickte der Kollegin zu, Mark hob den Blick und schaute dann auf die Kinder, die die ungewöhnliche Erscheinung im Ärztekittel umschwirrten wie kleine Schmetterlinge. Im nächsten Moment hatte der junge Ingenieur das Gefühl, einen Schlag in die Magengrube erhalten zu haben. Ihm blieb einfach die Luft weg, als er in ein Paar großer, grauer Augen schaute, die ihn ebenso ungläubig anstarrten. Mark blieb abrupt stehen, Torben riss sich von Dr. Kreisler los und stürmte auf ihn zu. Automatisch ging er in die Knie und öffnete die Arme. Und dann hörte er den Jungen rufen: »Onkel Mark, Onkel Mark, warum hast du uns nicht abgeholt? Wir haben so gewartet …« Er flog dem jungen Mann um den Hals, warf ihn mit seinem Schwung um.

Erschrocken starrte Torben auf seinen Onkel, der nun reglos vor ihm auf dem Boden lag. »Onkel Mark, was hast du denn? Sag doch was! Bist du krank? Bitte …«

Dr. Gruber kümmerte sich um ihren Patienten. Wie es schien, hatte die Begegnung mit dem kleinen Jungen endlich die letzte Blockade in Mark Hansens Gedächtnis gelöst. Und zwar so plötzlich und unerwartet, dass ihn dies im wahrsten Sinne des Wortes umgehauen hatte.

»Es geht ihm gut, keine Sorge«, sagte sie zu Torben, in dessen Augen sich Tränen gesammelt hatten. »Du kannst gleich mit ihm reden. Sagst du mir, wie du heißt?«

Der Bub blickte noch immer auf den Bewusstlosen, als er leise erwiderte: »Torben Wagner.«

*

Verwirrt öffnete Mark Hansen die Augen und blickte in das vertraute Gesicht von Dr. Gruber. »War das eben ein Traum?«

Die junge Ärztin schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, war es nicht. Und ich gebe zu, dass Sie recht hatten, Mark. Diese Sache mit der Vorsehung, dem Schicksal, die scheint tatsächlich zuzutreffen. Erstaunlich, aber wahr.«

Der junge Mann setzte sich in seinem Krankenbett auf. »Was wollen Sie mir damit sagen? Dass ich eben tatsächlich meinem Neffen begegnet bin?«

»Genau das. Torben wollte sie unbedingt hierher begleiten. Er ließ sich das einfach nicht ausreden. Nun wartet er draußen.«

»Mein Neffe …«

Er bedachte Amelie Gruber mit einem verwirrten Blick.

»Was ist passiert? Ist der Junge krank?«

»Seine Mutter hatte einen Unfall. Er ist der einzige Augenzeuge und hat geschwiegen. Ein schwerer Schock. Erst das Wiedersehen mit Ihnen hat das Trauma gelöst. Nun redet der Junge sozusagen wie ein Buch. Und was er zu berichten hat, ist sehr, sehr schlimm.«

»Ich muss mit ihm sprechen, bitte…«

»Einen Moment. Sagen Sie mir zuerst, woran Sie sich erinnern.«

Er dachte kurz nach, sagte dann: »Ich bin nach München gekommen, um Lisa und den Jungen abzuholen. Sie hat ihren Mann verlassen, weil er sie immer wieder misshandelt hat. Diese Ehe war die Hölle für meine Schwester. Wir hatten verabredet, uns in der Pension Mecking am Stachus zu treffen. Als ich nach München kam, das war schon am späten Abend, haben mich drei Kerle überfallen.«

»Sie erinnern sich also auch wieder an den Überfall?«

Er nickte langsam. »Ja, diese Visagen, die werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Ich erinnere mich jetzt wieder an alles. Was ist mit Lisa? Wie geht es ihr?«

»Ihre Schwester ist in der Pension Mecking eine Treppe herunter gefallen. Sie hat sich mehrere Rippen gebrochen und liegt noch auf der Intensivstation.«

»O Gott. Kai …«

»Torben sagt, dass Ihr Schwager schuld sei. Wie es aussieht, gab es einen Streit und Handgreiflichkeiten. Die Polizei ist schon informiert. Sie werden Ihren Schwager vernehmen.«

»Es ist meine Schuld.« Mark sackte richtig in sich zusammen, denn nun wurde ihm bewusst, wieso er die ganze Zeit das Gefühl gehabt hatte, etwas Wichtiges zu verpassen und jemanden im Stich zu lassen. »Ich habe sie im Stich gelassen. Kai hat sie gefunden und … Das hätte nicht passieren dürfen.«

»Es ist nicht Ihre Schuld, Mark. Sie sind überfallen wollen«, erinnerte Amelie ihn geduldig.

»Lisa hat sich auf mich verlassen, und ich habe sie im Stich gelassen. Das kann ich mir nicht verzeihen.« Er seufzte schwer. »Ich möchte zu meiner Schwester. Geht das?«

»Ja, natürlich. Ich begleite Sie.«

Er warf ihr einen dankbaren Blick zu. Torben stürmte auf seinen Onkel zu, als dieser erschien. Mark nahm ihn auf den Arm, drückte ihn und sagte leise: »Jetzt wird alles gut, ich verspreche es dir.«

»Ja, ich weiß, Onkel Mark. Die Mama hat gesagt, dass du uns hilfst. Sie hat so auf dich gewartet …«

Der junge Mann strich Torben sacht über den Rücken, dabei machte er ein sehr unglückliches Gesicht. Die Befreiung, sein Gedächtnis wieder zu haben, wog das Gefühl der Schuld und Unzulänglichkeit bei Weitem nicht auf. Er fühlte sich einfach nur mies. Und dieses Empfinden steigerte sich noch, als er am Bett seiner Schwester stand. Umgeben von unzähligen Schläuchen, Kabeln und Geräten lag Lisa wie leblos da, nur ein Schatten ihrer selbst. Vorsichtig nahm Mark ihre Hand und blieb dann lange bei ihr sitzen.

Dr. Gruber hatte in der Zwischenzeit mit den Nordens Rücksprache gehalten und auch dafür gesorgt, dass Mark so lange bei seiner Schwester bleiben konnte, wie er wollte.

Am späten Nachmittag erschien Kommissar Müller in Begleitung eines Kollegen, der die Phantombilder der drei Räuber anfertigen sollte. Mark machte nun eine detaillierte Aussage und erzählte dem Polizisten auch alles, was er über die Vorgänge in der Pension Mecking von Torben wusste, um dem Buben eine Vernehmung zu ersparen. Der Kommissar zeigte sich kooperativ.

»Wir werden uns ausführlich mit Herrn Wagner unterhalten«, beschloss er. »Wenn er die Aussage allerdings verweigert, muss ich mit dem Jungen reden. Und später auch mit seiner Mutter, sobald es ihr Zustand erlaubt.«

»Kai Wagner ist der Schuldige in diesem Fall«, war Mark sich ganz sicher. »Es ist nicht das erste Mal, dass meine Schwester versucht hat, ihn zu verlassen. Er ist ein Monster.«

»Ich weiß jetzt Bescheid, Herr Hansen. Aber ich brauche Beweise«, betonte der Kommissar. »Wir müssen dem Mann etwas nachweisen können, um ihn anzuklagen.«

*

»Wohin wollen Sie?« Kai Wagner vertrat Elfriede Kramer den Weg. Die Haushälterin trug in jeder Hand einen Koffer.

»Ich kündige. Der Brief liegt auf Ihrem Schreibtisch.«

Sie musterte ihn kühl.

»Und nun gehen Sie mir aus dem Weg.«

»Sie bleiben. Ich kann es nicht zulassen, dass Sie meine schmutzige Wäsche in der Öffentlichkeit waschen. Sie wissen zu viel über mich.«

Elfriede Kramer lachte hart auf. »Was soll das? Was bilden Sie sich eigentlich ein?«

»Seien Sie still!« Der Unternehmer starrte sie böse an.

Seit dem Zwischenfall in der Pension Mecking war Kai Wagner völlig neben der Spur. Ständig telefonierte er mit seinem Anwalt und der Detektei, die Lisa und Torben ausfindig gemacht hatte. Er schien von dem Gedanken besessen zu sein, dass man ihm etwas anhängen wollte, um ihn in der Öffentlichkeit schlecht zu machen. Elfriede Kramer fühlte sich zunehmend unwohl in der Nähe ihres Brotherrn. Sie wollte einfach nichts mehr mit ihm zu tun haben. Er schien den Bezug zur Realität verloren zu haben. Und in einem solchen Zustand war ihm wohl alles zuzutrauen.

»Ich gehe jetzt«, sagte sie entschlossen.

»Sie bleiben!« Er stürzte sich wie ein Geier auf ihr Gepäck und rannte damit aus dem Zimmer. Elfriede schaute ihm befremdet hinterher. In diesem Moment wurde an der Haustür geklingelt.

Die Haushälterin wartete einen Moment, und da von Kai Wagner keine Reaktion erfolgte, ging sie, um zu öffnen.

Vor der Tür standen zwei unauffällig gekleidete Männer, dahinter drei Polizisten in Uniform. Der ältere der Zivilen sagte: »Kommissar Sprenger, das ist mein Kollege Hübner. Ist Herr Kai Wagner zu sprechen?«

»Ja, er ist zu Hause. Bitte, kommen Sie doch herein.«

Die Beamten betraten das Haus, im gleichen Moment heulte draußen ein Motor auf und dann schoss Kai Wagners Wagen vom Grundstück. Elfriede Kramer meinte, ihren Augen nicht trauen zu können. Der Kommissar wies die Uniformierten an, dem Verdächtigen, wie er sich ausdrückte, zu folgen und, falls nötig, eine Fahndung nach ihm herauszugeben. Dann setzte er sich mit Elfriede Kramer zusammen und bat sie, ihm alles zu erzählen, was sie über die häuslichen Gewalttätigkeiten zwischen den Eheleuten Wagner wusste. Sie zögerte.

»Frau Wagner liegt mit zwei gebrochenen Rippen und einer schweren Gehirnerschütterung im Krankenhaus. Es steht zu vermuten, dass dies das Werk ihres Mannes ist. Ihr Bruder, Mark Hansen, wollte sie vor Tagen abholen, wurde aber überfallen und niedergeschlagen. Er befindet sich ebenfalls in stationärer Behandlung. Wie es aussieht, hat Herr Wagner seine Frau ausfindig gemacht und wollte sie mit Gewalt zwingen, zu ihm zurück zu kommen. Bei dieser Auseinandersetzung ist Frau Wagner gestürzt und hat sich schwer verletzt. Ihr Sohn hat daraufhin einen Schock erlitten.«

»O Gott«, stöhnte Elfriede. »So musste es ja kommen …«

»Sind Sie also bereit, über die Zustände in diesem Haus auszusagen? Häusliche Gewalt ist ein Delikt, auf das durchaus Gefängnis steht. Von der Körperverletzung in der Pension ganz zu schweigen.«

»Ich erzähle Ihnen alles, was Sie wissen wollen.« Die Haushälterin atmete tief durch. »Es wird Zeit, dass jemand Kai Wagner das Handwerk legt, endgültig!«

Während Elfriede Kramer ihre Aussage machte, raste Kai Wagner in seinem schweren Wagen über die Autobahn Richtung Süden. Ein wildes Triumphgefühl erfüllte ihn, als es schien, dass er seine Verfolger abgehängt hatte. Er telefonierte mit seinem Anwalt, der ihm allerdings riet, vernünftig zu sein und sich zu stellen. Er sprach von einen sachlichen Gespräch, von Kompromissen und einer – wenn auch hohen – Geldstrafe. Für ihn schien das alles kein Beinbruch zu sein. Für Kai aber war so etwas undenkbar.

Niemals würde er zulassen, dass man ihn vor Gericht stellte. Schließlich hatte er sich nichts zuschulden kommen lassen. Sein Image als sauberer Strahlemann musste unter allen Umständen gewahrt bleiben. Er würde eine andere Lösung finden!

»Wie’s drinnen aussieht …«

Kai schrak zusammen, als er die Stimme seines Vaters hörte. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass sie nur in seinem Kopf war. Eine dumme, unpassende Erinnerung. Wütend schob er sie weg. Doch der Alte ließ sich nicht zur Seite schieben, das hatte noch nie geklappt.

»Du mieser kleiner Wicht. Gibt es eigentlich nichts, was du richtig machen kannst?«, dröhnte der Bass des Alten unter seiner Schädeldecke. »Lässt sein Weibel weglaufen, lässt sich zum Gespött machen. Bald werden alle Bescheid wissen, alle. Sie werden sich die Bäuche vor Lachen halten, über dich …«

»Nein!« Kai gab Gas, der schwere Wagen lag wie ein Brett auf der Straße, das Voralpenland ringsum flog an ihm vorbei.

»O doch!«, höhnte der Alte weiter. »Du bist nicht mein Sohn, du bist es nicht wert. Nichts bist du, nur ein blasser, dummer Abklatsch von mir. Ich schäme mich für dich!«

»Sei endlich still!« Der Tacho zeigte bereits zweihundert Stundenkilometer und kroch noch weiter nach rechts. Kai Wagner starrte mit glasigem Blick auf das graue Band der Straße, das sich vor seinen Augen in Rauch und Staub auflöste. Und dann sah er wieder das verhasste Jagdzimmer vor sich. Die mit dunkler Wandbespannung bezogenen hohen Mauern voller Geweihe, die Vitrine aus Wurzelholz mit den Gewehren, den ausgestopften Fuchs, das blicklose Reh, all die toten Dinge, die ihn mitleidlos zu betrachten schienen. Und der Alte in all seiner Pracht, in seiner Rechten den schwarzen Stock aus Mahagonieholz mit dem silbernen Knauf.

»Ich werde dich lehren, mir zu gehorchen! Ich werde einen Mann aus dir machen, einen richtigen Mann…«

Mit einem lauten Knall verpuffte die böse Erinnerung. Kai Wagner wollte aufatmen, als er begriff, dass dieser Knall nichts mit dem zu tun hatte, was sich gerade in seinem Kopf abspielte. Er war ganz real gewesen. Ein Reifen war geplatzt. In der nächsten Sekunde leuchtete der Bordcomputer wie ein Christbaum auf. Der Wagen bekam sofort Schlagseite. Kai kurbelte wie ein Wilder am Lenkrad, ohne noch etwas zu erreichen.

Die Lenkung blockierte, der Jaguar legte sich kurz quer, dann schoss er wie ein Pfeil auf die Leitplanken zu. Es herrschte wenig Verkehr an diesem Frühlingsabend. Für ein paar endlose Sekunden sah der Unternehmer in der Ferne den Chiemsee im letzten, milden Licht der Frühlingssonne bläulich schimmern. Dann folgte der Aufprall. Mit ohrenbetäubendem Krachen und Knirschen zerlegte der schwere Wagen die Leitplanken, als seien sie aus Papier. Kurz touchierte er ein Feld, auf dem die erste Saat spross, drehte sich und überschlug sich mehrere Male, bis er völlig demoliert auf dem Dach liegen blieb.

*

Lisa Wagner öffnete mühsam die Augen. Zuerst sah sie nur schwache Umrisse und meinte, sich noch in jenem seltsamen Zustand zu befinden, der sie seit gefühlt unendlich langer Zeit nicht freigeben wollte. Das Letzte, woran sie sich erinnern konnte, war ihre Flucht vor Kai gewesen. Dann der Sturz. Und danach nur noch Dunkelheit.

»Lisa, kannst du mich hören?«

Nun war sie erst recht überzeugt, zu träumen. Marks Stimme? Das konnte nicht sein, war schlicht unmöglich. »Mama, wach doch auf!«

Torben? Lisa versuchte noch einmal, aus dem tiefen, dunklen Schacht der Bewusstlosigkeit aufzutauchen. Diesmal gelang es ihr. Und dann schaute sie verwundert in das Gesicht ihres Bruders, der ihr zulächelte.

»Mark …« Ihre Stimme war nur ein Hauch.

»Lisa, endlich!« Ihr Bruder drückte sacht ihre Rechte. Und dann schob sich Torbens kleines Gesicht neben das des Onkels.

Die junge Frau räusperte sich, ihr Hals war staubtrocken. Während Torben seine Mutter unendlich erleichtert mit dicken Küssen überschüttete, griff Mark nach dem Tee, der neben dem Bett stand, um seiner Schwester ein wenig davon einzuflößen. Eigentlich schmeckte er nicht nach viel, doch für Lisa wurde er zum köstlichen Nektar, zum Wasser des Lebens schlechthin, als er ihre Kehle befeuchtete und auch ihre Lebensgeister zu wecken schien. »Mark …« Sie drückte seine Hand und lächelte schwach. »Wie geht es dir? Was hat Kai dir angetan, was …« Ein stechender Schmerz in der Brust ließ sie verstummen. Sie atmete flach, da wurde es ein wenig besser, aber nicht wirklich gut.

»Du solltest noch nicht so viel reden«, riet Mark ihr fürsorglich. »Zwei deiner Rippen waren gebrochen und mussten operativ gerichtet werden. Und deine Lunge war auch betroffen.«

Lisa schloss kurz die Augen und schaute ihren Bruder dann auffordernd an. Sie erinnerte sich daran, dass sie sich immer auch ohne Worte verstanden hatten. Und das funktionierte nach wie vor. Mark berichtete ihr, was geschehen war, von dem Überfall auf ihn, seinem Gedächtnisverlust und auch von dem, was nach Lisas Treppensturz geschehen war.

»Kai?«, fragte sie leise.

Ihr Bruder machte ein ernstes Gesicht. Er dachte daran, wie Amelie vor ein paar Tagen in sein Krankenzimmer gekommen war und ihm erzählt hatte, was seinem Schwager zugestoßen war. Zu diesem Zeitpunkt hatte Dr. Berger noch versucht, den Unternehmer zu reanimieren.

Doch Kai Wagners Verletzungen hatten sich als zu schwer erwiesen. Wie immer war er nicht angeschnallt gewesen, als der Unfall geschehen war …

»Dein Mann ist geflohen, als die Polizei ihn verhören wollte. Er hatte einen tödlichen Unfall.«

Auf diese Eröffnung schwieg Lisa erst einmal. Sie lauschte in sich hinein, wartete auf ein Gefühl, eine Reaktion. Doch da war nichts. Es ging ihr einfach noch zu schlecht. Und alles, was mit Kai zusammenhing, schob sie automatisch ganz weit weg. Später würde sie darüber nachdenken, sehr viel später …

Mark blieb noch bei ihr, bis die Visite kam.

Bevor er in sein eigenes Zimmer zurückkehrte, brachte er Torben zurück auf die Kinderstation. Er sollte noch ein paar Tage zur Beobachtung in der Behnisch-Klinik bleiben. Zumindest so lange, bis sein Onkel in der Lage war, sich um ihn zu kümmern.

Der junge Ingenieur war überrascht, Elfriede Kramer dort anzutreffen. Die Haushälterin begrüßte ihn freundlich und erklärte: »Ich wollte nach Torben schauen. Bis seine Mutter wieder gesund ist, hat er doch niemanden. Und ich wusste ja nicht, ob oder wann Sie sich kümmern können, Herr Hansen …«

»Das ist sehr nett von Ihnen, Frau Kramer. Wenn Sie etwas Zeit haben, würde ich Sie gerne auf eine Tasse Kaffee einladen. Es gibt im Erdgeschoss ein gemütliches Café.«

Elfriede Kramer war gleich einverstanden. Die Geschehnisse im Hause Wagner lagen wie Blei auf ihrer Seele, und sie sehnte sich danach, endlich mit jemandem darüber reden zu können. Mark war ein geduldiger Zuhörer. Das meiste wusste er von Lisa, aber er erfuhr auch noch Dinge, über die seine Schwester nicht hatte sprechen können und die ihn zutiefst erschütterten.

Als Frau Kramer ihren Bericht beendet hatte, war die zweite Tasse Kaffee bereits geleert. Der junge Ingenieur schwieg betroffen. Er hatte nicht einmal geahnt, durch welche Hölle Lisa in den vergangenen Monaten gegangen war.

»Herr Behrens, der Anwalt von Herrn Wagner, hat mich angerufen und gebeten, die Beerdigung zu arrangieren. Und er hat mich gefragt, an welchen Kollegen er sich wegen des Nachlasses wenden könne. Ihre Schwester ist ja die Alleinerbin.«

Daran hatte Mark noch nicht gedacht.

»Sie erbt ein großes Vermögen. Ich finde, das ist zumindest ein kleiner Trost, wenn man bedenkt, was sie gelitten hat«, warf die Haushälterin ein. »Hat Ihre Schwester einen Anwalt?«

Mark gab ihr den Namen und die Adresse seines Studienfreundes, denn ihm fiel sonst niemand ein. »Aber ich muss das erst mit Lisa besprechen. Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob sie das Erbe annehmen wird.«

»Sie meinen … Aber das wäre ja töricht! Sie hat es verdient, das arme Kind. Herr Wagner ist ihr sehr viel mehr schuldig geblieben als Geld. Reden Sie ihr zu, sie soll nicht dumm sein!«

Mark lächelte ein wenig, denn die herzensgute Art von Elfriede Kramer rührte ihn. Doch so einfach, wie sie dachte, war dies alles ganz gewiss nicht. Seelische Wunden heilten eben sehr langsam, manchmal nie. Geld konnte dabei kaum helfen.

Nachdem Elfriede Kramer sich verabschiedet hatte, rief Mark Simon Berger an und bereitete ihn auf die Erbangelegenheit vor.

»Ich möchte, dass du Lisa vertrittst. Allerdings kann ich dir noch nicht sagen, ob sie das Erbe überhaupt annehmen wird. Das ist ein schwieriger Fall. Da ist Fingerspitzengefühl gefragt.«

Der junge Anwalt hatte damit kein Problem. »Das kriegen wir schon hin. Soll ich nach München kommen?«

»In ein paar Tagen vielleicht. Ich kann Lisa jetzt noch nicht damit behelligen. Es geht ihr zu schlecht.«

»Dann spreche ich mich fürs Erste nur mit dem Kollegen ab.«

»Gut, ich melde mich wieder bei dir. Und, danke!«

»Keine Ursache. Grüß deine schöne Schwester von mir.«

Mark versprach es, dann wurde es Zeit für ihn, in sein Krankenzimmer zurückzukehren.

Dr. Gruber wartete bereits auf ihn.

»Sie haben mich wohl vermisst«, scherzte er.

»Allerdings. Und ich werde Sie bald noch mehr vermissen, fürchte ich.« Sie seufzte. »Sie sind geheilt, ich kann Sie jederzeit entlassen. Und das muss ich spätestens morgen auch tun, so leid mir das tut.«

Da nahm er ihre Hände in seine und lächelte ihr warm zu. »Das höre ich gern. Ich habe Ihnen gesagt, dass ich schon bald eine Frage stellen werde, die für uns beide wichtig ist. Der Tod meines Schwagers und Lisas Zustand werden mich nun leider vorerst davon abhalten. Es wäre einfach unpassend, in einer solchen Situation einen Heiratsantrag zu machen. Aber ich komme darauf zurück, sobald alles geregelt ist. Versprochen.«

Amelie schaute ihn groß an. »Einen Heiratsantrag?«, wiederholte sie langsam. »Das ist …«

»Eine gute Idee, ich weiß. Und da ich morgen sowieso gehe, möchte ich meine Absicht auch wirklich deutlich machen.« Noch ehe sie ihn etwas fragen oder ihm etwas sagen konnte, verschloss er ihren weichen Mund mit einem langen, zarten Kuss. Und der sagte ihnen beiden mehr, als Worte das konnten, zumindest ihren Herzen. Denn die hatten sich schon lange gefunden.

Als Mark Amelie dann freigab, wollte er behutsam wissen: »Wirst du dir also schon mal ein paar Gedanken darüber machen, ob dir das Leben in Ulm behagen könnte? Rein theoretisch, meine ich. Denn der Antrag kommt ja erst noch …«

Sie lächelte weich. »Du hast gute Argumente, Mark. Ich denke darüber nach, versprochen.«

»Sehr schön. Und als kleine Erinnerung …«

Sie tauschten noch manch verliebten Kuss und manch verspielte Zärtlichkeit an diesem sonnigen und schon angenehm milden Frühlingstag. Und als Mark dann allein war, da malte er sich ein Leben mit Amelie bereits in den allerschönsten Farben aus. Er hatte sein Glück gefunden, daran konnte es für ihn nun keinen Zweifel mehr geben.

*

Lisas Zustand besserte sich langsam, aber nachhaltig. Mark besuchte seine Schwester täglich und brachte auch immer seinen kleinen Neffen mit in die Behnisch-Klinik.

Er hatte noch Urlaub genommen und sich in der Villa Wagner einquartiert. Was für Torben völlig normal war, fühlte sich für ihn sehr seltsam an.

Elfriede Kramer hatte sich bereit erklärt, bis zu Lisas Genesung den Haushalt weiter zu führen. So konnte Torben wieder zur Schule gehen und hatte zumindest ein klein wenig geregelten Alltag zurück.

Eine Woche nach dem Telefonat mit Mark Hansen kam Simon Berger für ein paar Tage nach München. Er hatte einen Termin mit Kai Wagners Anwalt, der auch sein Nachlassverwalter war. Danach traf er sich mit Mark. Zusammen fuhren sie dann in die Behnisch-Klinik, um mit Lisa über ihr Erbe zu sprechen.

Die junge Frau war in der Zwischenzeit in ein normales Krankenzimmer verlegt worden. Ihr Zustand hatte sich weiter verbessert, doch sie musste noch immer ein Korsett tragen, das ihre Rippen stabilisierte, und die meiste Zeit liegen.

Als die beiden jungen Männer auf ihr Krankenzimmer zusteuerten, kam ihnen Dr. Norden entgegen, der gerade nach der Patientin gesehen hatte.

Der Chefarzt der Behnisch-Klinik begrüßte Mark Hansen freundlich und drückte auch dessen Begleiter die Hand, nachdem Mark die beiden miteinander bekannt gemacht hatte. Dann wollte er wissen, wie es seiner Schwester gehe.

»Sie erholt sich allmählich, jedenfalls rein körperlich. Noch maximal zwei Wochen, dann kann sie in die Reha gehen. Was ihre seelischen Wunden angeht, bin ich allerdings nicht ganz so optimistisch. Auch wenn sie sich große Mühe gibt, sich nichts anmerken zu lassen.«

Mark wunderte sich über diese scharfsinnige Bemerkung. Dr. Norden schien ein Mann zu sein, der hinter die Fassade blickte und sich um den ganzen Menschen kümmerte, nicht nur um den fachmedizinischen Fall. Deshalb kam ihm eine Idee.

»Haben Sie kurz Zeit, Herr Doktor? Ich würde gerne etwas mit Ihnen besprechen.«

Dr. Norden hatte nichts dagegen. »Sicher, gehen wir in mein Büro«, schlug er vor.

»Komm bitte auch mit, Simon. Was ich mit Dr. Norden bereden möchte, geht dich ebenfalls an.«

Also folgte der junge Anwalt den beiden unterschiedlichen Männern zum Büro des Klinikchefs.

Katja Baumann, Dr. Nordens Assistentin, brachte frischen Kaffee und schloss dann die Tür hinter sich, damit sie sich in Ruhe unterhalten konnten.

»Meine Schwester war immer ein lebenslustiger und sehr positiver Mensch«, erzählte Mark. »Nach dem Tod ihres ersten Mannes ging es ihr aber lange schlecht. Sie müssen wissen, dass sie und Rolf schon in der Schule ein Paar waren. Und als er nach nur wenigen Monaten Ehe mit dem Motorrad tödlich verunglückte, stand Lisa mit einem Baby allein da. Natürlich habe ich ihr geholfen, die Eltern auch. Aber das ist nicht dasselbe. Irgendwann wollte sie nur noch weg aus Ulm, weil die Erinnerungen ihr so sehr zusetzten. Sie zog mit Torben nach München und nahm eine Stelle als Sekretärin in Kai Wagners Firma an. Ganz allmählich ging es ihr wieder besser. Und die Heirat mit Kai, die schien ein perfektes Glück zu besiegeln. Sie sagte mal zu mir, dass sie sich nie hätte vorstellen können, wieder glücklich zu sein. Kai hatte dieses Wunder vollbracht. Leider war es aber nicht von Dauer. Schon nach kurzer Zeit verwandelte sich Glück in Unglück. Kai Wagner war ein gewalttätiger Mensch, voller Hass und nicht zu kontrollierender Aggressionen. Lisa erfuhr erst später, dass er schon zweimal verheiratet gewesen war. Beide Frauen hatte er krankenhausreif geprügelt und dann hoch abgefunden, damit sie schwiegen. Meine Schwester hat schrecklich gelitten in dieser Ehe. Dass es nun vorbei ist, dass Kai ihr nichts mehr tun kann, macht es nicht besser. Ich glaube, sie ist wirklich am Ende, innerlich ganz zerbrochen.«

Dr. Norden nickte mit betroffener Miene. »Den Eindruck macht sie auch auf mich. Sie versucht, ihre Gefühle zu verbergen, aber das wird ihr auf Dauer nicht gelingen. Irgendwann wird der psychische Zusammenbruch kommen. Deshalb rate ich, vorher eine Therapie zu beginnen. Sobald Ihre Schwester physisch wieder belastbar ist.«

»Ja, das erscheint mir auch sinnvoll. Aber ich wollte auch noch über etwas anderes sprechen. Es geht um Kai Wagners Erbe.« Er warf Simon einen knappen Blick zu, der daraufhin das Wort ergriff und erläuterte: »Ich habe mich mit dem Nachlassverwalter des Verstorbenen in Verbindung gesetzt. Kai Wagner hatte keine weiteren lebenden Verwandten. Deshalb ist Lisa Alleinerbin. Schlägt sie das Erbe aus, was ziemlich wahrscheinlich ist, fällt es an den Staat.« Der junge Anwalt lächelte schmal. »Das wäre keine wirklich befriedigende Lösung. Mark ist deshalb mit einer Idee zu mir gekommen, die mir ziemlich sinnvoll erscheint.« Er reichte Dr. Norden eine Akte. »Wenn Sie sich das mal ansehen wollen, Herr Doktor. Ich nehme an, Sie kennen sich damit aus.«

»Eine Stiftung, die sich um Opfer häuslicher Gewalt kümmert.« Daniel Norden nickte anerkennend. »Das gefällt mir.«

»Leider habe ich keine Ahnung, wie man so etwas aufzieht«, gab der junge Ingenieur zu. »Ich meine, man braucht nicht nur eine Verwaltung, sondern auch einen medizinischen Stab, wirklich gute Psychologen, vertrauenswürdiges Personal. Und da habe ich an diese Klinik hier gedacht. Was sagen Sie dazu? Wären Sie bereit, mit einer solchen Stiftung zusammen zu arbeiten? Natürlich erst mal unverbindlich, ich muss ja noch mit meiner Schwester darüber reden. Aber aus allem, was sie in den vergangenen Tagen gesagt hat, schließe ich, dass sie bestimmt einverstanden sein wird. Ich meine, es ist doch sinnvoller, das Geld für so einen Zweck auszugeben, als es dem Staat zu schenken, oder?«

Dr. Norden schmunzelte. »Ich kann Ihnen nicht widersprechen, Herr Hansen. Und ich würde vorschlagen, Sie besprechen das ausführlich mit Ihrer Schwester. Wenn sie einverstanden ist, lege ich den Vorschlag unserer Klinikverwaltung vor. Leider geht es nicht ohne Bürokratie. Sie können sicher sein, dass ich Ihre Idee unterstützen werde. Ich bin mir ziemlich sicher, dass einer solchen Zusammenarbeit nichts im Wege steht.«

»Wunderbar! Vielen Dank!« Mark Hansen freute sich ehrlich über die positive Reaktion des Klinikchefs, bewies sie doch, dass seine Idee wirklich gut war. Lisas Meinung war jedoch nicht ganz so eindeutig. Sie hatte noch nicht über das Erbe, das ihr nun zustand, nachgedacht. Im ersten Impuls wollte sie nichts damit zu tun haben, denn sie wünschte sich nur eines: Kai Wagner und alles, was mit ihm in Zusammenhang stand, so schnell wie irgend möglich zu vergessen. Aber Marks Vorschlag erschien ihr sinnvoll und mehr als das. Dass Kais Vermögen Menschen helfen sollte, die in der gleichen schrecklichen Lage wie Lisa gewesen waren, entbehrte nicht einer gewissen Ironie. Doch so weit, darüber Schadenfreude zu empfinden, war sie noch längst nicht.

»Ich denke darüber nach«, versprach sie Mark. »Grundsätzlich finde ich die Idee gut und sinnvoll.«

»Dein Bruder ist eben ein heller Kopf«, merkte Simon an.

Lisa lächelte schwach. Sie fühlte sich sehr müde und zu Tode erschöpft. Seit sie wieder bei Bewusstsein war, befand sie sich in einem beängstigenden Zustand. Sie hatte keine wirklichen Empfindungen mehr, war innerlich wie taub. Nichts drang zu ihr vor. Sie reagierte, sie sprach und schien wieder am Leben teilzunehmen, doch das war nur rein äußerlich. Sie funktionierte.

In ihr drin war nur Dunkelheit. Angst. Böse Erinnerungen. Und wenn sie schlief, dann marschierte Kai wie ein dunkler Wächter durch ihre Träume, begleitet von gebellten Drohungen und dem Knallen einer Peitsche. Oft wachte sie nachts zu Tode erschrocken auf, in Schweiß gebadet und mit jagendem Puls. Dann wünschte sie sich, wenigstens weinen zu können. Aber auch das ging nicht mehr. Innerlich war Lisa Wagner gestorben. Und es schien nichts zu geben, was daran noch etwas ändern konnte.

*

Zwei Wochen später begleitete Mark Hansen seine Schwester zu einer Reha-Klinik, wo sie noch eine ganze Weile behandelt werden sollte. In der Zwischenzeit hatte Lisa der Gründung einer Stiftung zugestimmt, Dr. Norden hatte die Klinikverwaltung überzeugt, sich zukünftig dort zu engagieren. Mark hatte Amelie Gruber gebeten, die medizinische Leitung der Stiftung zu übernehmen, womit sie einverstanden war. Nun gab es für den jungen Ingenieur nur noch eines zu tun: Die Frau seines Herzens endlich an sich zu binden. Und es gab nichts, was ihn davon abhalten konnte. Er arrangierte ein romantisches Abendessen bei Kerzenschein und Champagner und steckte Amelie dann einen zauberhaft schönen Verlobungsring an den Finger.

Während das junge Paar einander genug war und sein neues Glück von Herzen genoss, machte sich Simon Berger zunehmend Sorgen um Lisa. Obwohl es ihr rein äußerlich sehr viel besser ging und sie ihr Leben endlich wieder im Griff zu haben schien, stimmte doch etwas nicht, das spürte der sensible junge Mann sehr deutlich.

Erst am Vortag hatte er mit Mark darüber geredet, doch der Freund war momentan mit seinen Gedanken ständig woanders, was ja auch nicht schwer zu verstehen war. Immerhin trug er sich mit Heiratsabsichten.

Simon Berger seufzte. Wie gerne hätte er Lisa seine Gefühle gestanden. Schon so lange hatte er sie gern, doch nie den richtigen Zeitpunkt gefunden, ihr das zu sagen. Zuerst war da Rolf Schubert gewesen, dann hatte Lisa Ulm verlassen. Und später ihre Heirat mit dieser nach außen hin blendenden Partie. Nun war sie wieder allein, zudem brauchte sie einen Menschen, das wusste er. Doch keinen neuen Mann, keine Liebe. Was Lisa so nötig hatte, das war ganz etwas anderes. Und er fragte sich, ob er ihr das geben konnte, geben durfte. Würde sie ihm erlauben, ihr aus der schweren seelischen Krise zu helfen, in die sie das Unglück an Kai Wagners Seite gestürzt hatte?

Lange hatte Simon gezögert. Als er nun noch am späten Abend über Akten in seiner Kanzlei saß, empfand er unvermittelt den Wunsch, zu Lisa zu fahren, mit ihr zu reden. Er fragte sich, ob es nicht schon zu spät war, doch ein innerer Drang hatte von ihm Besitz ergriffen, der sich nicht erklären und auch nicht unterdrücken ließ. Er musste einfach zu ihr, sie sehen.

Ohne lange darüber nachzudenken, setzte der junge Mann sich ins Auto und fuhr zu der Klinik, die gut eine Stunde entfernt war. Als er ankam, herrschte dort schon Nachtruhe. Vermutlich war die Besuchszeit längst vorbei, und man würde ihn nicht mal zu Lisa lassen. Er dachte daran, einfach umzukehren, als er etwas sah. Eine schmale Person in einem schwarzen Mantel, die wie ein Schatten aus dem Gebäude huschte und im dunklen Klinikpark verschwand. Obwohl Simon sie auf diese Entfernung und bei der Dunkelheit nicht erkennen konnte, war er doch überzeugt, dass es sich um Lisa handelte. In seinem Kopf begannen alle Alarmglocken zu schrillen. Da stimmte etwas nicht!

Der junge Anwalt griff ins Handschuhfach, nahm eine Taschenlampe heraus und verließ rasch seinen Wagen. Dann folgte er Lisa, die bereits verschwunden war.

Die Nacht war empfindlich kalt, am klaren, samtdunklen Himmel flimmerten unendlich viele Sterne, der zunehmende Mond schickte sein silbernes Licht zur Erde und schälte die Umrisse der Parkbäume schemenhaft aus der Dunkelheit. Simon folgte dem kiesbestreuten Weg, der zu einem großen Weiher führte. Glatt wie ein Spiegel lag die Wasserfläche vor ihm, spiegelte den Mond und die Sterne und wirkte wie verwunschen. Der junge Anwalt schaute sich suchend um. Wo war Lisa? Hatte er sich getäuscht? War das, was er gesehen hatte, vielleicht nur eine Schwester auf dem Heimweg gewesen? Es war völlig still, kein Geräusch drang an sein Ohr. Niemand war hier. Er musste sich getäuscht haben.

Simon drehte sich um und wollte zu seinem Wagen zurückkehren, als er leise Schritte hörte. Sie waren ganz in seiner Nähe aufgeklungen und dann wieder verstummt. Er lauschte, ließ den Strahl der Taschenlampe wandern. Dann sah er Lisa. Sie saß auf einer Bank am Ufer des Weihers und starrte mit blassem Gesicht auf das Wasser. Reglos saß sie da, fast wie eine Figur.

Der junge Mann steuerte auf sie zu. Die letzten Meter legte er nur zögernd zurück. Lisa schien in tiefe Gedanken versunken. Er wollte sie nicht erschrecken. Vorsichtig leuchtete er in ihre Richtung. Und dann sah er, dass sie etwas in der Hand hielt. Es sah aus wie ein Tablettenröhrchen …

Die junge Frau zuckte erschrocken zusammen, fuhr hoch und ließ das Medikament, das sie festgehalten hatte, fallen.

Simon machte eine beschwichtigende Geste und sagte: »Keine Angst, Lisa, ich bin es. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«

»Simon?« Sie blinzelte ungläubig. »Was tust du mitten in der Nacht hier?«

»Wie gesagt, ich habe mir Sorgen gemacht.« Er bückte sich und hob das Medikament auf, das sich bei näherem Hinsehen als Schlafmittel entpuppte.

Ohne zu zögern ließ er es in seiner Manteltasche verschwinden. Lisa hatte es gar nicht bemerkt.

»Ich wollte nur etwas frische Luft schnappen«, behauptete sie wenig glaubwürdig. »Ich konnte nicht schlafen.«

»Wollen wir ein bisschen spazieren gehen?«

Sie zögerte, ahnte aber, dass sie ihn nicht so schnell wieder los werden würde, deshalb stimmte sie zu. Eine Weile liefen sie durch den Park, schließlich blieb Lisa stehen und stellte klar: »Ich wäre jetzt lieber allein, Simon. Sei mir nicht böse.«

»Und wenn doch?«

»Was … meinst du? Ich verstehe nicht …«

»Komm einmal mit.« Er fasste ihre Hand und zog sie hinter sich her zu seinem Wagen. »Steig ein.«

»Ich wüsste nicht …«

Er deutete auf die Klinik. »Wir können uns auch drinnen unterhalten, wenn dir das lieber ist.«

Widerwillig stieg sie auf den Beifahrersitz. Simon musterte sie aufmerksam. »Was ist los mit dir, Lisa? Warum tust du das, was nötig ist, nicht?«

Sie schwieg sich aus und schaute ihn auch nicht an.

Er seufzte, nahm die Tabletten und drückte sie ihr in die Hand. »Das habe ich damit nicht gemeint.«

Kurz blitzte es böse in ihren Augen auf. »Wie kommst du dazu …«

»Nun hör mir mal zu. Ich bin nicht vom Mond gefallen. Ich weiß, was du durchgemacht hast. Es ist unmöglich, so etwas einfach wegzustecken und weiterzumachen wie bisher. Du hast deine Rippen heilen lassen. Warum gestattest du das deiner Seele nicht? Soll es denn so weitergehen?«

Sie betrachtete die Tabletten und murmelte: »Nein.«

»Aber das ist keine Lösung. Willst du Torben ganz allein lassen? Hat er nicht schon genug gelitten?«

»Und was ist mit mir?«, brach es da aus ihr heraus. Sie starrte ihn an, wütend und verzweifelt. Und dann geschah etwas, womit sie gar nicht mehr gerechnet hatte, sie fing an zu weinen. »Ich ertrage es nicht mehr, jede Nacht diese Träume. Kai ist tot, aber in meinen Träumen lebt er. Er verfolgt mich, alles ist wie immer, nur noch schlimmer. Es wird niemals aufhören, niemals!«, schluchzte sie verzweifelt.

»Doch, das wird es«, widersprach Simon ihr geduldig. »Du musst es nur zulassen.«

»Aber wie? Wie denn?«

»Du brauchst eine Therapie. Dr. Norden hat schon so etwas angedeutet. Mark wollte dich damit nicht belasten, als es dir körperlich noch so schlecht gegangen ist. Aber jetzt musst du selbst es doch spüren. Es geht so nicht. Du brauchst Hilfe!«

»Ich habe Angst.« Lisa wimmerte leise. »Ich habe solche Angst. Ich kann das alles nicht noch einmal durchmachen, das ertrage ich einfach nicht.«

»Es ist der einzige Weg. Nur wenn du ihn gehst, wirst du irgendwann frei sein. Möchtest du denn nicht wieder glücklich sein, dein Leben genießen, Torben eine gute Mutter sein, so wie früher? Es gibt so vieles, für das es sich lohnt zu leben.«

»Oh, Simon, ich wünschte, ich könnte dir glauben. Aber ich schaffe es nicht mehr. Ich habe nur noch Angst. Ich bin nicht die Frau, die du vor dir siehst. Tief in mir, da sitzt ein kleines Häuflein Elend, ausgeliefert, zerfleddert, zerschunden. Und jede Nacht wird dieses Häuflein wieder zerfetzt von Hass und Wut und Gemeinheit. So lange, bis nichts mehr von ihm übrig ist. Ich wünsche mir nur, dass das endlich aufhört.«

»Du warst sehr tapfer, die ganze Zeit. Aber jetzt solltest du deinen Schutzpanzer ablegen, Lisa. Du musst all das Böse, das dir angetan wurde, hinter dir lassen. Lass mich dir dabei helfen. Mark ist auch noch da. Und Torben. Der Kleine hat einen starken Willen. Da sind viele Hände, die dich halten können. Du musst ihnen nur trauen. Willst du es versuchen?«

»Ich kann nicht.«

»Dann soll Kai Wagner am Ende über dich siegen? Willst du das, Lisa? Soll es wirklich so enden?«

Sie schaute ihn aus tränennassen Augen fragend an. »Was kümmert es dich, Simon? Was geht dich das alles an?«

»Ich möchte dir helfen, Lisa. Wenn du mich lässt.«

Sie schwieg eine ganze Weile, schließlich gab sie ihm die Tabletten und bat: »Besuch mich in den nächsten Tagen. Es gibt hier einen Therapeuten, mit dem ich bis jetzt nicht reden wollte. Ich werde wohl doch mal einen Versuch wagen und lege Wert auf deine Meinung.«

Er lächelte ihr jungenhaft zu und versprach: »Ich werde da sein. Soll ich Mark und Torben mitbringen?«

Lisa nickte, dann lächelte sie ebenfalls, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und stieg ohne ein weiteres Wort aus. Simon wartete, bis sie in der Klinik verschwunden war. Er ließ sie ungern gehen, aber er hatte nun keine Angst mehr um sie.

Sein Instinkt sagte ihm, dass er etwas erreicht hatte. Der erste Schritt in die richtige Richtung war getan. Auch wenn noch ein sehr langer Weg vor Lisa lag. Sie würde ihn gehen, sie würde es schaffen. Und Simon würde an ihrer Seite sein.

*

Anfang April verließ Dr. Amelie Gruber die Behnisch-Klinik. Sie ging mit einem weinenden und einem lachenden Auge, denn die Arbeit hier hatte ihr sehr am Herzen gelegen. Es war eben etwas Besonderes, in dieser Klinik tätig zu sein. Kollegen und Pflegepersonal erschienen fast vollzählig zu ihrem Ausstand, Dr. Norden fand lobende Worte für ihre Leistungen und wünschte ihr nur Gutes auf ihrem weiteren Lebensweg.

Amelie verabschiedete sich herzlich von allen Kollegen, nur Dr. Berger war der Feier fern geblieben, denn solche ›Sentimentalitäten‹, wie er das nannte, waren in seinen Augen pure Zeitverschwendung.

Mark holte Amelie ab, dann fuhren sie zusammen zur Villa Wagner, um Torben mitzunehmen und sich von Elfriede Kramer zu verabschieden. Kai Wagners Erbe war abgewickelt, das Vermögen in die Stiftung überführt.

In der Villa würden nun die Angestellten der Stiftungsverwaltung ihre Büros beziehen, der Umbau sollte dieser Tage beginnen.

»Es ist schon ein seltsames Gefühl«, gab die ehemalige Haushälterin zu, als sie mit Mark noch einmal durch alle Räume ging, die nun zum Großteil bereits leer geräumt waren. »Immerhin habe ich viele Jahre hier verbracht.«

»Werden Sie es vermissen?«

Sie schüttelte spontan den Kopf. »Ganz bestimmt nicht. Aber sagen Sie mir, wie es Ihrer Schwester nun geht. Ich habe oft an sie gedacht. Das arme Kind, was hat sie gelitten. Ich hoffe doch, dass sie sich nun von allem erholt hat.«

»Na ja, körperlich geht es Lisa schon wieder recht gut. Aber sie wird noch eine ganze Weile an den seelischen Wunden zu leiden haben, die sie in dieser unseligen Ehe erlitten hat.«

»Ist sie denn deshalb auch in Behandlung? Man hört so viel von solchen Dingen. Aber ich frage mich schon, ob sie auch wirklich helfen können. Wissen Sie, Herr Hansen, früher, da wurde über so etwas nicht geredet. Man verschwieg es einfach.«

»Denken Sie, das war besser?«

»O nein, ganz bestimmt nicht. Ich hoffe jedenfalls von Herzen, dass Lisa wieder ganz gesund wird. An Körper und Seele, meine ich.«

»Ja, das hoffen wir alle«, versicherte der junge Mann ihr.

Wenig später verließen Mark und Torben zum letzten Mal die Villa Wagner. Der Junge war sehr schweigsam, Mark wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Amelie hingegen ahnte, was in Torben vorging.

»Er vermisst seine Mutter«, sagte sie leise zu dem jungen Mann. »Der Umzug wird ihn ein bisschen ablenken.«

Bevor sie nach Ulm fuhren, machten die drei noch einen Abstecher in die Reha-Klinik. Da kam wieder Leben in Torben, er fiel seiner Mutter um den Hals und hing dann wie eine Klette an ihr. Lisa war noch immer blass, viel zu dünn und sah ein wenig so aus, als könnte das leiseste Lüftchen sie umblasen. Doch dem war nicht wirklich so. Sie ging durch eine schwere Zeit, die Therapie, in der sie ihre Ehe mit Kai Wagner aufarbeiten musste, zehrte an ihr. Aber sie machte Fortschritte. Und das spürte sie allmählich auch selbst.

»Ich werde nicht mehr lange hier bleiben müssen«, sagte sie.

Mark war überrascht und wollte etwas einwenden. Ganz bestimmt war es noch zu früh, um die Therapie zu beenden. Aber das hatte seine Schwester auch nicht gemeint.

»Du gehst in die ambulante Behandlung?«, erkundigte Amelie sich, und Lisa nickte.

»Mein Therapeut ist damit einverstanden.« Sie seufzte. »Ich habe, ehrlich gesagt, die Nase voll von Klinikbetten und dem Essen hier. Ich möchte endlich nach Hause.«

»Aber unser Haus gehört jetzt anderen«, warf Torben ein. »Wo werden wir denn wohnen, Mama? Bei Onkel Mark?«

»Fürs Erste, ja. Wir kaufen uns was Eigenes. Aber es muss uns beiden gefallen. Und wir müssen uns wohl fühlen.«

»Auf dem Land. Mit Pferden, Hunden, Katzen und Ziegen!«, rief Torben da energisch. »Das wird toll!«

»Und wer soll sich um die vielen Tiere kümmern, wenn ich im Büro bin und du in der Schule? Wir sind ja nur zu zweit, schon vergessen?«

»Wir halten fest zusammen«, wiederholte der Bub das neue Mantra, das Mutter und Sohn wie ein unsichtbares Band umfing.

»Okay, wir werden uns mal was auf dem Land ansehen. Aber wir lassen uns Zeit.«

Damit war Torben einverstanden. Bevor sie sich verabschiedeten, machte Amelie mit Torben noch einen Spaziergang durch den Park. Mark fragte seine Schwester, wie es ihr ums Herz sei. Nun konnte sie offen sein, musste sich nicht zusammen nehmen. »Es ist schwer, das alles noch einmal zu durchleiden, wenn auch nur im eigenen Kopf«, gab sie bekümmert zu. »Aber ich sehe Land, es hat einen Sinn. Deshalb mache ich weiter. Und ich werde es schaffen.«

»Wunderbar, unsere Stiftung braucht eine Sekretärin.«

Lisa lächelte. »Ich freue mich auf die Arbeit. Es war wirklich die Idee von dir. Ich glaube, es wird mir helfen, all das Schwere nach und nach hinter mir zu lassen. Zu sehen, dass es anderen nicht besser geht, vielleicht noch schlechter. Und helfen zu können, das tut wirklich gut.«

»Du hast es verdient, Lisa.«

»Wann wollt ihr denn heiraten, Amelie und du?«, wechselte sie nun das Thema, denn Lisa wurde es auch allmählich leid, immer nur über sich zu reden.

»Im Mai oder Juni, wir haben noch keinen Termin festgelegt. Es hängt auch ein bisschen an dir.«

»An mir? Ich habe eigentlich nicht vor, noch mal zu heiraten«, scherzte sie trocken.

»Da wird Simon anderer Meinung sein. Oder irre ich mich?«

»Wir sind Freunde, nicht mehr. Das war schon immer so. Wozu werde ich also bei eurer Hochzeit gebraucht?«

»Für alles. Amelie wünscht sich, dass ihr die Vorbereitungen für das Fest zusammen in Angriff nehmt. Bist du einverstanden?«

»Klar, ich helfe gern.«

»Prima, sie wird sich freuen. Übrigens hat sie eine große Verwandtschaft. Es wird also eine Menge zu planen geben …«

»Kein Problem. Und wie sieht es bei dir beruflich aus?«

»Na ja, der Chef war nicht begeistert, als ich ihm eröffnet habe, dass ich keine Auslandsprojekte mehr übernehmen will. Aber er wird sich damit abfinden. Hoffe ich.«

»Klar, er weiß doch, was er an dir hat.«

Mark lachte. »Das wird sich erst noch zeigen. Du kriegst übrigens noch mehr Besuch.«

Lisa bemerkte Simon Berger, der ganz in der Nähe aus seinem Wagen stieg. Er winkte und gesellte sich dann zu ihnen.

»Na, altes Haus. Du schleichst in letzter Zeit verdächtig viel um meine Schwester herum«, scherzte Mark nach einer herzlichen Begrüßung. »Muss ich mir da vielleicht Sorgen machen?«

Der junge Anwalt gab sich locker. »Wir sind nur Freunde.«

»Das höre ich nicht zum ersten Mal …« Mark seufzte. »Wie dem auch sei, wir müssen uns allmählich auf den Weg machen. Wann kommst du hier raus, Lisa?«

»Ende der Woche. Holt ihr mich ab?«

»Versprochen.« Mark drückte seine Schwester. »Halt bis dahin die Ohren steif.«

»Ich werde es versuchen …«

Nachdem Amelie, Mark und Torben abgefahren waren, spazierten Lisa und Simon noch ein wenig durch den Klinikpark. Die Bäume waren bereits grün überhaucht, im taufeuchten Gras blühten die ersten Tulpen. Endlich war Frühling.

»Wie geht es dir?«, fragte Simon nach einer Weile des einvernehmlichen Schweigens. Er hatte Lisa oft besucht seit seiner nächtlichen Stippvisite.

Sie erzählte ihm offen, wie sie sich fühlte, und teilte jeden noch so kleinen Erfolg mit ihm.

»Ganz gut. Ich freue mich auf Ulm.«

»Und ich wette, Ulm freut sich auf dich.«

Lisa lächelte, dann schob sie ihre Rechte vertrauensvoll in Simons Hand. Sie schlenderten am Teich entlang, auf dem nun Enten schwammen, genossen den milden, angenehmen Frühlingstag nach dem langen Wintergrau und fühlten sich beide zufrieden.

Als Simon sich später verabschiedete, freute Lisa sich bereits auf das Wiedersehen. Ganz allmählich begann sie wieder, normal zu empfinden. Und das war für sie wie ein Geschenk des Himmels, bedeutete es doch, es gab endlich Licht am Ende des Tunnels.

Chefarzt Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman

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