Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman - Helen Perkins - Страница 9

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Es war später Nachmittag, als Dr. Daniel Norden die wöchentliche Dienstberatung mit seinen Oberärzten ausklingen ließ. Entspannt sah er in die Runde. Alle leisteten hervorragende Arbeit, und es gab in den Abteilungen keine größeren Probleme. Der Krankenstand war niedrig, die Zufriedenheit der Patienten hoch. Dass sich sogar die Verwaltungsleitung positiv zu den Auslastungszahlen und der wirtschaftlichen Entwicklung der Klinik geäußert hatte, war ebenfalls gut, spielte aber für ihn nur eine untergeordnete Rolle. Daniel Norden war kein engstirniger Ökonom, dem der finanzielle Erfolg mehr bedeutete als ein Menschenleben. Nein, er war das, was die Allgemeinheit unter einem Arzt mit Herz verstand. Das Wohl der Patienten stand für ihn immer an erster Stelle. Dabei vergaß er allerdings nie, dass er auch seinen Mitarbeitern gegenüber Verantwortung trug. Ihre tägliche Leistung verdiente seine Hochachtung, und er achtete darauf, dass sie trotz der harten Arbeit nicht zu kurz kamen. Das war auch der Grund dafür, dass er Dr. Erik Berger, den Leiter der Notfallambulanz, am Ende der Sitzung zurückhielt.

»Herr Berger, würden Sie bitte noch hierbleiben? Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen.«

Der Angesprochene, ein gutaussehender, charismatischer Mann, verzog widerwillig sein Gesicht, nahm aber widerspruchslos Platz. Er ignorierte die bedeutungsschweren Blicke, die sich seine Kollegen zuwarfen, während sie den Raum verließen. Genau wie er meinten auch sie zu wissen, warum der Chefarzt der Behnisch-Klinik noch ein persönliches Gespräch mit ihm wünschte.

Ruhig lehnte sich Erik auf seinem Stuhl zurück. Er kannte dieses Theater bereits. Gleich würde der Chef ihm sagen, wessen Beschwerde diesmal auf seinem Tisch gelandet war. Berger machte sich nicht die Mühe, im Vorfeld zu überlegen, wem er in den letzten Tagen auf den Schlips getreten war. Irgendjemanden gab es immer, der sich über seine schlechten Manieren und seine scharfe Zunge beschwerte. Ihm war das egal. Er würde sich anhören, was der Chef zu sagen hatte, dann seine Meinung dazu kundtun und nach einer Weile etwas Reue zeigen, um anschließend zu seiner Arbeit zurückzukehren.

»Also, wer war es?«, fragte er, als er mit Daniel Norden allein war. »Wer hat sich bei Ihnen beklagt, dass ich nicht nett war?«

Daniel verkniff sich ein Lächeln. Das war so typisch für Berger. Er rüstete sich für den Gegenangriff, auch wenn es diesmal keinen Grund dafür gab. Jedenfalls nicht den, den der Notarzt vermutete. »Niemand hat sich beschwert, Herr Berger. Ich bin selbst überrascht. Die letzte Supervision, zu der ich Sie geschickt habe, scheint tatsächlich Wirkung zu zeigen.«

»Unsinn!«, entfuhr es Berger. Als Daniel Norden die Augenbrauen hochzog, ruderte er schnell zurück. Lammfromm sagte er: »Klar, das mit der Supervision war wirklich eine gute Idee von Ihnen gewesen, Chef. Danach war ich ein völlig anderer Mensch. Also von mir aus können wir das gern wiederholen. Ich habe …«

»Hören Sie auf, Herr Berger. Sie wissen, dass ich Ihnen das nicht abnehme. Sie hassen es, wenn ich Sie dort hinschicke.«

»Und trotzdem tun Sie es immer wieder«, beschwerte sich Erik Berger maulend.

»Natürlich, solange Sie mir immer wieder einen triftigen Grund dafür liefern. Sehen Sie zu, dass Sie mit Ihren Kollegen besser auskommen, dann kann ich mir das sparen. Kommen wir zum eigentlichen Grund Ihres Hierseins.«

Daniel öffnete eine Datei auf dem Computer und drehte den Monitor dann so, dass Berger ihn sehen konnte.

»Das ist der Urlaubsplan Ihrer Abteilung für dieses Jahr. Fällt Ihnen da irgendetwas Besonderes auf?«

»Nein«, sagte Erik lauernd.

»Wirklich nicht?«, fragte Daniel strenger werdend. »Also ich habe gleich gesehen, dass dort Ihr Name mal wieder nicht auftaucht. Alle haben ihren Urlaub eingetragen, nur der leitende Notfallmediziner fehlt. Hat das einen Grund?«

Erik verschränkte seine Arme vor der Brust. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Die ewige Diskussion darüber, ob und wann er seinen Jahresurlaub zu nehmen habe. Eine Aussprache wegen seines schlechten Benehmens wäre ihm da wirklich lieber gewesen.

»Sie wissen ja, wie das so ist, Chef«, begann er umständlich. »Kaum hat man seinen Urlaub fest geplant, passiert etwas Unvorhergesehenes und man muss ihn verschieben. Da kann ich mir die Planung auch schenken und nehme meinen Urlaub einfach dann, wenn es am besten passt. Zum Beispiel, wenn gerade niemand im Urlaub oder krank ist.«

»Das heißt, Sie wollen das so handhaben wie im letzten Jahr und in dem Jahr zuvor?«

»Äh … ja, das halte ich wirklich für sinnvoll. Spricht ja wohl nichts dagegen. Wäre prima, wenn alle Ärzte und Schwestern das so machen würden. Dann gäbe es sicher keinen Personalnotstand.«

»Dafür ausgebrannte Mitarbeiter, die am Ende ihrer Kräfte sind und kein Familienleben haben. Nein, Herr Berger, ich halte Ihre Lösung für denkbar schlecht. Ihr persönliches Engagement in allen Ehren, aber so geht das einfach nicht. Niemandem ist geholfen, wenn Sie hier irgendwann völlig entkräftet zusammenbrechen.«

»Das wird schon nicht passieren«, grummelte Erik genervt. »In den letzten Jahren habe ich höchstens fünf Tage Urlaub am Stück genommen. Das übrigens nur, weil Sie darauf bestanden hatten. Und? Bin ich hier zusammengebrochen? Nein, das bin ich nicht, und das werde ich auch nicht. Diese Diskussion können wir uns schenken!«

»Ich denke, diese Entscheidung sollten Sie mir überlassen! Und nur damit Sie sich schon mal darauf einstellen können: In diesem Jahr wird das anders laufen. Sie werden mir bis Freitag einen überarbeiteten Urlaubsplan einreichen, in dem Sie mit mindestens zwanzig Tagen auftauchen …«

»Zwanzig?«, unterbrach ihn Erik Berger entrüstet. »Das soll wohl ein Witz sein!«

»Sehen Sie mich lachen? Nein, das ist mein vollster Ernst, Herr Berger. Diese zwanzig Tage will ich am Freitag auf dem Plan sehen. Außerdem beurlaube ich Sie hiermit ab nächsten Montag für zwei Wochen, damit Sie wenigstens noch einen kleinen Teil des Vorjahresurlaubs nehmen können.«

Erik Berger verlor jetzt völlig die Fassung. Er sprang auf und tigerte im Raum umher. »Ich kann unmöglich zwei Wochen in den Urlaub gehen! Und das bereits ab nächstem Montag! Wie soll das funktionieren? Es wird alles drunter und drüber gehen, wenn ich nicht da bin! Sie können unmöglich die Notaufnahme sich selbst überlassen! Denken Sie denn gar nicht an die Patienten?«

»Selbstverständlich denke ich an sie«, warf Daniel ungerührt in eine Atempause Bergers ein. »Sie verdienen es nämlich, von einem ausgeruhten und erholten Mediziner behandelt zu werden. Wenn Sie nicht auf Ihre Gesundheit achtgeben, wird das für Sie irgendwann schwerwiegende Konsequenzen haben; ob Sie das nun einsehen wollen oder nicht. Da Sie zu unvernünftig sind, die Reißleine zu ziehen, werde ich das für Sie machen müssen. Ich trage hier nämlich nicht nur die Verantwortung für die Patienten, sondern auch für die Mitarbeiter.« Daniel stand auch auf. »Ab Montag sind Sie im Urlaub, Herr Berger. Mit Frau Rohde habe ich bereits gesprochen, Sie wird solange Ihre Aufgaben übernehmen. Freitagnachmittag übergeben Sie ihr alles.«

Sekundenlang standen sich die beiden Männer gegenüber und starrten sich schweigend an. Daniel konnte sehen, wie es in Bergers Gesicht arbeitete. Seine Züge verhärteten sich, die Kiefernmuskeln spannten sich an. Unterdrückte Wut blitzte in den Augen auf und noch etwas anderes: Schmerz, Trauer und … Verzweiflung? Was war nur los mit ihm? Warum war die Vorstellung, ein paar Tage auszuspannen, so furchteinflößend?

Daniel wünschte sich, mehr über diesen Mann in seinem Büro zu wissen. Doch Berger war verschlossen wie eine Auster, wenn es um persönliche Dinge oder um seine Gefühlslage ging. Er würde nie etwas von sich preisgeben. Daniel bedauerte das. Obwohl Erik Berger alles andere als ein freundlicher Mensch war, mochte er ihn. Er schätzte ihn für die gute Arbeit, die er leistete, und für seine schonungslose Ehrlichkeit –, auch wenn er es damit oft übertrieb und sich häufig im Ton vergriff.

»Eine Woche«, machte der Leiter der Notaufnahme ein Angebot. »Ich gehe für eine Woche in den Urlaub.«

Daniel überlegte. Sollte er auf Berger sauer sein, weil er sich nicht widerspruchslos in seine Anweisung fügte? Ober einfach nur froh darüber, dass er überhaupt bereit war, frei zu machen? Durch jahrelange Erfahrungen in seiner Position als Chefarzt wusste er, dass das Eingehen von Kompromissen keine Niederlage bedeuten musste. Manchmal führten nur Zugeständnisse zum Erfolg.

»Einverstanden«, entschied er deshalb. »Eine Woche. Und Sie haben die Wochenenden davor und danach keinen Dienst, also insgesamt neun Tage frei. Darüber werde ich nicht mit Ihnen verhandeln. Entweder das oder volle zwei Wochen. Ihre Wahl!«

Berger presste die Lippen so fest zusammen, dass sein Mund nur noch ein schmaler Strich war. Vielleicht gelang es ihm nur so, nicht zu widersprechen. Wie schwer ihm das fiel, konnte Daniel nur erahnen. Berger brummte schließlich leise ein Zeichen seiner Zustimmung und schickte sich dann an, das Büro zu verlassen.

»Ach, übrigens«, hielt Daniel ihn auf. »Denken Sie bitte daran, den Urlaubsplan zu überarbeiten. Bis Sie am Freitag Ihren Urlaub antreten, muss er fertig sein.«

Berger schnaufte auf und stürmte dann aus dem Büro.

Im Vorzimmer des Chefarztes saß Katja Baumann, Daniels Assistentin, an ihrem Schreibtisch. Sie sah sofort, wie es um die Stimmung des Notfallmediziners bestellt war. Es gab nur wenige Menschen, die wussten, dass Erik Berger einen weichen, verletzlichen Kern besaß und sein sprödes Wesen davon ablenken sollte. Katja gehörte dazu. Sie wusste von seiner inneren Zerrissenheit und seinem großen Kummer, der ihn so heftig quälte, dass kein Raum für Glück und Frohsinn blieb.

Als Berger wütend an ihr vorbeistampfte, schenkte sie ihm deshalb trotz seines grimmigen Gesichtsausdrucks ein aufmunterndes, sanftes Lächeln. »Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Dr. Berger.«

Diesmal hatte sie damit keinen Erfolg bei ihm. Seine ohnehin schon düstere Miene verfinsterte sich noch mehr. »Halten Sie bloß den Mund!«, blaffte er sie aufgebracht an. Er stürzte hinaus und schmiss die Tür so heftig hinter sich zu, dass die Fensterscheiben leise vibrierten.

Katja sah ihm mit offenem Mund nach, dann sprang sie auf und flitzte in das Büro ihres Chefs. »Was haben Sie mit ihm gemacht?«, fragte sie atemlos.

Daniel seufzte. »Ich habe ihn in den Urlaub geschickt.«

»Ach nein!«, rief Katja entsetzt aus. »Wie konnten Sie ihm das nur antun?«

*

Am Freitagnachmittag verließ Dr. Christina Rohde unter den mitleidigen Blicken der Schwestern und Pfleger die chirurgische Station, um in die Aufnahme zu gehen. Dr. Erik Berger erwartete sie. In der nächsten Stunde würde er ihr seinen Bereich übergeben und seinen Urlaub antreten. Alle wussten, dass er dies nicht freiwillig tat. Und alle waren sich sicher, dass es einer Bestrafung gleichkam, ihn vertreten zu müssen.

Niemand ahnte, dass Christina Rohde das nicht so sah. Sie freute sich sogar darauf. Als sie vor einigen Jahren die Facharztausbildung an ihrer alten Klinik in Dresden gemacht hatte, musste sie auch für ein längeres Praktikum in die Notaufnahme. Die anspruchsvolle und abwechslungsreiche Arbeit dort hatte ihr gefallen. Sie war etwas Besonderes gewesen und hatte mit den üblichen Abläufen einer Station nichts gemein. Hier traf sich alles: vom Säugling bis zum Greis; leichte und schwere Krankheitsfälle oder echte Ausnahmesituationen. Nicht selten ging es dabei um Leben und Tod. Da blieb nicht viel Zeit zum Nachdenken und langem Abwägen.

Blitzschnell mussten Entscheidungen getroffen werden, die über ein Menschenschicksal bestimmen konnten.

Früher hatte sich Christina vorstellen können, ihr berufliches Leben ausschließlich der Notfallmedizin zu widmen. Sie hatte sogar eine zusätzliche Weiterbildung zum Notfallmediziner absolviert. Davon wussten nur wenige, nahestehende Menschen. Dr. Norden, ihrem Chef, war das natürlich auch bekannt. Das war auch der Grund, warum er sie als Vertretung für Dr. Berger ausgewählt hatte. Christina seufzte leise auf. Der unausstehliche Leiter der Notaufnahme war der einzige Wermutstropfen bei der Sache. Mit einem unguten Gefühl dachte sie an die bevorstehende Übergabe. Doch dann straffte sie die Schultern, strich ihr dunkles Haar zurück und betrat mit einer Mischung aus Vorfreude und erwartungsvoller Anspannung die Aufnahme der Behnisch-Klinik. Sie würde diese Stunde mit Berger schon überstehen. Und danach würde sie die Arbeit hier so richtig genießen.

Nur ein Blick in das missmutige Gesicht von Erik Berger, der sie bereits an seinem Schreibtisch erwartete, versetzte ihrer guten Laune einen spürbaren Dämpfer.

»Na endlich!«, schnauzte er die junge Ärztin an. Demonstrativ sah er auf die Uhr. »Wir hatten drei Uhr abgemacht und nicht zehn nach drei!«

Christina zog den Kopf ein. Eine dumme Angewohnheit, die sie manchmal überkam, wenn der Ton etwas rauer wurde. Doch sie hatte sich schnell wieder im Griff. Niemals würde sie diesem arroganten und ungehobeltem Kollegen zeigen, wie sehr sie sein rüdes Benehmen erschrecken konnte. Sie stellte sich aufrechter hin und sah ihn unerschrocken an.

»Irrtum, Herr Berger. Es war abgemacht gewesen, dass ich gegen drei vorbeikomme. Gegen drei, nicht um drei! Sie wissen, dass ich bis zum Schluss im OP zu tun hatte.«

»Na und? Was stört’s mich? Mich fragt ja auch keiner, was ich von diesem Schwachsinn halte. Und nun kommen Sie schon her! Sie können es bestimmt nicht abwarten, mich loszuwerden, um hier das Zepter schwingen zu dürfen!«

Nun war Christina richtig sauer. Warum griff Berger sie so an? Was hatte sie denn Schlimmes getan? Es wurde Zeit, ihm mal ordentlich die Meinung zu sagen.

»Und schon wieder irren Sie sich, Herr Berger«, erwiderte sie frostig. »Ich bin nicht freiwillig hier gelandet, sondern wurde dazu verdonnert. Nur zu Ihrer Information: Niemand ist scharf darauf, die Vertretung für Sie zu übernehmen. Und das liegt nur an Ihren unmöglichen Umgangsformen und Ihrer schlechten Laune.«

Berger kniff die Augen zusammen und fixierte sie mit einem Blick, der schon so manchem Assistenzarzt das Fürchten gelehrt hatte. »Wollen Sie etwa sagen, dass ich launisch wäre und unter Stimmungsschwankungen leide?«, knurrte er gefährlich leise. Sein Versuch, die adrette Brünette damit einzuschüchtern, schlug allerdings fehl.

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Christina nur genervt. »Ihre Stimmung schwankt nicht. Die ist immer gleichbleibend mies. Und nun wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mit dem Gezanke aufhören würden. Übergeben Sie mir die Aufnahme, und dann verabschieden Sie sich in den Urlaub.«

Erik schnappte kurz nach Luft, mit einer heftigen Erwiderung auf den Lippen. Christina rechnete schon damit, dass sich dieser unliebsame Disput endlos fortsetzen würde. Aber zu ihrer großen Überraschung begann Berger plötzlich mit der Übergabe. Dabei war nicht zu übersehen, wie schwer es ihm fiel, das Ruder aus der Hand zu geben. Trotzdem tat er sein Bestes, wie Christina zugeben musste. Er achtete darauf, dass seine Erklärungen verständlich waren, und beantwortete ihre Nachfragen mit einer Geduld, die sie ihm nie zugetraut hätte. Sie wusste, dass er nicht unvermittelt zu einem Menschenfreund geworden war.

Vielmehr lag ihm das Schicksal der Aufnahme, ihrer Mitarbeiter und vor allem der Patienten am Herzen. Wenn er schon gehen musste, sollten sie nicht darunter zu leiden haben.

Sie waren soeben am Ende angelangt, als Schwester Anna hereinschaute. »Darf ich kurz stören? Ein Zugang in der Drei, Dr. …«

»Was liegt an?«, fragte Berger und sprang auf.

»Äh … ich … also, eigentlich meinte ich Frau Dr. Rohde«, wand sich Anna verlegen. Ihr Blick wanderte zwischen den beiden Ärzten hin und her. »Sind Sie denn nicht bereits im Urlaub, Dr. Berger?«

»Sehe ich aus, als wäre ich das?«, ätzte Erik.

»Kein Grund, sich so aufzuregen, Herr Berger«, mischte sich Christina schnell ein. Die freundliche Schwester hatte diesen hässlichen Umgangston nicht verdient. Aufmunternd lächelte sie ihr zu: »Also, Schwester Anna, um was geht es denn?«

»Wir haben einen Neuzugang. Ein alter Bekannter, Herr Lehmkuhl, den wohl wieder ein Nierenstein zu schaffen macht.«

»Den übernehme ich«, entschied Berger.

»Nein!«, rief Christina verärgert aus. »Herr Lehmkuhl ist mein Patient! Es war abgemacht, dass Sie nach der Übergabe in den Urlaub verschwinden und ich hier weitermache.«

»Was für ein Nonsens! Niemand kennt den Patienten so gut wie ich. Ich werde nicht zulassen, dass Sie an ihm rumdoktern, ohne zu wissen, was Sie da tun. Ich behandle ihn, und danach gehe ich in den Urlaub! Wenn Ihnen das nicht passt, rennen Sie doch zu Norden und klagen sich aus!«

Fassungslos sah Christina zu, wie Erik Berger an ihr vorbeirauschte und schnurstracks zu ihrem Patienten lief. Fast wäre sie ihm hinterhergelaufen. Glücklicherweise siegte ihre Vernunft, und sie verzichtete auf eine erneute Konfrontation mit ihrem unliebsamen Kollegen.

»Tut mir leid, Frau Doktor«, meinte Anna betreten. »Vielleicht hätte ich warten sollen, bis er weg ist.«

Christina schluckte den kläglichen Rest ihres Ärgers runter. »Sie haben nichts falsch gemacht, Schwester Anna. Der Patient hat sicher furchtbare Schmerzen und braucht schnellstmögliche Hilfe. Und um ehrlich zu sein ist er bei einem Arzt, der ihn gut kennt, wirklich am besten aufgehoben. Gönnen wir Dr. Berger diesen kleinen Triumph und dem Patienten die gute Behandlung. In der Zwischenzeit kann ich mich um die anderen Patienten kümmern. Es gibt sicherlich nicht nur Herrn Lehmkuhl, der behandelt werden muss.«

Anna nickte. »Ja, in der Zwei wartet ein Hobbyfußballer mit Kniebeschwerden. Und Dr. Ganschow versorgt bereits die leichteren Fälle. Er ist gerad’ bei einem Achtjährigem, der vom Rad gefallen ist und Schmerzen in der rechten Hand hat.« Dr. Ganschow war einer der beiden Assistenzärzte, die derzeit der Aufnahme zugeteilt waren. »Er hat schon mal angefangen, weil er nicht bei der Übergabe stören wollte«, erklärte Anna.

»So wie es aussieht, ist die Übergabe vorbei, und ich bin bereit, Gutes zu tun«, erwiderte Christina lächelnd.

Anna lachte leise. »Den Fußballer in der Zwei wird’s freuen. Genauso wie die anderen Patienten im Warteraum.«

Christina sprang voller Eifer auf und strich beim Hinausgehen ihren weißen Kittel glatt. Den kleinen Streit mit ihrem ewig grummelnden Kollegen hatte sie längst vergessen. Sie liebte ihre Arbeit und ging in ihr auf. Da blieb kein Platz für unliebsame Gedanken. Erst Stunden später, als in der Notaufnahme der Behnisch-Klinik Ruhe einzog und sie sich auf die Suche nach einem starken Kaffee machte, dachte sie wieder an Erik Berger.

»Ist er weg?«, fragte sie Schwester Anna, die im Pausenraum an der Kaffeemaschine hantierte.

Anna nickte. Auch wenn die Chirurgin keinen Namen genannt hatte, wusste sie, von wem die Rede war. »Ja, nachdem er Herrn Lehmkuhl persönlich in der Urologie abgeliefert hatte, ist er gegangen.« Sie verzog das Gesicht. »Ich musste ihm allerdings erst versprechen, gut auf ›seinen Laden‹ aufzupassen.«

Christina lachte. »Es muss wirklich schrecklich für ihn sein, die Aufnahme allein zu lassen.«

»Ja, das ist es. Ich bin schon sehr gespannt, wie lange er es ohne seine Arbeit aushalten wird.«

Christina bedankte sich für den Kaffee, den ihr Anna reichte, und fragte dann irritiert nach: »Was meinen Sie damit? Er hat in der gesamten nächsten Woche Urlaub.«

Als Anna nur ihren Mund zu einem gequälten Lächeln verzog, ahnte sie Böses. »Wollen Sie etwa andeuten, dass er hier ständig aufkreuzen wird?«

»Ja, tut mir leid. Ich hatte angenommen, Sie wüssten das. Im vergangenen Jahr war das auch schon so gewesen.«

»Ich habe erst im letzten Sommer an der Behnisch-Klinik angefangen.«

»Ach ja … richtig.« Anna druckste ein wenig herum, bevor sie berichtete: »Der Chef hatte ihn mal wieder gezwungen, Urlaub zu machen. Dr. Körner hat dann die Vertretung übernommen.«

»Dr. Körner?«, fragte Christina verwundert nach. »Wer ist Dr. Körner?«

»Er hat hier als Chirurg gearbeitet, genau wie Sie. Leider hat er gekündigt, nachdem …« Anna biss sich auf die Zunge, um nicht weiterzusprechen.

»Bitte sagen Sie nicht, dass er gekündigt hat, nachdem er die Vertretung für Berger machen musste.«

»Offiziell nicht. Da hieß es, er brauche eine Luftveränderung und würde an eine Rehaklinik an die Ostsee wechseln. Aber inoffiziell … Es war schon merkwürdig, dass er seine Kündigung direkt nach der Vertretungszeit abgegeben hatte. Da gab es natürlich wilde Spekulationen und eine große Aufregung. Dr. Norden hatte noch versucht, Herrn Körner diese Kündigung auszureden, aber sein Entschluss stand fest. Kurz darauf packte Körner seine Sachen und kehrte München den Rücken.«

Christina war skeptisch. »Das ist schon ein großer Schritt, nicht nur die Klinik zu verlassen, sondern gleich das Bundesland. Es fällt mir irgendwie schwer zu glauben, dass das allein an Dr. Berger gelegen haben könnte.«

»Wenn Sie diese Woche mitgemacht hätten, würden Sie nicht zweifeln«, bekräftigte Anna ihre Worte. »Es war die reinste Hölle! Obwohl Herr Berger im Urlaub war, kreuzte er hier ständig auf. Oft blieb er den ganzen Tag und hat ­einfach mitgearbeitet. Und das Schlimmste: Alle Fälle, die Dr. Körner behandelt hatte, wurden von ihm überprüft. Natürlich hatte er immer etwas auszusetzen gehabt. Die beiden haben sich hier endlos lange und lautstarke Wortgefechte geliefert.«

»Und Dr. Norden ist nicht eingeschritten?«, fragte Christina erstaunt.

»Dr. Norden hatte keine Ahnung gehabt. Die erste Hälfte der Woche war er in Stuttgart auf einem Kongress. Von dem Ärger hier hat er gar nichts mitbekommen. Und danach …« Anna zuckte hilflos die Schultern. »Niemand hat ihm davon berichtet. Alle haben dazu geschwiegen. Glauben Sie mir, darauf bin ich nicht besonders stolz. Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, wenn ich zu Dr. Norden gegangen wäre. Aber bis zum Schluss hatte ich angenommen, dass die beiden das allein hinbekommen würden. Immerhin sind sie erwachsene Männer und keine ungezogenen Buben …«

»Erwachsene Männer? Sind Sie sich da völlig sicher?« Christina verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Machen Sie sich bitte keine Vorwürfe, Anna. Es war nicht Ihre Aufgabe, zwischen den Streithähnen zu vermitteln. Dr. Körner hätte den Chef um Hilfe bitten ­müssen. Ich würde es jedenfalls so machen. Solche Machtspiele liegen mir nämlich nicht. Sollte Herr Berger in der nächsten Woche die gleiche Masche auch bei mir abziehen, wird er sehr überrascht sein, wie schnell er sich im Büro des Chefarztes wiederfindet.«

*

In den nächsten Stunden blieb Christina kaum Zeit, an Dr. Berger zurückzudenken. Sie hatte so viel zu tun, dass sie kaum zum Luftholen kam. Als sie sich am Morgen in das Wochenende verabschieden konnte, freute sie sich auf zwei ruhige, erholsame Tage, die sie zum größten Teil mit einem guten Buch auf der Couch verbringen wollte.

Ausgeruht und in bester Stimmung kehrte sie am frühen Montagmorgen an ihren neuen Arbeitsplatz zurück. Ihre gute Laune verflog jedoch, als sie sah, wer sie dort bereits erwartete. Dr. Erik Berger saß an seinem Computer und studierte sorgsam die Aufzeichnungen der letzten Tage.

»Haben Sie nicht Urlaub?«, fragte sie eisig, statt einer Begrüßung.

»Ja, und?«, gab Berger genauso frostig zurück. »Was ich in meinem Urlaub mache, sollte Ihnen egal sein.«

»Solange Sie mir nicht in die Quere kommen und dabei meine Arbeit behindern, tut es das auch.«

Christina blieb unschlüssig im Raum stehen. So wie es aussah, war ihr Arbeitsplatz besetzt. Was sollte sie machen? Ihn wegscheuchen? So mutig war sie leider nicht. In einer Ecke neben der Tür gab es einen kleinen Tisch, der als Ablagefläche für alte Akten genutzt wurde. Dort stellte sie ihre Tasche ab und verließ dann das Büro. Draußen atmete sie tief durch und entschied, kein Drama aus Bergers Anwesenheit zu machen. Es kam gar nicht selten vor, dass sich Kollegen auch während ihrer freien Tage in der Klinik blicken ließen, um Sachen aufzuarbeiten. Wahrscheinlich war er bald wieder verschwunden. Kurz dachte sie daran, was ihr Anna von Dr. Körner erzählt hatte. Eine kleine, mahnende Stimme meldete sich in ihr zu Wort, die sie jedoch schnell fortjagte. Auf sie wartete eine volle Notaufnahme. Ihre Aufmerksamkeit musste den Patienten gelten und nicht Dr. Erik Berger.

Bald war Christina so in ihre Arbeit vertieft, dass sie ihn vergaß. Während sie sich um verrenkte Gliedmaßen, entzündete Wunden, einen Jungen mit Bauchschmerzen, vereiterte Mandeln und einen Schlaganfallpatienten kümmerte, verschwendete sie keinen Gedanken mehr an Erik Berger. Jeder einzelne Patient war wichtiger als er. So, wie die Frau vor ihr auf der Untersuchungsliege, die akute Kreislaufprobleme hergeführt hatten. Christina sah auf das aufgezeichnete EKG. Es war völlig unauffällig und passte zu den anderen Befunden, die ihr inzwischen vorlagen. Als sie das mit Irene Kreft besprach, öffnete sich hinter ihr die Tür des Behandlungszimmers. In der Annahme, dass eine der Schwestern hereingekommen war, redete sie ruhig weiter:

»Ich kann Entwarnung geben, Frau Kreft. Es war kein Infarkt. Ihr EKG sieht gut aus, und die Blutwerte liegen im Normbereich. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass Ihnen Ihr Herz ernsthafte Probleme bereitet. Um ganz sicher zu sein, werden wir in einigen Stunden noch einmal Blut abnehmen und kontrollieren, ob es Veränderungen bei den Herzenzymen gibt.«

»Herzenzyme?«, wagte Irene Kreft, schüchtern nachzufragen. Die junge, nette Ärztin war nicht so wie andere, denen sie in ihrem Leben begegnet war. Meistens verstand Irene nur einen Bruchteil von dem, was die Ärzte von sich gaben. Schweigend nahm sie das dann hin, wusste sie doch, dass der Ärzteschaft die Zeit und die Geduld fehlten, um Laien wie ihr alles bis ins kleinste Detail zu erklären. Bei der freundlichen Frau Dr. Rohde war das ganz anders.

»Enzyme sind bestimmte organische Verbindungen im Blut«, erklärte Christina. »Einige von ihnen können Schäden am Herzmuskel, wie sie nach einem Infarkt auftreten, sicher anzeigen. Allerdings kann es bis zu acht Stunden dauern, bis die Werte ansteigen. Deshalb werden wir später noch einmal Blut abnehmen. Bis dahin bleiben Sie hier unter Beobachtung. Sollten die Enzyme bei der zweiten Messung auch im Normbereich liegen, können Sie wieder nach Hause gehen. Die Weiterbehandlung kann dann von Ihrem Hausarzt oder einem Kardiologen übernommen werden.«

Christina sah, wie glücklich ihre Patientin bei diesen Worten war. Sicher hatte sie sich schon das Schlimmste ausgemalt und war froh über die Aussicht, bald wieder daheim zu sein.

»Oder wir nehmen Sie hier erst mal stationär zu einer umfassenden Diagnostik auf«, ertönte es hinter Christina. Sie drehte sich um und sah Dr. Berger mit verschränktem Armen im Türrahmen stehen.

Berger tat, als wäre Christina gar nicht da. »Bis Sie einen Termin beim Kardiologen haben, können Wochen vergehen. Wenn Sie hierbleiben, hätten wir schon in wenigen Tagen alle Befunde zusammen.«

»Meinen Sie?«, fragte die Patientin verunsichert nach. »Ich wäre ja lieber zu Hause als hier …«

»Es spricht überhaupt nichts dagegen, dass sie heimgehen, sofern auch die zweite Blutentnahme ohne Befund ist«, schaltete sich Christina schnell ein. »Wenn ich der Meinung wäre, dass Ihre stationäre Aufnahme unerlässlich sei, würde ich Sie nicht so einfach gehen lassen. Es kann auch ambulant nach der Ursache Ihrer kleinen Unpässlichkeit gesucht werden.«

»Ja, aber Ihr Kollege meinte eben­ …«

»Mein Kollege kennt sicher noch nicht Ihre aktuellen Befunde, Frau Kreft«, versuchte sie, Bergers Einmischung diplomatisch zu erklären. Dabei warf sie ihm einen bitterbösen Blick zu und verhinderte so, dass er ihr widersprach. »Ich werde mich natürlich mit ihm besprechen und ihn über alle wichtigen Punkte aufklären.« Christina schaffte es, ihrer Patientin ein strahlendes Lächeln zu schenken, bevor sie sich auf den verdutzten Berger stürzte und ihn am Arm mit sich fortzog.

»Was fällt Ihnen ein, sich in mein Patientengespräch zu mischen?«, zischte sie ihm auf dem Flur aufgebracht zu.

Berger schüttelte Christinas Hand ab, mit der sie ihn immer noch festhielt. »Wenn Ihnen offensichtliche Fehler unterlaufen, ist es meine Pflicht einzuschreiten«, knurrte er sie an.

»Fehler? Mir ist kein Fehler unterlaufen! Das ist die übliche Vorgehensweise in diesem Fall!«

»Ach ja? Wären Sie davon immer noch überzeugt, wenn Ihre Patientin an einen Infarkt stirbt, während sie endlos lange auf einen Termin beim Kardiologen warten muss?«

»Es gibt überhaupt keinen Hinweis darauf, dass das passieren könnte! Alle Befunde waren in Ordnung! Bei dieser Ausgangslage kann ich sie unmöglich stationär aufnehmen. Unsere wenigen freien Betten sollten die Menschen bekommen, die sie wirklich brauchen.« Christina funkelte ihn wütend an. »Und dass Sie meine Entscheidung vor der Patientin angezweifelt haben, war taktlos und äußerst unkollegial!«

Berger lachte höhnisch auf. »In Ihren Augen zählt Kollegialität und gutes Benehmen also mehr als die Gesundheit und das Überleben Ihrer Patientin?«

»Hören Sie gefälligst auf, mir jedes Wort im Munde umzudrehen! Sehen Sie zu, dass Sie nach Hause kommen! Wenn Sie sich weiterhin in meine Arbeit einmischen, werde ich mich bei Dr. Norden über Sie beschweren!«

»So eine sind Sie also? Sobald Probleme auftauchen, rennen Sie zum Chef?«

Christina nickte tapfer. »Ja, wenn mich dieses Problem bei meiner Arbeit behindert, werde ich das machen. Ich bin mir nicht zu fein, den Chef um Hilfe zu bitten. Außerdem ist es ja wohl seine Aufgabe, Sie an der kurzen Leine zu halten, wenn Sie hier mal wieder durchdrehen.«

Bevor Berger ihr darauf antworten konnte, hatte sich Christina umgedreht und war im nächsten Behandlungsraum verschwunden, in dem ein neuer Patient auf sie wartete. Schwester Inga, die die Auseinandersetzung auf dem Flur mitbekommen hatte, folgte ihr.

»Gut gemacht, Frau Doktor!«, meinte sie grinsend zu ihr.

»Danke«, gab Christina leise zurück. Dann griff sie nach der Patientenakte, die Inga in ihren Händen hielt. Sie wollte diesen dummen Streit mit Berger vergessen und sich dem widmen, was ihr am meisten Spaß machte: kranken Menschen helfen.

Der Rest des Tages verlief ruhig. Erik Berger bekam sie nicht mehr zu Gesicht. Er hielt sich nur in seinem Büro auf, um weiter Patien­tenakten zu studieren, und verschwand schließlich nach Hause. Christina hoffte nur, dass er dort bleiben würde, bis sein Urlaub vorbei war. Doch so recht dran glauben konnte sie nicht.

*

Dr. Fred Steinbach rutschte auf dem Beifahrersitz nach vorn und sah angestrengt die Häuserreihe entlang. Hier musste irgendwo ihr Ziel sein. Normalerweise fuhr er nicht im Rettungswagen mit. Es war üblich, dass die Rettungssanitäter allein zum Einsatzort fuhren und den Notarzt nur bei Bedarf anforderten. Falls er nicht ohnehin schon auf dem Weg war, weil die Lage von vornherein als lebensbedrohlich eingeschätzt worden war. Doch manchmal gab es auch Ausnahmen. Dann war Dr. Steinbach als ständiger Begleiter eines Sanitäters mit von der Partie.

»Dort ist es!«, rief er jetzt und zeigte auf den klobigen Häuserblock zu seiner rechten Seite. »Nummer 32!«

Er wartete, bis der Rettungsassistent Jens Wiener den Krankenwagen am Bürgersteig zum Stehen gebracht hatte, sprang dann hinaus und schnappte sich die große Umhängetasche. Jens griff an ihm vorbei nach dem Rucksack, schnallte ihn auf seinen Rücken und nahm noch zwei weitere Taschen heraus.

»Meinst du wirklich, dass wir das alles brauchen werden?«, fragte Fred Steinbach verwundert. »Es ist nur ein Badezimmersturz, und der Patient ist bei Bewusstsein.«

»Ja, aber laut Leitstelle müssen wir rauf in die vierte Etage. Ich habe keine Lust, die Treppen mehrfach hoch- und runterzulaufen, nur weil etwas Wichtiges im Auto geblieben ist. Ich wette, dass es hier keinen Fahrstuhl gibt.«

Fred Steinbach musste seinem jungen Kollegen recht geben. Nichts war schlimmer, als dringend benötigte Ausrüstung, die im Wagen lag. Wertvolle Minuten konnten so verloren gehen.

Schwer bepackt liefen sie die Treppen hinauf. Während es am Anfang noch recht flott voranging, ließ das Tempo bei dem sechzigjährigen Steinbach schnell nach. In der dritten Etage machte er eine kurze Pause und schnaufte: »Ich glaube, langsam werde ich zu alt für diesen Job. Diese Treppen bringen mich noch mal um.«

Jens Wiener, der nur halb so alt war und regelmäßig ins Fitnessstudio ging, klopfte ihm grinsend auf die Schulter und nahm ihm dann die große Tasche ab. Er hängte sie sich um und setzte den Aufstieg fort, als würde ihm die schwere Last nichts ausmachen.

»Mach langsam, Fred. Ich geh schon mal vor und …« Er brach ab und sah erstaunt an dem Arzt vorbei auf die beiden Männer von der Berufsfeuerwehr, die im Laufschritt die Treppe hinaufgestürmt kamen. »Was macht ihr denn hier? Habt ihr auch einen Einsatz?«

»Klar, Jens, denselben wie ihr«, erwiderte Markus Never, den die beiden Männer vom Rettungswagen gut kannten. »Hat die Leitstelle nichts gesagt? Euer Patient liegt im Bad und kann seine Wohnungstür nicht aufmachen.« Er deutete auf das Werkzeug in seinen Händen. »Wir sollen die Türöffnung übernehmen.« Und schon sprinteten sie weiter, gleich zwei Stufen auf einmal nehmend.

»O Mann«, stöhnte Fred Steinbach. »Wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre, hätte ich die beiden sicher nicht an mir vorüberziehen lassen.«

Jens schmunzelte nur.

Als sie oben ankamen, hatten ihre Kollegen von der Feuerwehr gerade die Wohnungstür geöffnet. Ihnen schallte schon ein lautes Rufen entgegen: »Hier! Ich bin hier im Bad!«

Dr. Steinbach und sein Rettungsassistent eilten zu dem hochbetagten Mann. Ihre Untersuchung zeigte, dass der Sturz nicht folgenlos geblieben war.

»Tut mir leid, Herr Waber, so wie’s ausschaut, ist der Oberschenkel gebrochen«, erklärte der Arzt dem verletzten Herrn, der mit schmerzverzerrtem Gesicht vor ihm auf den Fliesen lag.

»Das hab ich mir schon g’dacht«, jammerte Alois Waber. »Die Schmerzen sind wirklich arg. Ich konnt’ ja gar net mehr aufsteh’n. Zum Glück konnt ich den Notruf wähl’n. Mein Telefon hab ich ja immer bei mir.«

»Ja, das war wirklich ein Glück, Herr Waber. Und nun bringen wir Sie erst mal in die Klinik, damit Ihnen geholfen werden kann.«

»Wie denn? Ich kann ja net geh’n! Und die vielen Treppen schaff ich schon gar net!«

»Dann müssen wir Sie eben tragen«, sagte Jens schmunzelnd. »Keine Sorge, irgendwie bekommen wir Sie schon in den Krankenwagen.«

»Das glaub’ ich net. Das können S’ niemals schaff’n! Wollen S’ mich denn die ganzen Treppen runtertrag’n? Ich bin net grad ein Fliegengewicht!« Das war Alois Waber tatsächlich nicht. Der weißhaarige Mann wog sicher mehr als zwei Zentner. Doch bisher hatten die Retter noch jeden ins Krankenhaus gebracht, bei dem das nötig gewesen war.

»Na, dann ist es ja gut, dass wir noch geblieben sind.« Oberbrandmeister Markus Never hatte die Eingangstür so weit repariert, dass sie wieder verschlossen werden konnte. Er stand im Flur und sah ins Badezimmer hinein. »Mein Kollege und ich helfen beim Tragen, Herr Waber. Dann dürfte es kein Problem werden, Sie heil hinunter zu bekommen.«

»Sehr gut!«, Dr. Steinbach wirkte sichtlich erleichtert. Zu zweit, nur mit seinem Rettungsassistenten, hätte er das niemals schaffen können. Sie hätten spätestens jetzt die Feuerwehr um Beistand bitten müssen. Gut, dass sie schon hier war und sie dadurch wertvolle Zeit gespart hatte.

»Herr Waber, ich spritze Ihnen ein Schmerzmittel, damit der Transport für Sie nicht allzu schlimm wird. Dann legen wir Sie auf eine Vakuummatratze, die den gebrochenen Knochen gut stabilisiert und mit der wir Sie transportieren können. Einverstanden?«

Alois Waber nickte nur. So recht konnte er es ja noch nicht glauben, dass das zu schaffen war. Umso erstaunter war er, als er sich nur wenig später auf einer Trage im Rettungswagen wiederfand.

Dr. Christina Rohde war mit ihrer Geduld fast am Ende. Der Gedanke, dass heute Donnerstag war und ihre Vertretungszeit sich dem Ende näherte, half ihr, nicht die Nerven zu verlieren, wenn Erik Berger ihr ständig über den Weg lief.

Schwester Anna hatte mit ihrer Prophezeiung recht behalten: Der Leiter der Notaufnahme war jeden Tag vor Ort, ungeachtet seines Urlaubs. Zähneknirschend erduldete Christina dies. Immerhin hielt er sich seit dem letzten Zusammenstoß mit Einmischungen und offener Kritik zurück. Doch sie wusste, dass er ihre Arbeit kontrollierte und in den Patientenaufzeichnungen nach Fehlern suchte. Auch jetzt thronte er wie selbstverständlich an­ seinem Schreibtisch, während Christina sich mit dem kleinen Tisch in der Ecke abfinden musste.

Beide wechselten kein Wort miteinander, sondern starrten schweigend auf die Monitore ihrer Computer. Die erdrückende Atmosphäre war für Christina nur schwer zu ­ertragen. Sie war ein fröhlicher Mensch, der gern mit anderen plauderte und scherzte. Das war in Bergers Anwesenheit unmöglich. Bei ihm hatte sie immer das Gefühl, als würden schwarze Gewitterwolken aufziehen und sich jeden Moment über ihr entladen. Sie atmete auf, als Schwester Inga hereinschaute. Endlich ein freundliches Gesicht!

»Der Rettungswagen bringt einen älteren Herrn mit Verdacht auf Oberschenkelhalsfraktur.«

Christina folgte der Schwester. Auf dem Flur kamen ihnen schon Dr. Steinbach und Jens Wiener mit der Trage entgegen. Der Rettungsarzt informierte seine Kollegin über alle Einzelheiten und bot dann an: »Falls er zum Röntgen soll, kommen wir noch mit und helfen beim Umlagern.«

»Oh, das ist wirklich sehr nett von Ihnen, Herr Steinbach. Vielen Dank für das Angebot. Wir nehmen es sehr gern an.«

Der Rettungsarzt winkte gelassen ab. »Kein Problem. Wir müssen ja ohnehin auf unsere Vakuummatratze warten.« Fred mochte die hübsche, nette Ärztin, der er schon einige Male in der Notaufnahme begegnet war. Nur eine kleine, harmlose Schwäche, denn Fred war seit mehr als dreißig Jahren glücklich verheiratet. Aber Frau Rohde war ein aparter Anblick und eine willkommene Abwechslung zu Erik Berger, der auf nette Umgangsformen und gutes Benehmen leider überhaupt keinen Wert legte.

Christina begrüßte den Patienten und erklärte ihm dann, was ihn erwarten würde: »Herr Waber, wir bringen Sie zuerst zum Röntgen, damit wir wissen, was mit Ihnen los ist. Sollte Ihr Oberschenkel wirklich gebrochen sein, werden wir Sie operieren müssen.«

Gemeinsam schoben sie den Patienten in die Radiologie, als hinter ihnen jemand laut zu rufen begann: »Warten Sie! Ich komme mit!«

Christina drehte sich ungläubig um. Und tatsächlich – Dr. Erik Berger folgte ihnen im Laufschritt! Am liebsten hätte sie ihn an seinen Schreibtisch zurückgeschickt – oder besser noch nach Hause –, aber sie sah ein, dass sie jede hilfreiche, starke Hand gebrauchen konnten. Bergers sportliche Figur versprach, dass es für alle in der Runde einfacher wäre, wenn er mitmachen würde. Doch kaum waren sie in der Radiologie angekommen, wünschte sie sich sehnlichst, er würde wieder verschwinden.

»Röntgen?«, schimpfte Berger. »Soll das ein Witz sein?«

»Wie bitte?«, fragte Christina verstimmt nach.

»Warum lassen Sie kein CT machen?«

»Weil das nicht nötig ist, Herr Berger.«

»Ach ja? Wie können Sie da so sicher sein? Vielleicht ist ja bei dem Sturz mehr kaputtgegangen, als Sie vermuten oder in einer Röntgenaufnahme zu erkennen ist!«

»Was soll das, Herr Berger? Ich bin die behandelnde Ärztin und entscheide, was zu tun ist! Hören Sie auf, sich ständig einzumischen.«

»Ich soll also untätig zusehen, wenn Sie hier wieder mal Blödsinn verzapfen?«

Christina reichte es. Wütend funkelte sie Berger an. »Blödsinn? Es ist also Blödsinn, wenn ich meinem Patienten die höhere Strahlenbelastung einer unnötigen Computertomografie ersparen will?«

»Über die Strahlenbelastung machen Sie sich mal lieber Gedanken, wenn sich herausstellt, dass die Röntgenaufnahme nicht ausgereicht hat und Ihr Patient anschließend doch noch in die Röhre muss. Dann hat er neben den Strahlen vom CT auch noch die von der überflüssigen Röntgenaufnahme abbekommen.«

Wahrscheinlich wäre die Auseinandersetzung der beiden Ärzte, die sich wie Kampfhähne gegenüberstanden, noch eine Weile weitergegangen, hätte Dr. Steinbach nicht einen Schlussstrich gezogen. Er räusperte sich laut und lenkte damit die Aufmerksamkeit aller auf sich. Missbilligend schüttelte er den Kopf und warf dann einen bezeichnenden Blick auf den Patienten, der die Debatte erschrocken verfolgt hatte. Erst da wurde sich Christina bewusst, wie ihr unprofessionelles Verhalten auf Alois Waber wirken musste. Wie hatte sie sich nur auf diesen sinnlosen Streit einlassen können? Die Sache war ihr furchtbar peinlich. Selbst Berger blickte betreten drein.

»Es tut mir leid, Herr Waber«, entschuldigte sie sich. »Das hätte nicht passieren dürfen. Sie haben bestimmt keinen guten Eindruck von uns bekommen.«

»Ach, das ist gar net so arg g’wesen.« Alois winkte großzügig ab. »Bei meiner Frau und mir flog’n auch immer die Fetzen. Hinterher war die Versöhnung dann umso schöner.« Er zwinkerte ihr verschmitzt zu. »Da haben S’ ja ’was, worauf S’ sich schon freu’n könn. Aber in Zukunft sollten S’ net so viel streit’n. S’ sind doch so ein schönes Paar.«

Diese Worte führten zu einer allgemeinen Erheiterung der Anwesenden. Nur Christina war nicht nach Lachen zumute. Und auch Berger sah aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen.

»Gut … also … Dann legen wir Sie erst mal auf den Röntgentisch, Herr Waber«, stotterte Christina. Zu Fred Steinbach, der sich immer noch köstlich amüsierte, sagte sie flüsternd: »Vielleicht hätten Sie ihm etwas weniger von dem Schmerzmittel spritzen sollen. Seine Wahrnehmung scheint getrübt zu sein.«

»Daran liegt’s nicht«, erwiderte Steinbach leise glucksend. »Geben Sie nicht mir die Schuld, wenn Sie sich hier wie ein altes Ehepaar benehmen.«

Schweigend fasste Erik Berger mit an. Er hielt sich mit weiteren Kommentaren zurück, bis die Untersuchung beendet war.

Als sie wieder in der Aufnahme angekommen waren und sich Christina von Dr. Steinbach und Jens Wiener verabschiedete, verschwand er in seinem Büro.

*

Die Gewissheit, dass der Oberschenkel von Alois Waber gebrochen war und er operiert werden musste, kam schnell. Christina erklärte ihm alles und sorgte dann dafür, dass er ein Bett in der Orthopädie bekam.

Erst danach fand sie die Muße, um über Bergers unmögliches Verhalten nachzudenken. Dass er ihre Fähigkeiten als Ärztin vor einem Patienten angezweifelt hatte, war nicht zum ersten Mal vorgekommen. Ihr war klar, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis es wieder geschehen würde. Berger konnte gar nicht anders! Er würde es immer wieder tun! Christina hatte nicht vor, tatenlos abzuwarten, bis es so weit war. Sie war nicht Dr. Körner, der irgendwann alles hingeschmissen hatte, um die Klinik zu verlassen. Sie würde sich über Bergers Verhalten beschweren.

Der Entschluss war kaum gefasst, als sich Christina auch schon auf den Weg zum Chefarzt der Behnisch-Klinik machte.

»Kann ich mit ihm sprechen?«, fragte sie seine Assistentin und zeigte auf die verschlossene Tür, hinter der das Büro von Dr. Norden lag.

»Nein, eigentlich passt es gar nicht. Er muss …«

»Tut mir leid, Frau Baumann«, unterbrach Christina die junge Frau hastig. »Das kann nicht warten! Ich muss sofort mit ihm sprechen!«

Katja zögerte. So wie die Ärztin aussah, schien es wirklich sehr, sehr wichtig zu sein.

»Bitte warten Sie kurz«, seufzte sie. »Ich geh mal schnell fragen, ob er Sie noch dazwischenschieben kann.«

Es dauerte nicht lange, bis Katja Baumann zurückkam und signalisierte, dass der Chef ein paar Minuten für sie hätte. In dieser kurzen Zeit des Wartens hatte Christina bereits überlegt, ob es wirklich so klug war, mit ihrer frischen Wut im Bauch beim Chef vorzusprechen. Hätte sie sich erst etwas beruhigen sollen? Doch dafür war es jetzt zu spät.

»Was gibt es denn Wichtiges, Frau Rohde?«, wurde sie vom Chefarzt freundlich begrüßt. Nichts an seinem Auftreten deutete darauf hin, dass er eigentlich in Eile war. Für Daniel Norden war es selbstverständlich, seinen Mitarbeitern das Gefühl zu geben, willkommen zu sein, wenn Probleme anstanden. Und dass ein Problem seine Chirurgin zu ihm führte, konnte er unschwer an ihrer finsteren Miene ablesen.

»Es geht um Dr. Berger« stieß Christina hervor. »Ich möchte mich hiermit offiziell über sein Benehmen beschweren.«

»Wieso? Was ist passiert? Wie kann es sein, dass Herr Berger Sie dermaßen in Rage bringt, wenn er doch gerade im Urlaub ist?«

»Urlaub?«, lachte Christina humorlos auf. »Er sitzt jeden Tag an seinem Schreibtisch und sucht in den Akten meiner Patienten nach Fehlern, die ich angeblich mache. Oder er steht unerwartet hinter mir und behauptet im Beisein der Patienten, dass ich sie falsch behandle.«

Als Daniel sie nur ungläubig ansah, berichtete Christina in allen Einzelheiten von den Vorfällen der letzten Tage.

»Es tut mir leid, Dr. Norden«, schloss Christina ihren Bericht, »Das mache ich nicht länger mit. Entweder geht er oder ich. Für beide ist nicht genügend Platz in der Notaufnahme.«

Erst am späten Nachmittag konnte sich Daniel um sein großes Problemkind Erik Berger kümmern. Er fand ihn hinter seinem Schreibtisch sitzend vor. Kurz wirkte der beurlaubte Leiter der Aufnahme verunsichert, als sein Chef bei ihm auftauchte. Doch er fand schnell zu seiner üblichen Gelassenheit zurück.

»Also hat sie tatsächlich bei Ihnen gepetzt«, stellte er ruhig fest. »Ich hätte ihr ein bisschen mehr Mumm zugetraut.«

»Und Ihnen hätte etwas mehr Anstand nicht geschadet, Herr Berger.« Daniel machte sich nicht die Mühe, seine Verärgerung zu verbergen. Das, was sich sein Notfallarzt heute geleistet hatte, konnte er nicht als Bagatelle abtun.

»Anstand? Soll ich die Fehlentscheidungen von Frau Rohde etwa kommentarlos hinnehmen?«

»Es gab keine Fehlentscheidungen, und das wissen Sie auch. Es war völlig in Ordnung, dass sie auf ein CT verzichtet hat. Auch an ihrem Entschluss, eine Patientin mit unauffälligen Befunden zu entlassen, gibt es nichts auszusetzen. Sie hat sich völlig korrekt verhalten.«

»Ja, ich weiß, ganz nach Lehrbuch und Leitlinie«, höhnte Erik Berger. »Manchmal reicht das aber nicht.«

»Generell haben Sie natürlich recht, doch nicht in diesen Fällen. Herr Berger, ich bin nicht hier, um das mit Ihnen zu diskutieren. Auch über Ihr schlechtes und unkollegiales Verhalten gegenüber Frau Rohde möchte ich jetzt nicht sprechen. Mich interessiert nur eins: Warum sind Sie in der Klinik, obwohl Sie Urlaub haben?«

Sofort verschloss sich Bergers Gesicht. »Dieser Urlaub ist völliger Quatsch«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Sie wissen, dass ich keinen Urlaub will. Außerdem werde ich hier gebraucht.«

»Falsch, Herr Berger!« Aus Daniels Stimme war jede Freundlichkeit verschwunden. Er hatte endgültig genug davon, dass Berger immer wieder seine Anordnungen missachtete und nur das tat, was ihm gefiel. Das konnte er ihm unmöglich länger durchgehen lassen. »Sie werden hier nicht gebraucht, weil Frau Rohde alles im Griff hat und gute Arbeit leistet. Ich nehme es Ihnen sehr übel, dass Sie sich ständig über meine direkten Anweisungen hinwegsetzen und nur das machen, was Ihnen in den Kram passt. Nicht nur, dass Sie trotz Urlaub weiterarbeiten, ich warte immer noch auf den Urlaubsplan, den Sie überarbeiten sollten. Da Sie das nicht geschafft haben, werde ich es machen und Ihren Urlaub so planen, wie ich es für richtig halte. Falls Sie besondere Wünsche haben, werden ich sie natürlich berücksichtigen.«

Daniel sah Berger fragend an und wartete auf eine Antwort. Doch der schüttelte nur stumm den Kopf.

»Keine Wünsche? Also gut, dann lege ich hiermit fest, dass Sie ab nächstem Montag zwei weitere Wochen frei nehmen.«

»Was soll das?«, schnaubte Berger entsetzt. »Mein Urlaub endet am Montag!«

»Von welchem Urlaub reden Sie? Sie saßen jeden Tag an Ihrem Schreibtisch und haben gearbeitet. Das wird sich auf der Stelle ändern. Sie packen Ihre Sachen zusammen und gehen nach Hause!« Daniel wurde eine Spur lauter, als er sah, dass Berger ihm ins Wort fallen wollte. »Während des Urlaubs lassen Sie sich hier nicht blicken. Ich erteile Ihnen Hausverbot und werde an alle die Anweisung herausgeben, den Sicherheitsdienst zu rufen, falls Sie hier auftauchen sollten.«

»Das können Sie unmöglich machen!«

»Natürlich kann ich das! Ich mache es nicht gern, aber Sie lassen mir leider keine andere Wahl. Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie Sie hier mit Ihrem unmöglichem Benehmen Menschen vor den Kopf stoßen und ihnen die Freude nehmen, an dieser Klinik zu arbeiten.«

»Das mache ich gar nicht!«

»O doch! Ich erinnere nur an Herrn Körner. Keine Sorge, ich werde das Thema nicht vertiefen. Aber ich werde auch nicht zulassen, dass sich diese Geschichte bei Frau Rohde wiederholt.«

»Ich hatte nichts mit dem Weggang von Körner zu tun!« Berger schien kurz davor, die Fassung zu verlieren. »Es war nicht meine Schuld, dass er ein Problem mit berechtigter Kritik hatte. Und was Frau Rohde betrifft …«

»Schluss damit, Herr Berger! Ich lasse mich auf keine weiteren Diskussionen mit Ihnen ein. Sie haben zehn Minuten, um Ihre Sachen zusammenzupacken. Sollten Sie dann nicht verschwunden sein, rufe ich persönlich nach dem Sicherheitsdienst, damit er Sie vor den Augen aller Kollegen aus dem Haus führt. Ich glaube nicht, dass Sie das wollen.«

Bei Daniels Worten brach Bergers selbstgefällige und großspurige Fassade zusammen. Er sah aus wie jemand, dem alles genommen wurde. Verzweifelt sah er sich in seinem Büro um.

»Nicht, machen Sie das bitte nicht«, bat er plötzlich. »Das hier ist alles, was ich habe. Bitte … nehmen Sie es mir nicht weg … Ich weiß doch nicht, was ich …« Seine Stimme gehorchte ihm nicht mehr, und er stoppte. So leise, dass Daniel es kaum verstehen konnte, flehte er: »Bitte … Ich muss arbeiten … Bitte …«

Mitleid überflutete Daniels Herz. Vor ihm stand ein Mann, den ein großer Kummer quälte. Daniel wusste längst, dass sich hinter einer Mauer aus Stahl ein empfindsames Herz verbarg. Seit Langem wartete er darauf, dass sich Berger endlich öffnen würde. Ob dies der richtige Augenblick dafür war?

»Was ist los mit Ihnen?«, fragte Daniel einfühlsam. »Warum bedeutet Ihnen die Aufnahme so viel, dass Sie es nicht fertigbringen, ein paar Tage wegzubleiben? Reden Sie mit mir!«

Erik rieb sich über die Augen und atmete ein paar Mal tief durch. Als er dann sprach, hatte er bereits einen Teil seiner Beherrschung wiedergefunden. »Ich brauche keinen Urlaub«, entgegnete er wieder einigermaßen gefasst. »Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ich … Ich möchte einfach nur meine Arbeit machen. Das ist alles.«

Daniel wartete darauf, dass Berger weitersprach. Als das nicht geschah, nickte er. »Also gut, Herr Berger. Dann bleibt es dabei. In zehn Minuten beginnt Ihr Urlaub!«

Daniel verließ Bergers Büro und schloss energisch die Tür hinter sich. Dann lehnte er sich mit dem Rücken gegen die kühle Flurwand. Dieses Gespräch mit Berger hatte ihn aufgewühlt. In ihm schrie alles danach, umzukehren und seine Worte zurückzunehmen. Aber er wusste, dass das nicht ging. Nicht nur, weil er damit seine eigene Autorität untergraben würde, sondern auch, weil das eigentliche Problem dann immer noch im Raum stand: Dr. Berger musste unbedingt Urlaub nehmen.

Daniel stieß sich von der Wand ab und ging zum Fahrstuhl hinüber. Als er an Katja Baumann dachte und an ihr Entsetzen, als sie erfahren hatte, dass Berger in den Urlaub sollte, fing er an zu grübeln. Seine kluge Assistentin schien den Notarzt wirklich gut zu kennen. Sie hatte gewusst, wie schwer es ihm fallen musste, der Aufnahme fernzubleiben. Und auf einmal überkamen Daniel Zweifel. Hatte er womöglich einen Fehler gemacht? Wäre es für Bergers Seelenheil vielleicht besser, täglich zur Arbeit zu kommen? Wie würde es ihm in seiner ungeliebten Zwangspause ergehen?

*

Samstagabend war Erik Bergers Gemütszustand an einem Tiefpunkt angekommen. Er saß in seinem Wohnzimmer auf dem Sofa und starrte verdrossen auf den Fernseher, der ihn schon lange nicht mehr fesseln konnte. Vor ihm, auf dem kleinen Tisch, lagen leere Pizzakartons und ein paar ausgetrunkene Bierflaschen. Sie waren das Resultat der vergangenen beiden Tage. Die Wodkaflasche, die danebenstand, war noch verschlossen. Er hatte sie nicht angerührt, obwohl er nur schwer der Versuchung, seinen Kummer mit Alkohol zu betäuben, widerstanden hatte. Doch er wusste, dass der Wodka ihm nicht helfen würde. Damals – nach dem Tod seiner Frau und seines ungeborenen Sohnes – hatte Erik geglaubt, dass es keine andere Lösung geben könnte, um mit dem Verlust fertigzuwerden. Schnell hatte er dann festgestellt, dass das nur eine trügerische Illusion gewesen war. Nach der kurzen Zeit des Rauschs und des Vergessens war der Schmerz mit doppelter Kraft zurückgekehrt und hatte ihn fast umgebracht. Irgendwann hatte er es dann akzeptiert, dass seine geliebte Maika nicht mehr an seiner Seite war, und es war leichter für ihn geworden, damit klarzukommen. Eine bessere, stärkere Droge als Alkohol hatte ihm dabei geholfen: seine Arbeit.

Wenn er in der Notaufnahme seinen Dienst verrichtete, Menschenleben rettete und Hoffnung schenkte, vergaß er, was er verloren hatte und noch immer vermisste. Nur mit seiner Arbeit als Arzt schaffte er es, den Tag zu überstehen, ohne vor Verzweiflung und Trauer durchzudrehen.

Doch Dr. Daniel Norden, der Chefarzt der Behnisch-Klinik, hatte ihm das genommen. Zwei Wochen Zwangsurlaub! Erik schüttelte frustriert den Kopf. Er wusste nicht, wie und ob er das überstehen würde. Und schon wieder wanderten seine Gedanken zurück zu jenem Abend, als er nach einem langen Dienst nach Hause kam und Maika leblos vorgefunden hatte. Sie war ganz allein, ohne jeden Beistand, an einer heimtückischen Krankheit gestorben. Er würde sie nie wiedersehen und seinen kleinen Jungen nie kennenlernen.

Es war kurz vor elf, als er den Fernseher ausschaltete und aufsprang. Er musste irgendetwas tun. Irgendetwas, was ihn ablenkte und beschäftigte. Fünf Minuten später fand er sich auf der Straße wieder. Ein kalter Märzwind blies ihm entgegen und verriet, dass sich die milden Frühlingsnächte erst noch durchsetzen mussten. Erik überlegte, ob sein Griff zur Lederjacke wirklich so eine gute Idee gewesen war. Sie wärmte ihn nur unzureichend. Tief vergrub er seine Hände in den Taschen und marschierte zügig los. Die Bewegung würde ihn nicht nur müde machen, sondern auch für die nötige Körpertemperatur sorgen. Und vielleicht würde es ihm nach einem sehr, sehr langen Spaziergang durch das nächtliche München sogar gelingen, ein paar Stunden zu schlafen, ohne von Albträumen geweckt zu werden.

Schnell hatte Erik die ruhige Wohngegend, in der er lebte, verlassen und die City erreicht. In dieser Samstagnacht waren auf den Straßen viele Menschen unterwegs. Die meisten von ihnen waren gut gelaunte Partygänger, die sich amüsieren wollten. In ihrer fröhlichen Ausgelassenheit hatten sie für den griesgrämigen Mann, der mit gesenktem Kopf und hochgeschlagenem Jackenkragen vorbeihastete, nur einen flüchtigen Blick übrig.

Nach einer guten Stunde zog ein vertrautes, schmerzhaftes Ziehen durch Eriks Oberschenkel. Ein Erschöpfungsschmerz, den er mit einem freudlosen Grinsen willkommen hieß. Wenn er dieses rasante Tempo beibehielt und keine Pause einlegte, würden die Muskelschmerzen so stark werden, dass er seinen ewigen Herzschmerz um sein verlorenes Glück nicht mehr spüren konnte.

Sein rastloser Gang durch die Nacht wurde jäh unterbrochen, als vor ihm die Tür eines Nachtclubs aufgerissen wurde und drei betrunkene Gäste auf den Bürgersteig torkelten. Widerwillig stoppte Erik, um nicht mit ihnen zusammenzustoßen. Die warme Luft des Clubs schlug ihm ins Gesicht, und er verspürte auf einmal den Drang hineinzugehen, um sich aufzuwärmen und von dem lauten Rhythmus der Musik betäuben zu lassen.

Schon im Foyer des Clubs bereute er diesen spontanen Einfall. Und als er den großen Clubraum durchquerte, um zur Bar zu gelangen, wusste er, dass ihn die vielen Pärchen nur daran erinnern würden, was er so sehr vermisste. Die lachenden, fröhlichen Menschen, die ausgelassen zur lauten Musik tanzten, ließen ihn seinen Verlust qualvoll spüren.

»Was darf’s sein?«, rief ihm der Barkeeper zu, der Mühe hatte, das Dröhnen der Beats zu übertönen. ›Sunny‹, las Erik auf seinem Namensschild. Er musste grinsen. Dieser Name konnte unmöglich echt sein. War es jetzt schon üblich, dass sich auch Barkeeper einen Künstlernamen zulegten?

»Ein Bier!«, orderte er und bekam kurz darauf ein kühles Glas Bier mit einer perfekten Schaumkrone rübergereicht.

Erik drehte dem Tresen den Rücken zu und beobachtete gelangweilt das Treiben um sich herum. Er war zum ersten Mal seit Maikas Tod in einem Nachtclub und wusste nicht, was ihn heute hergeführt hatte. Er gehörte nicht hierher und fühlte sich völlig fehl am Platz. Sein Entschluss zu verschwinden, sobald er ausgetrunken hatte, stand schnell fest. Hier würde er nicht die nötige Ablenkung finden. Wahrscheinlich gab es die für ihn gar nicht.

Eine hübsche Blondine, Ende Zwanzig, schob sich auf den freien Barhocker neben ihm. Mehr als einen flüchtigen Blick hatte er für sie nicht übrig. Er hatte nie probiert, die Lücke, die Maika hinterlassen hatte, mit einer anderen Frau zu füllen.

Für ihn konnte es keine neue Liebe geben. Seinen Seelenverwandten traf man nur ein einziges Mal im Leben. In Maika war er diesem einen besonderen Menschen bereits begegnet. Eine zweite Chance gab es nicht.

»Hi«, sprach ihn die Fremde mit einem süßen Lächeln an. »Ich habe dich hier noch nie gesehen.«

Erik schenkte ihr einen kurzen, abschätzenden Blick und erwiderte dann kühl: »Und das wird auch nie wieder passieren.« Dann drehte er ihr den Rücken zu. Als er hörte, wie sie vom Hocker glitt und ihn verließ, atmete er erleichtert auf. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, war ein flirtwütiges, hübsches Mädchen an seiner Seite. Er wollte nur noch sein Bier austrinken und dann den langen Weg nach Hause antreten. Mit etwas Glück wäre er danach so geschafft, dass ihm das Einschlafen keine Probleme bereiten würde.

Bis es so weit war, sah er weiter den tanzenden Gästen zu. Noch während er darüber nachdachte, wie lange es her war, dass er sich so ausgelassen der Musik hingegeben hatte, stieg ihm ein seltsamer Geruch in die Nase. War das etwa Rauch? Roch es hier brenzlig? Erik drehte sich suchend um. Hinter der Bar führte eine schmale Tür in die Küche. Kam der Brandgeruch von dort? Er versuchte, den Barkeeper auf sich aufmerksam zu machen. Doch der machte gerade einem betrunkenen Gast mühsam klar, dass es für ihn nichts mehr zu trinken gab, und beachtete Erik nicht.

»He!«, brüllte Erik ihm zu. »Hier brennt’s!«

Der Barmann sah nur kurz hoch und schüttelte den Kopf.

»Denkst du, bei mir brennt’s nicht?«, lallte ein Mann, der den Platz der Blondinen eingenommen hatte. »Ich bin auch am Verdursten. Also warte gefälligst, bist du dran bist!«

»Besoffener Idiot!«, murmelte Erik. Der Brandgeruch wurde stärker, und niemandem schien das aufzufallen. Inzwischen war sich Erik absolut sicher, auch Qualm zu sehen, der unter dem Türspalt aus der Küche drang. Erik konnte nicht länger warten. Er sprang vom Hocker und ging um den Tresen herum. Sofort kam der Barkeeper zu ihm rüber gerannt.

»Sie haben hier nichts zu suchen!«, fuhr er Erik an. »Gedulden Sie sich gefälligst! Ihre Bestellung ist die nächste, die ich aufnehme.«

»Halten Sie den Mund und schauen Sie lieber in Ihrer Küche nach dem Rechten!«

»Warum sollte ich das …« Die Augen des Mannes weiteten sich. »Verdammter Mist! Die Fritteuse!« Und schon sprintete er an Erik vorbei in die Küche. Ohne lange nachzudenken, folgte Erik ihm. Ein Schwall heißer Luft begrüßte sie. Die kleine Küche war bereits mit beißendem Rauch gefüllt, und in der hinteren Ecke loderte es hell – wahrscheinlich die vergessene Fritteuse, deren heißes Öl sich entzündet hatte. Erik presste sich den Unterarm vor Mund und Nase, um nicht den giftigen Qualm einzuatmen. Mit der anderen Hand griff er nach der Schulter des Barkeepers, der todesmutig zur Fritteuse stürzen wollte, und hielt ihn zurück.

»Sind Sie verrückt geworden?«, bellte ihn Erik an. »Bis Sie da angekommen sind, hat das Kohlenmonoxid Sie schon entschärft. Ich weiß, wovon ich spreche. Lösen Sie gefälligst den Alarm aus und rufen Sie die Feuerwehr!«

Eriks Befehlston zeigte sofort Wirkung. Unter den strengen Blicken Eriks rannte Sunny in den angrenzenden Flur, der zu den Toiletten führte, schlug das Glas des Brandmelders ein und drückte den Knopf. Der schrille Ton der Sirene ertönte fast gleichzeitig. Erik hörte die aufgeregten Rufe der Gäste, die sich nicht sicher waren, ob der Alarm echt war.

»Was ist mit der Feuerwehr?«, fragte Erik den Barkeeper.

»Wird automatisch informiert …« Sunny zeigte auf den Brandmelder.

»Okay, dann sehen Sie zu, dass Sie die Leute hier rausbekommen. Ihre Kollegen sollen Ihnen helfen.«

Zusammen mit Sunny rannte Erik in den Gastraum zurück. Zum Glück war die Evakuierung hier bereits angelaufen. In Gedanken sprach Erik den Mitarbeitern des Clubs ein Lob aus, dass sie rasch reagiert hatten. Aber schon in der nächsten Minute konnte er nur noch fassungslos den Kopf schütteln über das Chaos, das ausgebrochen war. Mit einer vernünftigen Evakuierung hatte das ziellose Treiben hier nichts zu tun.

Vor dem Ausgang zum Foyer stauten sich dichte Menschengruppen. Die Doppeltür war viel zu schmal, um die vielen Gästen in kürzester Zeit hinauszulassen. Unruhe breitete sich unter ihnen aus. Einige drängelten und schubsten heftig, in der Hoffnung, dadurch schneller ins Freie zu kommen. Langsam entstand Panik. Erik wusste, dass davon eine größere Gefahr ausgehen konnte als von dem Brand, der sich zurzeit noch auf die Küche beschränkte. Er konnte nur hoffen, dass die Feuerwehr bald eintraf und die Menschen hier herausholte.

Noch immer drang laute Musik aus den Boxen. Zusammen mit dem schrillen Feueralarm und den Schreien der Clubbesucher bildete sie eine angsteinflößende Geräuschkulisse.

Erik bekam einen Kellner am Arm zu fassen, der an ihm vorbeihechten wollte. Er musste ihn anbrüllen, um den Lärm zu übertönen: »Was ist mit den Notausgängen? Warum staut sich alles hier am Haupteingang?«

»Die Notausgänge sind zugestellt! Es geht nur hier!« Der Mann riss sich los und rannte weiter. Wütend sah Erik auf das Szenario vor sich. Die meisten von ihnen könnten schon längst in Sicherheit sein, wenn es freie Notausgänge geben würde.

Aus der Küche drang dichter Qualm, ein lautes Klirren verriet, dass Fensterscheiben unter der Hitze zerborsten waren. Durch die einströmende Frischluft bekam das Feuer neuen Auftrieb. Es würde sich rasend schnell ausbreiten und sich nicht mehr lange auf die Küche des Clubs beschränken.

Erik wurde ungeduldig. Noch immer ging die Evakuierung viel zu langsam voran. Er und viele andere Gäste hatten noch nicht mal das Foyer erreicht, sondern waren noch immer im Gastraum. Nervös glitt sein Blick über die leere Tanzfläche hinüber zur Küche, aus der lange Flammenzungen schlugen. Sie mussten hier dringend raus! Sein Herz setzte kurz aus, als er in dem Rauch etwas sah. Seine Augen blieben an den versteckt liegenden Tischnischen auf der linken Saalseite hängen. Was war das? Lag dort ein Mann auf der Sitzbank und schlief seelenruhig seinen Rausch aus, während um ihn herum die Welt unterging?

Erik versuchte, seinen Blick zu fokussieren. Tatsächlich – auf dem Fußboden standen Schuhe vor einer Sitzbank, und darüber erkannte Erik schemenhaft die Umrisse eines Menschen.

»Verdammt!«, brüllte er auf. Er konnte unmöglich mit den anderen den Club verlassen und diesen Mann einfach seinem Schicksal überlassen. Hastig zog er seine Jacke aus, um sie sich über den Kopf zu hängen und Mund und Nase abzudecken. Dann hechtete er über die leere Tanzfläche zurück –, nur um festzustellen, dass die ganze Aufregung umsonst gewesen war. Auf dem Boden stand ein einsames Paar Herrenschuhe, das sein Besitzer bei Ausbruch des Feueralarms vergessen hatte. Die Sitzbank war leer. Seine Augen hatten ihm einen üblen Streich gespielt.

Erik wollte gerade den Rückzug antreten, als er stutzte. Ein neuer Geruch hatte sich unter den Qualmgestank gemischt. Er kam ihm bekannt vor und verhieß nichts Gutes. Die Erkenntnis, dass es Gas war, traf ihn in der Sekunde, in der ein ohrenbetäubender Knall den Nachtclub erschütterte. Eine Gasexplosion! Erik sah das gleißendhelle Licht der meterhohen Flammen auf sich zurasen, bevor ihn eine Druckwelle erfasste und in die Tischnische schleuderte. Hart schlug er rücklings auf der Tischplatte auf, die unter dem Aufprall zusammenbrach. Im selben Moment gab die Decke über Erik nach und stürzte ihm entgegen. Als ihn schwere Betonbrocken trafen, versank er in der Finsternis.

*

Es dauerte lange, bis das Klingeln des Telefons Daniel wecken konnte. Fee, die sich in seine Arme geschmiegt hatte, wurde vor ihm wach.

»Dan, Schatz, dein Telefon …«, murmelte sie verschlafen und stieß ihn zärtlich an.

Daniel gab einen leisen Protestlaut von sich, als er auf die Uhr sah: Es war erst kurz vor eins. Ohne sich umzudrehen, tastete er nach seinem Handy, das auf dem Nachttisch lag. Als er die Nummer auf dem Display sah, war er sofort munter. Vorsichtig, um Fee nicht zu stören, richtete er sich auf und nahm den Anruf aus der Behnisch-Klinik entgegen. Es musste einen triftigen Grund geben, wenn der Chefarzt mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen wurde.

»Ja, Norden«, meldete er sich.

Fee konnte spüren, wie sich ihr Liebster anspannte, als er den Worten des Anrufers folgte.

»Wir kommen!«, sagte er schließlich knapp. »Benachrichtigen Sie jeden, den Sie auftreiben können!«

»Was ist los?«, fragte ihn Fee, als er auflegte und aus dem Bett sprang.

»Eine Gasexplosion in einem Nachtclub.«

»O mein Gott!«, entfuhr es Fee. »Wie schlimm ist es? Wie viele Opfer?«

»Dazu gibt es noch keine Angaben. Die Rettungsleitstelle hat alle Krankenhäuser darüber informiert, dass mit einem größeren Patientenaufkommen zu rechnen sei. Wir müssen auf alles vorbereitet sein.«

Fee nickte nur. Für solche Fälle hielt jede Klinik einen Notfallplan bereit. Der diensthabende Oberarzt hatte den Chefarzt zu informieren und anschließend dafür Sorge zu tragen, dass so viele Mitarbeiter wie möglich zusammengerufen wurden. Während sich Fee und Daniel hastig anzogen, klingelten in ganz München und Umgebung viele Telefone.

Bevor Fee ins Erdgeschoss hinunterlief, schaute sie kurz in Désis Zimmer. Sie war die jüngste Tochter der Nordens und lebte zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Janni noch daheim. Es war mehr als unwahrscheinlich, dass sie zu den Besuchern des Clubs gehören könnte. Trotzdem musste sich Fee davon überzeugen, dass Dési in ihrem Bett lag und schlief.

»Alles in Ordnung«, raunte Daniel seiner Frau zu. »Ich habe gerade bei Janni nachgesehen. Er schläft.«

Die drei ältesten Kinder wohnten nicht mehr zu Hause. Von ihnen wusste Fee daher nicht, ob sie sich in Sicherheit befanden. Sie waren zwar keine typischen Nachtclub-Besucher, aber vielleicht waren sie ja ausgerechnet heute auf die Idee gekommen …

»Auch ihnen geht es gut, Liebling«, unterbrach Daniel ihre Grübeleien. Er schien immer zu wissen, womit sie sich gerade quälte. »Sie sind bestimmt zu Hause. Mach dir ihretwegen keine Sorgen. Ihnen ist nichts geschehen.«

Fee und Daniel erhielten einen kleinen Einblick in das Ausmaß des Geschehens, als sie in der Behnisch-Klinik ankamen. In der Einfahrt vor dem Haupteingang standen mehrere Rettungsfahrzeuge, die Patienten auf Tragen oder in Rollstühlen in die Notaufnahme brachten.

Hier herrschte Hochbetrieb. Sämtliche Ärzte und Pflegekräfte schienen anwesend zu sein und bei der Versorgung der Opfer zu helfen. In jedem Behandlungszimmer wurden mindestens zwei Verletzte gleichzeitig versorgt. Selbst auf dem Flur standen Tragen, auf denen Patienten lagen, um die sich dort gekümmert wurde, weil die Räume nicht ausreichten. Mehrere Leichtverletzte saßen im Warteraum und warteten auf ihre Behandlung.

Fee langte nach einem sauberen Kittel und Handschuhen, die auf einem kleinen Tischchen bereitlagen.

»Wohin?«, rief sie Schwester Anna zu, die ihr auf dem Flur entgegengelaufen kam.

»Uns fehlt ein Arzt in der Zwei!«, lautete die hastige Antwort, und schon war Fee auf dem Weg zu ihrem ersten Patienten.

Daniel musste sich zuerst einen Überblick verschaffen und dann festlegen, wer für die Koordination der Abläufe zuständig sein sollte. Er sah, dass der Schockraum leer war. Ein gutes Zeichen. Niemand war also lebensgefährlich verletzt und musste dort notversorgt werden.

»Frau Rohde!«, rief er, als er die Chirurgin sah. »Geben Sie mir einen kurzen Überblick!«

Christina Rohde atmete tief durch.

»Wir haben achtzehn Verletzte aufgenommen, die Leichtverletzten im Warteraum noch nicht mitgezählt. Hier in der Aufnahme sind noch vierzehn, zwei werden gerade in den OP gebracht, zwei sind schon auf Station.«

»Wie schwer sind die Verletzungen? Gibt es Brandwunden?«

»Nein. Das Feuer war auf den hinteren Teil des Clubs beschränkt und wurde von der Feuerwehr schnell gelöscht. Die meisten Patienten haben deshalb nur leichte Rauchgasvergiftungen oder wurden zum Durchchecken hergebracht. Wahrscheinlich können sie nach einer gründlichen Untersuchung wieder entlassen werden. Das größere Problem war die Gasexplosion. Einige Gäste haben Verletzungen davongetragen, als sie von Trümmerstücken getroffen wurden. Für niemanden von ihnen besteht aber akute Lebensgefahr.«

»Toll!« Daniel stieß erleichtert die Luft aus.

»Noch gibt es keine Entwarnung«, bremste ihn Christina Rohde aus. »Viele Clubbesucher wurden noch gar nicht geborgen. Sie hielten sich im Foyer des Clubs auf und hatten es noch nicht nach draußen geschafft, als es zu der Explosion kam. Wahrscheinlich werden noch bis zu fünfzig Menschen vermisst. Ich fürchte, für sie wird es nicht so gut ausgegangen sein.«

Daniel nickte ernst. »Dann sollten wir zusehen, dass wir die Aufnahme schnell freibekommen und uns auf das Schlimmste vorbereiten. Wer hat hier die Leitung?«

»Ich, obwohl ich im OP dringender gebraucht werde. Und nicht nur ich. Das OP-Team ist noch nicht komplett. Es wäre schön, wenn Sie … Aber wahrscheinlich werden Sie hier in der Aufnahme die Leitung übernehmen wollen.«

»Nein, das kann Herr Berger machen. Wo steckt er überhaupt?« Daniel sah sich suchend nach seinem besten Notarzt um. Es gab niemanden, dem er diese Aufgabe lieber anvertrauen würde.

»Ich weiß es nicht«, beantwortete Christina seine Frage. »Wir haben mehrmals versucht, ihn zu erreichen, doch ohne Erfolg. Er ging nicht an sein Telefon. Kann es ein, dass er absichtlich … Ich meine, er war ziemlich sauer und …«

»Nein, auf gar keinen Fall!«, stoppte Daniel die Chirurgin. »Das würde er niemals tun. Es muss einen anderen Grund geben.« Bergers Einsatzbereitschaft und sein Pflichtgefühl waren legendär.

Nichts und niemand könnte ihn davon abhalten, in Krisensituationen seinen Dienst anzutreten. Hausverbot hin oder her. Vielleicht hatte er nur sein Handy im Auto vergessen. Spätestens morgen, wenn er in den Nachrichten von dem Unglück hören würde, käme er hierher. Bis dahin musste es auch ohne ihn gehen.

Oberarzt Josef Schwebke, der Leiter der Gynäkologie, betrat die Aufnahme. Sein ungekämmtes Haar und der verschlafene Gesichtsausdruck verrieten, dass auch ihn der Anruf aus der Klinik im Tiefschlaf erwischt hatte. Daniel winkte ihn zu sich. Schwebke war genau der Mann, dem er nach Berger zutraute, den Katastrophendienst in der Notaufnahme zu übernehmen.

Daniel wies ihn kurz ein und übertrug ihm dann die Leitung und Koordinierung der Patientenversorgung.

»In Ordnung, Herr Norden. Wo steckt eigentlich Herr Berger? Ist er nicht viel besser dafür geeignet als ich?«

Daniel seufzte. »Sie werden das schon hinbekommen, Herr Schwebke. Sie haben mein vollstes Vertrauen. Und was Herrn Berger angeht, niemand konnte ihn bisher erreichen. Wir probieren weiter unser Glück. Solange er nicht hier ist, sind Sie für alles verantwortlich. Frau Rohde und ich sind im OP.«

Die beiden Feuerwehrmänner, die vor wenigen Minuten einen neuen Verletzten gebracht hatten, kamen mit der leeren Trage zurück. Einen der beiden kannte Daniel bereits von früheren Einsätzen. »Herr Never! Können Sie uns vielleicht einen kurzen Überblick zur Situation vor Ort geben? Mit wie vielen Verletzen müssen wir noch rechnen?«

»Das war vorerst der Letzte für Ihr Haus. Zumindest von denjenigen, die es vor der Explosion hinausgeschafft hatten.« Markus Never blieb stehen und rieb sich über die verschwitzte Stirn. »Die Bergung der Verschütteten wird wohl noch andauern, sodass Sie hier eine kleine Verschnaufpause haben. Wie’s dann weitergeht, kann niemand sagen. Es sind mehr als vierzig Menschen eingeschlossen, die nach der Bergung auf die Kliniken verteilt werden. Es wäre gut, wenn Sie der Leitstelle mitteilen könnten, wo Ihre Kapazitätsgrenze liegt. Das macht uns die Arbeit leichter.«

Dr. Schwebke nickte. »Kein Problem. Ich kümmere mich darum.«

»Wissen Sie schon, wie viele Gäste im Club waren?«, wollte Daniel wissen.

»Er war gut besucht, als das Feuer ausbrach. Man geht von dreihundert Gästen aus. Es grenzt fast an ein Wunder, dass die meisten von ihnen rechtzeitig rauskamen. Ein aufmerksamer Gast hat das Feuer in der Küche entdeckt, ansonsten …« Never verzog das Gesicht. »Ich kann nur hoffen, dass es für die Eingeschlossenen auch ein gutes Ende nimmt.«

Markus Never verabschiedete sich und kehrte mit seinem Kollegen zurück an den Unglücksort, während Daniel in den OP eilte. Unterwegs versuchte er, Erik Berger zu erreichen. Ohne Erfolg. Daniel stöhnte leise. Sie brauchten Berger hier dringender denn je. Bei den eingeschlossenen Clubbesuchern musste mit vielen Schwerverletzten gerechnet werden. Erik Berger war der beste Mann, den er für diese anspruchsvolle Aufgabe hatte. Er behielt immer einen kühlen Kopf und handelte in Krisensituationen fast intuitiv und mit einer unschlagbaren Sicherheit.

Bevor Daniel in die OP-Kleidung wechselte, wählte er nochmals Bergers Nummer und lauschte ungeduldig dem Klingelton. Nichts. Dr. Erik Berger nahm nicht ab. Was war nur los mit ihm?

*

Es war ein vertrautes Geräusch, das Erik aus seiner Bewusstlosigkeit riss. Doch bevor er herausfinden konnte, was es war, verstummte es wieder. Eriks Kopf schmerzte so sehr, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. Ein heftiger Husten steigerte seine Kopfschmerzen ins Unerträgliche. Immer noch hustend schlug er die Augen auf und versuchte herauszufinden, wo er war. Er war geschockt über die absolute Dunkelheit, die ihn umgab. Staub lag in der Luft, er konnte ihn auf seinen Lippen und in seinem Mund schmecken. Er musste hier unbedingt weg! Als er sich aufrichten wollte, gelang es ihm nicht. Irgendetwas lag auf seiner linken Seite.

Sein rechter Arm war frei. Er schmerzte, aber Erik konnte ihn bewegen. Vorsichtig tastend erkundete er die Umgebung. Überall lag Geröll, neben ihm, unter ihm und auf ihm drauf. Fast die gesamte linke Körperhälfte war mit Steinen bedeckt. Ein paar kleine bekam er weggerollt, bei den größeren gab er schnell auf. Sie waren zu schwer und schienen sich nur noch fester in seinen Körper zu graben, wenn er versuchte, sie zu bewegen. Und noch immer wusste er nicht, wo er sich befand oder wie er hergekommen war.

Ein heller Signalton kündigte eine eingegangene Nachricht auf seinem Handy an. Sein Handy – irgendwo musste es sein. Erik griff in seine Hosentasche und fand es. Erleichtert hielt er es fest in seiner Hand. Nun würde alles gut werden. Nun konnte er Hilfe rufen. Und mit einem Schlag kehrten die Erinnerungen an den Nachtclub und das Feuer zurück. Es dauerte nicht lange, bis er verstand, dass er unter den Trümmern des Clubs lag.

»Hilfe!«, brüllte er lautstark und hustete sofort kräftig, als kleinste Staubpartikel in seine Kehle gerieten. Dabei meldeten sich nicht nur die heftigen Kopfschmerzen zurück. Es schoss auch ein jäher, stechender Schmerz in seinen Brustkorb. Panisch japste er nach Luft, doch mit jedem Atemzug wurde der Schmerz stärker. Er fühlte, wie an seinem gesamten Körper kalter Schweiß ausbrach. Er fror entsetzlich, zitterte so stark, dass die Zähne aufeinanderschlugen und konnte dennoch die Augen nicht mehr offenhalten. Bis zum Schluss versuchte er, gegen die Ohnmacht anzukämpfen. Und bis zum Schluss fragte er sich panisch: Was war nur los mit ihm? Warum fiel ihm das Atmen so schwer? Warum hatte er das Gefühl, dass die Luft immer knapper wurde? Und warum fand ihn hier niemand?

Nach seiner letzten OP wusste Daniel, dass ihn das Adrenalin in seinem Blut noch für Stunden wachhalten würde. An eine kurze Schlafpause war also nicht zu denken. Den müden kritischen Punkt hatte er längst überschritten. Also beschloss er, einfach weiterzumachen, bis sein Körper irgendwann kapitulieren würde. Es war gegen acht in der Früh. Er hatte die gesamte Nacht operiert und sich nur eine kleine Kaffeepause gegönnt. Die ersten Verschütteten waren geborgen und in die Behnisch-Klinik gebracht worden.

Wie befürchtet, war es bei ihnen nicht bei harmlosen Blessuren geblieben. Knochenbrüche, Gehirnerschütterungen, blutende Wunden hatten alle in Atem gehalten.

Noch immer waren nicht alle Opfer des Unglücks aus den Trümmern befreit worden. Nur deshalb war es im OP nun ruhiger geworden. Die Rettungsarbeiten waren fast vollständig zum Erliegen gekommen, weil das THW erst schwere Technik anfordern musste, um an die letzten Opfer zu gelangen. Je mehr Zeit dabei verging, umso kritischer wurde es für die Menschen im Club. Ihre Überlebenschancen schwanden mit jeder Minute, die verstrich.

Daniel entledigte sich seines OP-Kittels, wechselte ein paar Worte mit dem Anästhesisten, der ihm während der letzten Stunden zur Seite gestanden hatte, und sah nach seinen Patienten im Aufwachraum. Auf dem Rückweg traf er Fee.

»Ich dachte, du wärst schon längst wieder zu Hause und schläfst«, sagte er besorgt, als er die dunklen Schatten unter ihren wunderschönen, blauen Augen entdeckte.

»Nein, das konnte ich nicht. Genauso wenig wie du, mein Lieber.« Fee lächelte ihn erschöpft an. »Was hältst du von einer kleinen Pause? Wir könnten einen Kaffee trinken.«

»Gern, Feelein.« Daniel strich ihr eine blonde Strähne aus dem Gesicht, bevor er sie küsste. Als sie sich im Pausenraum gegenübersaßen, wollte er von ihr wissen: »Hast du schon herausbekommen, wie es zu diesem Unglück kommen konnte?«

Fee nickte bekümmert. »Ich musste den Barkeeper versorgen. Er steht unter Schock, weil er sich die Schuld an dem Feuer gibt. Er hatte die Fritteuse in der Küche vergessen.«

»Ein dummer Fehler, der passieren kann.«

»Ja, das habe ich ihm auch gesagt. Aber ob ihm das hilft, mit seinen Schuldgefühlen klarzukommen, ist mehr als fraglich. Auch wenn er die zugestellten Notausgänge nicht zu verantworten hat, wird er …«

»Die Notausgänge waren nicht frei?«, entfuhr es Daniel verständnislos.

»Ja, leider. Nur deswegen waren noch Menschen im Gebäude, als es zur Gasexplosion kam. Wahrscheinlich wäre niemand zu Schaden gekommen, wenn die Evakuierung nicht so lange gedauert hätte.«

»In der Haut des Besitzers möchte ich nicht stecken. Das wird ernsthafte Konsequenzen für ihn haben.«

Fee nickte und bemühte sich, ein herzhaftes Gähnen zu unterdrücken.

»Leg dich ins Bereitschaftszimmer und schlaf ein wenig, Liebling«, sagte Daniel. »Wenn ich deine Hilfe brauche, wecke ich dich. Einverstanden?«

»Ja, vielleicht, Dan. Noch geht es. Ich hoffe, dass wir Berger bald erreichen können. Es ist schon seltsam, dass er sich noch nicht gemeldet hat. Inzwischen hat er bestimmt von dem Unglück erfahren. Er muss sich doch denken können, dass wir hier Hilfe brauchen.«

Daniel nickte nur stumm. Er hatte bereits sein Telefon in der Hand und rief seinen Notfallmediziner an. Vielleicht ging er ja diesmal ran. Aber wieder hörte er nur den einsamen Klingelton, ohne dass jemand abnahm.

Er wollte es gerade aufgeben, als er eine schwache Stimme hörte, die kaum zu verstehen war: »Hilfe … ich …«

»Berger? Sind Sie das?« Am anderen Ende war Stille. »Hallo! Hören Sie mich? … Herr Berger, melden Sie sich!«

»Was ist los?«, flüsterte Fee ihm zu.

Daniel zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Er hatte abgenommen, aber nun ist er wohl weg. Er klang gar nicht gut. Vielleicht probiere ich es nachher noch mal.«

»Hat er aufgelegt?«

»Nein, er antwortet nur nicht mehr.«

Fee nahm ihm schnell das Telefon aus der Hand und legte es auf den Tisch, nachdem sie den Lautsprecher eingeschaltet hatte. »Herr Berger? Sind Sie das? Können Sie mich verstehen?«, versuchte sie ihr Glück.

»Ja … Hilfe …«

»Wo stecken Sie?«, rief Daniel jetzt in echter Sorge.

»Club … Feuer … es hat gebrannt … ich komm nicht raus …«

Es brauchte nicht lange, bis die beiden Ärzte in dem kleinen Pausenraum die Zusammenhänge verstanden. Im maßlosen Entsetzen sahen sie sich an. Das war also der Grund, warum niemand Erik Berger erreichen konnte. Bei der Versorgung der Verletzten konnte er nicht mithelfen, weil er selbst zu ihnen gehörte …

»Berger, hören Sie, versuchen Sie, ruhig zu bleiben!«, sprach Daniel eindringlich auf ihn ein. »Die Rettungskräfte holen alle raus. Können Sie sagen, wo genau Sie sich befinden? Im Eingangsbereich?«

Es dauerte endlos lange, bis Erik antwortete: »Nein … ich glaube, gegenüber der Küche. Da waren Tischnischen …«

»Okay, wir geben das an die Feuerwehr weiter.« Er nickte Fee zu, die ihn gleich verstand, aufsprang und mit ihrem Handy den Notruf der Feuerwehr wählte.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte Daniel derweil. Er wollte unbedingt, dass Erik Berger weiter mit ihm sprach. »Sind Sie verletzt? Haben Sie Schmerzen?«

»Ja … ja … ich bin eingeklemmt … alles ist über mir zusammengebrochen … es ist dunkel … auf meinem linken Arm liegen Trümmer, den … den Unterschenkel kann ich nicht mehr spüren …«

»Okay, das bekommen wir wieder hin. Kein Problem! Sobald Sie hier sind, flicken wir Sie wieder zusammen!«

Ein seltsames Schnarren erklang, das sich verdächtig nach einem misslungenen Lachen anhörte. »Ich war noch nicht fertig, Chef …« Berger machte eine Pause, und Daniel konnte hören, wie er mühsam nach Luft rang. Die rasselnden Geräusche, die dabei zu hören waren, beunruhigten Daniel. »Ich glaube … ich bin sicher, ich habe mir mehrere Rippen gebrochen … Meine Lunge hat’s dabei erwischt. Ich kann kaum atmen … wahrscheinlich Spannungspneu … wird immer schlimmer … denke nicht, dass ich das schaffe, Chef … tut mir leid …«

Daniel schloss die Augen, um sich zu sammeln. Dann sprach er beschwörend auf Erik ein: »Sie müssen durchhalten. Etwas anderes kommt nicht infrage! Wehe, Sie geben einfach so auf. Sie werden das hinbekommen! Haben Sie mich verstanden?«

»Klar, Chef … aber …« Erik schnappte wieder nach Luft. »Aber es sieht echt beschissen aus …«

»Ich weiß. Meine Frau informiert bereits die Rettungskräfte, damit sie wissen, wo sie nach Ihnen zu suchen haben. Es wird nicht mehr lange dauern, bis Sie da raus sind.«

Daniel konnte nicht wissen, wie sehr er sich irrte.

Mit dem Telefon in der Hand lief er in die Notaufnahme. Fee folgte ihm, als sie ihr Telefonat mit der Einsatzleitung der Feuerwehr beendet hatte. Indessen redete Daniel weiter auf Erik Berger ein und versuchte, ihm Mut zu machen. Doch Berger ging es schlechter. Die Pausen, die er inzwischen einlegen musste, kamen immer häufiger und dauerten ständig länger. Daniel wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sein Notarzt das Bewusstsein verlieren würde. Noch nie hatte er sich so ohnmächtig gefühlt. Das Telefon in seiner Hand war die einzige Verbindung zu einem Mann, der dringend ärztliche Hilfe brauchte und für den er trotzdem nichts tun konnte. Irgendetwas musste er doch machen! Er konnte unmöglich tatenlos einem Mann beim Sterben zuhören!

Als Daniel das Dienstzimmer der Notaufnahme erreicht hatte, antwortete Erik nicht mehr. Trotzdem redete Daniel immer weiter auf ihn ein. Vielleicht drang er ja noch zu ihm durch! Vielleicht war Erik nur zu schwach zum Antworten. Und vielleicht war Daniels Stimme das Einzige, das ihn noch am Leben hielt und ihm Hoffnung gab …

*

»Wann treffen die nächsten Verschütteten ein?«, fragte Daniel und sah in die Runde. Er hatte alle Schwestern, Pfleger und Ärzte, die nicht unbedingt bei den Patienten gebraucht wurden, zu einem kurzen Meeting gebeten.

»Das THW legt den Haupteingang frei, um die restlichen Verschütteten zu bergen«, erklärte Dr. Schwebke. Daniel fiel auf, wie müde sein dienstältester Oberarzt aussah. Er musste unbedingt dafür sorgen, dass Schwebke abgelöst wurde und nach Hause fuhr.

»Sobald sie raus sind, werden sie in die Kliniken gebracht«, fuhr Schwebke fort. »Zuerst in die, die in der Nähe des Unglücksortes liegen. Es wird also noch eine Weile dauern, bis sie bei uns eintreffen. Ich habe der Leitstelle erst mal vier freie Betten gemeldet. Bei dringendem Bedarf könnten wir noch vier Notbetten bereitstellen. Dann ist endgültig Schluss.«

»Gut«, sagte Daniel und räusperte sich umständlich. Seine nächsten Worte würden sicher für einige Aufregung sorgen. »Ich möchte, dass ein Bett freigehalten wird. Wir werden es für Dr. Berger brauchen.«

»Dr. Berger?«, fragte Josef Schwebke verwundert nach. »Ich verstehe nicht …«

»Herr Berger gehört zu den Clubbesuchern, die verschüttet worden sind.« Daniel überlegte, ob er die volle, schreckliche Wahrheit offenbaren sollte. »Seine Verletzungen scheinen sehr schwerwiegend zu sein. Wahrscheinlich hat er mehrere Frakturen und einen Spannungspneumothorax. Seine Lunge kollabiert, und er kann kaum atmen. Leider weiß noch niemand genau, wo er sich befindet. Sie suchen nach ihm. Beten wir, dass die Rettung nicht zu spät kommt.«

Daniel konnte das sprachlose Entsetzen im Raum spüren.

Die Betroffenheit in den Gesichtern seiner Mitarbeiter war echt. Auch wenn jeder von ihnen schon mit Erik Berger aneinandergeraten war, wünschten sich alle, dass er unbeschadet aus der Sache herauskommen würde.

»Viele von Ihnen sind seit Stunden ununterbrochen im Dienst. Ich möchte jeden, der entbehrlich ist, bitten, nach Hause zu fahren und ein wenig zu schlafen. Ich denke dabei vor allem an Herrn Schwebke oder Schwester Anna. Machen Sie erst mal Feierabend.«

Josef Schwebke verzog missbilligend den Mund. Nur weil er ein paar Jahre älter war als die anderen, hieß das nicht, dass er nichts mehr leisten konnte und Schonung nötig hätte. Außerdem gab es ja noch Erik Berger. Wie konnte der Chef nur annehmen, dass er jetzt ruhig schlafen könne?

»Das ist nicht nötig, Dr. Norden«, protestierte er deshalb. »Ich fühle mich fit und brauche noch keine Pause. Und wenn Dr. Berger eingeliefert wird, möchte ich da sein. Vielleicht werde ich gerade dann am nötigsten gebraucht. Ich kann mich nicht in ein weiches Bett legen, während er irgendwo unter Steinen, in der Dunkelheit um sein Leben ringt. Glauben Sie mir, Herr Norden, um mich brauchen Sie sich wirklich keine Sorge zu machen.«

»Dr. Berger ist mein Chef.« Die sonst so freundliche und sanftmütige Anna sah den Klinikchef fast finster an. »Ich werde ihn nicht im Stich lassen und nach Hause gehen. Das mache ich erst, wenn ich weiß, dass es ihm gutgeht.«

»Ich werde auch bleiben«, sagte Christina Rohde. »Ich komme mit sehr wenig Schlaf aus, wenn’s sein muss.«

»Ja, ich auch! … Ich halte noch ein paar Stunden durch! … Mir macht’s auch nichts aus hierzubleiben! …«, ertönte es vielstimmig von allen Seiten.

Daniel sah sich gerührt um. Auf seine Mitarbeiter war immer Verlass. Sie standen einander bei, wenn jemand in Not war. Selten war ihm das so bewusst geworden wie an diesem schicksalsträchtigen Tag. Sie waren ein eingeschworenes Team, das in Krisenzeiten fest zusammenhielt. Die Zuversicht, dass sie gemeinsam alles schaffen könnten, durfte er ihnen nicht nehmen, indem er sie auseinanderriss.

»Gut!«, sagte er rau. »Ich vertraue darauf, dass Sie selbst am besten einschätzen können, ob Sie noch in der Lage sind weiterzuarbeiten. Herr Schwebke, die Leitung bleibt dann also weiter in Ihren Händen. Ich werde zum Club fahren. Wenn Herr Berger geborgen wird, möchte ich dabei sein. Es tut ihm vielleicht gut, ein vertrautes Gesicht zu sehen.«

»Bitte bringen Sie ihn uns wieder zurück«, schniefte Schwester Inga auf einmal leise. »Wir haben ihm nie gesagt, wie sehr wir ihn schätzen. Ich … bitte richten Sie ihm einfach unsere Grüße aus, ja? Wir denken an ihn und hoffen, dass er bald wieder unter uns ist.«

»Das mache ich«, versprach Daniel und betete, dass er dazu noch die Gelegenheit bekommen würde.

Fee begleitete ihn zu seinem Wagen. »Fahr zu ihm, Dan«, sagte sie weich. »Vielleicht kannst du ihn noch mal erreichen und ihm Mut zusprechen. Ich weiß, wie sehr du ihn schätzt, obwohl er dich immer wieder auf die Palme bringt. Du magst ihn, nicht wahr?«

»Ja, Feelein, genau wie du. Und so wie es aussieht, auch alle anderen. Du hast sie da drin gesehen. Niemand hat auch nur einen Gedanken an die vielen kleinen Zankereien und Wortgefechte der Vergangenheit verschwendet. Obwohl er oft bärbeißig und zynisch ist, achten sie ihn und wollen ihm beistehen.« Daniel richtete seinen Blick in die Ferne, als er sagte: »Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie schlimm es für ihn sein muss. Eingesperrt mit der Gewissheit, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt. Er ist da ganz allein und muss sich schrecklich fühlen.«

Daniel küsste Fee, stieg in sein Auto und fuhr los.

Noch lange blieb Fee Norden auf dem Parkplatz stehen, um dem davonfahrenden Wagen nachzusehen. Eine unerklärliche Angst breitete sich plötzlich in ihr aus. Ihr war, als wäre dies ein Abschied für immer gewesen. Gerade so, als hätte sie ihren Liebsten das letzte Mal gesehen. Schnell schüttelte Fee diese finsteren Gedanken ab. Wo waren sie nur hergekommen? Daniel ging es gut, ihm drohte keine Gefahr! Trotzdem fühlte es sich so an …

Die Schmerzen und die beißende Kälte spürte Erik schon lange nicht mehr. Obwohl er froh war, dass diese Pein ein Ende hatte, wusste er, dass das kein gutes Zeichen war. Sein Körper gab auf.

Das Telefon war ihm aus der Hand geglitten und lag nun unauffindbar zwischen den Gesteinsbrocken. Anfangs hatte er noch versucht, es wiederzufinden. Doch er hatte schnell aufgegeben. Der Akku war wahrscheinlich ohnehin längst leer. Zudem kostete ihn jede noch so kleine Bewegung viel Kraft. Kraft, die immer mehr schwand, genau wie die Luft zum Atmen. Er wusste, dass das nicht daran lag, dass der Sauerstoff hier knapp wurde. In die kleine Höhle, in der er lag, zog stetig ein kühler Luftstrom hinein. Nein, daran lag es nicht, dass er Angst hatte, jeden Moment ersticken zu müssen. Es war seine Lunge, die allmählich versagte und es nicht mehr schaffte, den Organismus ausreichend mit Sauerstoff zu versorgen.

Erik war lange genug Notarzt, um zu wissen, wie ernst es um ihn stand. Nach seinem letzten Hustenanfall hatte er den metallischen Geschmack von Blut auf seiner Zunge wahrgenommen. Fast hätte er bitter aufgelacht. Nicht nur, dass seine Lungenflügel kollabierten, sie füllten sich auch langsam mit Blut. Entweder hatte eine gebrochene Rippe ein Gefäß verletzt oder der Lungendruck war inzwischen so stark angestiegen, dass die umliegenden Blutgefäße dem nicht mehr standhielten und platzten. Eins war so schlimm wie das andere. Beides bedeutete den sicheren Tod für ihn.

Bei dem Gedanken an sein nahes Ende wurde Erik ganz ruhig. Hätte er nicht vor Angst und Panik durchdrehen müssen? Warum erschreckte ihn der Tod nicht? Ein wissendes Lächeln umspielte seine Lippen, als er an Maika dachte.

Glücklich schloss er die Augen. Bald würde er sie wiedersehen. Viel zu lange war er von ihr getrennt gewesen. Endlich würde die Sehnsucht nach der Frau, die er immer noch liebte, ihr Ende finden. Bald waren sie wieder vereint …

*

Kurz bevor Daniel die Unglücksstelle erreicht hatte, kamen ihm die ersten Rettungswagen mit Blaulicht entgegen. Es war also so weit. Sie hatten wieder Opfer bergen können und brachten sie nun in die umliegenden Krankenhäuser.

Ein Durchkommen bis zum Club war unmöglich. In einer langen Reihe standen Rettungswagen bereit, die darauf warteten, die Geborgenen fortzubringen. Die letzten hundert Meter legte Daniel deshalb zu Fuß zurück. An der Absperrung blieb er fassungslos stehen und sah schreckensbleich auf den ehemaligen Club, der im Souterrain eines zweigeschossigen Geschäftshauses untergebracht war. Sämtliche Fensterscheiben des Gebäudes waren zerborsten, einige Wände waren in sich zusammengefallen. In den beiden oberen Stockwerken befanden sich Büroräume, die dank der fehlenden Außenwände ihr Inneres freigaben. Das Mobiliar war fast unbeschädigt und schien nur darauf zu warten, dass am Montag ein ganz normaler Arbeitstag losging.

Den unscheinbaren Seiteneingang, der in den Nachtclub führte, hatten die Rettungskräfte mit Tüchern und behelfsmäßigen Sichtwänden vor den Blicken der zahlreichen Schaulustigen gesichert. Hier wurden fast im Minutentakt Verletzte geborgen und in die Rettungswagen gebracht.

»Daniel! Komm durch!« Dr. Fred Steinbach hatte seinen alten Freund entdeckt und eilte zu ihm, um ihn hinter die Polizeiabsperrung zu holen. Gemeinsam mit ihm ging er zu dem Rettungswagen, der am anderen Ende des Nachtclubs stand und an dem Jens Wiener wartete.

»Die Sache mit Erik Berger tut mir schrecklich leid, Daniel«, sagte der Rettungsarzt. »Ich habe es erst vor wenigen Minuten erfahren. Jens Wiener und ich stehen hier bereit, damit wir uns um ihn kümmern können, sobald er gefunden wurde.« Er führte Daniel um den Wagen herum. Hier, abseits der Öffentlichkeit, war ein separates Team von Feuerwehr und THW mit der Suche nach Berger beschäftigt. Auch ein Hundeführer war dabei, dessen Belgischer Schäferhund geschickt über die Trümmer sprang, um die Spur des Vermissten aufzunehmen.

»Ihr vermutet ihn hier?«, fragte Daniel gespannt.

»Ja«, beantwortete Markus Never, der sich zu ihnen gesellte, die Frage. Er ging zu einem kleinen Tisch hinüber, auf dem Bauzeichnungen lagen. Mit einem roten Faserstift war auf dem Grundriss des Clubs eine Stelle eingekreist worden. »Das ist der Bereich, der der Küche gegenüberliegt. Hier gibt es einige Tischnischen, von denen Herr Berger am Telefon gesprochen haben könnte. Er kann sich nur dort aufhalten, denn woanders hätte er keine Chance gehabt. In diesen Nischen ist das Mauerwerk so dick, dass es genügend Schutz bietet. Die Männer vom THW sind vorhin mit einer Endoskopkamera angerückt und suchen ihn gezielt in dieser Gegend. Ich hoffe, dass sie ihn bald finden.«

Markus Never sah einem davonfahrenden Rettungswagen nach, der vom Haupteingang des Clubs losfuhr. »Es grenzt fast an ein Wunder, dass es bisher keine Todesopfer zu beklagen gibt. Alle Verschütteten hatten großes Glück, dass die Explosion am anderen Ende des Nachtclubs war und sie sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Foyer befanden. Dort gibt es stabile Decken und feste Mauer, die dem Druck gut standhielten. Im Großen und Ganzen geht es ihnen allen gut, wenn man davon absieht, dass sie stundenlang ausharren mussten und sicher schwer traumatisiert sind.«

Das laute, aufgeregte Rufen seiner Kollegen ließ Markus innehalten. »Ich glaube, sie haben ihn«, rief er und lief los. Daniel und Fred Steinbach folgten ihm. Auch Jens Wiener, den Rettungssanitäter, hielt nichts mehr am Wagen. Geistesgegenwärtig griff er nach der Notfalltasche und rannte zur Bergungsstelle. Er rechnete damit, dass sie den vermissten Arzt der Behnisch-Klinik sofort medizinisch versorgen müssten. Nach wenigen Metern blieb er enttäuscht stehen. Mehr als ein kreisrundes Loch, das so klein war, dass ein erwachsener Mann nur schwerlich durchpasste, war noch nicht zu sehen.

»Wo ist er? Habt ihr ihn gefunden?«, fragte er die Männer.

»Ja, die Kamera hat ihn erfasst«, gab Rainer Gutknecht bedrückt Auskunft. Der Einsatzleiter, der die gesamten Rettungsmaßnahmen vor Ort koordinierte, war nicht wohl bei dem, was er nun zu sagen hatte. Das war der schlimmste Teil seiner Arbeit: anderen sagen zu müssen, dass ein nahestehender Mensch den Kampf gegen den Tod verloren hatte.

»Es tut mir sehr leid, Dr. Norden«, sagte er einfühlsam. »Wir haben alles getan, um ihn so schnell wie möglich zu finden, aber es hat nicht gereicht. Wir kamen zu spät … Er hat es nicht geschafft …«

»Nein!«, stieß Daniel brüsk hervor. Er konnte fühlen, wie sein Herz hart in seiner Brust schlug. Das durfte einfach nicht sein! Erik Berger, der größte Nörgler, Zyniker und Griesgram der Behnisch-Klinik, konnte unmöglich tot sein. »Nein! Das muss ein Irrtum sein … Ich … Ich habe erst vor einer knappen Stunde mit ihm gesprochen … Ich …« Er brach ab, unfähig weiterzusprechen, ohne dabei vollends die Fassung zu verlieren. Was sollte er auch noch sagen? Er wusste doch selbst am besten, dass Leugnen nichts brachte. Es war nur ein hilfloser Versuch, mit der traurigen Gewissheit, dass Dr. Erik Berger nicht mehr lebte, klarzukommen. Das Telefonat mit Berger lag eine Stunde zurück. Eine Stunde, in der alles passieren konnte. Niemand wusste das besser als Daniel. Oft machten Minuten, ja, Sekunden, den Unterschied zwischen Leben und Tod. Eine Stunde war endlos lange für jemanden, der so schwer verletzt war wie Erik Berger. Trotzdem sträubte sich alles in ihm, diese furchtbare Wahrheit anzunehmen. Es durfte einfach nicht sein! Er konnte seinen Mitarbeitern unmöglich sagen, dass alles umsonst gewesen war und dass sie Berger nie wiedersehen würden.

»Vielleicht … Woher wissen Sie, dass er … dass er nicht mehr lebt?«

»Dr. Norden, ich weiß, wie schwer das für Sie sein muss, aber manchmal muss man das Unfassbare einfach akzeptieren. Es wäre gut, wenn wir mit den Angehörigen Kontakt aufnehmen könnten, um sie zu informieren. Sie sollten es erfahren.«

Daniel schüttelte unwirsch den Kopf. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Woher wissen Sie von seinem Tod? Hat jemand seinen Herzschlag überprüft? War überhaupt jemand bei ihm?«

»Natürlich nicht, und das wissen Sie auch.« Gutknecht sah ungeduldig auf. »Wir sind ja schon froh, dass wir die kleine Höhle, in der er liegt, gefunden haben. Viel sehen konnten wir nicht, trotz der LED-Lampe an der Kamera. Dafür ist es dort einfach zu finster. Herr Berger hat auf keinerlei Kontaktversuche reagiert. Auch Atemgeräusche konnten wir mit dem leistungsstarken Mikro nicht mehr auffangen.«

»Das allein reicht Ihnen aus, um den Mann für tot zu erklären?«

»Das und meine jahrelangen Erfahrungen. Niemand schafft es, so viele Stunden in diesem kleinen Hohlraum bei eisigen Temperaturen und mit schwersten Verletzungen zu überleben!«

»Wenn es einer schaffen kann, dann Dr. Berger«, beharrte Daniel. »Sie kennen ihn nicht! Sie wissen nicht, zu was er imstande ist, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Ich gebe ihn nicht auf, nur weil Sie ihm keine Chancen einräumen. Wenn Sie ihn da nicht rausholen, mache ich das eben!«

»Ich helfe dir!«, mischte sich Fred Steinbach ein.

Jens Wiener versicherte schnell: »Und ich mach auch mit.«

Aufgebracht sah Gutknecht die drei Männer an, die sich gegen ihn stellten und keinen Wert auf seine Expertenmeinung legten. »Noch habe ich hier das Sagen. Und ich werde keinesfalls zulassen, dass Sie eigenmächtig nach Vermissten suchen und sich oder andere in Gefahr bringen.«

»Stimmt«, sagte Markus Never. Unbemerkt von seinem Chef zwinkerte er Daniel verschwörerisch zu, bevor er mit Nachdruck weitersprach: »Schließlich sind wir für die Rettung von Verschütteten zuständig und nicht Sie. Also treten Sie bitte etwas zur Seite, damit wir unsere Arbeit machen können!«

»Äh …«, sagte Gutknecht verdattert. So hatte er das eigentlich nicht gemeint. Er wirkte etwas nervös, war dann aber dankbar für den Ausweg, den Never ihm aufgezeigt hatte. »Genau«, sagte er schnell. »Wir fangen jetzt mit der Bergung an. Bitte stehen Sie nicht im Weg!«

Daniel atmete auf. Die Gefahr, dass man Berger einfach aufgeben und zurücklassen würde, war vorerst gebannt. Sie würden ihn da rausholen. Und erst wenn Daniel es eigenhändig überprüft hatte, konnte er daran glauben, dass sie zu spät gekommen waren.

»Mehr als diesen schmalen Tunnel bekommen wir auf die Schnelle nicht hin.« Markus Never kniete vor dem Loch, das in das Innere des Clubs führte. »Bergen können wir ihn hier nicht, aber vielleicht reicht der Gang aus, um zu ihm zu gelangen. So könnten wir wenigstens nachsehen, ob er … Wie es ihm geht. Auch Erste Hilfemaßnahmen wären möglich.«

Rainer Gutknecht zog bei diesen Worten scharf die Luft ein. Durfte er wirklich jemanden da reinschicken und dessen Leben riskieren, nur um dann festzustellen, dass alles umsonst gewesen war und sie dort nur ein Leichnam erwartete? Mag sein, dass dieser Dr. Norden ihn für herzlos hielt. Und wahrscheinlich würde er ihn hassen, wenn er die Sache abblies. Aber hatte er eine andere Wahl? Immerhin trug er hier die Verantwortung für die Gesundheit und das Leben seiner Leute.

»Ich melde mich freiwillig«, sagte Markus Never schnell, der genau wusste, was seinen Vorgesetzten beschäftigte.

Sein Einsatzleiter war ein guter Mann, der in seinem Job Hervorragendes leistete. Niemand war so besonnen und umsichtig wie er. Und dass es ihn widerstrebte, unnötige Risiken einzugehen, war allzu verständlich.

»Chef, ich bekomme das hin«, versicherte ihm Markus, als sich Rainer Gutknecht immer noch mit einer Entscheidung schwertat. »Der Tunnel sieht stabil aus und wird schon halten.«

»Ihren Optimismus teile ich leider nicht«, knurrte Gutknecht. »Gut, gehen Sie rein. Aber sollte auch nur ein einziger Kieselstein von seinem Platz rollen, blasen wir das Ganze ab. Dann räumen wir erst Stück für Stück die Felsen weg, bis wir zu dieser verdammten Höhle durchgestoßen sind.«

»Danke!« Nicht nur Markus fiel ein Stein vom Herzen.

Alle Männer, die die Auseinandersetzung zwischen Dr. Norden und dem Einsatzleiter mitbekommen hatten, waren froh, dass sich jemand auf den Weg zu dem Verschütteten machte. Nur so würden sie die Gewissheit bekommen, ob das noch eine Rettungsaktion war oder ob es nur darum ging, einen Toten zu bergen.

»Wie gut sind Ihre medizinischen Kenntnisse?«, fragte Daniel den Feuerwehrmann, der sich für den Einsatz fertigmachte.

»Erste Hilfe und Notfallrettung bekomme ich hin. Damit habe ich täglich zu tun. Aber ich kann keinen Arzt ersetzen, das wissen Sie hoffentlich.«

»Falls Herr Berger noch …« Daniel brach bestürzt mitten im Satz ab. Falls? Warum hatte er selbst die größten Zweifel daran, dass Berger noch am Leben war? »Was ich sagen wollte … Herr Berger hat wahrscheinlich einen Spannungspneumothorax. Wissen Sie, was da zu tun ist?«

»Nur in der Theorie und auch das nur sehr vage. Ich hoffe nicht, dass Sie von mir irgendwelche Maßnahmen in dieser Richtung erwarten. Ich glaube nicht, dass ich das hinbekommen würde.«

Daniel zögerte. Wahrscheinlich verlangte er da wirklich zu viel von dem Feuerwehrmann. »Nein, natürlich nicht. Sagen Sie mir einfach per Funk, wie es um ihn steht, und dann sehen wir weiter.«

»Ich habe Sauerstoff für ihn dabei und ein paar Wärmedecken. Ich könnte auch versuchen, eine Infu­sion anzulegen. Meinen Sie, das reicht fürs Erste?«

»Ja … Ja, natürlich! Wunderbar! Legen Sie ihm wenigstens eine Nasensonde und verabreichen Sie ihm Sauerstoff. Damit gewinnen wir etwas Zeit.« Leiser werdend fügte er hinzu: »Ich bin einfach froh, dass es losgeht. Ich weiß, dass wir das nur Ihnen zu verdanken haben.«

»Schon gut, Dr. Norden. Ich mache hier nur meine Arbeit.«

*

Kriechend kam Markus auf dem steinigen Untergrund nur mühsam voran. Immer wieder versperrte loses Geröll den schmalen Tunnel, und er musste es unter Aufbietung aller Kräfte wegräumen. In voller Montur kam er trotz der kalten Luft schnell ins Schwitzen. Die zwanzig Meter bis zu der kleinen Höhle, in der Dr. Erik Berger lag, nahmen kein Ende und waren kaum zu schaffen. Markus versuchte, sich nur auf das zu konzentrieren, was er hier tat. Nur so gelang es ihm, seine Gedanken bei sich zu behalten. Immer wieder wollten sie abschweifen, um sich mit dem zu beschäftigen, was ihn am Ende des Gangs erwartete. In seinen Jahren bei der Berufsfeuerwehr hatte er schon viel Leid gesehen. Der Tod war zu einem ständigen Begleiter für ihn geworden. Trotzdem hatte er sich nie an ihn gewöhnen können. Nach wie vor war er sein schlimmster Feind, und Markus Never tat alles in seiner Macht Stehende, um ihm ein Menschenleben abzutrotzen. Das war es auch, das ihn angetrieben hatte, sich seine Sauerstoffmaske anzulegen und in diesen engen Tunnel zu kriechen. Es lag ihm einfach nicht aufzugeben. Solange es noch eine Chance gab – und war sie noch so klein –, würde er niemanden im Stich lassen.

Als Markus die kleine Höhle erreicht hatte, lief ihm der Schweiß so heftig von seinem Gesicht, dass er sich in seiner Maske sammelte. Mit einer Hand lüftete er sie kurz, dann richtete er seinen Oberkörper vorsichtig auf und leuchtete den engen Raum ab. Besorgt sah er nach oben. Einen knappen Meter über ihn bildeten lose Steinplatten eine instabile Decke, die jederzeit herabstürzen konnte. Alles in ihm schrie, sofort den Rückzug anzutreten. Doch er hatte nicht diesen beschwerlichen Weg auf sich genommen, um nun einfach umzukehren. Er musste wenigstens Gewissheit haben, ob Erik Berger noch am Leben war.

»Herr Berger! Erik! Können Sie mich hören?«

Dr. Berger reagierte nicht. Rücklings lag er zwei Meter vor Markus auf dem Boden, mit den Füßen zum Tunneleingang. Nichts deutete darauf hin, dass noch Leben in ihm war.

Langsam kroch Markus weiter. Er wusste, dass jede kleinste Erschütterung die fragile Konstruktion, aus der diese Höhle bestand, zum Einsturz bringen könnte. Endlich erreichte er den Mann, um den sich so viele Menschen sorgten. Aufmerksam betrachtete er ihn. Hob sich gerade sein Brustkorb? Atmete er noch? Markus wusste es nicht. Trotz der leistungsstarken Helmlampe konnte er es nicht erkennen.

Rasch zog er einen Handschuh aus und tastete Bergers Halsschlagader auf der Suche nach einem Herzschlag ab. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis er sich sicher war, dass er einen Puls fühlte. Sehr schwach und rasend schnell, aber Erik Berger lebte! Er war noch nicht tot! Und Markus würde alles tun, damit dies auch so blieb!

Die gute Nachricht brachte die Männer draußen zum Jubeln. Daniels Freude war allerdings eher verhalten. Wenn Berger nicht auf den schnellsten Weg ins Freie kam, würde alles umsonst gewesen sein.

»Wie geht es ihm?«, fragte er über das Funkgerät. »Haben Sie schon ein paar Vitalwerte für mich?«

»Ja, er ist bewusstlos und nicht erweckbar. Der Blutdruck liegt bei sechzig systolisch und ist kaum noch messbar. Der Herzschlag ist tachykard, die Atmung sehr flach. Soweit ich das bei der Beleuchtung sicher feststellen kann, ist er leicht zyanotisch.«

Es stand schlimm um Berger. Mit seiner Eigendiagnose Spannungs­pneumothorax hatte er offensichtlich richtig gelegen. Dass seine Haut eine zyanotische, also bläuliche Verfärbung angenommen hatte, zeigte, dass die Atmung unzureichend war und sich zu wenig Sauerstoff im Blut befand.

»Wie schnell können Sie ihn da rausbekommen?« Als Markus Never nicht gleich antwortete, fragte er drängender nach: »Herr Never? Hören Sie mich? Was meinen Sie, wie lange es noch dauert, bis wir Berger hier im Rettungswagen haben?«

»Geben Sie mal her!« Rainer Gutknecht nahm ihm das Funkgerät aus der Hand, um mit seinem mutigsten Feuerwehrmann zu sprechen. »Wie schätzen Sie die Lage ein? Ist eine Bergung mit Schaufeltrage möglich?«

»Nein … Nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Wir bekommen ihn unmöglich auf einem Spineboard hier raus. Die Trage ist zu breit für den engen Tunnel.«

»Das heißt also, wir müssen weiter Trümmer wegräumen.«

»Ja, aber … Aber ich weiß nicht, ob die Zeit noch reicht. Es steht sehr schlecht um ihn. Außerdem … hier gibt es keine stabile Decke, sondern nur lose Steinplatten und Betonbrocken, die jeden Augenblick herabstürzen könnten.«

»Sie kommen da auf der Stelle raus!«, sagte Gutknecht behutsam, so als fürchte er, dass die Höhle wie ein Kartenhaus zusammenfallen würde, sollte er seine Stimme erheben. Dabei sprach er deutlich und betonte jede einzelne Wortsilbe, um sicher zu gehen, dass es keine Missverständnisse gab. »Raus da! Sofort!«

»Verstanden!«

Mit zunehmendem Entsetzen und starr vor Angst war Daniel dem kurzen Funkgespräch verfolgt.

»Sie brauchen hier keine Diskussion mit mir anzufangen, Dr. Norden«, schnarrte ihn Rainer Gutknecht an, ehe Daniel dazu kam zu protestieren. »So leid es mir für Herrn Berger tut, ich werde nicht das Leben meines Mannes aufs Spiel setzen.«

»Verstehe«, erwiderte Daniel und versuchte, ruhig zu bleiben. »Und was passiert jetzt? Wie soll es weitergehen?«

»Sobald Markus Never in Sicherheit ist, fangen wir an, das Geröll abzutragen. Das THW muss vorher alles absichern und wahrscheinlich einige Stützen verbauen, um ein Einstürzen des Schuttberges zu verhindern. Erst wenn das geschehen ist, können wir uns an die Bergung ihres Mitarbeiters machen.«

Daniel musste erst schlucken, bevor er die nächste Frage stellen konnte: »Was schätzen Sie? Wie lange wird es dauern, bis Sie ihn da raushaben?«

Rainer Gutknecht sah ihm fest in die Augen. In seinen Worten klang echtes Bedauern mit, als er sagte: »Zwei oder drei Stunden. Mindestens.«

Daniel schüttelte den Kopf und sagte erschüttert: »So viel Zeit hat er nicht mehr.« Seine Knie gaben nach, und er musste sich auf einen der riesigen Steinbrocken setzen, die hier überall herumlagen.

Fred Steinbach war plötzlich bei ihm und drückte ihm einen Becher Tee in die Hand. »Trink das. Vielleicht geht’s dir dann etwas besser.«

»Mit mir ist alles in Ordnung«, versicherte Daniel halbherzig, nahm seinem Freund aber dankbar den Tee ab.

Während er trank, beobachtete er das Treiben der Rettungskräfte. Am Haupteingang des Clubs kehrte allmählich Ruhe ein. Alle, die im Foyer festgesessen hatten, waren inzwischen geborgen und in die Kliniken gebracht worden. Es war kaum zu glauben, dass dieser Brand kein Todesopfer gefordert hatte und es für die meisten Clubgäste glimpflich ausgegangen war. Nur für einen nicht.

Markus Never kam zu ihnen. »Es tut mir leid, Dr. Norden. Ich hätte ihn gern mitgebracht. Bitte glauben Sie mir das.«

»Das mache ich. Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen, Herr Never. Sie haben alles getan, was in ihren Kräften stand.«

»Es fühlt sich nicht so an. Es ist mir unheimlich schwergefallen, ihn zurücklassen zu müssen. Doch es gab nichts, was ich tun konnte, außer ihn in warme Decken zu hüllen und Sauerstoff zu geben. Vielleicht hält er so lange durch, bis wir ihn bergen können.«

»Ja … Ja, vielleicht«, erwiderte Daniel, obwohl er es nicht glaubte.

Markus Never blieb unschlüssig vor Daniel stehen.

»Am liebsten wäre ich bei ihm geblieben. Aber mein Chef hat die richtige Entscheidung getroffen, als er mir befahl herauszukommen. Und Sie verstehen sicher, dass ich mich seiner direkten Anordnung nicht widersetzen durfte.«

»Ja, natürlich, er ist Ihr Vorgesetzter.« Daniel sah auf, als ihm etwas einfiel. »Mir kann Herr Gutknecht keine Befehle geben.«

»Nein …« Markus sah den Arzt, der augenscheinlich unter Schock stand, verwirrt an. »Sie sind ja kein Angestellter der Rettungswache.«

»Stimmt!« Daniel sprang auf und drückte Fred Steinbach seinen leeren Becher in die Hand. »Ich geh da rein!«, sagte er energisch, um jeden Widerspruch im Keim zu ersticken. Ohne Erfolg.

»Bist du verrückt geworden!«, platzte Fred lautstark raus. »Du wirst auf gar keinen Fall durch einstürzende Trümmerteile zu ihm kriechen!«

»Das können Sie vergessen, Herr Norden«, wetterte Rainer Gutknecht, der die letzten Worte mitbekommen hatte. »Das werde ich niemals genehmigen.»

»Dann ist es ja gut, dass ich Ihre Genehmigung gar nicht brauche. Ich unterstehe nicht Ihrem Kommando, und wenn ich vorhabe, zu meinem Mitarbeiter zu gehen, um ihn am Leben zu halten, wird mich niemand daran hindern können! Was würden Sie denn an meiner Stelle machen, Herr Gutknecht? Was wäre, wenn einer Ihrer Männer dort liegen würde? Würden Sie sich hier ruhig hinsetzen und einfach nur auf das Beste hoffen, obwohl Sie wissen, dass Sie mehr tun könnten?«

Gutknecht sah ihn lange an, dann sagte er so leise, dass er kaum zu verstehen war: »Ich sage Ihnen, was ich machen würde: Ich würde mir Atemschutzkleidung besorgen, sie anziehen und dann durch diesen verdammten Tunnel kriechen. In einem Rucksack, den ich bei mir tragen würde, hätte ich alles, was an medizinischer Ausrüstung nötig wäre, um das Leben meines Mannes zu retten. Das ist das, was ich machen würde. Und das erzähle ich Ihnen nur, weil Sie mich ganz direkt danach gefragt haben. So, und nun gehe ich rüber zu meinen Leuten am Haupteingang, um mir Bericht erstatten zu lassen. Das kann eine Weile dauern. In der nächsten Viertelstunde habe ich dort sicher zu tun.«

Gutknecht drehte sich um und ließ die verdutzten Männer zurück.­

»Was sollte das denn eben?«, fragte Fred Steinbach perplex.

Daniel beantwortete die Frage seines Freundes nicht. Stattdessen wies er hastig an: »Fred, pack alles in einem Rucksack zusammen, was ich da drin gebrauchen könnte. Denk vor allem an eine Pleurakanüle mit Ventil. Herr Never, können Sie mir die Schutzkleidung besorgen?«

»Nein, ich will meinen Job nicht verlieren.« Er grinste. »Ich kann Ihnen höchstens zeigen, wo die Sachen hier rumliegen. Wenn Sie sich dann da einfach bedienen, ist es nicht meine Schuld.«

»Daniel, sei vernünftig!« Fred hatte nicht vor, Daniel kampflos in sein Unglück rennen zu lassen. »Du kannst da unmöglich reingehen! Erwarte nicht von mir, dass ich dieses Himmelfahrtskommando unterstütze.«

»Ich besorg Ihnen die Sachen, Dr. Norden«, sagte Jens Wiener und lief zum Rettungswagen. Fred sah dem jungen Mann kopfschüttelnd hinterher. Dann versuchte er weiter, Daniel umzustimmen.

»Denk wenigstens an Fee und deine Kinder. Wenn dir etwas passiert …«

Damit hatte er einen wunden Punkt bei Daniel getroffen. Der Gedanke an seine Familie tat weh. Die Vorstellung, dass er sie vielleicht nie wiedersah, weil er zu viel riskiert hatte, ließ ihn erschauern.

»Ruf wenigstens Fee an!«, bat Fred. »Sag ihr, was du vorhast.«

*

In der Behnisch-Klinik kümmerte man sich um die Verletzten, die die Rettungswagen brachten. Viele von ihnen waren traumatisiert, litten an Unterkühlung oder oberflächlichen Verletzungen. Sie hatten sehr großes Glück gehabt und würden die Klinik bereits am nächsten Tag verlassen können.

Fee ließ ihren letzten Patienten auf die chirurgische Station verlegen und ging dann in den Pausenraum. Die meiste Arbeit war getan, sie wurde hier nicht mehr gebraucht. Doch einfach nach Hause fahren, um den versäumten Nachtschlaf nachzuholen, konnte sie nicht. Nicht, solange Daniel noch unterwegs war und niemand wusste, ob Erik Berger seinen Clubbesuch überleben würde.

»Frau Rohde!«, rief Fee, als sie den kleinen Aufenthaltsraum der Notfallambulanz betrat und ihre Kollegin dort sitzen sah. »Schön, dass Sie auch hier sind. Dann brauche ich meinen Kaffee nicht allein trinken.«

»Hm«, nuschelte Christina Rohde unbestimmt und wandte sich ab, um in ihr Taschentuch zu schnäuzen.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte Fee behutsam nach.

»Ja, keine Sorge«, schniefte Christina leise.

Fee strich ihr über die Schulter, bevor sie sich zu ihr setzte. »Ich denke, wir werden alle eine Weile brauchen, um das, was wir heute hier erlebt haben, zu verarbeiten«, sagte sie mitfühlend. »Die letzten Stunden waren hart und haben an unseren Nerven gezerrt. Es ist gut, wenn es uns gelingt, das aus uns herauszulassen. Niemand sollte sich also seiner Gefühle oder Tränen schämen, Frau Rohde.«

Christina hob den Kopf und sah Fee offen an. »Das weiß ich alles«, meinte sie tieftraurig. »Es ist nur so, dass mich zusätzlich mein schlechtes Gewissen quält.« Sie begann wieder zu weinen. »Ich fühle mich so schuldig.«

»Schuldig?« Fee wunderte sich. »Wieso sollten Sie sich schuldig fühlen? Sie haben die Fritteuse nicht in Brand gesetzt!«

»Nein, aber nur meinetwegen war Herr Berger dort. Hätte ich mich nicht über ihn beschwert, wäre er wohl nicht in den Club gegangen. Er hätte das Wochenende – so wie immer – in der Klinik verbracht und gearbeitet. Nur meinetwegen hat ihm Ihr Mann Hausverbot erteilt und diesen Zwangsurlaub verhängt.«

Fee nahm Christina Rohde in ihre Arme, um sie zu trösten. »Bitte reden Sie sich das nicht ein«, sagte sie warm. »Es war Bergers Entscheidung gewesen, den Abend im Club zu verbringen, nicht Ihre. Und mit dem schrecklichen Feuer hatten Sie erst recht nichts zu tun. Es war ein Unglücksfall, Schicksal, Vorsehung – was auch immer. Aber auf gar keinen Fall war es Ihre Schuld.«

Als Fees Telefon klingelte und sie Daniels Nummer sah, ging sie ran. Endlich meldete er sich. Sie hoffte inständig zu hören, dass Erik Berger in Sicherheit war. Das wäre genau die Nachricht, die Christina Rohde brauchte, um ihre Schuldgefühle zu verbannen. Doch mit dem, was Daniel ihr gestand, hatte sie nicht gerechnet. »Das kann unmöglich dein Ernst sein, Dan«, wisperte sie entsetzt. »Bitte sag mir, dass du nicht vorhast, dich in diese gefährliche Situation zu begeben!«

»Fee, mein Liebling, bitte versteh mich«, bat Daniel. »Ich muss es einfach tun. Das ist das Einzige, was Berger noch retten könnte.«

»Wenn … wenn noch nicht mal die Feuerwehrmänner da reingehen dürfen …« Ohne dass sie es merkte, hatte Fee zu weinen begonnen. »Tu es nicht, Dan. Bitte, ich flehe dich an!«

»Was soll ich sonst machen, Feelein?«, fragte Daniel leise. »Soll ich hier einfach sitzenbleiben mit der Gewissheit, dass nur wenige Meter von mir entfernt ein Mann seinem sicheren Tode entgegengeht? Soll ich ihm die einzige Chance, die er hat, nehmen? Er wird sterben, Fee. Er kann es nicht schaffen, wenn ich nicht zu ihm gehe.«

Fee nickte weinend. »Ja … Ja, das weiß ich doch!« Sie schluchzte laut auf. »Bitte Dan, pass auf dich auf. Hörst du? Du musst zu mir zurückkommen. Versprich es mir!«

»Das mach ich, mein Liebling. Du weißt, wie sehr ich dich liebe. Ich würde dich niemals allein lassen.«

»Ich liebe dich auch«, flüsterte Fee tränenerstickt zurück. Dann legte Daniel auf.

Nun war sie es, die Trost brauchte. Christina Rohde, die jedes Wort des Telefonats mitgehört hatte, zog die Frau des Chefarztes in ihre Arme. »Sie werden es schaffen, Frau Norden!«, sagte sie so, als wäre sie davon überzeugt. »Sie werden es beide schaffen!«

*

Die Strecke durch den engen Tunnel verlangte Daniel alles ab. Obwohl er regelmäßig Sport trieb und sich eigentlich für fit hielt, musste er mehrere kleine Pausen einlegen, bevor er endlich den Hohlraum erreichte. Atemlos kroch er auf Berger zu. Seine Anspannung ließ etwas nach, als er feststellte, dass Erik noch lebte. Es ging ihm zweifellos schlecht. Doch solange noch Leben in ihm war, gab es auch Hoffnung.

Daniel untersuchte ihn so gründlich, wie es die schwierigen Umstände in der Höhle zuließen. Zum Glück hatte ihm Markus Never noch einen zweiten leistungsstarken Halogenstrahler mitgegeben, der nicht nur für ausreichend Licht, sondern auch für etwas Wärme sorgte.

Aus dem Rucksack mit der medizinischen Ausrüstung zerrte Daniel alles heraus, was er für die Pleurapunktion benötigte. Sie hatte oberste Priorität. Eine oder mehrere gebrochene Rippen hatten so viel Schaden angerichtet, dass Luft in den Pleuraspalt gedrungen war. In diesem Raum zwischen Lunge und Brustwand muss eigentlich ein ständiger Unterdruck herrschen, sodass sich die Lungenflügel beim Einatmen ausweiten können. Bei Erik Berger hatte dieses System versagt. Schlimm genug, dass die Lunge durch den fehlenden Unterdruck an äußerer Spannung verloren hatte und die Lungenflügel kollabierten, der zu hohe Druck wirkte sich auch äußerst ungünstig auf Herz und umliegende Gefäße aus.

Nach nur wenigen Minuten hatte Daniel diesen Missstand beseitigt. Eine Kanüle, die er richtig platziert in Eriks Brustkorb gestoßen hatte, ließ die eingedrungene Luft nach außen entweichen und sorgte dafür, dass der hohe Druck in der Pleurahöhle sank.

Die größte Gefahr war gebannt. Nun konnte sich Daniel darum kümmern, Bergers Kreislauf zu stabilisieren. Er legte eine Infusion an, spritzte Medikamente, die das Herz stärkten und den Blutdruck normalisierten. Es dauerte, bis seine Maßnahmen Wirkung zeigten. Als ein leises Stöhnen aus Eriks Mund drang, hätte Daniel vor Freude fast aufgelacht.

»Na, alter Freund. Wird ja auch Zeit, dass Sie zu mir zurückkehren!«

»Alter Freund?«, fragte Erik kaum verständlich mit geschlossenen Augen. »Seit wann sind wir denn Freunde? Und warum sind Sie überhaupt bei mir?«

»So wie’s aussieht, bin ich hier, um Ihnen das Leben zu retten, Herr Berger.«

»Mist!«, stöhnte Erik gequält. »Wahrscheinlich stehe ich nun für immer in Ihrer Schuld.«

Daniel lachte leise. »Schön, dass Sie wieder ganz der Alte sind. Und keine Angst, ich käme nie auf die Idee, solche Schulden einzufordern.«

Erik Berger schlug langsam die Augen auf. An dem Entsetzen, das sich darin widerspiegelte, erkannte Daniel, dass sein Patient erst jetzt begriff, wo sie sich befanden.

»Wieso? … Ich bin immer noch hier?«

»Ja, leider.« Daniel bemühte sich, ihm die Wahrheit schonend beizubringen. Er wusste, wie geschockt Berger sein musste, wenn er erfuhr, dass eine Rettung noch nicht möglich war und sie hier noch eine Weile ausharren mussten. »Das THW muss die Unglücksstelle erst absichern, damit man uns gefahrlos hier rausholen kann. Uns bleibt nichts anderes übrig, als hier abzuwarten.«

Erik schloss schwer atmend die Augen. »Es könnte also alles zusammenbrechen, und trotzdem sind Sie hier? Warum?«, fragte er gepresst.

»Weil es nötig ist. Und nun lassen Sie uns nicht mehr darüber sprechen. Sagen Sie mir lieber, wie es Ihnen geht. Haben Sie Schmerzen? Bekommen Sie genug Luft?«

»Ja und nein. Ich habe nicht mehr das Gefühl, ersticken zu müssen, dafür bereitet mir das Luftholen höllische Schmerzen. Auch meine linke Seite … kein Wunder, bei dem Mist, der darauf liegt.«

»Tut mir leid, dagegen kann ich nichts machen. Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Wenn ich versuchen würde, Sie von den Steinen zu befreien, könnte es passieren, dass ich damit die ganze Kiste ins Rutschen bringe und hier alles zusammenbricht. Wenn Sie möchten, spritze ich Ihnen ein Schmerzmittel.«

»Nein … Nein, geben Sie mir nichts gegen die Schmerzen. Ich will einen klaren Kopf behalten und Sie …« Erik Berger sah den Chefarzt ernst an. »Ich danke Ihnen, Herr Norden, für das, was Sie für mich getan haben, aber … es wird Zeit, dass Sie jetzt wieder verschwinden.«

»Wie bitte?«, fragte Daniel kons­terniert nach.

»Gehen Sie! Sie haben genug für mich getan. Den Rest schaffe ich allein. Sie müssen nicht hierbleiben und weiter Ihr Leben für mich riskieren.«

»Sparen Sie sich Ihren Atem, Berger«, erwiderte Daniel schroff. »Ich werde Sie hier nicht zurücklassen. Ob es Ihnen gefällt oder nicht – Sie brauchen mich!«

Erik schüttelte abwehrend den Kopf. »Nein … Nein, ich brauche niemanden … Gehen Sie. Es stört mich nicht, allein zu sein. Ich weiß, dass es niemanden für mich gibt.«

Prüfend sah Daniel den Mann, der schwer verletzt vor ihm lag, an. Ob er ahnte, wie viel er gerade von sich preisgegeben hatte?

»Sollen die Männer draußen jemanden für Sie verständigen, Herr Berger? Ihre Familie?«

»Nein, ich habe keine.«

»Vielleicht Freunde? Gute Bekannte?«

»Freunde? Glauben Sie wirklich, dass jemand wie ich Freunde hätte?« Berger lachte hart auf und verzog dabei schmerzhaft das Gesicht. »Ich kenne niemanden, den ich als meinen Freund bezeichnen würde. Im Gegensatz zu Ihnen würde mich keine einzige Seele vermissen. Aber auf Sie warten viele Menschen, die hoffen, dass Sie lebend zu Ihnen zurückkehren. Also tun Sie ihnen den Gefallen.«

»Ich habe nichts anderes vor und werde hier heil wieder herauskommen. Und ob Sie es glauben oder nicht: Jeder in der Klinik, wünscht sich das auch von Ihnen.«

»Sind Sie sich da sicher?«, spöttelte Erik. »Ich gehöre nicht gerade zu den beliebtesten Mitarbeitern der Klinik.«

»Und trotzdem werden Sie geschätzt und respektiert. Ich soll Sie von allen herzlich grüßen.«

Am Funkgerät, das Daniel bei sich trug, meldete sich Rainer Gutknecht: »Dr. Norden? Wie sieht es bei Ihnen aus?«

»Gut«, berichtete Daniel. »Herr Berger ist halbwegs stabil. Aber er muss so schnell wie möglich in die Klinik gebracht werden. Bitte sagen Sie mir, dass Sie irgendetwas tun werden, um uns rauszuholen.« Daniel hoffte, dass der Einsatzleiter nicht davon sprechen würde, wie schlecht die Aussichten für eine baldige Bergung standen. Das, was sein Patient brauchte, war die Zuversicht, gerettet zu werden.

»Wir haben einen Plan«, sagte Gutknecht zu Daniels Freude. »Bevor wir von außen die Trümmer wegräumen können, muss Ihre Höhle dort unten gesichert werden. Das heißt, wir müssen Balken einbringen, die die lose Decke abstützen werden.«

»Und wie soll das passieren?«, fragte Daniel nachdenklich. »Sagten Sie nicht, Sie wollten hier niemanden von Ihren Männern reinlassen? Leider glaube ich nicht, dass ich das allein hinbekommen werde.«

»Keine Angst, das brauchen Sie auch nicht. Es kommt gleich Verstärkung zu Ihnen. Notgedrungen musste ich meine Anweisungen ändern. Ich kann schlecht zwei Männer in dieser Höhle sich selbst überlassen. Das wird jeder verstehen können, sollte ich irgendwann darüber Rechenschaft ablegen müssen.«

Daniel hoffte, dass Berger nie die volle Wahrheit erfahren würde: Er allein, mehr tot als lebendig, wäre dieses Risiko nicht wert gewesen. Nur für ihn würde niemand reinkommen. Daniel konnte dem Einsatzleiter deswegen noch nicht mal gram sein. Manchmal musste man den zu erwartenden Nutzen mit den Risiken abgleichen und unliebsame Entscheidungen treffen.

Rainer Gutknecht erläuterte kurz den Plan: »Ich schicke zwei Freiwillige rein, die die Absicherung übernehmen werden. Danach fangen wir mit der Räumung an und tragen die Steine ab, um den Verletzten bergen zu können. Haben Sie alles verstanden?«

»Ja, ja natürlich! Und, Herr Gutknecht: vielen Dank!«

Ohne darauf zu antworten, beendete Rainer Gutknecht das Gespräch.

»Rückt die Artillerie an?«, presste Erik hervor. Das Sprechen schien ihn anzustrengen, auf seiner Haut hatte sich ein schweißnasser Film gebildet.

»Was ist los, Erik?«, fragte Daniel alarmiert nach.

»Erik?«, versuchte Berger zu witzeln, obwohl er kaum noch reden konnte. »Seit wann … sind wir denn beim Vornamen angelangt? Nur … nur weil Sie mir das Leben retten, macht uns das noch lange nicht zu Blutsbrüdern.«

»Hören Sie auf mit dem Quatsch und sagen Sie mir gefälligst, was los ist. Fällt das Atmen schwer?«

»Nein … Jedenfalls nicht mehr als sonst. Die gebrochenen Rippen … die Schmerzen haben zugenommen. Sie … sie sind kaum auszuhalten.«

»Gut, das war’s mit Ihrer übertriebenen Tapferkeit. Ich spritze Ihnen etwas, egal, ob es Ihnen gefällt oder nicht. Sie wissen, dass Ihre starken Schmerzen Sie nicht nur am Atmen hindern. Sie können Sie auch in einen Schockzustand bringen.«

»Kein Morphin oder ein anderes Opiat …«

»Sind Sie mit Novalgin einverstanden? Ihrem Blutdruck geht es dafür gut genug.«

Erik biss die Zähne zusammen und nickte. Das Medikament würde seine Schmerzen lindern, ohne ihn zu betäuben. Als ihm sein Chef das Mittel langsam durch die Kanüle in seine Armvene spritzte, schloss er die Augen und dachte an Maika. Womöglich wäre Morphium doch nicht so schlecht gewesen. Er wäre etwas weggedämmert, und in seinen Träumen hätte er vielleicht Maika wiedergesehen.

Ein lautes Geräusch schreckte ihn auf.

»Unsere Retter sind eingetroffen«, beruhigte ihn Daniel. »Kein Grund zur Aufregung!«

Es überraschte Daniel nicht, dass Markus Never zu den Freiwilligen gehörte, die sich um die Sicherung des Raums kümmern würden. »Sie schon wieder?«, begrüßte er ihn scherzend.

»Ja, ich kenn’ mich nun mal am besten hier aus«, gab Markus lächelnd zurück. »Schön, Sie wach zu sehen, Herr Berger. Halten Sie noch durch. Sie haben es fast geschafft. Und Sie, Dr. Norden, können sich nun auf den Rückweg machen.«

Daniel wehrte das entschieden ab. »Nein, ich bleibe hier bis zum Schluss. Ich werde nicht gehen.«

»Das wäre aber das Vernünftigste, Dr. Norden. Wenn mein Kollege mit den Balken kommt, wird’s hier sehr eng. Ich glaube nicht, dass der Platz für alle reicht.«

»Gehen Sie schon, Chef. Mir geht’s gut. Sie müssen nicht neben mir sitzen und meine Hand halten.«

»Hören Sie auf Ihren Patienten, Dr. Norden. Er ist nicht mehr allein. Und falls es Probleme geben sollte, melden wir uns bei Ihnen. Dann können Sie sofort zurückkommen.«

Daniel sah ein, dass er gehen musste. Schweren Herzens verabschiedete er sich von Erik. »Wir sehen uns gleich wieder. Der Rettungswagen steht draußen für Sie bereit, und in der Behnisch-Klinik wartet ein gemütliches Bett auf Sie.«

»Ich hoffe, ich bekomme das schönste Einzelzimmer.«

Daniel lächelte. »Selbstverständlich. Sie müssen nur noch ein Weilchen durchhalten, bevor Sie es beziehen dürfen.«

Als sich Daniel abwenden wollte, hielt ihn Erik auf. »Chef … ich wollte noch …« Erik schluckte den Kloß hinunter, der sich in seiner Kehle gebildet hatte und das Sprechen fast unmöglich machte. »Danke … vielen Dank.«

Am anderen Ende des Tunnels wurde Daniel von zwei Feuerwehrmännern erwartet, die ihm halfen herauszukommen. Fast im selben Moment fand er sich in einer engen Umarmung wieder.

»Fee! Was machst du denn hier?«, konnte er noch fragen, bevor sie ihn unter den amüsierten Blicken der anderen Männer küsste. Dann schimpfte sie leise: »Musst du wirklich noch fragen, was ich hier mache? Mein Platz ist hier, bei dir. Das weißt du doch! Und wenn ich gekonnt hätte, wäre ich mit dir in diese schreckliche Höhle gekrochen! Du kannst mich nicht einfach allein lassen!« Fee schmiegte ihren Kopf an die Schulter des geliebten Mannes. »Ich hatte solche Angst um dich. Dan, bitte, tu mir so etwas nie wieder an.«

Daniel strich ihr über den Rücken und küsste ihre Haare. Dann sagte er zärtlich: »Du weißt, dass ich keine andere Wahl hatte, Liebes.«

Seufzend nickte Fee. »Ja, aber das hat es nicht leichter für mich gemacht. Es war schrecklich zu wissen, in welcher Gefahr du warst.«

»Es ist alles gut ausgegangen, Feelein. Und das nicht nur für mich. Auch Erik Berger wird es schaffen. Sie werden ihn bald da rausholen.«

Es dauerte dann noch fast zwei Stunden, bis es soweit war. Daniel hielt per Funkgerät Kontakt mit Erik, um sicherzugehen, dass er weiterhin stabil blieb.

Als das obere Mauerwerk abgetragen war und der Hohlraum, in dem Erik viele Stunden verbracht hatte, freilag, kletterte Daniel zu ihm hinunter.

»Was machen Sie denn schon wieder hier?«, begrüßte ihn Erik am Ende seiner Kräfte. Hier, bei Tageslicht, fiel auf, wie schlecht er aussah. Viel Zeit wäre ihm in seinem Gefängnis nicht mehr geblieben.

»Wie sieht’s aus?«, fragte ihn Daniel. »Was machen die Schmerzen?«

»Sind auszuhalten.« Berger warf einen Blick auf seine Retter, die sich anschickten, ihn von der Steinlast zu befreien. »Zumindest im Moment. Ich schätze, jetzt wird’s erst richtig spannend.«

»Ja, das stimmt. Deshalb seien Sie bitte vernünftig und lassen sich von mir eine leichte Narkose geben. Sie wissen, dass Sie etliche Frakturen haben. Wahrscheinlich hat es ihr linkes Bein besonders schlimm erwischt. Wenn wir Sie bewegen, werden die Schmerzen Sie umbringen.«

Erik lachte kurz auf. »Das hat noch nicht mal diese blöde Explosion geschafft. Aber Sie haben recht, ich muss hier nicht den Helden spielen. Verpassen Sie mir eine Dröhnung und schicken Sie mich ruhig in das Land der Träume. Ist wohl besser, wenn ich von den nächsten Stunden nichts mitbekomme.«

Daniel war froh, dass sich Erik Berger so einsichtig zeigte. »Na dann, Erik, gute Nacht. Wir sehen uns in der Behnisch-Klinik.«

»Sie haben mir ein Einzelzimmer versprochen«, murmelte Erik noch, dann schlief er ein.

Sofort begann die Bergung. Währenddessen blieb Daniel an der Seite seines Patienten. Fee stand derweil am Rettungswagen und beobachtete alles aufmerksam. Nicht eine Sekunde ließ sie dabei Daniel aus den Augen. Die Sorge, dass ihm doch noch etwas geschehen könnte, blieb ihr ständiger Begleiter. Erst als der schwerverletzte Erik Berger auf einer Trage zum Rettungswagen gebracht wurde und sie losfahren konnten, entspannte sie sich ein wenig.

*

Erik kam erst am nächsten Tag auf der Intensivstation zu sich. Von dem Empfang in der Klinik und der anschließenden Operation hatte er nichts mitbekommen.

»Ausgeschlafen, Herr Berger?«, fragte Daniel lächelnd.

»Sieht so aus«, stöhnte er gequält auf. »Mir tut jeder einzelne Knochen höllisch weh. Also scheine ich wieder wach zu sein.«

Daniel schmunzelte. »Normalerweise biete ich meinen Patienten bei diesen Verletzungen etwas Morphium an, aber ich weiß ja, dass es Ihnen lieber ist, die Schmerzen tapfer zu ertragen.«

Erik protestierte: »Wie kommen Sie denn auf diesen Blödsinn? Ich hoffe, Sie verpassen mir eine Extra-Dosis von dem Zeug und sorgen dafür, dass ich erst wieder aufwache, wenn alles verheilt ist.«

Daniel lachte leise. »Sie wissen, dass das nicht möglich ist. Aber die übliche Dosierung werde ich Ihnen natürlich nicht vorenthalten.«

»Danke, Chef. Ich hatte schon befürchtet, Sie lassen mich hier absichtlich leiden, nach all dem Ärger, den wir in der Vergangenheit hatten.«

»Ich bin nicht nachtragend. Genauso wenig wie alle anderen, mit denen Sie immer wieder aneinandergeraten sind. Ich glaube, wie viel Sie ihnen und auch mir bedeuten, haben wir erst gemerkt, als wir dachten, dass wir Sie verlieren würden.« Daniel war ernst geworden. Die angstvollen Stunden, in denen niemand mehr an ein gutes Ende geglaubt hatte, waren plötzlich wieder sehr präsent.

»Sie werden noch zwei Tage hier auf der ITS bleiben müssen, Herr Berger. Danach bekommen Sie das wunderschöne Einzelzimmer, das ich Ihnen versprochen hatte.«

»Ach ja, das Einzelzimmer … Nett, dass Sie sich daran erinnern.«

»Ich glaube, ich werde nichts von dem, was da unten geschehen ist, vergessen können.«

»Nein, ich auch nicht«, stimmte ihm Erik leise zu. »Ich werde mich immer daran erinnern, was Sie für mich getan haben. Sie sind bei mir geblieben, obwohl Sie damit Ihr eigenes Leben in Gefahr gebracht haben. Das … das hätten Sie nicht tun sollen. Sie haben so viel zu verlieren … Freunde, eine Familie … Ich dagegen … ich habe niemanden, der mich vermissen würde.«

»Irrtum!«, erwiderte Daniel energisch. »Ich habe gestern sehr, sehr viele Menschen gesehen, die um Sie gebangt haben und denen Sie gefehlt hätten, wäre die Sache nicht gut ausgegangen. Viele von ihnen warten nur darauf, Sie zu besuchen, um Ihnen das zu sagen.«

»Um Himmels willen!« Erik wirkte ehrlich entsetzt. »Ich hoffe, dass Sie niemanden von denen zu mir lassen. Das hätte mir noch gefehlt. Diese ganze Gefühlsduselei würde mir wahrscheinlich den Rest geben. Dann hätten Sie mich auch gleich da unten lassen können.«

»Keine Angst, Herr Berger«, erwiderte Daniel lachend. »Ich werde persönlich dafür sorgen, dass man Sie in Ruhe lässt.«

»Vielen Dank – wieder einmal. Wahrscheinlich werde ich Ihnen für den Rest meines Lebens dankbar sein müssen. Aber erwarten sie bitte nicht, dass ich deswegen netter und umgänglicher werde. Das liegt mir einfach nicht.«

»Das hätte mich auch sehr gewundert. Bleiben sie einfach, wie Sie sind. Genau so lieben wir Sie nämlich.«

Bergers schockierter Gesichtsausdruck bei Daniels letzten Worten sprach Bände. Noch auf dem Weg in sein Büro musste Daniel schmunzeln, sobald er daran zurückdachte. Er konnte es gar nicht abwarten, seiner Fee davon zu erzählen. Das und noch so vieles mehr. Den restlichen Tag hatte sich Daniel freigenommen, um nur mit Fee zusammen zu sein. Er sehnte sich nach ihr. Es gab nichts, was er mehr wollte, als sie in seine Arme zu ziehen, zu küssen und ihr zu sagen, wie sehr er sie liebte. Wie schnell konnte alles vorbei sein. So vieles bliebe dann ungesagt.

Das kurze Gespräch mit seinem Chef hatte Erik so angestrengt, dass er schnell wieder einschlief. Doch die schrecklichen Erlebnisse nach der Explosion verfolgten ihn bis in seine Träume. Erneut durchlebte er die Panik, die ihn erfasst hatte, als er völlig allein und auf sich gestellt unter den Trümmern gelegen hatte. Die Schmerzen, die sichere Gewissheit, ersticken zu müssen, und die Ängste kehrten dann mit einer Wucht zurück, dass er meinte, sie nicht ertragen zu können. Erst als Maika in seinen Träumen erschien, ihm sanft über die Stirn strich und ihm beruhigend zuflüsterte, dass nun alles wieder gut sei, ließ sein Herzrasen nach, und sein Schlaf wurde friedvoller.

Gegen Mittag wurde er wach. Christina Rohde saß an seinem Bett und las in einem Buch. Er runzelte die Stirn, als ihm einfiel, dass Maikas Stimme, die er im Schlaf gehört hatte, ganz anders geklungen hatte als in seiner Erinnerung. Sollte Frau Rohde etwa …?

»Was machen Sie denn hier?«, versuchte er, sie anzublaffen. Was ihm leider nicht gelang. Mehr als ein heiseres Krächzen kam nicht aus seinem Mund.

Christina lächelte. »Ich mache einen Krankenbesuch.«

»Pah! Gibt es in der Notaufnahme nichts zu tun? Drücken Sie sich hier vor der Arbeit?«

»Ich bin in der Mittagspause, Herr Berger. Und keine Sorge, die Aufnahme wird meine Abwesenheit sicher überstehen. Unsere jungen Assistenzärzte haben alles im Griff. Wenn nicht, wissen sie, wie sie mich erreichen können.« Christina klappte ihr Buch zu. »Wie es aussieht, geht es Ihnen besser, und ich werde hier nicht mehr gebraucht.«

»Nicht mehr? Was meinen Sie ­damit?«, fragte Erik lauernd und dachte wieder an seine verwirrenden Träume. »Wann habe ich Sie denn je gebraucht?«

»Schon gut, Herr Berger. Ich weiß ja, dass Sie gut allein zurechtkommen. Ich bin vor allem hier, um mich bei Ihnen zu entschuldigen.«

»Sie wollen sich bei mir entschuldigen?«, fragte er ungläubig. »Normalerweise bin ich derjenige, der Abbitte leisten muss. Wenn auch völlig grundlos.«

»Natürlich«, erwiderte Christina mit einem feinen Lächeln. Dann wurde sie ernst. »Ich möchte Ihnen sagen, wie sehr ich es bedauere, dass ich damals zum Chef gegangen bin, um mich über Sie zu beschweren. Wenn ich nicht gewesen wäre … Vielleicht wären Sie nie in diesen Nachtclub gegangen und Sie wären nicht …« Sie schluckte und versuchte, die Tränen fortzublinzeln, die sich ihren Weg suchten.

Berger musterte die Chirurgin. Dann verstand er. Christina Rohde hatte seinetwegen Schuldgefühle! Sie sah ihn so traurig an, dass er fast den Wunsch verspürte, sie in seine Arme zu ziehen und zu trösten. Doch das würde nie passieren.

Stattdessen polterte er los: »Jetzt reicht’s! Ich liege schwerkrank auf einer ITS und muss mir diesen Unsinn anhören. Ich warne Sie, Frau Rohde, ich lass Sie rauswerfen, wenn Sie hier losheulen!«

»Mach ich gar nicht!«, behauptete Christina schniefend. »Ich wollte Ihnen nur sagen, dass es mir leidtut. Sie hätten nicht in diesem Club sein sollen.«

»Und warum nicht? Darf ich mich nicht amüsieren?«

»Äh … natürlich«, stotterte Christina irritiert. »Es ist ja nur, weil … Ich dachte immer, dass Sie kein Clubgänger sind. Sie arbeiten immer und haben …«

Erik unterbrach sie scharf: »Keine Ahnung, woher Sie Ihre Informationen haben, aber Sie liegen völlig falsch. Ich arbeite nicht immer. Und ich war ganz bestimmt nicht Ihretwegen in diesem bescheuerten Club. Als Stammgast bin ich sehr häufig dort.«

»Oh, das wusste ich nicht …«

»Weil es Sie nichts angeht, wie ich meine Freizeit verbringe«, schnauzte Erik. »Ich war an dem Abend dort verabredet und wäre auf jeden Fall hingegangen. Sie hatten jedenfalls nichts damit zu tun. Und jetzt kümmern Sie sich endlich wieder um meine Notaufnahme! Sie haben hier wahrlich genug Zeit verplempert. Ich mag gar nicht daran denken, wie Sie mir meinen Arbeitsplatz in den nächsten Wochen herunterwirtschaften werden.«

Christina sprang auf. Wütend funkelte sie ihn an, und Erik fand, dass ihm das viel besser gefiel als ihre Tränen.

»Warum sind Sie immer so gemein?«, rief sie entrüstet aus. »Ich komme her, um nach Ihnen zu sehen und mich zu entschuldigen, obwohl es dafür offensichtlich gar keinen Grund gibt, und Sie benehmen sich wie … wie der letzte Vollidiot.«

Als sie aus dem Zimmer stürmte und die Tür hinter sich zuschlug, grinste Erik zufrieden. Das war doch gar nicht so schlecht gelaufen. Wenigstens weinte sie nicht mehr.

Chefarzt Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman

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