Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Staffel 8 – Arztroman - Helen Perkins - Страница 6

Оглавление

»Mama, sind wir bald da?«, quengelte der achtjährige Moritz auf der Rückbank.

»Oh Manno, das hast du erst vor einer Minute gefragt. Du nervst, du Baby!«, mischte sich sein großer Bruder ein, ohne von seinem Han­dy aufzusehen.

»Mama! Leon soll mich nicht immer so nennen! Ich bin kein Baby!«

»Wenn du dich wie eins benimmst, bist du auch eins«, sagte Leon ungerührt.

»Mama!«

»Jetzt reicht’s, Jungs! Hört endlich mit euren Streitereien auf!« Maria Scharper sah angestrengt auf die Straße. Bald kam die Bushaltestelle, an der sie abbiegen musste. Die Haltestelle war als solche kaum zu erkennen. Es gab kein Wartehäuschen, nur ein einsames, verrostetes Schild an einem unscheinbaren Pfahl, der schnell zu übersehen war, wenn man nicht sorgsam achtgab. Bei ihrem letzten Besuch hatte sie ihn zu spät entdeckt und war daran vorbeigefahren. Anschließend hatte sie ewig gebraucht, bis sie eine Möglichkeit zum Wenden fand. Zum Glück blieb ihr das diesmal erspart. Da war die Haltestelle!

Maria bremste und setzte den Blinker, um auf einen schmalen, unbefestigten Weg zu fahren. Zu beiden Seiten wuchsen hier dichtstehende Büsche und Sträucher, die nicht erkennen ließen, was sich dahinter verbarg. Maria wusste, dass es Wiesen und Äcker waren, die von einem Landwirt bestellt wurden. Ihm gehörte auch der baufällige Hof, den Marias Bruder gepachtet hatte und zu dem sie jetzt fuhren.

Moritz machte einen langen Hals, als er aus dem Fenster sah. »Sind wir hier wirklich richtig?«, fragte er skeptisch. »Das sieht aus wie in einem Urwald.«

Damit weckte er sogar das Interesse seines großen Bruders, der nun sein Handy vergaß und die Umgebung kritisch musterte. Seine Mutter fuhr inzwischen fast im Schritttempo und versuchte, den tiefen Schlaglöchern auszuweichen. Nicht immer gelang ihr das.

»Solche Straßen müssten verboten werden«, schimpfte Leon, als der Wagen rumpelnd durch ein besonders tiefes Loch fuhr.

»Genau genommen ist das keine richtige Straße«, erklärte Maria, während sie das Tempo weiter drosselte. »Das Gehöft eures Onkels steht mitten im Nirgendwo. Wir können froh sein, dass der Weg heute überhaupt passierbar ist. Vor ein paar Tagen, als es so stark regnete, hätten wir wohl einen Jeep gebraucht, um durchzukommen.«

»Wir hätten ja auch zu Hause bleiben können«, maulte Leon. »Ist doch blöd, dass du uns unbedingt mitschleppen wolltest. Beim letzten Mal durften wir in Coburg bleiben.«

»Leon, bitte! Geht das schon wieder los? Ich dachte, diese Diskussion wäre endlich vorbei. Ihr seid mitgekommen, weil es für euch vielleicht die letzte Gelegenheit ist, eure Urgroßmutter zu sehen. Ihr wisst doch, wie krank sie ist.« Maria gefiel es nicht, diese Karte auszuspielen.

Es konnte nicht gut sein, zwei Kindern den nahen Tod der Uroma vor Augen zu führen, nur damit sie mitfuhren. Wenn es nach Maria ginge, bräuchten ihre Söhne nie zu erfahren, was Tod und Sterben bedeuteten. Doch dafür war es ohnehin längst zu spät.

Ihre Buben hatten vor vier Jahren den Vater verloren. Leon war damals zehn gewesen, Moritz fast vier. Sie hatten um ihren Vater getrauert und taten das auf ihre Weise sicher noch immer. Aber es gelang ihnen inzwischen, den Verlust zu akzeptieren und damit umzugehen.

»Ist ja schon gut, ich werde mich benehmen«, murmelte Leon nun und sah angestrengt nach draußen. »Hauptsache, wir bleiben nicht so lange hier. Das wird bestimmt total ätzend werden.«

»Ja, aber ich freue mich trotzdem ein bisschen«, plapperte Moritz fröhlich. »Ich war noch nie auf einem Bauernhof. Da gibt’s bestimmt ganz viele Tiere. Hühner und Enten. Und Katzen und …«

»… einen Esel, der genauso dumm ist wie …«

»Leon!«, fuhr Maria so energisch dazwischen, dass ihr Großer auf dem Beifahrersitz schuldbewusst zusammenzuckte und den Rest seines Satzes lieber für sich behielt.

Moritz war trotzdem zutiefst beleidigt. Er verschränkte seine Ärmchen vor der Brust und torpedierte Leon mit bitterbösen Blicken. Maria seufzte, als sie das sah. Ihr Kleiner hatte es wahrlich nicht leicht, sich gegen seinen pubertierenden Bruder zu behaupten.

Besonders leid tat ihr, dass sie ihm nun auch noch eine schlechte Nachricht bringen musste. »Mo, mein Schatz, der Bauernhof von Onkel Sascha ist nicht so, wie du dir ihn vielleicht vorstellst. Bis auf Hasso, einen großen, unfreundlichen Hofhund, gibt es dort keine Tiere. Und Hasso gehst du lieber aus dem Weg. Ich glaube nämlich nicht, dass du dich mit ihm anfreunden kannst.«

»Okay«, erwiderte Moritz frustriert. Seinen Ausflug auf den Bauernhof hatte er sich ganz anders vorgestellt. »Hoffentlich beißt er uns nicht.«

»Haltet einfach ein bisschen Abstand zu ihm.«

»Das sag mal lieber dem Köter.« Leon sah jetzt hochkonzentriert nach draußen, so, als erwartete er, dass der Hund jeden Moment aus dem Dickicht sprang. »Wenn Hasso Abstand hält, machen wir das eben auch.«

»Hasso liegt an der Kette. Er kann nur so weit laufen, wie seine Kette reicht.«

»Mama!«, rief Moritz empört. »Hasso ist ein Kettenhund? Das ist Tierquälerei!«

»Ist das überhaupt erlaubt?«, wollte nun auch Leon wissen.

»Nein, wahrscheinlich nicht. Ich weiß es nicht.« Maria hielt kurz an. Sie hatten fast ihr Ziel erreicht, und es wurde Zeit, mit ihren Söhnen zu sprechen. »Hört mal«, begann sie. »Bei Onkel Sascha ist nicht alles so, wie wir es uns vielleicht wünschen würden.«

»Ja«, rief Moritz dazwischen. »Er hält den Hund an einer Kette! Das ist schrecklich grausam!«

Maria nickte. »Das mag sein, Mo. Leider können wir nichts dagegen tun. Wir sind dort nur zu Gast. Onkel Sascha wird sich nicht darum scheren, was uns gefällt oder nicht. Bitte denkt daran, dass wir nur herkommen, um Oma Hilda zu besuchen. Wir plaudern ein bisschen mit ihr, essen den Kuchen, den ich gebacken habe, und danach fahren wir wieder zurück. Bis dahin werden wir uns benehmen und uns nicht daran stören, dass Onkel Sascha etwas … unhöflich oder brummig ist. In Ordnung, Jungs?«

Maria beobachtete ihre Söhne aufmerksam. So entging ihr nicht, dass Moritz zu seinem großen Bruder sah und dieser mit einem knappen Nicken darauf reagierte. Sofort entspannte sich Moritz. Maria hatte Mühe, ihr Lächeln zu verbergen. Wenn es darauf ankam, hielten die beiden zusammen und standen sich gegenseitig bei. Es gab also keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Und dennoch fragte sie sich jetzt, ob es ein Fehler gewesen war, ihre Kinder herzubringen.

*

Nach einer letzten Kurve wurde der Weg breiter und führte auf einen großen Hof mit heruntergekommenen Ställen und einem alten Bauernhaus, dessen beste Jahre schon lange vorbei waren. An vielen Stellen blätterte der graue Putz großflächig ab. Die Fensterläden aus verwittertem Holz hatten ihren letzten Anstrich vor ewigen Zeiten erhalten und hingen windschief in den Angeln.

Maria hielt vor dem Haus. Ihre Söhne sahen aus dem Fenster und musterten beklommen die Ansammlungen von Müll und Schrott, die großzügig verteilt herumlagen.

Plötzlich sprang ein riesiger, schwarzer Hofhund zwischen den Müllbergen hervor und begrüßte sie mit einem heiseren, hysterischen Gekläff. Eine schwere Eisenkette, die an seinem Halsband befestigt war, hielt ihn auf sicheren Abstand. Doch das schien ihn nicht davon abzuhalten, wieder und wieder nach vorn zu preschen, um anschließend von der Kette zurückgerissen zu werden. Er reagierte darauf jedes Mal mit einem wütenden Geheule und einem erneuten Versuch, an die Eindringlinge heranzukommen.

»Er kann uns nichts tun«, sagte Maria, um die Kinder und sich selbst zu beruhigen. »Kommt, wir steigen aus und gehen ins Haus.«

»Wir könnten doch auch im Auto warten«, schlug Moritz beklommen und ängstlich vor.

»Stell dich nicht so an!« Leon rollte mit den Augen und stieg aus. Maria tat es ihm gleich. Dann öffnete sie die hintere Wagentür und hielt ihrem Jüngsten die Hand hin. »Komm, Mo. Bleib einfach bei mir, ja?«

Moritz nickte tapfer, und Maria tat es weh, so viel Mut von ihrem kleinen Liebling zu verlangen. Er hatte Angst vor diesem aggressiven Hund und dem schrecklichen Ort, an den sie ihn gebracht hatte. Aber ihr zuliebe besiegte er seine Ängste. Beherzt griff er nach der Hand seiner Mutter und stieg aus.

»Hasso! Aus! Halt die Klappe!«, brüllte es auf einmal hinter ihnen.

Moritz zuckte zusammen, und Maria fuhr herum. Sascha Peters, ihr jüngerer Bruder, stand in der offenen Haustür und sah sie grantig an. »Kommt rein«, sagte er schließlich und verschwand wieder im Haus.

Maria nahm den Käsekuchen, den sie am Vorabend gebacken hatte, aus dem Kofferraum. »Na los, Jungs«, versuchte sie, ihre Söhne aufzumuntern. »Eure Uroma wartet sicher schon auf euch. Sie wird sich ganz doll freuen, euch endlich mal wiederzusehen.«

Doch Hilda Peters interessierte sich nicht für die Ankömmlinge. Sie saß in einem Sessel vor dem Fernseher und sah nicht auf, als sie das Wohnzimmer betraten.

Maria ging zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Hallo, Oma«, sagte sie weich. »Wie schön, dich zu sehen.«

Ein flüchtiges Lächeln war Hildas einzige Reaktion auf die Begrüßung. Sie sah zum Fernseher und beachtete ihre Besucher nicht.

Maria war verwirrt. Beim letzten Mal hatte sich ihre Großmutter fast überschwänglich über ihr Kommen gefreut – auch wenn sie sie damals nicht sofort erkannt hatte. Maria hatte ihr erst umständlich erklären müssen, wer sie sei, aber danach war alles gut gewesen. Sie hatten sich lange unterhalten, und Oma Hilda hatte viel aus ihrer Jugendzeit erzählt. Ihre Alzheimererkrankung hatte man ihr kaum angemerkt. Aber heute schien alles anders zu sein.

»Omi, ich bin’s, die Maria, deine Enkelin. Du erinnerst dich doch bestimmt an mich.«

»Ja, ja, ja …«, erwiderte Hilda nur, ohne sie anzusehen.

Maria ließ nicht locker. »Ich habe heute Leon und Moritz mitgebracht. Deine Urenkel«, unternahm sie einen weiteren Versuch, die Aufmerksamkeit ihrer Großmutter zu bekommen. Doch Hilda reagierte nun gar nicht mehr auf sie. Ihre Augen fixierten den Fernseher, in dem eine Nachmittagssendung lief.

Maria sah besorgt zu Sascha. Ihr Bruder lehnte am Türrahmen zur Küche. Seine Lippen hatte er zu einem spöttischen Grinsen verzogen. Mit dem Zeigefinger machte er eine kreisende Bewegung in der Nähe seiner Schläfe. Maria funkelte ihn wegen dieser respektlosen Geste empört an.

Mit seinen fünfundzwanzig Jahren war Sascha dreizehn Jahre jünger als seine große Schwester. Er war ein Nachzügler, den ihre Eltern tüchtig verwöhnt hatten. Sie hatten ihm alles durchgehen lassen und sich keine große Mühe bei seiner Erziehung gegeben. Maria hatte damals versucht, ihm Grenzen zu setzen und ihm wenigstens etwas Respekt und Anstand beizubringen. Doch als seine Schwester hatte sie nicht viel ausrichten können. Und als sich ihre Wege vor vielen Jahren trennten, hatte niemand mehr darauf geachtet, ob aus dem Jungen etwas Anständiges wurde. Heute war Sascha ein erwachsener Mann und tat sowieso nur noch das, was ihm gefiel.

»Omi, ich gehe mit Sascha in die Küche und mach uns einen Kaffee. Leon und Moritz leisten dir so lange Gesellschaft. Einverstanden?«

»Ja, ja, ja …«, erwiderte Hilda prompt, aber Maria wusste, dass ihre Großmutter nichts verstanden hatte. Sie streichelte ihr kurz über die Wange und sagte dann zu ihren Söhnen, die unbeholfen im Raum standen: »Bitte bleibt bei ihr. Ich kümmere mich nur um den Kaffee und schneide den Kuchen auf. In fünf Minuten bin ich wieder zurück.«

»Ach, Mama!«, jammerte Moritz leise, doch seine Mutter schüttelte nur bedauernd den Kopf und verschwand mit seinem Onkel Sascha in der Küche.

»Stell dich nicht so an und setz dich irgendwo hin.« Leon kam mit dieser ungewohnten Situation besser zurecht als sein kleiner Bruder. Er wartete, bis Moritz auf dem schäbigen Sofa Platz genommen hatte und ging dann zu Hildas Sessel.

»Tag, Uroma«, sagte er betont lässig und hielt ihr seine Hand hin. Als ihm die alte Dame keinerlei Beachtung schenkte, räusperte sich Leon und sprach dann etwas lauter: »Guten Tag!«

Doch auch diesmal reagierte Oma Hilda nicht auf seine Worte oder auf die Hand, die er ihr immer noch hinhielt.

Verlegen zog Leon sie schließlich zurück. Seine zur Schau gestellte Gelassenheit bröckelte. Dass ihn Moritz die ganze Zeit aufmerksam beobachtete, machte es nicht leichter für ihn.

Immerhin war er der große Bruder, der gern zeigte, wie cool und erwachsen er schon war. Stattdessen stand er nun fast hilflos vor seiner Uroma und wusste nicht, wie er angemessen auf ihr seltsames Verhalten reagieren sollte.

Äußerlich halbwegs gelassen und unbeeindruckt, schlenderte Leon schließlich zu Moritz und ließ sich neben ihm auf die Couch fallen. Mit ein bisschen Glück verlor Moritz kein Wort über das, was gerade geschehen war.

»Leon, was hat sie denn?«, flüsterte Moritz. »Warum guckt sie uns denn gar nicht an?«

»Weiß nicht«, gab Leon genauso leise zurück. »Ich glaube, mit ihr stimmt ’was nicht. Wir fragen nachher Mama. Wir warten hier einfach, bis sie wieder da ist.«

Moritz nickte stumm und rückte ein bisschen dichter an seinen großen Bruder ran. Auch wenn Leon manchmal ganz schön gemein sein konnte, war Moritz froh, ihn jetzt in seiner Nähe zu haben. Dieses Haus machte ihm Angst. Der Bauernhof war ganz anders als in seiner Vorstellung. Der schwarze, zottelige Hund war zum Fürchten, und Onkel Sascha war unfreundlich und beachtete seine Neffen gar nicht. So wie Uroma Hilda …

Moritz sah zu ihr hinüber. Noch immer starrte sie auf den Bildschirm des Fernsehers, ohne sich um ihn oder Leon zu kümmern. Sollte sie sich nicht freuen, ihre Urenkel endlich mal wiederzusehen? Er hatte gedacht, sie würde ihn mit einer Umarmung und einem Kuss begrüßen. Und dass sie ihm viele Fragen stellen würde – wie es ihm ginge, ob er viele Freunde hätte, womit er gerne spielte …

Doch sie tat nichts von alldem. Es war fast so, als würde sie ihn und Leon gar nicht hören oder sehen. Und als würde sie ihre Urenkel überhaupt nicht lieb haben. Moritz verzog traurig das Gesicht. Was war denn bloß los mit ihr?

Auch seine Mutter machte sich Gedanken um Oma Hilda.

»Sie hat Alzheimer. Das weißt du doch«, sagte Sascha in der Küche zu ihr. »Besser wird’s nicht. Die Krankheit schreitet voran. Daran kann niemand etwas ändern.«

Maria stellte das Kaffeegeschirr auf ein Tablett. »Ja, aber bei meinem letzten Besuch …«

»Dein letzter Besuch ist vier Monate her. Hast du wirklich gedacht, sie wäre immer noch so fit wie damals?«

»Ja … ich weiß nicht … vielleicht.« Maria war schockiert. Von Hildas Demenzerkrankung wusste sie schon seit einigen Jahren. Doch bisher war sie eher langsam und schleppend verlaufen. »Sie hat mich nicht erkannt, und gesprochen hat sie auch nicht mit mir«, sagte Maria traurig.

»Mit dem Sprechen hat sie schon vor einigen Wochen aufgehört. Mehr als dieses ›Ja, Ja, Ja‹ kommt nicht mehr raus. Inzwischen braucht sie volle Pflege beim Anziehen, Waschen, Essen, bei allem halt. Da kann man nichts machen.«

Maria schluckte. Ihr Ärger über Saschas ungehöriges Benehmen war verflogen. Natürlich fand sie es immer noch nicht gut, aber sie behielt die Standpauke, die sie sich zurechtgelegt hatte, nun doch für sich. Es stand ihr nicht zu, sich ein Urteil zu erlauben, wenn sie nur alle Jubeljahre hier hereingeschneit kam, während Sascha den Mammutanteil leistete und sich ganz allein um die kranke Großmutter kümmerte.

Sicher, es lief nicht alles so, wie sie es sich gewünscht hätte. Die Unordnung störte sie und auch Saschas respektloses Verhalten. Aber ihrer Oma schien es gut zu gehen. Sie machte einen gepflegten und zufriedenen Eindruck. Sascha war vielleicht nicht der liebevolle Enkel mit perfekten Umgangsformen, aber er versorgte sie gut. Und damit tat er mehr als sie.

»Kommst du denn mit allem zurecht?«, fragte sie beschämt.

»Ja, keine Sorge, es läuft hier bestens. Der Pflegedienst kommt morgens, um sie zu waschen und anzuziehen. Danach holt sie der Fahrdienst ab und bringt sie in die Tagespflege. Am späten Nachmittag wird sie zurückgebracht. Dann sitzt sie vor der Glotze, bis die Schwestern kommen, um sie ins Bett zu bringen.«

»Aber heute …«

»Heute ist Samstag. Am Wochenende hat die Tagespflege zu. Dann kommen die Schwestern eben öfter, um sich um sie zu kümmern. Alles ganz easy.«

Easy? Maria konnte sich nicht vorstellen, dass es wirklich so leicht war, wie Sascha tat. Jemand, der so viel Pflege brauchte wie ihre Oma und außerdem dement war, machte Arbeit. Viel Arbeit. Und alles lastete auf den Schultern ihres Bruders. »Sascha, ich hatte keine Ahnung …«

»Woher auch? Du bist ja nie da oder fragst mal nach.«

»Es tut mir wirklich leid. Ich …«

Sascha winkte ab. »Lass mal gut sein. Es stört mich doch gar nicht. Oma und ich kommen bestens zurecht. Wir haben einen guten Deal. Sie muss nicht ins Pflegeheim, und dafür übernimmt sie die Miete und alles andere.«

»Aha«, erwiderte Maria nur. Sie wusste, dass ihre Oma eine sehr gute Witwenrente bekam. Über die verfügte Sascha nun, und für Maria war das in Ordnung. Schließlich hatte er auch die ganze Arbeit mit der Großmutter.

»Gefällt es dir hier eigentlich?«, fragte sie ihn. »Falls du auf der Suche nach einer neuen Wohnung bist und umziehen möchtest, helfe ich dir gern.«

»Umziehen?« Sascha sah sie verständnislos an. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, mir gefällt es hier. Es ist ruhig und abgelegen, und ich habe genug Platz für meine Geschäfte.«

»Geschäfte?«, fragte Maria sofort alarmiert nach. Ihr kleiner Bruder war in der Vergangenheit schon mal mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Er hatte dafür eine Bewährungsstrafe bekommen und Besserung gelobt. Ob er sich daran hielt, wusste Maria nicht. »Was sind das denn für Geschäfte?«

»So dies und das. Trödel, den ich mit ein paar Kumpels aufkaufe und anschließend verschachere. Nichts Besonderes, aber zum Leben reicht’s.« Er schenkte ihr ein breites Grinsen. »Und es ist ehrliche Arbeit. Ich bin nämlich auf dem Pfad der Tugend unterwegs.«

Maria konnte es nur hoffen. Vielleicht war aus ihrem Bruder ja tatsächlich ein ehrbarer Mann geworden. Möglich wäre es, wenn man bedachte, wie vorbildlich er für die kranke Großmutter sorgte.

»Es trifft sich übrigens gut, dass du heute gekommen bist.« Sascha trat ans Küchenfenster und sah hinaus. »Ich habe mit meinen Kumpels noch ein oder zwei Stunden zu arbeiten. Du könntest in der Zeit auf Oma aufpassen.«

»Ja, natürlich. Kein Problem.« Maria hörte, wie ein Wagen auf den Hof fuhr. Als Sascha sich sofort anschickte hinauszueilen, hielt sie ihn zurück. »Ich dachte, wir trinken wenigstens noch einen Kaffee zusammen.«

»Keine Zeit. Die Geschäfte rufen. Hebt mir ein Stück Kuchen auf.« Und schon war er weg.

Die nächsten beiden Stunden vergingen schleppend. Maria saß mit den Kindern bei Oma Hilda im Wohnzimmer. Der Kuchen wollte ihnen heute nicht schmecken, obwohl er verführerisch duftete. Wehmütig sah sich Maria um. Das alte Büffet an der Wand und die große Kommode, in der die gute Tischwäsche aufbewahrt wurde, kannte sie noch aus ihrer Kindheit. Früher hatten die Großeltern in einem kleinen Häuschen am Stadtrand gelebt. Maria hatte es geliebt, bei ihnen ihre Ferien oder das Wochenende zu verbringen. Es hatte ihr gefallen, morgens mit den Hühnern aufzustehen, ihnen die frischen Eier aus den Nestern zu stibitzen oder im Garten mitzuhelfen. Doch das schien eine Ewigkeit her zu sein. Irgendwann hatte Maria das Interesse daran verloren, die Tage mit den Großeltern zu verbringen und ihren alten Geschichten zuzuhören. Sie hatte lieber etwas mit ihren Freunden unternommen. Und später hatte sie München dann ganz verlassen, um mit ihrer Familie in Coburg zu leben.

Maria sah traurig zu der Frau, die ihre Oma war und die sich nicht mehr an ihre Enkelin erinnern konnte. Plötzlich wünschte sie sich, sie hätten mehr Zeit zusammen verbracht.

Es dämmerte bereits, als sie aufbrachen. Die Jungs waren erstaunlich schweigsam, fast so, als würde die düstere Atmosphäre des Hauses auf ihnen lasten.

»Ich setze mich nach hinten zu Moritz«, sagte Leon. »Dann kann er mit meinem Handy spielen.«

Maria lächelte ihn dankbar an. Für Leon bedeutete es ein großes Opfer, auf seinen angestammten Platz auf dem Beifahrersitz zu verzichten. Dass er es jetzt tat, bewies, dass er ein mitfühlendes Herz besaß und seinen Bruder von den Eindrücken der letzten Stunden ablenken wollte.

Vor ihnen lag eine mehrstündige Autofahrt. Sie mussten erst auf der Landstraße bis München fahren, von dort ging es dann auf die A9 in Richtung Coburg.

Maria stellte die Lautstärke des Radios runter, damit sie dem Gespräch ihrer Söhne lauschen konnte. Es ging um das neueste Spiel, das Leon auf sein Handy geladen hatte. Bisher hatte Leon immer behauptet, dass Moritz noch viel zu klein sei, um es zu verstehen. Doch anscheinend hatte er seine Meinung geändert. Mit einer Engelsgeduld, die Maria ihm gar nicht zugetraut hatte, erklärte er immer und immer wieder die einzelnen Schritte, ganz egal, wie oft Moritz nachfragen musste.

Maria sah lächelnd in den Rückspiegel. Je älter Leon wurde, desto ähnlicher wurde er seinem Vater. Er hatte die gleichen ausdrucksstarken Augen, ein energisches Kinn und dunkelblondes, kurzes Haar. Moritz’ Gesichtszüge hingegen waren noch kindlich und viel weicher. Er hatte dunkle Locken, große braune Kulleraugen und einen hinreißenden Schmollmund, wenn es mal nicht nach seiner Nase ging. Moritz war der Süße, den man am liebsten den ganzen Tag knuddeln wollte, während Leon der gut aussehende, lässige Typ war, der schon jetzt die Mädchenherzen höherschlagen ließ. Maria lächelte bei diesem Gedanken. Nicht mehr lange, und ihr Großer würde sich mehr für die Mädchen in seiner Klasse als für den geliebten Fußball oder die Computerspiele interessieren.

Inzwischen war es dunkel geworden. Maria machte den Blinker an, um auf die Autobahn zu fahren. Die Auffahrt war zwar etwas kurvenreich, aber sie war ihr gut vertraut, sodass sie zügig beschleunigen konnte. Als Maria eine letzte sanfte Kurve nahm, wurde sie plötzlich von einem grellen Licht geblendet. Sie brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, um zu verstehen, dass ihr ein anderer Wagen entgegenkam. Ein Geisterfahrer!

Marias Schrei mischte sich mit dem ihrer Söhne. Sie verriss das Lenkrad, um dem anderen Fahrer auszuweichen. Ihr Auto kam ins Schleudern und drehte sich ein paar Mal um die eigene Achse, bevor es eine Böschung hinabstürzte und sich mehrfach überschlug.

*

Oberbrandmeister Christian Heine hatte sich gerade einen Kaffee eingegossen, als der Notruf einging. Zusammen mit drei Kollegen der Berufsfeuerwehr rannte er zum Gerätewagen, um zum Einsatz rauszufahren.

»Ein Geisterfahrer auf der A9.« Markus Never, der den Notruf von der Zentrale entgegengenommen hatte, informierte das Team über die Details. »Als er seinen Irrtum erkannte, hat er die Ausfahrt genommen. Dort kam ihm ein anderer Wagen entgegen, der auf die A9 fahren wollte. Beim Ausweichmanöver hat dieser Wagen sich überschlagen und liegt jetzt im Straßengraben. Die Insassen sind eingeklemmt und können nicht geborgen werden.«

»Wie viele sind es?«, fragte Christian dazwischen.

»Drei. Eine Mutter mit ihren beiden Kindern. Es sieht wohl nicht gut aus.«

Der Rest der Fahrt verlief schweigend. Die Männer waren gedanklich längst bei den Unfallopfern und hofften, dass sie nicht zu spät kämen. Als sie die Unfallstelle erreichten, versuchte Christian, sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Mehrere Polizeiwagen und Rettungsfahrzeuge waren schon vor Ort. Das Auto des Geisterfahrers stand am Straßenrand und wirkte völlig unversehrt. Der Fahrer saß zusammen mit zwei Beamten in einem Transporter der Polizei, um seine Aussage zu machen. Christian sah keine Sanitäter in seiner Nähe und nahm deshalb an, dass er unverletzt und mit dem Schrecken davongekommen war. Nur schade, dass es für das andere Fahrzeug und ihre Insassen nicht so glimpflich ausgegangen war. Das Auto, ein Fünftürer mit Coburger Kennzeichen, lag in einem Straßengraben, der so schmal war, dass niemand die Seitentüren öffnen konnte. Die Hälfte des Motorraums hatte sich in den morastigen Grund gebohrt.

Ein Dutzend Rettungskräfte, Ärzte und Polizisten umringten den Wagen, sodass Christian das ganze Ausmaß des Schadens erst erkennen konnte, als er dort eintraf. Beim Anblick der demolierten Karosse setzte sein Herzschlag für eine Sekunde aus. Das hier konnte niemand überlebt haben.

Und doch war es so. Den hinteren Teil des Wagens hatte es nicht so arg erwischt. Zum Glück für die beiden Kinder, die auf der Rückbank saßen und ihren Rettern völlig verstört und ängstlich entgegenblickten. Rettungssanitäter Jens Wiener und Dr. Fred Steinbach beugten sich durch die zerstörte Heckscheibe ins Wageninnere und sprachen auf sie ein. Kurz darauf zog sich Jens zurück, um mit der Feuerwehr die Bergung abzusprechen.

»Wir haben drei Verletzte, die wir nicht rausbekommen«, klärte er sie auf.

»Wie ist ihr Zustand?«, wollte Christian wissen.

»Die beiden Buben, Leon und Moritz, haben wohl nur leichtere Verletzungen. Ganz genau können wir das aber erst nach einer gründlichen Untersuchung sagen. Sie müssen auf alle Fälle in die Klinik gebracht werden.«

»Und die Mutter?«, fragte Christian.

»Maria Scharper.« Jens zuckte bedauernd die Schultern. »Wir kommen nicht an sie ran, aber sie scheint noch zu leben.« Er sah zurück zum Fahrzeugwrack. »Kaum vorstellbar, wenn man den Fonds des Wagens sieht. Sie hat sich nicht gerührt, seit wir vor Ort sind. Wenn wir ihr nicht bald helfen, wird es wohl zu spät sein.«

Christian, der den Einsatz heute leitete, nickte. Mehr musste er im Moment nicht wissen. »Die Jungs holen wir über die Heckscheibe raus«, bestimmte er. »Sobald sie geborgen sind, zerlegen wir das Dach mit der Hydraulikschere, bis wir an die Mutter rankommen.«

Während seine Männer ihr Werkzeug nahmen, ging Christian zu den Kindern, um mit ihnen zu sprechen. Er stellte sich ihnen vor und erklärte dann kurz, was jetzt passieren sollte. »Das könnte ein bisschen beängstigend für euch sein, wenn wir hier mit schwerer Technik anrücken«, sagte er zum Schluss.

»Kein Problem«, sagte der Ältere, der sich als Leon vorgestellt hatte. »Mein Bruder und ich … wir schaffen das schon … aber … aber unsere Mutter … sie … sie rührt sich nicht. Sie braucht zuerst Hilfe. Bitte! Es macht uns nichts aus zu warten.«

Sein kleiner Bruder nickte heftig, während ihm unaufhörlich die Tränen über das Gesicht liefen.

Christian zögerte kurz mit seiner Antwort. Dann entschied er, ehrlich zu den Kindern zu sein. »Das ist sehr tapfer von euch. Aber wir können eurer Mutter erst helfen, wenn ihr aus dem Wagen seid. Vorher kommen wir nicht an sie heran.« Er reichte den Jungs eine Decke. »Legt die bitte über euch, damit ihr geschützt seid, wenn wir die Scheibenreste entfernen und das Metall wegbiegen. Sobald die Öffnung groß genug ist, holen wir euch hier raus. In Ordnung?«

Der kleine Moritz schaffte es nun nicht länger, seine Fassung zu wahren. »Bitte helfen Sie meiner Mama doch endlich«, schluchzte er laut. »Sie darf nicht sterben! Bitte!«

»Mo«, mahnte Leon leise, aber auch er schien den Tränen nahe und hatte Mühe, sie zurückzuhalten. Er legte einen Arm um die Schultern seines kleinen Bruders und zog ihn zu sich heran. »Sie wird nicht sterben, hörst du? So etwas darfst du noch nicht mal denken!«

Christian folgte Leons bangem Blick nach vorn, wo seine Mutter bewusstlos im Gurt hing. Sie wirkte unnatürlich bleich, und für einen kurzen Moment befürchtete Christian, dass es bereits zu spät für sie war. Doch dann sah er das leichte Heben ihres Brustkorbs.

Sie atmete …

Christian sah die Kinder an. »Wir werden alles tun, um eurer Mutter zu helfen.«

»Versprechen Sie das?«, fragte Moritz immer noch weinend, aber in seiner Stimme schwang auch ein wenig Hoffnung mit.

»Ich verspreche euch, dass wir unser Bestes geben werden. Aber jetzt seid ihr erst mal dran.« Christian breitete die Decke über den Kindern aus. Dann setzte Markus Never die Hydraulikschere an, um die hinterste Fahrzeugsäule zu zerschneiden. Mit vereinter Kraftanstrengung gelang es den Männern kurz darauf, so viel Platz zu schaffen, dass die Kinder herausgeholt werden konnten.

Leon half zuerst seinem kleinen Bruder. Dann war er an der Reihe. Er warf seiner regungslosen Mutter noch einen letzten traurigen Blick zu, bevor er sich von den Männern der Feuerwehr herausziehen ließ.

»Ich geh rein zu ihr«, entschied Christian, als die Kinder auf dem Weg zum Rettungswagen waren. »Vielleicht kann ich zu ihr nach vorne klettern und sie schützen, wenn ihr das Dach abreißt.«

Es kostete ihn alle Anstrengung, sich durch die schmale Öffnung am Heck hindurchzuzwängen. Als er endlich auf der Rückbank angekommen war, rutschte er so weit nach vorn, dass er an die Fahrerin herankam, um ihre Atmung und den Herzschlag zu überprüfen. Sie atmete flach, aber regelmäßig. Ihr Puls war sehr schnell und kaum tastbar. Ihre braunen Haare klebten an der Stirn, und als Christian sie zurückstreichen wollte, bemerkte er das Blut daran. Sie hatte eine Kopfverletzung, die völlig harmlos oder auch lebensbedrohlich sein konnte.

»Wie sieht’s aus?« Dr. Fred Steinbach, der Notarzt, stand am Heck, und Christian berichtete, was er bisher festgestellt hatte.

»Ich brauche ein paar Vitalwerte«, sagte Fred. »Und Sie müssten ihr einen Zugang legen, damit wir ihr eine Infusion und etwas für den Kreislauf geben können.«

»Ich versuch’s.« Christian Heine hatte auf der Feuerwehrschule auch eine Ausbildung zum Rettungssanitäter absolviert. Wie wichtig das war, zeigte sich jetzt.

Mit ein wenig Anstrengung gelang es Christian, die Lehne des Beifahrersitzes nach vorn zu klappen, so dass er an einen Arm der Frau herankam.

Fred Steinbach reichte ihm das medizinische Equipment, und nur wenige Minuten später lief eine klare Flüssigkeit über eine Armvene in den Körper der jungen Mutter. Erst dann machten sich Christians Kollegen daran, das Wagendach mit der Hydraulikschere zu bearbeiten, um die Verletzte bergen zu können.

Lag es am Lärm des berstenden Metalls oder an der Infusion, die Marias Zustand verbesserte, plötzlich schlug sie die Augen auf und sah sich verwirrt um. »Was … wo …«, brachte sie mühsam hervor. »Wo bin ich?«

»Pscht, ganz ruhig, Maria«, beruhigte sie Christian schnell. »Es wird alles wieder gut. Sie hatten einen Unfall. Wir holen Sie hier raus und bringen Sie ins Krankenhaus.«

»Unfall? Krankenhaus?« Plötzlich schien sie zu verstehen. Mit einer Energie, die Christian ihr nicht zugetraut hatte, richtete sie sich panisch auf. »O Gott! Meine Kinder! Ich muss zu ihnen. Wo sind sie? Was ist mit meinen Kindern?«

»Ihnen geht es gut!« Christian hielt sie an den Schultern fest und drückte sie sanft hinunter. »Leon und Moritz ist nichts passiert! Bitte, Sie müssen ruhig bleiben! Sie dürfen sich nicht aufregen! Ich habe Ihren Kindern versprochen, dass wir unser Bestes geben, Sie hier rauszuholen. Aber Sie müssen uns helfen. Bitte versuchen Sie, Ruhe zu bewahren. Mehr brauchen Sie nicht zu tun. Glauben Sie mir bitte, dass es ihren Söhnen gutgeht. Ein paar harmlose Schrammen, mehr haben sie nicht abbekommen.«

Maria schloss kurz die Augen. Als sie sie wieder öffnete, konnte Christian sehen, dass sie sich etwas beruhigt hatte. Sie glaubte ihm.

»Dieser Lärm …«, sagte sie schleppend.

»Wir müssen das Wagendach entfernen, um Sie rauszubekommen. In ein paar Minuten haben Sie’s geschafft. Dann kommen Sie ins Krankenhaus. Halten Sie einfach noch ein bisschen durch, in Ordnung?«

»Ich kann nicht … ins Krankenhaus … meine Kinder. Ich muss mich um sie kümmern.« Immer wieder versagte ihr jetzt die Stimme, und Christian machte sich deswegen Sorgen. Ihr Zustand verschlechterte sich wieder, und es gab nichts, das er dagegen tun konnte. Nichts, außer ihr gut zuzusprechen, damit sie ruhiger wurde und sich nicht zu sehr aufregte.

»Wir werden uns um Ihre Söhne kümmern«, versicherte er ihr. »Und wir werden den Vater benachrichtigen …«

»Nein … ihr Vater … mein Mann lebt nicht mehr.«

»Gibt es andere Verwandte, zu denen die beiden können?«

»Nein … nicht hier. Hier gibt es nur meinen Bruder … Sascha und meine Oma …« Maria verstummte, ihre Augen waren geschlossen. Gerade als Christian dachte, dass sie erneut das Bewusstsein verloren hatte, schlug sie die Augen wieder auf und sah ihn an. »Bitte … bitte lassen Sie meine Kinder nicht allein. Geben Sie auf die beiden acht … bitte, ich flehe Sie an …«

»Maria, es wird alles gut. Ich werde auf Ihre Söhne aufpassen. Das verspreche ich Ihnen, wenn Sie mir dafür versprechen, zu kämpfen und wieder gesund zu werden.«

Maria lächelte, und eine einzelne Träne lief ihr über die Wange. Sie schaffte noch ein schwaches Nicken und ein gehauchtes »Danke«, bevor sie ohnmächtig wurde.

Im selben Moment wurde das Wagendach abgehoben, und Maria Scharper konnte geborgen werden. Die Männer betteten sie vorsichtig auf eine Vakuummatratze und trugen sie dann zum Rettungshubschrauber, der in der Zwischenzeit gelandet war. Nur Minuten später hob er ab und brachte Maria in die Behnisch-Klinik.

Christian sah dem Hubschrauber noch einen Moment lang hinterher, bevor er zu dem Rettungswagen ging, in dem Marias Söhne versorgt wurden. Er hatte ein Versprechen gegeben, und er wollte es unbedingt erfüllen.

*

»Wann wird der Rettungswagen eintreffen?«, fragte Dr. Daniel Norden, als er in die Notaufnahme kam.

»Jeden Augenblick.« Schwester Inga warf einen letzten prüfenden Blick auf den Tisch mit den vorbereiteten Infusionsbeuteln und Spritzen. »Dr. Berger und Frau Rohde sind oben beim Landeplatz. Der Hubschrauber mit der Mutter ist schon eingetroffen. Wenn sie einigermaßen stabil ist, bringen sie sie gleich in den OP und nicht erst in den Schockraum. Das CT wird dann unter der OP gemacht.«

Daniel nickte zufrieden. Es hatte ihn viel Überzeugungskraft gekostet, den Computertomografen für die OP-Abteilung durchzuboxen. Letztendlich hatten sich dann seine legendäre Beharrlichkeit und Geduld ausgezahlt.

Die Verwaltungsleitung genehmigte die Mittel, und in der Behnisch-Klinik konnten nun auch während einer Operation Computertomografien durchgeführt werden. Die operativen Eingriffe waren dadurch sicherer geworden, und wertvolle Zeit konnte eingespart werden. Zeit, die früher oft für Transporte in die Radiologie verlorenging und die manchmal über Leben und Tod entschied.

»Sind Sie hier fertig, Schwester Inga? Dann lassen Sie uns an die Rampe gehen, damit wir den Rettungswagen gleich in Empfang nehmen können.«

Es gab einen etwas abseits gelegenen Seiteneingang, vor dem die Rettungsfahrzeuge halten konnten. Von hier aus wurden die schwerkranken Patienten in die Notaufnahme gebracht, ohne dass sie den den neugierigen Blicken von Passanten oder Klinikbesuchern ausgesetzt waren.

Dr. Felicitas Norden, die Leiterin der Pädiatrie, stand bereits draußen und wartete auf den Krankenwagen.

»Bist du schon lange hier?«, fragte Daniel seine Frau.

Fee schüttelte den Kopf. »Nein, noch keine Minute. Weißt du schon etwas Genaueres? Wie schwer sind sie verletzt?«

»Fred Steinbach hat sich von unterwegs gemeldet. Er meint, die Kinder hätten nicht viel abbekommen. Wahrscheinlich haben sie nur oberflächliche Verletzungen; ein paar Abschürfungen und Prellungen. Die beiden hatten Glück, dass sie hinten saßen. Ganz genau werden wir es aber erst wissen, wenn sie hier sind und uns die Untersuchungsergebnisse vorliegen.«

»Hat Fred auch etwas zur Mutter gesagt?«

»Um sie steht es denkbar schlecht. Sie ist jetzt im OP, und wir können nur hoffen, dass sie überleben wird. Es hat zu lange gedauert, bis sie endlich aus dem Wrack befreit werden konnte. Es grenzt fast an ein Wunder, dass sie es überhaupt bis hierher geschafft hat.«

»Sie ist eine Mutter«, erwiderte Fee, als würde das alles erklären. »Sie hat zwei Kinder, die sie brauchen. Es gibt keinen größeren Ansporn als diesen, um zu überleben.«

»Da magst du recht haben, Feelein. Die nächsten Stunden und Tage werden zeigen, ob genau das reichen wird.«

Fee nickte abwesend. Soeben bog der Rettungswagen von der Straße ab, um die Einfahrt zur Behnisch-Klinik zu nehmen. Mit einer vernünftigen Mischung aus Konzentration und Anspannung warteten Fee und Daniel, bis der Wagen vor ihnen anhielt und sich die Türen öffneten. Als Fee die beiden Jungen sah, atmete sie sofort erleichtert auf. Die Kinder saßen auf den Klappsitzen und machten einen guten Eindruck auf die versierte Kinderärztin. Natürlich sahen sie mitgenommen aus, und die Sorgen um die verletzte Mutter standen ihnen ins Gesicht geschrieben. Aber die Einschätzung von Fred Steinbach stimmte zweifellos: Sie hatten keine schwerwiegenden Verletzungen davongetragen. Trotzdem wurden sie jetzt gründlichst untersucht.

Schnell konnte Fee dann Entwarnung geben. Der äußere Anschein hatte nicht getäuscht; den beiden ging es erstaunlich gut. Zumindest körperlich.

Während es Leon irgendwie schaffte, ruhig und gefasst zu bleiben, brach der kleine Moritz schnell in Tränen aus.

»Wo ist meine Mama? Ist sie … ist sie … tot?«

»Nein!« Fee setzte sich zu dem Jungen auf die Untersuchungsliege und nahm ihn in ihre Arme. »Pscht, nicht weinen, Moritz. Eure Mama lebt.«

Daniel hoffte, dass Fees Worte noch der Wahrheit entsprachen. Er stand neben Leon und legte ihm eine Hand auf die Schultern. Er konnte sich vorstellen, wie schwer es dem älteren Jungen fallen musste, nicht in das Weinen seines Bruders einzustimmen. »Eure Mutter wird gerade operiert«, erklärte Daniel behutsam. »Ihr wisst sicher, dass sie bei dem Unfall schwer verletzt wurde. Deshalb müssen sich jetzt unsere besten Chirurgen um sie kümmern.«

»Wird sie wieder gesund?«, fragte nun auch Leon leise.

Fee und Daniel sahen sich an. Sollten sie den Kindern sagen, wie schlecht es um ihre Mutter stand und ihnen damit jede Hoffnung nehmen?

»Es wird nicht leicht werden«, gestand Daniel schließlich. »Sie muss jetzt erst mal die Operation gut überstehen. Und danach wird sie viel Zeit und Ruhe brauchen, um sich zu erholen.«

»Ich hab’ vorhin schon ganz viel gebetet«, schniefte Moritz. »Vielleicht hilft das ja.«

Fee strich dem Jungen, der sie so verzweifelt anschaute, sanft über die Haare. »Beten hilft immer«, sagte sie weich. »Du hast dich doch danach schon ein klein wenig besser gefühlt, nicht wahr?«

»Ja, kann sein.« Moritz schaute zu Fee auf. »Das Beten soll aber eigentlich meiner Mama helfen. Meinen Sie denn, das klappt auch bei ihr?«

»Das werden wir sicher bald wissen«, sagte Fee ausweichend. Als sich in diesem Moment die Tür des Untersuchungszimmers öffnete, war sie froh, dass sich Moritz vorerst mit dieser vagen Antwort begnügen musste.

»Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte Christian Heine und blieb in der offenen Tür stehen. »Schwester Inga meinte, dass die Untersuchungen abgeschlossen sind und ich kurz reinkommen darf.«

»Natürlich, Herr Heine.« Daniel winkte ihn ins Zimmer. »Sie möchten sicher nach unseren tapferen Patienten sehen.«

Christian nickte und fragte dann die Jungen: »Geht es euch gut? Seid ihr in Ordnung?«

»Ja, wir sind nicht verletzt«, antwortete Leon, der bis jetzt kaum gesprochen hatte. »Aber unsere Mutter …«

»Sie ist hier in den besten Händen, Leon. Ich konnte noch kurz mit ihr sprechen, als ich bei ihr im Wagen war. Ihre größte Sorge galt und gilt euch.«

Daniel sah überrascht auf. »Ich wusste gar nicht, dass sie ansprechbar war. Hat sie Ihnen noch sagen können, wer sich um die Kinder kümmern soll?«

»Nicht direkt, aber sie sprach von ihrem Bruder Sascha …«

»Onkel Sascha?«, riefen beide Kinder entsetzt aus. Leon schüttelte heftig den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen! Mama und Onkel Sascha verstehen sich gar nicht gut. Und mein Bruder und ich kennen ihn kaum. Wir waren vor dem Unfall bei ihm, um unsere Urgroßmutter zu besuchen. Da hat er kein einziges Wort mit uns gesprochen.«

»Ja, als ob wir unsichtbar wären«, pflichtete ihm Moritz bei. »Onkel Sascha ist richtig komisch. Ich glaube, der kann uns gar nicht leiden. Da wollen wir nicht hin.«

Ratlos sah Christian zu den Nordens. Sollte er Maria Scharper falsch verstanden haben? Er war sich so sicher gewesen, dass es ihr Wunsch war, die Kinder bei ihrem Onkel unterzubringen. »Die Polizei hat ihn bereits über den Unfall informiert. Er ist damit einverstanden, dass die Jungs erst mal bei ihm bleiben. Allerdings kann er nicht herkommen, um sie abzuholen. Irgendwelche dringenden Geschäfte, die ihn auf dem Hof festhalten.« Obwohl sich Christian Mühe gab, konnte er nicht verbergen, was er davon hielt. Er selbst hätte alles stehen und liegen lassen, wäre seine eigene Schwester jemals in eine ähnliche Situation wie Marie Scharper geraten.

»Was ist mit eurem Vater?«, fragte Fee.

»Unser Vater lebt doch gar nicht mehr«, sagte der kleine Moritz. »Er ist schon ganz lange tot.«

Die drei Erwachsenen sahen sich betreten an. Jeder von ihnen konnte sich ausmalen, wie schlimm die Situation für die Kinder sein musste. Sie hatten schon einmal einen schrecklichen Verlust erlitten und hatten nun Angst, dass ihnen das Schicksal auch noch die Mutter nehmen würde.

»Irgendwo müsst ihr bleiben«, richtete sich Daniel an die Kinder. »Und wenn ihr nicht zu eurem Onkel möchtet, müssen wir einen anderen Platz für euch finden.«

»Können wir nicht hierbleiben?«, fragte Leon schüchtern. »Bei unserer Mutter? Wir möchten sie nicht allein lassen.«

»Nun, für eine Nacht dürfte das kein Problem sein«, sagte Fee sofort. »Ihr habt schließlich einen schweren Unfall mitgemacht. Da wäre es gut, wenn ihr wenigstens noch eine Nacht zur Beobachtung bleibt. Und morgen sehen wir dann weiter. Einverstanden?«

Die beiden Brüder atmeten hörbar auf. »Klar, solange wir nicht zu Onkel Sascha müssen«, brachte es Moritz auf den Punkt. »Da ist es nämlich gar nicht schön. Er hat einen schrecklich bösen Hund, der immer nur gebellt und geknurrt hat. Bestimmt ist der total bissig.«

»Wenn der Hund so gefährlich ist, solltet ihr wirklich nicht dort leben«, stimmte ihm Christian zu. »Aber wir müssen uns jetzt natürlich überlegen, bei wem ihr ab morgen bleiben könnt. Habt ihr irgendwelche Verwandte, mit denen ihr euch gut versteht?«

»Ja, Tante Lore«, antwortete Leon auf die Frage. »Sie ist die Schwester von unserem Vater. Bei ihr sind wir oft. Wir mögen sie und verstehen uns sehr gut mit ihr.«

»Prima«, sagte Fee sofort. »Dann haben wir ja eine gute Lösung gefunden. Habt ihr eine Telefonnummer, unter der wie sie erreichen können?«

»Ja, aber …« Leon verzog den Mund. »Tante Lore wohnt in Coburg und wird uns dann sicher mitnehmen wollen. Aber wir möchten viel lieber hier in München bleiben, bei unserer Mutter. Wenn wir in Coburg sind, können wir sie bestimmt nur ganz selten besuchen.«

Christian sah unschlüssig zu Fee und Daniel, die genauso ratlos waren wie er. Den Wunsch der Kinder, bei ihrer Mutter in München zu bleiben, konnten sie alle sehr gut verstehen. Doch wenn sich die Buben weigerten, zum Onkel zu gehen, gab es wohl keine Möglichkeit, dass er sich für sie erfüllte. Dann blieb ihnen nur noch ihre Tante Lore in Coburg.

*

Obwohl der nächste Tag ein Sonntag war, kamen Fee und Daniel in die Behnisch-Klinik. Das Schicksal von Maria Scharper und ihren beiden Söhnen ging ihnen so nahe, dass sie es zu Hause nicht lange ausgehalten hatten.

Fee wollte zu Leon und Moritz auf die Kinderstation, und Daniel zog es auf die Intensivstation, wo Maria Scharper lag. Von Dr. Christina Rohde, der Chirurgin, wusste er bereits, wie schwerwiegend Marias Verletzungen waren. Während der OP musste nicht nur eine Niere entfernt werden, sondern auch Teile von Leber und Milz, weil die Organe heftig bluteten. Der Eingriff hatte bis in die Nacht gedauert, und dass Maria ihn überlebt hatte, grenzte an ein Wunder.

Im Dienstzimmer der ITS traf Daniel auf Dr. Schulz, den leitenden Intensivmediziner.

»Wie geht es Frau Scharper?«, wollte er sofort von ihm wissen.

Dr. Schulz sah ihn mit müden Augen an. »Sie hat uns die ganze Nacht in Atem gehalten. Ein paar Mal dachten wir, sie würde es nicht schaffen, aber sie hat einen ungeheuer starken Lebenswillen.«

Daniel dachte an Fees Worte. »Frau Scharper hat zwei Kinder, die sie brauchen. Vielleicht ist das die treibende Kraft. Ist sie denn jetzt stabil?«

»Soweit das überhaupt möglich ist. Noch können wir keine Entwarnung geben. Ihr Zustand kann schnell kippen. Aber sie atmet inzwischen eigenständig, und der Blutdruck hat sich auf einen vernünftigen Wert eingepegelt.«

»Ist sie wach und ansprechbar?«

»Nein, noch nicht.« Dr. Schulz wusste genau wie Daniel, dass das kein gutes Zeichen war. Die Narkose, die sie für die OP bekommen hatte, war nicht so stark gewesen, dass sie Marias langen Schlaf rechtfertigen konnte. »Ich habe vorhin noch ein Schädel-CT machen lassen, um eine Hirnverletzung auszuschließen«, berichtete Dr. Schulz weiter. »Es war unauffällig. Die kleine Kopfwunde, die sie hat, ist nur oberflächlich. Ich konnte im CT keine Anzeichen für ein Schädelhirntrauma oder eine Blutung finden. Dass sie nicht wach wird, hängt sicher mit dem schlechten Allgemeinzustand zusammen. Ihr Körper ist einfach zu schwach, um wachzuwerden.«

»Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als ihm Zeit für die Heilung zu geben und zu hoffen, dass es ihm gelingt.«

Der Intensivmediziner nickte. Ohne dass ihn sein Chef darum bitten musste, öffnete er die Datei mit den CT-Aufnahmen und trat dann zur Seite, um Daniel Platz zu machen.

»Ich bin mir sicher, dass ich nichts finden werde, was Sie nicht schon gesehen haben«, sagte Daniel, setzte sich aber trotzdem und sah sich die Bilder aufmerksam an.

»Vielleicht habe ich irgendetwas übersehen«, erwiderte Dr. Schulz und schaffte es nicht, ein lautes Gähnen zu unterdrücken. »Tut mir leid«, sagte er leicht verlegen. »Die Nacht war lang.«

»Haben Sie überhaupt geschlafen?«, fragte Daniel besorgt.

»Nein, leider nicht.« Dr. Schulz musste schon wieder gähnen. »Ich wollte mich gerade hinlegen, als Sie kamen.«

»Das heißt, erst hat Sie die Patientin auf Trab gehalten und um Ihren Schlaf gebracht, und nun bin ich es.«

»Äh … das wollte ich damit eigentlich nicht sagen.«

Daniel lachte. »Schon gut, Herr Schulz. Gehen Sie hoch ins Bereitschaftszimmer und schlafen Sie eine Runde. Ich bleibe noch eine Weile hier und vertrete Sie in der Zwischenzeit. Ich wollte ohnehin nach Frau Scharper sehen.«

»In Ordnung. Danke. Ach ja – Frau Scharper hat Besuch. Ihre Schwägerin, Frau Bärwald, ist vor einer halben Stunde aus Coburg gekommen. Sie sitzt jetzt an Frau Scharpers Bett. Vielleicht tut es unserer Patientin ja gut, wenn sie eine vertraute Person hört oder spürt.«

Daniel nickte. Man konnte nie mit Sicherheit sagen, wie viel ein komatöser Patient von seiner Umgebung mitbekam. Es gab immer wieder Menschen, die aus dem Koma erwachten und berichteten, dass sie Stimmen oder Geräusche gehört hätten.

Als Dr. Schulz gegangen war, warf Daniel einen letzten Blick auf die CT-Bilder, ohne etwas Besonderes zu entdecken. Anschließend ging er zu Maria. Lore Bärwald saß am Bett ihrer Schwägerin und hielt ihre Hand. Daniel schätzte sie auf Anfang vierzig. Sie hatte warme, mitfühlende Augen und ein einnehmendes Wesen. Kein Wunder, dass die Kinder ihre Tante Lore gernhatten.

Daniel stellte sich ihr vor und berichtete dann das Wichtigste zu Marias Zustand und dem der Kinder.

»Sie sieht so blass aus«, sagte Lore traurig. »Ich kann es immer noch nicht fassen, dass sie hier liegt. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie schlimm es für die Kinder sein muss.«

»Haben Sie die beiden schon gesehen?«

»Ja, ich war zuerst auf der Kinderstation gewesen, um mit ihnen zu sprechen. Ich wäre gern noch gestern gekommen, aber ich hatte Spätdienst, und die Polizei konnte mich erst danach erreichen. Mit Leon habe ich dann auch noch telefoniert. Er sagte mir, dass er mit seinem Bruder über Nacht in der Klinik bleiben würde. Deshalb habe ich mich erst heute früh auf den Weg gemacht.«

»Und das war auch richtig so. Für Ihre Schwägerin konnten Sie ohnehin nichts tun, und die Buben wurden hier gut versorgt.«

Lore Bärwald sah traurig zu Maria, die noch immer in einem tiefen Schlaf lag. »Warum wacht sie nicht auf?«, wollte sie dann leise wissen.

»Sie ist sehr schwer verletzt. Ihr Körper braucht Zeit, um sich von dem Unfall und den Anstrengungen der OP zu erholen. Morgen mag es schon ganz anders aussehen.«

»Aber sie schwebt nicht mehr in Lebensgefahr, oder?«

»Es ist leider zu früh, um das zu beantworten. Aber im Moment sieht es gut aus, und sie ist stabil. Sie ist eine junge, starke Frau, und sie hat zwei Kinder, die auf sie warten. Sie bringt also die besten Voraussetzungen mit, um wieder ganz gesund zu werden. Gönnen wir ihr einfach die Zeit und die Ruhe, die dafür nötig sind.«

Daniel ging im Anschluss mit Lore Bärwald auf die Kinderstation. Fee wartete dort in ihrem Büro auf sie.

»Trotz der ganzen Aufregung und der Sorge um ihre Mutter haben Leon und Moritz in der Nacht gut geschlafen«, konnte Fee die Tante der Kinder beruhigen. »Körperlich geht es ihnen sehr gut. Die kleinen, oberflächlichen Verletzungen werden in den nächsten Tagen abheilen. Alles andere wird Zeit brauchen, um wieder in Ordnung zu kommen.« Als Lore sie fragend ansah, fuhr Fee fort: »Die Kinder sind psychisch traumatisiert. Sie haben einen schweren Unfall mitgemacht, der für ihre Mutter sehr übel ausgegangen ist. Noch kann ihnen niemand versprechen, dass sie ihn überleben wird. Die Kinder kämpfen mit heftigen Verlustängsten.«

»Empfiehlst du eine psychologische Betreuung?«, fragte Daniel seine Frau.

Fee überlegte kurz, schüttelte dann aber den Kopf. »Im Moment halte ich sie nicht für zwingend nötig. Warten wir erst mal ab. Es ist gut, dass sich die beiden gegenseitig helfen und stützen können. Und sobald es ihrer Mutter besser geht und sie sie besuchen können, werden sie mit dem Erlebten besser zurechtkommen.« Fee wandte sich mit einem aufmunternden Lächeln an Lore Bärwald. »Seien Sie für sie da. Geben Sie ihnen die Möglichkeit, über das, was sie beschäftigt, zu sprechen. Mit viel Liebe und Zuwendung werden sie das Ganze sicher gut verarbeiten. Und falls nicht, können wir immer noch über Therapiemöglichkeiten nachdenken.«

»Danke, ich werde Ihre Hinweise sehr ernst nehmen.« Lore sah die Nordens bekümmert an. »Jetzt muss ich es nur noch schaffen, die beiden davon zu überzeugen, mit mir nach Coburg zu kommen. Ich hatte vorhin mit ihnen darüber gesprochen, aber sie wollten von meinem Vorschlag nichts wissen. Sie möchten München nicht verlassen. Sie wollen in der Nähe ihrer Mutter sein. Ich kann die beiden gut verstehen, aber ich weiß nicht, wie das funktionieren soll.« Hilflos zuckte Lore die Achseln. »Sie haben sich nun sogar in den Kopf gesetzt, bei ihrem Onkel Sascha zu leben, nur um in München bleiben zu können.«

»Moment mal«, fragte Daniel irritiert nach. »Leon und Moritz wollen jetzt doch zu ihrem Onkel? Noch gestern meinten sie, dass sie das auf gar keinen Fall möchten.«

»Sie haben ihre Meinung geändert«, sagte nun auch Fee. »Sie haben es mir vorhin gesagt, und ich war genauso erstaunt wie du. Dann verstand ich es. Sie können ihren Onkel zwar nicht leiden, aber er bietet ihnen die einzige Möglichkeit, in der Nähe ihrer Mutter zu bleiben. Dafür nehmen sie sogar diesen schrecklichen Hund, vor dem Moritz so große Angst hat, in Kauf. Sie versuchen eben, das Beste aus ihrer Situation zu machen, gehen Kompromisse ein und stellen ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse zurück. Sie sind zwei bewundernswerte, mutige Jungen, die alles für ihre Mutter tun würden. Sie lieben sie, so einfach ist das.«

»Aber trotzdem können sie nicht zu ihrem Onkel«, sagte Lore. »Ich kenne ihn nicht persönlich; selbst Maria hatte nur wenig Kontakt zu ihm. Sie sagte mal, er sei ein unverbesserlicher Hallodri, der nichts Gescheites im Sinn hat. Er hat bereits vor Gericht gestanden. Maria erwähnte eine Jugendstrafe, zu der er verurteilt wurde. Das ist zwar schon etliche Jahre her, und die Menschen können sich natürlich auch ändern, aber ich glaube nicht, dass es Maria gefallen würde, wenn ihre Buben bei Sascha leben müssten.«

»Das wundert mich jetzt allerdings«, sagte Daniel. »Ihre Schwägerin hatte nach dem Unfall kurz das Bewusstsein zurückerlangt. Sie war es, die den Vorschlag machte, die Jungen zu ihrem Onkel zu bringen.« Als ihn Lore ungläubig ansah, erzählte ihr Daniel von dem, was Christian Heine berichtet hatte.

»Es tut mir leid, aber hier muss ein riesengroßes Missverständnis vorliegen«, sagte Lore voller Überzeugung. »Maria sprach nie gut von ihrem Bruder. Warum sollte sie also ausgerechnet ihm das Wertvollste, was sie besitzt, anvertrauen?«

»Wenn ich das wüsste, Frau Bärwald.« Daniel sah von ihr zu Fee. »Wir sollten wohl noch mal mit Herrn Heine reden.«

»Ja, das denke ich auch.« Fee wandte sich an Lore. »Ich hoffe, Sie nehmen es nicht persönlich, dass die Kinder den unliebsamen Onkel Ihnen vorziehen. Versuchen Sie zu verstehen, was in den Kindern vorgehen muss. Für sie ist es schrecklich, von der Mutter getrennt zu sein. Sie haben Angst um sie und fürchten, sie vielleicht für immer zu verlieren. So, wie sie bereits den Vater verloren haben. Womöglich kommt es ihnen auch wie ein Verrat an ihrer Mutter vor, wenn sie sie hier allein zurücklassen. Egal, was es ist, die Vorstellung, die Stadt zu verlassen, bereitet den Kindern entsetzliche Angst. Mehr Angst als ihr Onkel und sein furchtbarer Hund.«

»Sie haben sicher recht, Frau Dr. Norden. Ich kann verstehen, dass die Buben bleiben wollen. Aber wie soll das gehen? Ich wohne nun mal in Coburg und nicht in München.«

»Und wenn Sie ebenfalls hierbleiben?«, fragte Fee. »Wenigstens für eine Woche, bis die Mutter wieder bei Bewusstsein ist und es ihr halbwegs besser geht. Wir würden Ihnen helfen, hier eine günstige Unterkunft zu finden.«

»Ja«, stimmte Daniel seiner Frau zu. »Die Behnisch-Klinik verfügt über ein paar Gästezimmer, die wir in dringenden Fällen an Angehörige unserer Patienten vermieten. Übrigens für einen sehr geringen Unkostenbeitrag. Ich könnte sofort alles Weitere veranlassen …«

Lore hob schnell eine Hand, um Daniel zu stoppen. »Das ist sehr nett von Ihnen, Dr. Norden, aber das geht leider nicht. Ich bin berufstätig und werde niemals so kurzfristig Urlaub bekommen. Ich bin in der Gastronomie und muss auch heute, am Sonntag, arbeiten.« Sie sah auf ihre Uhr. »Mein Dienst beginnt bereits in fünf Stunden. Fast vier davon brauche ich für die Fahrt nach Coburg. Mir bleibt also nicht mehr viel Zeit, um die Jungs zu überreden, mit mir zu kommen. Wenn mir das nicht gelingt, weiß ich nicht, was ich machen soll. Ich kann sie ja schlecht zwingen, in mein Auto zu steigen.«

*

Fee übernahm es, mit Lore zu den Kindern zu gehen, während Daniel auf die ITS zurückkehrte. Sie war erstaunt, als sie Christian Heine im Zimmer der Jungen antraf. Es kam oft vor, dass sich die Rettungskräfte nach den Menschen, denen sie geholfen hatten, erkundigten. Meistens ergab sich das, wenn sie ohnehin in der Klinik zu tun hatten und das Gespräch auf frühere Einsätze fiel. Aber dass jemand an seinem freien Sonntag extra vorbeischaute, war eher ungewöhnlich.

»Ich wollte nur mal sehen, wie es ihnen geht«, erklärte er. »Ich habe Frau Scharper versprochen, auf ihre Kinder achtzugeben und dafür zu sorgen, dass sie in gute Hände kommen.« Er schenkte Lore Bärwald ein charmantes Lächeln, als er sagte: »In die besten Hände, wie mir scheint. Die Buben hängen sehr an Ihnen.«

»Ja, und trotzdem wollen sie nicht mit mir kommen«, sagte Lore und sah die Kinder vorwurfsvoll an.

»Ach, Tante Lore, wir haben dich doch ganz doll lieb.« Moritz legte seine Arme um ihren Hals und gab ihr einen Kuss. »Aber wir müssen trotzdem bei unserer Mama bleiben.«

»Bitte, Tante Lore! Sie braucht uns hier!« Auch Leon gab sein Bestes, um sie zu überzeugen. »Stell dir vor, sie wird wach, und niemand ist bei ihr, den sie kennt. Das wird sie bestimmt ganz traurig machen. Außerdem weißt du doch, dass sie sich immer große Sorgen um uns macht, wenn wir nicht bei ihr sind. Wie soll sie denn dabei gesund werden?«

»Genau!«, stimmte Moritz seinem Bruder zu. Dann sah er seine Tante treuherzig an. »Du willst doch sicher auch, dass Mama wieder gesund wird. Oder etwa nicht?«

»Natürlich, Mo! Wie kannst du so etwas nur fragen! Aber …«

»Na siehst du!«, rief Leon. »Dann musst du doch auch einsehen, dass es richtig ist, wenn wir in München bleiben.«

»Bitte, Tante Lore! Bitte! Bitte! Lass uns bei unserer Mama bleiben! Bitte!« Aus Moritz’ Augen quollen jetzt dicke Tränen, die jedes Herz zum Schmelzen brachten. In diesem Moment wurde Fee klar, dass Tante Lore nicht die Spur einer Chance hatte. Sie stand diesem geballten kindlichen Ausbruch absolut hilflos gegenüber und rang sichtbar nach Fassung.

»Aber, Jungs, ihr wisst doch, dass ich arbeiten muss«, schniefte Lore. »Ich kann nicht in München bleiben, um auf euch aufzupassen.«

»Du brauchst nicht auf uns aufzupassen«, sagte Leon sofort. »Ich bin schon fast erwachsen. Und um Moritz kann ich mich auch kümmern. Wir brauchen keinen Babysitter.«

Lore konnte bei diesen Worten nur ungläubig mit dem Kopf schütteln. »Leon, sei doch vernünftig! Es geht nicht nur ums Aufpassen. Irgendwo müsst ihr in dieser Zeit auch wohnen. Hier auf der Kinderstation könnt ihr nicht noch länger bleiben.«

»Wir wohnen auf dem Hof von Uroma Hilda und Onkel Sascha. Dort gibt es eine Bushaltestelle, von der zu jeder halben Stunde ein Bus nach München reinfährt.« Leon zog sein Handy hervor und hielt es der Tante hin. »Hier! Ich habe mir schon die Busverbindungen rausgesucht. Schau mal, wenn wir mit dieser Linie fahren, bringt uns der Bus direkt zur Behnisch-Klinik. Er hält fast vor der Tür. Wir könnten also jeden Tag den Bus nehmen, steigen hier aus, besuchen unsere Mutter und fahren später mit dem Bus zurück. Das bekommt jedes Kleinkind hin!«

Lore sah unsicher auf das Handy-Display und dann wieder zu den Kindern. »Ihr habt euch das wohl schon ganz genau überlegt.«

Beide Jungen nickten eifrig, um sich dann wieder aufs Bitten und Betteln zu verlegen. »Tante Lore, du musst dir keine Sorgen machen«, versicherte ihr Moritz treuherzig. »Mit Onkel Sascha werden wir bestimmt gut klarkommen. Und diesem schrecklichen Hasso gehen wir aus dem Weg. Das kriegen wir irgendwie hin!«

»Außerdem haben wir ja auch noch unsere Uroma«, sagte Leon und warf seinem Bruder einen bedeutungsvollen Blick zu, der Fee nicht entging und der sie nachdenklich stimmte. »Sie wird schon für uns sorgen. Schließlich sind wir ihre einzigen Urenkel.«

»Kann sie das denn?«, fragte Lore stirnrunzelnd. »Ich dachte immer, eure Oma Hilda wäre schon recht betagt und nicht mehr so fit.«

Leon winkte ab. »Ach, für ihr Alter ist sie eigentlich echt gut drauf«, behauptete er großspurig. »Sie läuft umher und putzt und kocht den ganzen Tag. Ihr geht es super. Tante Lore, du musst dir wirklich keine Sorgen um uns machen. Wir sind bei ihr und Onkel Sascha bestens aufgehoben. Und außerdem sind es ja nur ein paar Tage. Was soll da schon groß passieren? Du musst wegen uns nicht so ängstlich sein.«

Lore hob schließlich kapitulierend die Hände. »Also, von mir aus. Ich schaffe es ja doch nicht, euch umzustimmen und kann euch schlecht mit Gewalt von hier wegbringen. Außerdem hat mir Frau Dr. Norden erklärt, warum es gut ist, wenn ihr in der Nähe eurer Mutter bleibt. Ich kann nur hoffen, dass das mit euch und eurem Onkel klappt. Ich habe da nämlich immer noch meine Bedenken.« Lore sah erst die Kinder zweifelnd an und dann Fee Norden und Christian Heine. »Aber wenn es wirklich Marias Wunsch war …«

»Ich habe es jedenfalls so verstanden«, sagte Christian, der die Frage in ihren Worten heraushörte. »Es war so, dass sie mir den Namen ihres Bruders nannte, als ich sie nach einem Angehörigen fragte. Genaueres werden wir erst erfahren, wenn sie wieder wach ist.«

»Und bis dahin bleibt uns nichts als zu hoffen, dass alles gutgeht?«

Christian schüttelte den Kopf. »Nein, bis dahin dürfen Sie sich auf mich verlassen. Ich habe Ihrer Schwägerin versprochen, auf die Kinder achtzugeben, und das werde ich machen. Ich werde regelmäßig herkommen und nach dem Rechten sehen. Und mit dem Onkel werde ich auch noch sprechen. Wenn Sie mir Ihre Telefonnummer geben, werde ich Sie über alles informieren, was hier geschieht. In Ordnung?«

»Danke, das ist sehr nett von Ihnen. Es würde mich tatsächlich sehr beruhigen.« Unruhig blickte sie auf ihre Uhr. »Wie geht es denn nun weiter? Kommt euch euer Onkel abholen? Ich muss jetzt leider nach Coburg zurückfahren und kann euch noch nicht mal bei ihm absetzen.«

»Ich könnte das übernehmen«, bot sich Christian sofort an. »Ich bringe die Jungs zu ihrem Onkel. So kann ich mich gleich davon überzeugen, dass dort tatsächlich alles in Ordnung ist.«

»Dann sage ich nochmals danke, Herr Heine.«

Fee wunderte sich, dass Lore Bärwald allen Vorschlägen von Christian Heine zustimmte. Wenn man bedachte, mit wie viel Misstrauen sie dem leiblichen Onkel der Kinder begegnete, mutete es schon ziemlich seltsam an, dass sie einem Wildfremden so viel Vertrauen entgegenbrachte. Vielleicht liegt es daran, dass er zur Feuerwehr gehört, sinnierte Fee. Immerhin gelten die Angehörigen von Feuerwehr und Polizei doch per se als sehr zuverlässig und loyal.

Fee betrachtete Christian nun sehr aufmerksam und kam dann zu dem Schluss, dass es nicht nur an seinem Beruf lag. Christian Heine musste man nach menschlichem Ermessen vertrauen. Es ging gar nicht anders. Mit seinen ehrlichen, klugen Augen und einem Lächeln, das versprach, dass alles wieder gut würde, war er wie ein Fels in der Brandung, der Sicherheit und Schutz bot. Bei ihm konnte man seine Probleme abladen. Er würde sie wieder in Ordnung bringen. Selbst Fee würde ihm jederzeit ihr Leben und das ihrer Liebsten anvertrauen. Dieser Mann hatte etwas an sich …

»Frau Dr. Norden?«

Fee schreckte auf und sah direkt in die amüsiert blickenden Augen des Feuerwehrmannes. Hatte sie ihn etwa die ganze Zeit angestarrt? »Entschuldigung«, stotterte sie verlegen. »Ich war gerade etwas in Gedanken.«

»Ach, das geht uns allen mal so«, sagte Lore und reichte ihr die Hand. »Ich muss mich jetzt leider von Ihnen verabschieden.« Dann umarmte sie ihre Neffen. »Ich wusste nicht, wie lange ihr in der Klinik bleibt. Deshalb habe ich euch ein paar Sachen mitgebracht, die ihr bestimmt gut gebrauchen könnt.«

»Was denn?«, fragte Moritz sofort neugierig.

»Eure Zahnbürsten, frische Unterwäsche, Socken.« Lore schmunzelte. »Und natürlich auch ein paar Bücher, eure Gameboys und ein paar Reisespiele.«

»Danke, Tante Lore!«, rief Moritz begeistert und warf sich seiner Tante in die Arme. »Du bist die supertollste Tante auf der ganzen Welt!«

Alle lachten, und Lore stimmte etwas beschämt ein. »Na, wenn du das sagst, mein Spatz.« Liebevoll strich sie Moritz über die Haare und gab ihm einen Kuss. Dann zog sie auch Leon noch einmal in eine herzliche Umarmung. »Passt gut auf euch auf, ja? Und wenn ihr irgendetwas braucht, ruft mich an! Leon, du hast ein Handy. Melde dich bitte jeden Tag bei mir, damit ich mir nicht so große Sorgen um euch machen muss.«

»Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Wir kommen schon klar.«

»Na gut, wenn du das sagst.« Lore zückte ihr Portemonnaie. »Ihr braucht sicher noch Geld. Für den Bus oder wenn ihr euch hier etwas zu essen kaufen wollt. Im Erdgeschoss gibt es eine Cafeteria …«

Fee schritt ein. »Frau Bärwald, wenn sich die Jungs in der Klinik aufhalten, müssen sie für ihr Essen nicht bezahlen. Hier, auf der Kinderstation, können sie jederzeit vorbeikommen und die Mahlzeiten zusammen mit den anderen Kindern einnehmen. Ich sage in der Küche Bescheid, dann schicken sie zwei Extraportionen mit hoch. Aber es wäre trotzdem gut, wenn die Kinder über ihr eigenes Geld verfügen könnten. Für die Busfahrten brauchen sie es ja ohnehin.«

Die Jungen waren glücklich, dass ihre Tante ihrem großen Wunsch, in München zu bleiben, so schnell nachgegeben hatte. Aber als sie nun verschwand, war ihnen doch etwas weh ums Herz.

Christian, dem das nicht entging, versuchte, sie abzulenken: »Was habt ihr denn jetzt vor? Soll ich euch gleich zu eurem Onkel bringen, oder habt ihr Lust auf einen kleinen Ausflug? Wir könnten an die Isar fahren oder irgendwo ein Eis essen. Oder möchtet ihr lieber …«

»Äh … nein …«, unterbrach ihn Leon. »Wir möchten viel lieber in der Klinik bleiben. Wir waren doch noch gar nicht bei unserer Mutter.«

»Oh!«, entwich es Fee bedauernd. »Das geht leider nicht. Ihr wisst ja, dass sie auf der Intensivstation liegt. Dort sind Besuche nur in Ausnahmefällen gestattet, und für Kinder herrscht sogar strenges Besuchsverbot.« Nicht ohne Grund.

Es war für einen Erwachsenen schon sehr schwer zu ertragen, einen lieben Menschen dort liegen zu sehen, angeschlossen an Schläuche und Apparate. Auf ein Kind musste dieser Anblick sehr verstörend wirken.

Fee brach es fast das Herz, als sie die enttäuschten Gesichter der Kinder sah. »Sobald eure Mutter aufgewacht ist und auf eine normale Station verlegt wird, könnt ihr zu ihr. Aber heute wird das noch nicht geschehen. Ihr solltet doch lieber dem Ausflug zustimmen.«

Beide Kinder schüttelten traurig den Kopf. »Wir bleiben in der Klinik«, sagte Leon. »Vielleicht wacht sie ja bald auf. Dann ist sie sicher froh, wenn sie hört, dass wir hier sind.«

»Und dann wird sie bestimmt ganz schnell wieder gesund«, ergänzte Moritz. Er sah Fee bittend an. »Können wir uns hier hinsetzen und warten? Wir stören auch nicht.«

Fee nahm Moritz in ihre Arme und strich Leon, der jetzt auch plötzlich sehr mitgenommen aussah, über die Wange. »In Ordnung. Heute machen wir das so. Aber ab morgen geht ihr auch mal raus, bewegt euch ein bisschen und schnappt frische Luft. Das wird euch guttun und etwas ablenken. Ich bin mir sicher, eure Mutter möchte nicht, dass ihr hier den ganzen Tag Trübsal blast.«

»Okay«, erwiderte Leon lustlos. »Vielleicht morgen. Mal sehen.«

*

Christian war noch eine Weile bei den Kindern geblieben und dann nach Hause gefahren. Am späten Nachmittag wollte er zurückkommen, um die beiden zu ihrem Onkel zu bringen.

Er hätte sich gefreut, wenn sie sein Angebot, etwas mit ihm zu unternehmen, angenommen hätten. Dass sie es nicht taten, hatte ihn aber nicht überrascht. Noch waren die Erinnerungen an den Unfall zu frisch, um sich Vergnügungen hingeben zu können. Schon gar nicht, wenn die Mutter schwer verletzt auf der Intensivstation lag und sie große Angst hatten, sie nie wiederzusehen.

Vielleicht in ein paar Tagen, hoffte Christian. Vielleicht würden sie sich dann wieder gestatten, einfach nur Kinder zu sein, die Spaß und Freude am Leben hatten.

Fee Norden hatte den Brüdern angeboten, sich im Spielzimmer der Kinderstation aufzuhalten. Insgeheim hatte sie darauf spekuliert, dass sie dort auf andere Gedanken kämen. Doch sie hatten ihren Vorschlag abgelehnt. Die Kinderstation sei viel zu weit von der ITS entfernt, hatten sie ihr erklärt und sich dann in dem kleinen Besucherraum, der zur ITS gehörte, niedergelassen. Dort saßen sie nun, blätterten in ihren Büchern oder spielten mit ihren Gameboys – und warteten auf ein Zeichen ihrer Mutter.

Fee hatte dafür gesorgt, dass sie etwas zu essen und zu trinken bekamen. Moritz hatte sich nach dem Mittagessen auf den Stühlen ausgestreckt und war eingeschlafen. Sein großer Bruder hatte ihn fürsorglich mit seiner Jacke zugedeckt, die Fee gegen eine leichte Decke austauschte. Dann ging sie zu Daniel auf die Intensivstation.

»Tut mir leid, Feelein. Ich weiß, wir wollten längst wieder zu Hause sein. Du hast dir unseren Sonntag sicher anders vorgestellt. Aber Dr. Schulz hat die ganze Nacht durchgearbeitet und braucht seinen Schlaf gewiss dringender als ich meinen freien Tag.«

»Mach dir deswegen keine Gedanken. Ich wollte ohnehin erst geklärt haben, was aus den Kindern wird.« Während sie sich im Dienstzimmer an der Kaffeemaschine bediente, berichtete Fee von den Ereignissen der letzten Stunden. »Die beiden harren jetzt in dem kleinen Besucherzimmer aus. Am liebsten würden sie dort bleiben, bis ihre Mutter die ITS verlässt.«

Daniel gefiel das nicht. »Das kann nicht gut für sie sein. Es sind Kinder. Sie sollten sich nicht den ganzen Tag über in einem Krankenhaus aufhalten.«

»Natürlich nicht. Aber in ihrem Fall machen wir eine Ausnahme. Momentan tut es ihnen gut, hier zu sein. Außerdem ist es ja nicht für sehr lange. In zwei Stunden kommt Christian Heine wieder her, um sie abzuholen und zu ihrem Onkel zu bringen.«

»Ich hoffe nur, dass das kein Fehler ist. Es spricht einiges gegen den Onkel. Weder die Kinder noch die Tante scheinen eine gute Meinung von ihm zu haben.«

»Ich weiß. Das macht mir auch große Sorgen. Womöglich ist dieser Onkel Sascha nicht der beste Umgang für Leon und Moritz. Ich bin nur froh, dass sich Herr Heine für die beiden verantwortlich fühlt. Er wird gut auf sie aufpassen und sofort Alarm schlagen, wenn ihn etwas beunruhigt.«

Als Christian später kam, um seine Schützlinge abzuholen, sprachen ihn Fee und Daniel noch einmal deswegen an.

»Machen Sie sich keine Gedanken«, beruhigte er sie. »Ich besitze, wie ich glaube, eine ganz gute Menschenkenntnis. Wenn mir Sascha Peters verdächtig vorkommt, erfahren Sie es als Erste.«

Nur wenig später musste Christian an das Gespräch mit den Nordens zurückdenken. Noch bevor er den Onkel kennenlernte, befielen ihn heftige Zweifel, ob die Kinder hier gut aufgehoben waren. Es gefiel ihm gar nicht, was er zu sehen bekam: erst der versteckt liegende Weg mit den hohen Sträuchern und Büschen, die so dicht wuchsen, als wollten sie etwas verbergen – und dann dieser Hof. Christian hielt entsetzt die Luft an, als er ihn jetzt sah. Wie konnte jemand inmitten dieser Müllhalde leben?

Der Hund hatte ihr Kommen bemerkt und sprang hinter einem Schrottberg hervor, um sie lautstark anzukläffen. Dass die Jungs vor diesem Ungetüm Angst hatten, überraschte Christian nicht. Es war kein freundlicher Hund, und Christian mochte sich gar nicht ausmalen, wie gefährlich er den Kindern werden konnte.

»Seid ihr sicher, dass ihr hierbleiben wollt?«, fragte er sie. »Noch ist es nicht zu spät. Wir können auf der Stelle umdrehen und wieder fortfahren.«

»Nein, nein«, sagte Leon hastig. »Wir bleiben. So schlimm, wie’s aussieht, ist es gar nicht.«

Christian zog die Augenbrauen hoch und sah die Kinder zweifelnd an. Sie saßen immer noch im Wagen, und es schien, als könnten sie sich nicht recht überwinden auszusteigen.

»Also, ich finde es ziemlich schlimm«, sagte Christian.

»Ach, das bisschen Unordnung stört uns nicht«, plapperte Moritz jetzt los. »Unser Onkel hat halt keine Zeit aufzuräumen. Er hat immer so viel zu tun.«

»Ach ja? Was hat er denn dauernd zu tun?«

»Geschäfte halt«, wiederholte Moritz ahnungslos das, was er von der Unterhaltung zwischen seiner Mutter und dem Onkel aufgeschnappt hatte. »So dies und das. Ehrliche Arbeit. Unser Onkel ist auf dem Pfad der Tugend unterwegs.«

»Komm jetzt, Mo«, sagte Leon hastig. Er stieß die Wagentür auf und zerrte seinen plauderfreudigen Bruder hinter sich her. Christian war sofort klar, dass Leon den kleinen Moritz am Weitersprechen hindern wollte.

»Leon! Warte!«, rief er und beeilte sich, ebenfalls aus dem Wagen zu kommen. Er musste unbedingt noch einmal mit ihm reden. Vielleicht konnte er ihn noch irgendwie umstimmen. Aber in dieser Sekunde öffnete sich die Haustür, und Sascha Peters trat heraus.

»Da seid ihr ja endlich«, begrüßte er die Kinder mit einem Lächeln, das nicht echt wirkte. »Los, kommt rein. Ich warte schon auf euch.«

Leon und Moritz waren stehengeblieben, und für einen Moment hatte Christian die Hoffnung, dass die Jungen umkehren würden. Doch dann griff Leon nach der Hand seines Bruders, und gemeinsam gingen sie weiter.

»Wartet! Ihr habt eure Taschen vergessen!« Christian holte aus dem Kofferraum die beiden Taschen heraus, die Lore Bärwald für ihre Neffen gepackt hatte.

Leon kam zurückgelaufen, dicht gefolgt von Moritz, der es wohl nicht fertigbrachte, ohne seinen großen Bruder beim Onkel zu bleiben. »Danke, Herr Heine«, sagte Leon und nahm ihm die Taschen ab. »Vielen Dank auch fürs Herbringen. Und für alles andere …«

»Schon gut, Leon. Du brauchst mir nicht zu danken.« Mit einem kurzen Blick auf Sascha Peters, der noch immer an der Haustür stand und sie aufmerksam beobachtete, fügte er leise hinzu: »Wollt ihr nicht doch mitkommen?« Als Leon nur stumm mit dem Kopf schüttelte, forderte ihn Christian auf: »Gib mir mal dein Handy.«

Leon holte sein Telefon aus der Jackentasche und reichte es Christian. Kurz darauf erhielt er es zurück. »Meine Nummer steht jetzt unter deinen Kontakten. Du kannst mich jederzeit anrufen. Wenn ihr Probleme habt oder einfach nur mal quatschen wollt, rufst du mich bitte an. Versprichst du mir das?«

»Okay«, sagte Leon leise und lief mit Moritz im Schlepptau zum Haus seines Onkels.

Christian blieb am Auto stehen und sah ihnen mit einem sonderbaren Gefühl nach. Als sich Sascha Peters mit einem kurzen Nicken in seine Richtung abwandte und den Jungen ins Haus folgen wollte, hielt ihn Christian auf. »Augenblick noch, Herr Peters!«

Die beiden Männer gingen sich entgegen und trafen sich in der Mitte des Hofes. Mit einem kurzen, energischen Befehl brachte Sascha den bellenden Hund zur Ruhe und fragte dann unfreundlich: »Gibt’s noch ’was?«

»Mein Name ist Christian Heine.­ Ich arbeite bei der Berufsfeuerwehr …«

»Weiß ich«, unterbrach ihn Sascha unwirsch. »Wir haben doch schon telefoniert.«

Christian nickte und bemühte sich, trotz des unhöflichen Benehmens seines Gegenübers ruhig zu bleiben. »Ja, das haben wir. Aber es gibt da noch eine Sache, die ich unbedingt loswerden will: Ich fühle mich persönlich für die Kinder verantwortlich, weil ich ihrer Mutter versprach, auf sie achtzugeben. Dieses Versprechen nehme ich sehr ernst. Bitte wundern Sie sich deshalb nicht, wenn ich hier gelegentlich vorbeikomme, um nach den beiden zu sehen.«

Sascha verschränkte die Arme vor der Brust. »Soweit kommt’s noch, dass Sie hier ständig auftauchen und mir auf die Nerven gehen!«

»Ich habe nicht vor, Ihnen auf die Nerven zu gehen. Ich will nur nach den Kindern sehen.«

»Die Jungs fahren jeden Tag in die Klinik. Treffen Sie sich doch dort mit ihnen, wenn Sie sie unbedingt sehen wollen. Hier haben Sie nichts zu suchen.«

Bevor Christian etwas erwidern konnte, drehte sich Sascha um und stapfte zum Haus zurück. Auf halber Strecke blieb er noch einmal stehen und wandte sich zu Christian um, der sich keinen Zentimeter von seinem Platz fortgerührt hatte.

»Ach übrigens, Herr Heine, mein Hund bellt nicht nur. Der kann auch beißen. Also überlegen Sie es sich lieber zweimal, ob Sie hier noch mal aufkreuzen. Ich will Sie auf meinem Grund und Boden nicht wiedersehen. Ich hoffe, das war deutlich!«

»Mehr als deutlich«, murmelte Christian leise. »Aber das wird nichts an meinen Plänen ändern.«

Er wartete, bis Sascha Peters im Haus verschwunden war, dann machte er sich auf den Weg zu seinem Auto. Er setzte sich hinters Lenkrad und starrte minutenlang auf die Haustür, hinter der er die Kinder wusste. Noch immer hoffte er, dass Leon und Moritz sich gegen ihren Onkel entschieden. Vielleicht würden sie gleich hinauslaufen, um mit ihm fortzufahren. Aber das geschah nicht.

*

Moritz und Leon hatten sich aufs Sofa gesetzt und sahen ihrem Onkel nervös entgegen, als er zu ihnen ins Wohnzimmer kam. Obwohl sie wussten, wie sinnlos das war, saßen sie so dicht wie möglich am Sessel der Uroma, als erhofften sie sich von ihr Unterstützung. Aber Oma Hilda interessierte sich nur für das Geschehen im Fernseher. Von ihren Urenkeln hatte sie noch keine Notiz genommen und auch nicht auf ihre schüchterne Begrüßung reagiert. Sie lebte in ihrer eigenen Welt und bekam von dem, was um sie herum geschah, nichts mit.

»Ihr habt oben, unterm Dach ein Zimmer.« Sascha hatte sich an die Wand neben der Tür gelehnt und betrachtete sie, als wären sie Käfer unter einem Mikroskop. Leon merkte, wie Moritz unbehaglich auf dem Sofa umherrutschte. Er hatte Angst, und Leon konnte ihm das nicht verdenken. Er fühlte sich selbst äußerst unwohl. Moritz durfte das natürlich nicht erfahren. Wahrscheinlich hätte er dann nur noch mehr Angst gehabt.

»Okay, danke«, erwiderte Leon mit fester Stimme, die nicht verriet, wie es in ihm tatsächlich aussah.

»Solange ihr bei mir seid, gelten meine Regeln. Mein Haus, meine Regeln. Ist das klar?«

Beide Jungen nickten.

»Erwartet nicht, dass ich mich um euch kümmere. Ihr habt hier ein Dach überm Kopf und was zu essen. Der Rest interessiert mich nicht. Ich wohne im Anbau, auf der anderen Seite vom Haus, und bin nicht scharf auf euren Besuch. Ich will meine Ruhe haben und lege keinen Wert auf Kinder, die mich stören. Und lasst euch ja nicht einfallen, draußen herumzuschnüffeln. Wenn ich euch in der Nähe der Scheune erwische, setzt es was. Dann bin ich nicht mehr der nette Onkel Sascha. Habt ihr mich verstanden?«

Moritz schlotterte inzwischen vor Angst und schaffte nur mit Mühe ein weiteres stummes Nicken. Als Leon das sah, wurde er wütend auf seinen Onkel, dem es sichtlich Spaß machte, seine Neffen einzuschüchtern.

»Keine Sorge, wir schnüffeln schon nicht rum«, gab Leon jetzt so barsch zurück, dass Sascha ihn erstaunt ansah. »Wir sind ja sowieso kaum hier. Wir fahren morgens mit dem Bus nach München zur Behnisch-Klinik, um bei unserer Mutter zu sein, und bleiben dort den ganzen Tag.«

»Dann ist es ja gut.« Restlos zufrieden schien der Onkel noch nicht zu sein. Auf seiner Stirn hatte sich eine steile Falte gebildet, als würde er angestrengt über etwas nachdenken. Schließlich sagte er: »Der Kühlschrank ist immer voll. Wenn ihr Hunger habt, bedient euch.« Er wies mit dem Kopf zu seiner Großmutter. »Oma beachtet am besten gar nicht. Sie kriegt sowieso nichts mit. Nachher kommt eine Schwester vom Pflegedienst, um ihr das Abendbrot zu geben und sie ins Bett zu bringen. Schert euch nicht darum; macht einfach euer Ding, aber geht mir aus dem Weg.« Ein fieses Grinsen erschien auf seinem Gesicht, als er hinzufügte: »Ihr solltet euch übrigens nicht darauf verlassen, dass Hasso immer brav an seiner Kette liegt. Manchmal lass ich ihn auch frei rumlaufen. Besonders gern hält er sich dann in der Nähe der Scheune auf. Dort liegt er auf der Lauer und wartet auf vorwitzige Bälger, die sich nicht an die Regeln halten.«

Leon hörte, wie Moritz vor Schreck nach Luft japste. Wütend sah er seinen Onkel an, der sich über Moritz’ Angst köstlich zu amüsieren schien. »Es war nicht nötig, uns mit dem Hund zu drohen«, fauchte er. »Wir haben nicht vor, in diese baufällige Scheune zu spazieren. Womöglich bricht die noch über uns zusammen.«

»Ja, das wäre durchaus möglich«, griente Sascha und ließ sie dann endlich allein. Beide Kinder atmeten hörbar auf, als die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel.

»Onkel Sascha ist überhaupt nicht nett zu uns«, jammerte Moritz. »Eigentlich will ich gar nicht hier sein. Bei Tante Lore ist es viel schöner.«

»Das weiß ich selbst. Mo, wir haben das doch alles durchgesprochen. Wenn wir in Coburg sind, ist Mama hier ganz allein. Sie wird bestimmt bald aufwachen, und dann ist sie sehr traurig, wenn wir sie nie besuchen kommen.«

Moritz nickte bekümmert. »Das wäre ganz furchtbar.«

»Siehst du! Und deshalb müssen wir mit Onkel Sascha irgendwie auskommen. So schlimm wird’s schon nicht. Wir fahren doch jeden Tag nach dem Frühstück in die Klinik und kommen erst am Abend zurück. Dann essen wir schnell und verziehen uns sofort nach oben in unser Zimmer. Sei doch froh, dass Onkel Sascha nicht hier im Haus wohnt, sondern in seinem dämlichen Anbau. Wenn wir Glück haben, müssen wir diesen Idioten gar nicht sehen.«

Moritz kicherte. »Du darfst unseren Onkel nicht einen Idioten nennen.«

»Er ist aber einer«, erwiderte Leon. »Wie soll ich ihn denn sonst nennen? Dumpfbacke? Oder Blödmann?«

»Oder Knallkopf?« Moritz lachte, während er sich weitere Beleidigungen für seinen Onkel ausdachte. Leon war es recht. Ihrer Mutter würde das zwar nicht gefallen, aber sie konnte es ja nicht hören. Sie lag in einem Klinikbett und wusste nicht, wie schrecklich es in diesem Haus war. Oder dass Leon genauso viel Angst hatte wie der kleine Moritz, aber es nicht zeigen durfte. Schließlich war er der Große. Er musste nun auf Moritz aufpassen und dafür sorgen, dass es ihm gut ging. Und wenn Mo jetzt wieder lachen konnte, weil er sich Schimpfwörter für seinen Onkel ausdenken durfte, hatte Leon seinen Job doch gut gemacht. Moritz war fröhlich und hatte wenigstens im Augenblick keine Angst mehr.

»Vielleicht ist er auch ein Vollpfosten«, warf Leon nun den nächsten Vorschlag in den Ring und erntete dafür einen neuen Lacher von seinem Bruder.

Mit Moritz’ guter Stimmung war es allerdings vorbei, als sie später schlafen gingen.

»Ich finde es hier ganz schön gruselig«, gestand er und sah sich mit einem langen Gesicht in ihrem Zimmer unterm Dach um. Zwei große, alte Betten aus schwerem Holz standen zu jeder Seite des Raums unter den Dachschrägen. Ein riesiger Kleiderschrank, an dem sich die Holzwürmer reichlich bedient hatten, stand neben der Tür. Dann gab es noch einen kleinen Nachtschrank und zwei wacklige Stühle.

»Für ein paar Tage wird’s schon gehen.«

»Aber hier riecht es so komisch«, beschwerte sich Moritz und hielt sich demonstrativ die Nase zu.

»Stell dich nicht so an. Wir machen einfach das Fenster auf, dann verschwindet der Mief schnell.« Auch Leon störte dieser muffige Geruch, und er war froh, als nun frische Luft durch das offene Fenster in den Raum strömte. »Das Fenster lassen wir über Nacht auf. Wenn wir uns ordentlich zudecken, werden wir schon nicht frieren.«

Moritz setzte sich auf seine Bettkante. Dann verzog er angewidert das Gesicht. »Das Bett stinkt auch eklig!«

»Manno!«, schnauzte Leon ihn an. Mit seiner Geduld war es vorbei. Warum musste er sich eigentlich um alles kümmern? Und warum benahm sich Moritz so, als wäre er ein kleines, verwöhntes Baby? »Musst du denn über alles meckern? Was soll ich denn noch machen, dass du endlich Ruhe gibst? Ich kann schließlich auch nichts dafür, dass wir hier feststecken!«

Bei diesen harschen Worten sanken Moritz’ Mundwinkel nach unten. Mit großen vorwurfsvollen Augen, die sich langsam mit Tränen füllten, blickte er zu Leon auf. Sofort bereute Leon seinen rüden Ton, und er setzte sich zu Moritz aufs Bett.

»Hey, nicht weinen, Mo. Wir bekommen das schon wieder hin. Ich bin ja auch noch da.« Leon tat sein Bestes, um Moritz zu trösten. Er legte sogar einen Arm um seine Schulter und zog ihn zu sich heran. Eigentlich war das nicht so sein Ding, und normalerweise hätte er so etwas nie gemacht, aber jetzt fühlte sich das einfach richtig an. Und wenn er ehrlich zu sich war, musste er zugeben, dass ihm diese Umarmung auch guttat.

»Und wenn Mama nie wieder gesund wird?«, fragte Moritz in die Stille hinein. »Wenn Mama nun …« Moritz schluchzte heftig, und er hatte Mühe weiterzusprechen. »Wenn Mama nun … stirbt? So wie Papa?«

»Hör auf, so einen Unfug zu reden! Sie wird auf gar keinen Fall sterben!« Leon klang, als würde er fest daran glauben. Dass es nicht so war, wusste nur er. »So, nun wird’s Zeit schlafen zu gehen. Wir müssen morgen früh raus, wenn wir den Bus um neun kriegen wollen.«

Leon war ein kleines bisschen stolz auf sich, als Moritz sofort aufstand, sich tapfer die Tränen fortwischte und seinen Schlafanzug aus der Tasche holte. Das klappte doch gut! Schön, wenn man schon fast erwachsen war und so gut für seinen kleinen Bruder sorgen konnte. Seine Mutter wäre sicher stolz auf ihn.

Als Moritz unter sein schweres Federbett gekrochen war, ging Leon sogar zu ihm hinüber, um zu sehen, ob er gut zugedeckt war. Er richtete die Zudecke hier und da, so, wie es seine Mutter sicher auch gemacht hätte. Zum Schluss bekam Moritz noch einen kleinen, sanften Nasenstüber statt eines Gute-Nacht-Kusses, zu dem sich Leon nun wirklich nicht durchringen konnte. Dazu war er schon zu groß.

»Alles klar bei dir, Mo? Brauchst du noch was?« Als Moritz sofort den Mund aufmachte, hob Leon eine Hand hoch, um ihn aufzuhalten. »Ich singe dir jetzt kein Schlaflied vor! Und eine Gute-Nacht-Geschichte kannst du auch vergessen!«

»Das will ich doch gar nicht! Ich wollte dich doch nur fragen, ob du vielleicht …« Moritz brach ab und kaute unentschlossen auf seiner Unterlippe.

»Was denn? Spuck’s endlich aus, Mo!«

»Kannst du …« Moritz’ Augen wanderten zum alten Schrank hinüber. »Kannst du da mal reinsehen?«, flüsterte er so leise, dass Leon ihn kaum verstehen konnte.

Normalerweise wäre das der Moment gewesen, in dem sich Leon über Moritz lustig gemacht hätte. Doch diesmal war es anders. Wortlos stand Leon auf, ging zum Schrank hinüber und öffnete die schweren Türen. »Keine Monster im Schrank«, sagte er ruhig. Dann ging er runter auf die Knie und sah unter beide Betten. »Und keine Monster unter den Betten.«

»Dankeschön«, hauchte Moritz glücklich.

»Schon gut, Mo! Träum ’was Schönes!«

Leon löschte das Licht und legte sich in sein Bett. Lange starrte er an die Zimmerdecke und dachte über die Ereignisse der letzten beiden Tage nach. An Schlaf war überhaupt nicht zu denken. Zu viel ging dem Jungen durch den Kopf. Zu viel lastete auf seinen Schultern. Plötzlich hatte er panische Angst, dass er das alles nicht schaffen konnte. Er war doch selbst noch ein Kind. Warum musste er auf einmal so erwachsen und vernünftig sein?

Er sah zu Moritz hinüber und lauschte seinen gleichmäßigen Atemzügen. Mo hatte längst seinen Schlaf gefunden, und Leon beneidete ihn für seine Unbekümmertheit. Mo war jung genug, um zu glauben, dass alles stets ein gutes Ende nahm – oder dass ihre Mutter wieder gesund würde …

Leon war gerade eingeschlafen, als ihn ein lautes Brummen aufweckte. Er brauchte eine Weile, um zu verstehen, wo er war. An der Zimmerdecke tanzten die Lichter von Autoscheinwerfern, und das Geräusch, das Leon geweckt hatte, war das Motorgeräusch eines größeren Fahrzeugs. Beruhigt schloss Leon die Augen. Es war nur ein Auto, das vor seinem Fenster vorbeifuhr. Nur ein Auto … Plötzlich war er hellwach. Wieso fuhr hier ein Auto entlang? Hier, in der Einöde, weitab einer richtigen Straße?

Leon sprang auf und schlich ans Fenster, um hinauszusehen. Auf dem Hof stand ein dunkler Transporter mit laufendem Motor. Sascha öffnete gerade das große Scheunentor. Kurz darauf setzte sich der Wagen in Bewegung und fuhr in die Scheune. Leon sah zu, wie sein Onkel das Tor wieder schloss und zu einer schmalen Nebentür ging, um sie zu öffnen. Sascha wollte gerade durch diese Tür in die Scheune gehen, als er auf einmal innehielt und sich umdrehte. Trotz der Dunkelheit konnte Leon erkennen, dass sein Onkel den Kopf hob und zu dem Fenster hinübersah, hinter dem Leon auf der Lauer lag. Endlos lange Sekunden stand er so da und starrte nach oben. Dann wandte er sich schließlich ab und verschwand in der Scheune.

Mit zitternden Beinen rannte Leon zurück zu seinem Bett. Sein Herz raste, und er wusste noch nicht mal, weshalb. Es war überhaupt nichts geschehen. Ein Transporter war mitten in der Nacht gekommen und in die Scheune gefahren. In die Scheune, vor deren Betreten ihr Onkel sie ausdrücklich gewarnt hatte. Was war denn schon dabei?

*

Als am nächsten Morgen der Wecker klingelte, war Moritz sofort wach und putzmunter. »Leon, aufwachen!«, rief er fröhlich. »Aufstehen! Wir wollen ins Krankenhaus zu Mama. Sie hat jetzt bestimmt ausgeschlafen und ist nun endlich wieder wach. Leon! Los, du musst aufstehen!«

»Ja, doch! Ich komm ja schon!« Leon war müde wie nie zuvor in seinem Leben. Er hatte in der letzten Nacht kaum geschlafen und noch lange in die nächtliche Stille gelauscht. Irgendwann hatte ihn die Müdigkeit übermannt, so dass er jetzt nicht wusste, ob der Transporter wieder abgefahren war oder sich noch immer in der Scheune befand.

Von unten drangen Stimmen und Geräusche nach oben.

»Das ist die Schwester vom Pflegedienst«, erklärte Leon, ohne dass sein Bruder fragen musste. »Sie macht Oma Hilda fertig und bringt sie dann in die Tagespflege.«

»Ich weiß.« Moritz saß auf der Bettkante und zog seinen Schlafanzug aus. »Das hat uns die Krankenschwester doch gestern Abend erzählt, als sie Oma ins Bett gebracht hatte. Ich find das gut, dass Oma in die Tagespflege fährt. Dann muss sie nicht den ganzen Tag im Sessel sitzen. Das ist bestimmt mächtig langweilig für sie.«

Als die Jungen nach unten kamen, waren die Schwester und Oma Hilda bereits fort. Sie gingen in die Küche, suchten sich ihr Frühstück zusammen und aßen schweigend. Für Moritz, der gern und viel erzählte, war das sehr ungewöhnlich. Doch genau wie Leon war auch ihm nicht nach fröhlichem Geplapper zumute. Er wollte nur sein Marmeladenbrot aufessen und dann so schnell wie möglich dieses grässliche Haus verlassen, in dem er sich nicht wohlfühlte.

Sie wollten gerade aufbrechen, als Sascha ins Haus kam.

»Na, alles klar bei euch?«, fragte er überraschend freundlich. Als seine Neffen nur stumm nickten, sagte er: »Ich habe einen Auftrag für euch. Wenn ihr sowieso in die Stadt fahrt, könnt ihr auch gleich etwas für mich erledigen.«

»Okay«, erwiderte Leon lahm und sah zu, wie sein Onkel ein kleines Paket und einen Stadtplan auf den Tisch legte.

»Ihr könnt das Päckchen für mich abgeben. Dann muss ich nicht extra losfahren.« Mit einem Stift kreuzte Sascha eine Stelle auf dem Plan an. »Hier ist ein Trödelladen. Dort gebt ihr das Päckchen ab. Für euch ist das kein Umweg. Steigt eine Haltestelle vor der Klinik aus. Der Laden ist dann auf der anderen Straßenseite. Herr Lehmann weiß Bescheid, dass ihr kommt, und wartet schon auf sein Päckchen. Den restlichen Weg bis zur Klinik könnt ihr übrigens gut zu Fuß gehen. Es ist dann nicht mehr weit. Alles klar?« Sascha wartete keine Antwort ab. Er schnappte sich Leons Rucksack und stopfte das Paket hinein. »Und wehe, ihr verliert es! Das ist kostbare Fracht, auf die ihr aufpassen müsst, als würde euer Leben davon abhängen!« Sascha klang jetzt nicht mehr so freundlich, sondern es war wie eine Drohung.

Trotzdem traute sich Leon zu fragen: »Wieso? Was ist denn da drin?«

»Etwas, das euch überhaupt nichts angeht!«, schnauzte Sascha. »Macht einfach, was ich euch sage, und stellt keine Fragen! Und nun Abmarsch, sonst verpasst ihr euren Bus!«

Die Sonne schien schon kräftig, und es versprach, ein warmer Tag zu werden. Doch die beiden Kinder, die den Weg zur Hauptstraße gingen, konnten sich nicht daran erfreuen. Das Päckchen, das in Leons Rucksack lag, lastete schwer auf ihnen und beherrschte ihre Gedanken.

Leon hatte es nicht gewagt, den Rucksack auf den Rücken zu schnallen. Ihm war es lieber, ihn vor dem Körper zu tragen. So konnte er ihn immer im Auge behalten.

Im Bus setzten sie sich nach hinten auf eine freie Bank. Bis jetzt hatten sie noch nicht über das, was ihr Onkel von ihnen verlangte, gesprochen. Moritz war es schließlich, der seine Sorgen nicht länger für sich behalten konnte.

»Ob das eine Bombe ist?«, flüsterte er und legte dann den Kopf schief, als würde er aufmerksam lauschen. »Hörst du sie ticken?«

»Blödsinn! Das ist keine Bombe!«, zischte Leon und klang dabei nicht weniger ängstlich als sein Bruder. »Außerdem glaube ich nicht, dass die modernen Bomben noch ticken. Das läuft doch jetzt alles digital.«

»Stimmt«, sagte Moritz, der keine Ahnung hatte, was digital bedeutete. Für eine Minute herrschte Schweigen. Dann fragte Moritz weinerlich: »Und was machen wir, wenn sie jetzt explodiert?«

Fast hätte Leon ihn angeschnauzt und gesagt, dass es dann wohl nichts mehr für sie zu tun gebe. Doch im letzten Moment besann er sich, und ihm fiel ein, dass es seine Aufgabe war, den kleinen Bruder zu beruhigen und ihm seine Angst zu nehmen. »Mo, ich habe dir doch gesagt, dass das keine Bombe ist«, sagte er deshalb so ruhig, wie es sein heftig schlagendes Herz zuließ. »Es ist nur ein blödes Päckchen, das wir in diesen blöden Laden bringen sollen.« Er grinste Moritz an. »Also, mach dir nicht in die Hose, du Hasenfuß.«

Moritz kicherte. »Ich bin kein Hasenfuß.«

»Klar bist du einer. Ein Angsthase mit einem Hasenfuß.«

»Nein, mit zwei«, erwiderte Moritz lachend. »Auf einem kann ich doch gar nicht laufen.«

»Dann musst du eben auf einem durch die Gegend hüpfen, du Hasenfuß«, witzelte Leon.

»Das muss komisch aussehen.« Moritz lachte fröhlich. Das bedrohliche Päckchen hatte er längst vergessen. Leon sorgte während der restlichen Fahrt dafür, dass sich das nicht änderte, und ließ sich immer neue alberne Witze einfallen, die Moritz ablenkten. Normalerweise fühlte sich Leon für so einen Quatsch schon viel zu erwachsen. Aber diesmal machte er eine Ausnahme, weil er seinem kleinen Bruder so die Angst nahm. Und auch seine eigene Angst war nun nicht mehr so heftig, obwohl dieser merkwürdige Druck in seiner Magengegend nicht verschwinden wollte.

So, wie Sascha es ihnen aufgetragen hatte, stiegen sie eine Station früher aus. Moritz’ Fröhlichkeit war schlagartig verschwunden, und er beäugte argwöhnisch den Rucksack, den Leon in seinen Armen hielt. Sie brauchten nicht lange, um den Laden zu finden. Kurz betrachteten sie das Schaufenster, in dem es ein großes Sammelsurium an Porzellan, Gläsern und Krügen, viel altem Schmuck und Taschenuhren gab.

Leon zögerte an der Ladentür. »Wenn du willst, kannst du draußen warten«, schlug er Moritz vor.

»Nein, ich komme mit.« Moritz rückte ein bisschen dichter an seinen großen Bruder heran. Gemeinsam betraten sie dann den Laden. Hinter dem Verkaufstisch stand ein älterer Mann, der sie grimmig ansah.

»Was wollt ihr?«, schnauzte er ungeduldig, als die Jungs unsicher in der Tür stehenblieben.

»Wir … wir sollen was abgeben. Unser Onkel schickt uns … Sascha … Sascha Peters«, stotterte Leon eingeschüchtert.

»Ach ja, der Sascha!« Das faltenreiche Gesicht des Mannes verzog sich zu einem hässlichen Grinsen. »Was hat er denn heute Schönes für mich?«

Leons Hände zitterten, als er den Rucksack aufmachte und das Päckchen rausholte. Der Ladenbesitzer nahm es ihm hastig ab und warf dann einen hektischen Blick zur Eingangstür. »Ist euch etwa jemand gefolgt?«

Automatisch schüttelte Leon den Kopf, obwohl er das gar nicht sicher wusste. Er hatte nicht auf einen Verfolger achtgegeben. Woher sollte er also wissen, ob es einen gab?

»Ist das alles?« Leon räusperte sich, um den Kloß in seinem Hals loszuwerden. »Können wir jetzt wieder gehen?«

Der alte Mann wedelte mit der Hand. »Ja, ja. Verschwindet endlich. Und schöne Grüße an Sascha. Es ist mir immer eine Freude, mit ihm Geschäfte zu machen.«

Vor dem Laden holte Moritz tief Luft. »Ich will da nie wieder reingehen. Das war richtig unheimlich. Wie in der Geisterbahn. Beim nächsten Mal kann Onkel Sascha seine blöden Pakete selber hinbringen. Ich mach das nie, nie wieder.«

»Na, viel Spaß, wenn du ihm das sagst«, spöttelte Leon. »Wahrscheinlich setzt er uns dann gleich vor die Tür.«

»Na und! Mir doch egal!«, behauptete Moritz, aber er hörte sich schon weniger aufsässig an.

»Ach ja? Und wo sollen wir dann bleiben?«

Moritz zuckte unglücklich die schmächtigen Schultern. »Weiß ich doch nicht.« Angestrengt dachte er über eine Lösung nach. Er wollte gar nicht mehr bei Onkel Sascha wohnen. Dort war es überhaupt nicht schön. Außerdem war der Onkel richtig garstig und gemein. Ach, wenn doch seine Mama endlich wieder aufwachte. Dann wäre sie bestimmt bald wieder gesund, und sie könnten alle zurück nach Coburg fahren.

Der Fußweg bis zur Klinik dauerte nur wenige Minuten. Mit dem Fahrstuhl fuhren sie zur Intensivstation und klingelten dort an der verschlossenen Tür. Eine freundliche Schwester öffnete ihnen. »Hallo, ihr seid sicher die Kinder von Frau Scharper.«

Leon nickte. »Ja, können Sie uns sagen, wie es ihr geht?«

»Es geht ihr viel besser«, erwiderte die Schwester lächelnd. »Setzt euch doch in den Besucherraum. Ich werde mal sehen, ob ein Arzt Zeit hat, um mit euch zu sprechen. Der kann euch dann mehr über eure Mutter sagen.«

Leon und Moritz mussten nicht lange warten. Als Daniel Norden erfuhr, dass sie da waren, ließ er es sich nicht nehmen, persönlich nach ihnen zu sehen. Ihn interessierte vor allem, wie es ihnen bei ihrem Onkel ergangen war und ob es dort womöglich Probleme gab. Christian Heine hatte ihn noch am Vorabend angerufen, weil ihm dieser Sascha Peters überhaupt nicht gefallen hatte.

»Ach, da ist alles in Ordnung«, wiegelte Leon ab. »Uns geht’s dort prima, und wir verstehen uns super mit unserem Onkel.«

»Wirklich?«, fragte Daniel skeptisch nach. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass der Junge nicht die Wahrheit sagte. Und als Daniel dann fragend zu Moritz blickte, zog dieser sofort den Kopf ein und schaute angestrengt auf seine Schuhe, als würde es nichts Interessanteres auf dieser Welt geben. Es sah nicht so aus, als wäre wirklich alles in Ordnung. Doch wie oft Daniel auch nachfragte, er erhielt immer wieder die gleiche Antwort: Ihnen ging es gut, und es gab keine Probleme!

Die Kinder hatten sich in dem Besucherraum beinahe häuslich eingerichtet. Auf dem Tisch lagen Bücher und die beiden Gameboys. Daniel fielen volle Saftgläser und der Teller mit den Plätzchen auf, die ihnen eine aufmerksame Schwester der ITS vorbeigebracht haben musste. Trotzdem fand er es nicht gut, dass sich die Kinder hier den ganzen Tag aufhielten, um auf das Aufwachen ihrer Mutter zu warten.

»Wenn es euch hier zu langweilig wird, könntet ihr doch mal ein wenig spazieren gehen. Wenigstens in den Klinikpark, damit ihr mal an die frische Luft kommt.«

»Ach nö, wir bleiben lieber hier«, sagte Moritz. »Wir hatten heute doch schon genügend frische Luft.«

»Nun, dann könntet ihr mal auf die Kinderstation gehen. Dort ist bestimmt mehr los als hier, und ihr seid trotzdem noch in der Nähe eurer Mutter. Ihr könntet dort andere Kinder treffen oder in das Kunstzimmer gehen, um zu basteln oder zu malen.«

Wieder lehnten die Jungen seinen Vorschlag ab, und Daniel war kurz versucht, ein Machtwort zu sprechen und es einfach anzuordnen. Aber dann dachte er daran, wie schlimm die Situation für die Kinder sein musste und dass es doch eigentlich gar keine Rolle spielte, ob sie nun hier herumsaßen oder auf der Kinderstation.

*

Christian Heine beeilte sich heute, pünktlich Feierabend zu machen. Er wusste, dass die Kinder in der Behnisch-Klinik waren und wollte unbedingt nach ihnen sehen. Und natürlich nach Maria. Der Gedanke an sie hatte ihn die halbe Nacht wachgehalten. Warum das so war, konnte er sich nicht erklären. Sicher, es war nie leicht, nach einem ereignisreichen Dienst heimzukommen und alles hinter sich zu lassen. Das Schicksal der Menschen, mit denen er es in seinem Beruf zu tun hatte, berührte ihn eben. Das war so und würde sich nie ändern. Doch diesmal kam es ihm so vor, als wäre es persönlicher als sonst. Diesmal traf es ihn mitten ins Herz. Ob es an dem Versprechen lag, das er der schönen Mutter gegeben hatte?

Christian fand die Buben im Besucherraum neben der Intensivstation, vertieft in ihre Computerspiele. Als ihre Augen bei seinem Anblick aufleuchteten, freute er sich.

»Oh, ist das toll, dass Sie uns besuchen kommen!«, rief der kleine Moritz begeistert aus, und auch Leon verbarg seine Wiedersehensfreude nicht.

»Sie haben uns nicht vergessen«, stellte er fest.

»Natürlich nicht! Habt ihr etwa daran gezweifelt, dass ich vorbeikomme?«, tat Christian völlig entsetzt.

Moritz kicherte. »Nö, ich nicht! Ich wusste, ich kann mich auf Sie verlassen. Schließlich sind Sie ein Feuerwehrmann!«

»Richtig!« Christian setzte sich zu ihnen. »Und nun erzählt mal, was gibt’s Neues?«

»Es gibt nichts Neues«, erwiderte Leon traurig. »Unsere Mutter ist immer noch bewusstlos, und wir dürfen noch nicht mal zu ihr.«

»Das ist bestimmt schlimm für euch. Hat heute schon ein Arzt mit euch gesprochen?«

»Ja, Dr. Norden«, übernahm Moritz das Antworten. »Gleich als wir ankamen. Und seine Frau kam dann mittags vorbei und hat uns gezwungen, auf die Kinderstation zu gehen, um Mittag zu essen.«

Moritz hatte das so empört gesagt, dass Christian lachen musste. »Sie hat euch also gezwungen. Dann war das wohl ein ganz schreckliches Mittagessen.«

»Nö, das war lecker. Und hinterher gab es sogar einen Schokoladenpudding. Und der hat richtig gut geschmeckt. Aber trotzdem …« Moritz zog eine Flunsch. »Ich wäre trotzdem lieber hiergeblieben.«

»Das kann ich mir gut vorstellen«, stimmte Christian dem Jungen zu. »Aber ab und zu müsst ihr auch was essen. Stell dir vor, deine Mutter wacht auf, und sie erkennt dich nicht mehr, weil du total abgemagert bist und wie der Suppenkasper aussiehst.«

Moritz kicherte, und auch Leon verzog grinsend den Mund. Dann wurde Leon wieder ernst. »Wenn ich wenigstens ganz kurz nach meiner Mutter sehen dürfte. Die Ärzte sagen, dass Kinderbesuche auf der ITS verboten sind. Aber so klein bin ich gar nicht mehr. Ich bin vierzehn, also schon ein Jugendlicher. Mich müssten sie doch reinlassen!«, beschwerte er sich bei Christian.

»Sie haben halt ihre Vorschriften, Leon. Da werden wir nicht viel ausrichten können. Aber ich weiß genau, warum dir das so wichtig ist. Du willst dich selbst davon überzeugen, dass bei deiner Mutter alles in Ordnung ist.«

Leon nickte. Endlich verstand jemand, was in ihm vorging. Deshalb traute er sich auch, seine Bitte zu stellen. »Und wenn Sie … Könnten Sie nicht mal zu unserer Mutter gehen? Wir wollen doch nur wissen, ob es ihr gutgeht. Die Ärzte behaupten das zwar immer, aber vielleicht … vielleicht stimmt das ja gar nicht, und in Wahrheit geht es unserer Mama ganz schlecht.«

»Das glaube ich zwar nicht, aber ich kann ja mal mein Glück versuchen und Dr. Norden fragen, ob ich zu ihr darf. Wartet hier! Ich bin gleich zurück.«

Als die Kinder wieder allein waren, sagte Moritz: »Ich finde den Herrn Heine richtig gut. Wenn ich groß bin, werde ich auch Feuerwehrmann so wie er.«

»Du willst alles Mögliche werden.« Leon rollte mit den Augen. »Vor kurzem wolltest du unbedingt Tierarzt werden. Und davor Pilot, Bäcker und Polizist.«

»Na und? Man kann doch wohl mal seine Meinung ändern oder etwa nicht?«, verteidigte sich Moritz empört.

»Klar doch!«, grinste Leon und behielt für sich, dass er selbst darüber nachdachte zur Feuerwehr zu gehen – so wie Christian Heine.

Dass er für die Kinder zu einem Helden geworden war, ahnte Christian nicht. Er sprach inzwischen mit Daniel, der nichts gegen seinen Besuch bei Maria einzuwenden hatte. »Natürlich können Sie bei ihr reinschauen. Es schadet nicht, wenn jemand bei ihr ist und mit ihr spricht. Vielleicht hilft es ihr sogar, zurück ins Leben zu finden.« Daniel hatte plötzlich eine Idee. »Mir ist soeben eingefallen, wie wir das auch bei den Buben schaffen könnten. Dass sich ihr Leben nur noch in dieser Klinik abspielt, gefällt mir nämlich gar nicht. Es sind Kinder! Sie sollen Spaß und Freude haben und wenigstens für kurze Zeit ihre berechtigten Sorgen um die kranke Mutter vergessen können.«

*

Christian sah in zwei erwartungsvolle Gesichter, als er zu den Kindern zurückkam. »Ich habe die Erlaubnis bekommen«, verkündete er stolz. »Ich darf kurz zu eurer Mutter.« Die Brüder strahlten glücklich, doch Christian war noch nicht fertig. »Allerdings gibt es bei der Sache einen kleinen Haken. Dr. Norden erlaubt meinen Besuch nur, wenn ihr im Gegenzug mal für ein oder zwei Stunden an die frische Luft geht.«

»Niemals! Das ist Erpressung!«, empörte sich der kleine Moritz sofort und fing sich dafür einen Fußtritt seines Bruders ein.

»Kein Problem, wir sind einverstanden«, beeilte sich Leon, das Angebot des Chefarztes anzunehmen. »Wir gehen ein bisschen spazieren oder setzen uns in den Klinikpark.«

»Klingt gut, aber auch ziemlich langweilig«, erwiderte Christian, der sich nicht anmerken ließ, wie froh er war, dass Leon sofort zugestimmt hatte. »Für mich wäre das ja nichts. So ein richtiger guter Sportplatz wäre mir um einiges lieber. Hier in der Nähe gibt es einen mit Bolzplatz, Kletterwand und Basketballkörben. Ich habe immer einen Ball im Kofferraum, damit ich da mal spontan haltmachen kann, um ein paar Körbe zu werfen. Also, wenn ihr Lust habt, könnt ihr gerne mitkommen. Genau genommen tätet ihr mir damit sogar einen Riesengefallen. Es ist nämlich ganz schön öde, wenn ich immer nur allein spielen muss.«

»Na gut, wir kommen mal mit«, sagte Moritz großzügig, ohne sich mit seinem großen Bruder abzustimmen. »Schließlich hast du uns ja auch geholfen. Aber kannst du jetzt bitte endlich zu unserer Mama gehen?«

Christian kam dieser Bitte nur zu gern nach. Als er sich in der Schleuse der ITS umzog, wurde ihm bewusst, wie sehr er sich darauf freute, Maria Scharper wiederzusehen. Hätten ihn die Kinder nicht gebeten, nach ihr zu schauen, hätte er es ganz bestimmt trotzdem getan.

Maria lag in einem großen Zimmer mit vier Intensivbetten. Im Gegensatz zu den anderen Patienten wurde Maria nicht beatmet. Sie war zwar an vielen Geräten und Monitoren angeschlossen, aber es wirkte so, als würde sie nur schlafen. Es war so ein tiefer Schlaf, aus dem sie nicht herausfand.

Christian trat an ihr Bett heran und betrachtete mit einem traurigen Lächeln das zarte, ebenmäßige Gesicht. Er legte eine Hand auf ihre und sagte weich: »Es wird Zeit, dass du aufwachst, Maria. Deine Buben brauchen dich, du fehlst ihnen.« Er setzte sich zu ihr und sprach weiter auf sie ein, obwohl er wusste, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn hörte, sehr gering war. Doch wenn es nur eine winzigkleine Chance gab, zu ihr durchzudringen, wollte er sie nutzen. Es war nicht viel, was er für sie tun konnte: mit ihr reden, ihre Hand halten … und für ihre Kinder da sein. Und er spürte, dass er sich längst in Maria verliebt hatte.

Nachdem sie sich zwei Stunden auf dem Sportplatz ausgepowert hatten, ließen sich die Jungen widerspruchslos von Christian zu ihrem Onkel fahren. Während der Rückfahrt waren sie ungewöhnlich still. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte Christian, dass es keinen Grund gab, sich deswegen Sorgen zu machen. Moritz’ Kopf lehnte an der Schulter seines Bruders, und seine Augen waren geschlossen. Er schlief tief und fest. Auch Leon sah so aus, als hätte er Mühe wach zu bleiben.

Als Christian auf den Hof fuhr, weckte Leon seinen Bruder.

»Hey, aufwachen! Wir müssen raus!«

»Du musstest ihn nicht wecken«, sagte Christian leise. »Ich hätte ihn reingetragen und gleich ins Bett gelegt.«

»Schon gut«, nuschelte Moritz und gähnte herzhaft. »Ich bin schon munter. Ich kann alleine laufen.«

»Unserem Onkel wäre das bestimmt nicht recht, wenn Sie mit reinkommen«, sagte Leon leise. Als ihn Christian deswegen fragend ansah, erklärte er: »Wir haben gestern gehört, was er zu Ihnen gesagt hat.«

»Ja«, sagte Moritz. »Er war ganz schön fies gewesen.«

»Das stört mich nicht, solange er zu euch nicht fies ist. Das ist er doch nicht, oder?«

Moritz schüttelte nur den Kopf, während Leon betont gelassen tat. »Nein«, sagte er. »Wir kommen gut mit ihm klar.«

Christian hatte seine Zweifel, aber er ahnte, dass die Kinder nicht mehr preisgeben würden. »Ihr habt meine Telefonnummer. Wenn ihr euch wegen irgendetwas Sorgen macht, ruft mich bitte sofort an. Egal, wie spät es ist. Egal, ob am Tag oder in der Nacht. Versprecht ihr mir das?«

Leon zögerte. Kurz dachte Christian, dass Leon reden würde, aber dann nickte er nur müde, öffnete die Wagentür und stieg aus. Dann sagte er zu Christian: »Vielen Dank fürs Bringen und für alles andere. Es war schön auf dem Sportplatz.«

»Es freut mich, dass es euch gefallen hat. Wenn ihr wollt, gehen wir morgen wieder hin.«

»O ja!«, rief Moritz sofort begeistert aus. »Danke, Herr Heine!«

»Herr Heine?«, fragte Christian lachend. »Wir sind doch jetzt Sportfreunde und spielen in einem Team. Ab sofort duzen wir uns!«

Während Christian zurück in die Stadt fuhr, dachte er darüber nach, wie schön der Nachmittag gewesen war. Nicht nur den Kindern hatte das Zusammensein gefallen, auch er hatte die Zeit mit ihnen genossen. Leon und Moritz waren tolle Jungs, auf die ihre Mutter sehr stolz sein konnte.

Es war wirklich ein Jammer, dass Maria in ihrem Klinikbett lag und nicht wusste, wie es ihren Söhnen ging und wie sie den Tag verbracht hatten. Sie war doch ihre Mutter, sie sollte doch alles über ihre Kinder wissen!

Ehe Christian weiter darüber nachdenken konnte, hatte er den Blinker gesetzt und fuhr in Richtung Behnisch-Klinik.

Auf der ITS mochten sich die Schwestern über den späten Besucher wundern, aber niemand sagte etwas, als er sich an Marias Bett setzte. Christian Heine war in der Klinik kein Unbekannter. Jeder kannte den freundlichen Feuerwehrmann, und vielleicht war das der Grund, dass man ihn gewähren ließ. Vielleicht lag es aber auch daran, dass es für Maria nur gut sein konnte, wenn jemand an ihrem Bett saß, ihre Hand streichelte und ihr von ihren Kindern berichtete.

*

Nach ein paar Tagen waren die beiden Jungen im Besucherraum der ITS zu einem gewohnten Bild geworden. Sie saßen dort, beschäftigten sich irgendwie und gingen mittags gehorsam auf die Kinderstation, um zu essen. Fee versuchte dann jedes Mal, ihnen das Spielzimmer oder den Kunstraum schmackhaft zu machen, um sie ein wenig abzulenken und auf andere Gedanken zu bringen. Aber Moritz und Leon zog es beharrlich zur Intensivstation zurück, dorthin, wo ihre Mutter noch immer im Koma lag.

Als Fee mit Daniel über die Buben sprach, sagte er, wie froh er sei, dass es wenigstens Christian Heine gelang, die Jungs aus ihrer selbstgewählten Isolation zu holen. Wenn er am Nachmittag kam, um sie zum Ballspielen abzuholen, gingen sie widerspruchslos mit. Ja, Daniel war sich sogar sicher, dass sie sein Kommen inzwischen sehnsuchtsvoll erwarteten. Der Feuerwehrmann hatte es irgendwie geschafft, die Herzen der Brüder zu erobern, und Fee und Daniel waren darüber sehr glücklich.

Mit Christian gab es einen Menschen in ihrem Leben, dem sie vertrauten und der ihnen in dieser schweren Zeit zur Seite stand. Kein Vergleich zu ihrem eigenen Onkel. Der hatte sich noch nicht einmal in der Klinik blicken lassen, um nach seiner Schwester zu sehen. Wenn Daniel sich bei den Kindern nach ihm erkundigte, antworteten sie nur ausweichend, fast so, als müssten sie sich jedes Wort, das sie über ihn verloren, ganz genau überlegen.

Daniel nahm sich vor, darüber mit Christian Heine zu sprechen. Die Gelegenheit dafür würde sich heute Abend sicher ergeben. Der Feuerwehrmann war zu einem regelmäßigen Besucher auf der ITS geworden. Jeden Abend saß er an Marias Bett und erzählte ihr von den Kindern. Daniel wusste nicht, warum er das tat. Lag es nur an dem Versprechen, das er Maria gegeben hatte? Oder fühlte er eine tiefere Verbundenheit zu ihr? War das vielleicht der Grund, warum er seine ganze Freizeit für Maria und ihre Kinder opferte?

Es klopfte, und Katja Baumann, Daniels Assistentin, schaute herein. »Dr. Schulz von der ITS hatte angerufen, als Sie vorhin im Gespräch waren. Ich soll Ihnen ausrichten, dass Frau Scharper in der Nacht das Bewusstsein zurückerlangt hat. Ihr geht es sehr gut, und sie wurde deshalb bereits auf die Chirurgie verlegt. Sie kann es wohl kaum noch erwarten, ihre Kinder wiederzusehen.«

Froh über diese gute Nachricht sprang Daniel von seinem Stuhl auf. »Sehr gut, Katja! Das wurde aber auch Zeit!« Ihn hielt jetzt nichts mehr in seinem Büro. »Falls Sie mich suchen, ich bin bei Frau Scharper!«

Pünktlich um halb zehn trafen die Kinder auf der ITS ein. Hier wurden sie schon von Daniel erwartet.

»Da seid ihr ja«, begrüßte er sie mit einem glücklichen Lächeln. »Ich habe sehr gute Neuigkeiten für euch. Eure Mutter ist wieder wach, und es geht ihr sehr gut.«

»Hurra!«, jubelte Moritz laut und hüpfte vor Freude auf der Stelle. Leon hätte sich am liebsten seinem Bruder angeschlossen, aber dazu war er leider schon zu groß. Aber er strahlte glücklich über das ganze Gesicht, und in seinen Augen glitzerte es verdächtig.

»Heute früh wurde sie nach der Visite auf eine andere Station verlegt.« Daniel zwinkerte den beiden verschwörerisch zu. »Dort ist übrigens auch Kinderbesuch erlaubt.«

Daniel begleitete sie zu ihrer Mutter. Fee war kurz zuvor dort eingetroffen, weil sie beim ersten Wiedersehen dabei sein wollte. »Nur für alle Fälle«, hatte sie zu Daniel gesagt. »Die Jungen haben allerhand mitgemacht. Der Unfall wird sicher auch bei ihnen Spuren hinterlassen haben. Immerhin waren sie eine Zeitlang in dem Wrack eingeschlossen und mussten von der Feuerwehr befreit werden. Und dann noch die schwierige Rettung ihrer Mutter und ihre tagelange Bewusstlosigkeit. Da wird sich einiges in ihnen angestaut haben. Womöglich bricht es jetzt, wo ihre Mutter wieder wach ist, aus ihnen heraus.«

Fee Norden war nicht nur die Leiterin der Pädiatrie, sondern auch Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Wenn jemand psychologischen Beistand brauchte, war er bei ihr bestens aufgehoben. Doch schnell wurde klar, dass eine solche Hilfe in diesem Fall nicht nötig war. Es flossen zwar reichlich Tränen, als sie sich alle in den Armen lagen, aber es waren Freudentränen, über die sich niemand Sorgen machen musste.

Allerdings hatte Daniel vor Schreck kurz die Luft angehalten, als Moritz seiner Mutter in die Arme flog und Daniel an Marias frische OP-Wunde denken musste.

Doch Maria lachte nur: »Mo, nicht so stürmisch. Es wird noch ein paar Tage dauern, bis wir wieder herumtollen können.«

»Geht es dir gut, Mama?«, fragte Leon, der sich an die andere Bettseite gesetzt hatte und vorsichtig Abstand hielt.

Maria zog auch ihn in ihre Arme und gab ihm einen Kuss. »Ihr seid bei mir. Also geht es mir sehr gut.« Sie strich Leon zärtlich über die Haare. »Dr. Norden hat mir erzählt, dass du dich ganz lieb um Mo kümmerst. Ich bin sehr stolz auf dich, Leon.«

»Auf mich auch, Mama?«, krähte Moritz sofort.

»Natürlich, mein Spatz. Ihr habt mich beide sehr stolz gemacht.«

»Wir haben uns auch richtig doll Mühe gegeben.« Moritz lehnte sein Köpfchen an ihre Schulter und sagte leiser werdend: »Du musst bald wieder ganz gesund werden, damit du schnell aus dieser blöden Klinik rauskommst.«

»Hey, mein Freund! Das habe ich gehört«, lachte Daniel, der sich bis dahin sehr zurückgehalten hatte.

»Entschuldigung«, nuschelte Moritz mit hochrotem Kopf. »Ich habe das nicht so gemeint. Die Klinik ist wunderschön!«

»Na, da hast du ja gerade noch mal die Kurve gekriegt«, griente Maria. »Seid froh, dass ihr hier sein dürft. Sonst könntet ihr mich nämlich nicht so einfach besuchen. Erzählt mal, wie gefällt es euch denn auf der Kinderstation? Habt ihr ein gemeinsames Zimmer bekommen?«

Die Kinder sahen sich unsicher an, und auch Fee und Daniel wechselten einen nervösen Blick. »Äh … nein«, sagte Leon schließlich.

»Moritz und Leon waren nur für eine Nacht zur Beobachtung auf der Kinderstation«, sagte Fee. »Zurzeit leben sie bei Ihrem Bruder, Frau Scharper.«

»Meinem Bruder?«, fragte Maria verständnislos. Dann riss sie entsetzt die Augen auf. »Sascha? Aber wieso … warum …«

»Ihre Schwägerin war hier gewesen, um die Kinder mit nach Coburg zu nehmen«, erklärte Daniel, dem Marias Reaktion ein ungutes Gefühl bescherte. »Ihre Buben wollten natürlich hier, in Ihrer Nähe bleiben. Deshalb schien die Unterbringung bei Ihrem Bruder eine gute Lösung zu sein. Er hatte sich auch sofort bereiterklärt.«

»Nun …«, begann Maria umständlich. »Das Verhältnis zwischen meinem Bruder und mir ist nicht besonders gut. In den letzten Jahren hatten wir nur wenig Kontakt gehabt. Dass ausgerechnet er sich meiner Kinder annehmen würde, hätte ich nicht erwartet.« Sie sah ihre Söhne an. »Wie ist es denn so bei ihm? Sorgt er gut für euch?«

»Ja, alles bestens«, sagte Leon, blickte seiner Mutter dabei aber nicht in die Augen.

Daniel bemerkte, wie sehr Maria die Antwort ihres Sohnes beunruhigte. »Nun, es gibt ja auch noch Oma Hilda«, sagte er deshalb schnell. »Leon erzählte mir erst gestern, wie rührend sie sich um ihre Urenkel kümmert.«

»Meine Großmutter leidet an einer fortgeschrittenen Alzheimer-Demenz.« Fassungslos schüttelte Maria den Kopf. »Sie ist selbst auf sehr viel Hilfe und Unterstützung angewiesen.«

Alle begriffen nun, dass die Kinder geschwindelt hatten, damit niemand auf die Idee kam, sie nach Coburg zu schicken. Mit dem sicheren Gespür, dass ihre Mutter ihnen jetzt eine Strafpredigt halten würde, zogen sich Fee und Daniel zurück.

»Ich habe ein schlechtes Gewissen«, sagte Daniel auf dem Weg zum Fahrstuhl zu seiner Frau. »Ich hätte mir selbst ein Bild von der Situation auf dem Hof machen müssen.« Er blieb stehen. »Nun, dann mache ich es eben jetzt. Besser spät als nie.«

»Was hast du vor, Dan?«

»Ich fahre raus und schau mir diesen Onkel Sascha mal etwas genauer an. Darauf, was die Kinder mir erzählen, verlasse ich mich nicht mehr.«

*

Daniel rief Christian Heine an und ließ sich den Weg zum Bauernhof beschreiben. Dann setzte er sich in seinen Wagen und fuhr los.

Christian hatte ihn zwar vorgewarnt, trotzdem war Daniel entsetzt, als er den desolaten Zustand des Wohnhauses und der alten Stallanlagen sah. Als dann auch noch ein aggressiver Kettenhund auf ihn lospreschte, gelangte Daniel schnell zu der Überzeugung, dass dies ganz sicher kein guter Ort für Kinder war.

Auf sein Klingeln an der Haustür gab es keine Reaktion. Bis auf den kläffenden Hund, der wütend an seiner Kette hin und her rannte, wirkte alles verlassen. Hier war niemand, seine Fahrt war umsonst gewesen. Er bedauerte das zutiefst. Zu gern hätte er den Onkel der Kinder in Augenschein genommen.

Daniel wollte gerade in sein Auto steigen, um zurück zur Klinik zu fahren, als ein anderer Wagen auf den Hof gerollt kam. Der Mann, der jetzt ausstieg, war für Daniel kein Unbekannter.

»Herr Lange! Was machen Sie denn hier?«

Kriminaloberkommissar Björn Lange begrüßte den Klinikchef mit einem festen Handschlag. Sie kannten sich gut und hatten in der Vergangenheit schon einige Male mit­einander zu tun gehabt.

»Ich bin dienstlich hier.« Er sah kurz zum Haus hinüber und grinste dann Daniel an. »Ich hoffe, dass Sie einen ähnlich guten Grund haben und nicht etwa gekommen sind, um mit Herrn Peters Geschäfte zu machen.«

Daniel schüttelte den Kopf. »Ich kenne die Geschäfte von Herrn Peters nicht. Mir geht es wie Ihnen. Auch ich bin dienstlich hier.«

»Und mehr möchten Sie mir nicht verraten?«

»Nun ja …« Daniel dachte angestrengt nach. Als Arzt unterlag er der Schweigepflicht. Maria war seine Patientin, und er durfte nicht über sie reden. Aber strenggenommen ging es ja gar nicht um Maria. Er war hergekommen, weil er sich um die Kinder sorgte, und die waren nicht seine Patienten. Deshalb erzählte er dem Polizeibeamten von Moritz und Leon, die seit einigen Tagen bei ihrem Onkel lebten und von dem Daniel nicht wusste, ob er jemand war, dem man zwei Kinder anvertrauen durfte.

»Definitiv nicht«, sagte Björn sofort. »Bitte reden Sie mit der Mutter. Sie sollte sich so schnell wie möglich um eine andere Unterkunft für ihre Kinder bemühen.«

»Warum? Was stimmt nicht mit dem Onkel?«

Björn schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Dr. Norden, mehr kann ich Ihnen nicht sagen, ohne die laufenden Ermittlungen zu gefährden. Bitte glauben Sie mir einfach, dass die Brüder hier nicht gut aufgehoben sind.«

»Sind sie in Gefahr?«

»Nein, das denke ich nicht. Wenn es so wäre, würde ich sie hier sofort rausholen. Im Moment gehe ich nur davon aus, dass Sascha Peters kein guter Umgang für sie ist. Er ist kein aufrichtiger Mensch und hat einige Sachen auf seinem Kerbholz. Und dann das hier …« Björn zeigte mit einer ausladenden Handbewegung auf die Umgebung. »Hier sollten sich keine Kinder aufhalten.«

Nachdenklich und sehr besorgt fuhr Daniel zur Behnisch-Klinik zurück. Noch hatte er keinen genauen Plan, wie er die Kinder von ihrem Onkel wegbekommen sollte. Es gab in München niemanden, der sich der Buben annehmen könnte.

Er würde mit Maria sprechen müssen. Immerhin waren ihre Kinder in der Obhut eines Mannes, gegen den die Polizei ermittelte, und das musste sie erfahren. Doch in ihrem angeschlagenen Zustand konnte Maria eigentlich keinerlei Aufregung gebrauchen. Daniel schüttelte unwillig den Kopf. Die Situation war äußerst schwierig zu beurteilen, und er hatte keine Ahnung, was er machen sollte.

Als er in der Klinik ankam, hatte er keine Zeit, länger darüber nachzudenken. Es hatte einen schweren Unfall mit etlichen Verletzten gegeben, und Daniels Können als Arzt war gefordert. Deshalb half er erst in der Notaufnahme mit und stand dann für viele Stunden im OP.

Derweil hatte Christian Heine seinen Dienst auf der Feuerwache beendet und war – wie jeden Tag – in die Behnisch-Klinik gefahren, um mit Marias Kindern den Nachmittag zu verbringen. Heute erwarteten sie ihn schon in der Lobby. Sie kamen ihm entgegengelaufen und berichteten freudestrahlend von ihrer Mutter.

»Toll, Jungs, ich freue mich für euch und eure Mutter. Dr. Norden hatte mir schon am Telefon davon erzählt. Seid ihr sicher, dass ihr heute auch wieder Körbe werfen wollt? Ihr wärt jetzt vielleicht lieber bei eurer Mutter.«

»Nein, das ist schon in Ordnung«, winkte Moritz ab. »Die Ärzte meinten, wir sollen ihr ein bisschen Ruhe gönnen.«

Leon bestätigte das. »Unsere Mutter findet es gut, dass wir nicht nur in der Klinik rumsitzen, sondern uns auch draußen bewegen.«

»Sie hat also nichts dagegen, wenn ihr mit mir zusammen seid?«

»Aber nein! Wir sollen dich grüßen«, antwortete Moritz.

»Und sie sagt, sie würde gern mal mit dir reden«, ergänzte Leon. »Sie fragt, ob du heute Abend wieder vorbeikommst.«

»Ja, klar«, erwiderte Christian und überlegte, woher Maria von seinen abendlichen Besuchen überhaupt wusste.

»Mama hat gesagt, dass du jeden Tag bei ihr warst. Und dann hast du immer zu ihr gesprochen und ihr von uns erzählt«, berichtete Moritz.

»Äh … ja, das ist richtig. Ich hoffe, es stört euch nicht, dass ich sie so oft besucht habe.«

Beide Jungen schüttelten sofort den Kopf. »Nein«, sagte Leon. »Wir finden das total gut. Dadurch war unsere Mutter nicht so viel allein.«

Christian atmete erleichtert auf. Es war ihm wichtig, dass ihn die Kinder akzeptierten und dass sie nichts dagegen hatten, wenn er ihre Mutter besuchte. Denn das hatte er auch weiterhin vor. Er wollte Maria unbedingt wiedersehen und sie, so oft es ging, besuchen. Am liebsten wäre er jetzt sofort zu ihr gegangen, um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass sie wach war. Doch er musste sich gedulden. Jetzt waren erst mal die Kinder dran. Sie hatten das Recht auf ein paar schöne unbeschwerte Stunden, die er mindestens genauso genoss wie sie.

Die Jungen waren heute viel ausgelassener und fröhlicher als sonst. Aus gutem Grund, wie er wusste und gut nachvollziehen konnte. Ihm ging es nicht anders als ihnen. Auch er war bester Stimmung, vor allem wenn er an das abendliche Treffen mit Maria dachte.

Wie immer, wenn er die Kinder auf dem Hof absetzte, mussten sie ihm versprechen, sich bei ihm zu melden, falls es Schwierigkeiten geben sollte. Dann fuhr er zu Maria in die Klinik.

Als er vor ihrer Zimmertür stand, war er nervös wie selten zuvor. Er ärgerte sich, dass er es nicht fertigbrachte, einfach zu ihr reinzugehen. Warum kostete es ihn mehr Mut, diese Tür zu öffnen, als sich in ein brennendes Haus zu stürzen, um ein Feuer zu löschen? Das hier war doch nur ein ganz normaler Krankenbesuch bei einer wildfremden Frau!

Aber warum fühlte es sich dann so an, als wäre er unterwegs zu ­einer romantischen Verabredung? Warum spürte er, dass von diesem Abend sein ganzes Lebensglück abhing?

Als er dann schließlich zu ihr ging und sie ihn mit einem strahlenden Lächeln empfing, vergaß er seine Nervosität. Jetzt fühlte er nur noch diese riesige Freude, sie endlich wach zu sehen. Und den mächtigen, aber auch sehr seltsamen Wunsch, einfach zu ihr zu eilen und sie in seine Arme zu schließen. Natürlich tat er es nicht. Stattdessen nahm er sich einen Stuhl und setzte sich zu ihr ans Bett – so wie er es immer tat.

»Sie werden sich bestimmt nicht mehr an den Unfall erinnern«, sagte er zu ihr. »Ich war damals bei Ihnen, als Sie aus dem Wagen geholt wurden.«

»Ich erinnere mich. Sie sind die ganze Zeit bei mir geblieben, haben meine Hand gehalten und mir Hoffnung gegeben. Und Sie haben mir sogar versprochen, auf meine Kinder achtzugeben. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen jemals dafür danken soll.«

»Das brauchen Sie nicht. Ich habe doch nur meinen Job gemacht.«

»Oh nein! Sie haben sehr viel mehr getan, und das wissen Sie auch.« Als Christian wieder protestieren wollte, sagte sie leise: »Sie sind jeden Abend vorbeigekommen, um mir zu sagen, dass es meinen Kindern gutgeht und ich mir keine Sorgen machen muss. Haben Sie da auch nur Ihren Job gemacht?«

»Woher …« Christians Stimme klang merkwürdig belegt, so dass er sich erst räuspern musste, bevor er weitersprechen konnte. »Woher wissen Sie davon? Haben die Schwestern Ihnen das erzählt?«

»Nein, das war nicht nötig. Ich habe Sie gehört. Ich habe jedes Wort gehört, das Sie gesagt haben.«

»Aber wie … wie ist das möglich? Sie lagen im Koma.«

»Ich weiß, und trotzdem war es so. Ich habe vorhin mit Frau Dr. Norden darüber gesprochen. Ich konnte es mir nicht erklären und dachte bereits, ich hätte mir das ­alles nur eingebildet. Frau Norden meinte, es sei zwar ungewöhnlich, aber nicht unmöglich. Es existieren ähnliche Berichte von ehemaligen Komapatienten. Allerdings gibt es eine Sache, die sie auch sehr merkwürdig fand.« Maria lächelte ihn befangen an. »Ich kann mich nur an dich erinnern. Ganz sicher haben auch andere Menschen mit mir gesprochen – die Schwestern und Pfleger, die Ärzte. Doch ich habe nur deine Stimme gehört, keine andere. Es war deine Stimme, die mich aus der Dunkelheit geführt hat. Wie kann das nur sein?«

Christian griff nach ihrer Hand. »Ich kann das genauso wenig erklären wie du. Ich weiß nur, dass ich gar nicht anders konnte, als jeden Abend herzukommen, um dich zu sehen und dir von deinen Söhnen zu erzählen. Es war, als hätte ich gar keine andere Wahl. Als wäre das genau der Platz, an dem ich sein sollte – hier, bei dir.«

Kurz befürchtete er, dass dieses Geständnis zu forsch war und dass er sie damit erschreckt hatte. Aber Maria lächelte ihn nur glücklich an. Sie erwiderte seinen Händedruck und sagte weich: »Es ist schön, dass du da bist.«

*

An diesem Morgen war alles anders. Die Sonne schien heller, der Himmel war blauer, die Vögel sangen lauter, und das alte Haus war nicht so düster wie sonst. Leon und Moritz sprangen heute gut gelaunt aus ihren Betten. Ihre Mama war wieder wach, und schon bald könnten sie gemeinsam München verlassen und nach Hause fahren.

»Ein bisschen traurig bin ich aber, weil Christian hierbleiben muss«, gestand Moritz seinem großen Bruder, als sie sich in der Küche ihr Frühstück machten.

»Ja, das ist blöd«, gab ihm Leon sofort recht. »Christian ist richtig toll. Es wäre schön, wenn er auch in­ Coburg wohnen würde. Dann könnten wir immer mit ihm auf den Sportplatz gehen.«

»Vielleicht kommt er ja mit.«

»Nach Coburg? Das glaube ich nicht.«

»Aber vielleicht verliebt er sich ja in Mama, und die beiden heiraten, und dann ist er unser Vater, und wir könnten immer mit ihm zusammen sein.«

»Du spinnst, Mo.«

»Und wenn nicht? Wenn sich Mama und Christian nun doch verlieben? Wäre das nicht super?«

Leon dachte kurz nach, dann zuckte er die Achseln und biss von seinem Honigbrot ab. »Ja«, sagte er mit vollem Mund überzeugt. »Das wäre super.«

Moritz zuckte zusammen, als sich die Haustür öffnete und ihr Onkel hereinkam. »Gut, dass ihr noch da seid«, sagte Sascha. »Ich habe heute wieder einen Auftrag für euch.«

Leon hörte auf zu kauen und blickte auf das Paket, dass ihr Onkel vor ihnen auf den Tisch gelegt hatte. »Ihr kennt den Weg ja schon. Allerdings gibt es eine kleine Planänderung.« Sascha zeigte mit einem Finger auf Moritz. »Du erledigst das heute alleine. Dein Bruder hält sich da raus.«

Moritz riss vor Schreck die Augen auf. »Nein!«, wisperte er. »Ich will die Bombe nicht tragen.«

»Bombe?«, prustete Sascha laut los. »Spinnst du? Das ist doch keine Bombe!«

»Nein, das ist Diebesgut«, sagte Leon kalt. »Denkst du, wir wissen das nicht?«

Sascha sah seinen Neffen abschätzend an. »Du weißt es vielleicht, bei dem kleinen Fratz bin ich mir nicht so sicher.«

»Wir machen keine Botengänge mehr für dich«, sagte Leon. »Bring das Zeug doch allein dort hin.«

»Geht nicht. Die Bullen haben mich schon auf dem Schirm. Wenn die mich mit heißer Ware erwischen, bin ich dran.«

»Na und? Wir wollen jedenfalls nichts damit zu tun haben.« Für so eine mutige Antwort fing sich Leon einen bewundernden Blick seines kleinen Bruders ein.

»Zu spät, du Rotzbengel. Ihr steckt da beide schon knietief mit drin. Wenn hier die Bullen aufkreuzen und das Zeug bei mir finden, wandere nicht nur ich ins Gefängnis. Ihr seid dann genauso dran wie ich.«

»Wir haben doch überhaupt nichts gemacht!«

»Das behauptet ihr! Ich werde etwas anderes aussagen. Und mein Freund, der Herr Lehmann, auch. Der wird nicht zögern, der Polizei zu erzählen, dass ihr schon mal in seinem Laden gewesen seid, um heiße Ware abzuliefern.« Sascha schob das Paket über den Tisch dichter an Moritz heran, der sofort davor zurückwich. »Das ist das letzte Mal. Versprochen. Nur noch dieses eine Paket, dann seid ihr raus und habt nichts mehr damit zu tun.«

Leon dachte angestrengt nach, bis er schließlich zustimmte. »In Ordnung. Aber ich mache es, nicht Moritz.«

»Nein! Der Kleine muss das erledigen. Die Bullen kämen nie auf die Idee, dass so ein kleiner, süßer Fratz mit einem Haufen Juwelen durch die Gegend läuft. Ihn würden sie nie verdächtigen. Bei dir bin ich mir nicht so sicher. Also entweder Moritz macht es, oder wir vergessen die Sache. Wenn die Bullen dann kommen und den Schmuck hier finden, liefere ich euch ans Messer. Ihr wandert beide in den Bau. Bin gespannt, was eure Mutter dazu sagt, wenn sie euch im Knast besuchen muss.«

Blitzschnell griff Moritz nach dem Paket und stopfte es in seinen Rucksack, bevor Leon es verhindern konnte. »Ich mach das!«, versicherte er schnell. »Wirklich, ich schaff das! Ich bring das Paket zu Herrn Lehmann, und dafür kommen wir nicht ins Gefängnis.«

»Die Polizei wird uns schon nicht verhaften, Mo«, sagte Leon, aber er klang nicht besonders überzeugt.

Auf Leons lahmen Einwand ging Sascha gar nicht erst ein. »Also, es läuft so wie beim letzten Mal. Doch diesmal steigt nur Moritz aus dem Bus. Leon, du fährst weiter bis zur Behnisch-Klinik. Dort triffst du dich mit Moritz, sobald er seinen Job erledigt hat. Habt ihr mich verstanden?«

Während Moritz eifrig nickte, starrte Leon nur wütend vor sich hin. Sascha war das egal. Er grinste zufrieden, als er seine Neffen warnte: »Und lasst euch ja keine faulen Tricks einfallen. Es sei denn, ihr wollt euch eine Zelle mit mir teilen.« Es klang höhnisch.

Leon sprang vom Stuhl auf und zog Moritz mit sich hoch. »Komm, wir gehen.« Bereitwillig folgte Moritz seinem Bruder. An ihre Honigbrote, die angebissen auf ihren Tellern lagen, verschwendeten sie keinen Gedanken mehr. Der Appetit war ihnen gründlich vergangen. Sie wollten jetzt nur noch raus, weg von Onkel Sascha.

»Hey!«, brüllte er ihnen nach, als sie über den Hof rannten. »Und wer räumt jetzt euer Geschirr weg?«

Die Brüder rannten und rannten. Ohne anzuhalten, rannten sie den ganzen Weg bis zur Bushaltestelle. Erst dort gönnten sie sich eine Verschnaufpause. Beide waren der Meinung, in ihrem ganzen Leben noch nie so schnell gelaufen zu sein.

»Ich will nicht ins Gefängnis«, sagte Moritz, während er atemlos nach Luft japste.

»Keine Sorge, Mo!«, keuchte Leon. »Du bist zu jung fürs Gefängnis.«

»Und du?«, fragte Moritz bang. Als Leon nicht antwortete, griff Moritz nach der Hand seines Bruders. »Ich will nicht, dass du ins Gefängnis gehst.«

Moritz ließ Leons Hand nicht mehr los. Selbst als der Bus kam und sie einstiegen, hielt er noch immer Leons Hand. Und Leon ließ das zu. Leon wusste, wie viel Angst sein kleiner Bruder gerade ausstand, und das machte ihn furchtbar wütend. Moritz sollte keine Angst haben, verhaftet zu werden. Oder davor seinen Bruder zu verlieren, weil der ins Gefängnis musste. Warum war Onkel Sascha nur so gemein? Sah er denn gar nicht, wie sehr sich der kleine Mo fürchtete?

Moritz, dessen Mund sonst keine Minute stillstehen konnte, sagte nun gar nichts mehr. Er war blass, und die Hand, die den Rucksack hielt, zitterte. Als er Leons Blick auf sich spürte, sah Moritz zu ihm auf. »Ich schaff das schon«, flüsterte er und zitterte nun am ganzen Körper vor Angst. »Ich bin gar nicht mehr so klein. Ich bekomme das schon hin. Wirklich! Du kannst dich auf mich verlassen! Ich lasse nicht zu, dass du verhaftet wirst.«

»Ich weiß, Mo«, sagte Leon und lächelte. »Du bist der mutigste Achtjährige, den ich kenne. Und der beste kleine Bruder bist du auch.« Dann nahm Leon sein Handy aus der Tasche und schrieb eine Nachricht an Christian Heine.

Der Bus erreichte die Haltestelle, an der sich der Trödelladen befand. Als Moritz aufstehen wollte, zog Leon ihn auf seinen Platz zurück. »Du steigst nicht aus!«

»Aber …«, setzte Moritz zu einem Widerspruch an.

»Nein! Du brauchst keine Angst mehr zu haben, Mo. Ich werde die Sache wieder in Ordnung bringen.«

An der Behnisch-Klinik stiegen sie dann aus. »Und was machen wir jetzt?«, fragte Moritz besorgt. »Erzählen wir Mama davon?«

Leon schüttelte den Kopf. »Nein, Mama darf sich nicht aufregen.« Suchend sah er sich um, als sie über den Parkplatz auf den Klinikeingang zugingen. Als er Christians Wagen entdeckte, hätte er vor Erleichterung fast geweint. Er wusste, nun würde alles wieder gut werden.

Christian wartete in der Kliniklobby auf sie. Er lief ihnen entgegen und ging vor ihnen in die Hocke, um sie beide in den Arm zu nehmen. »Geht es euch gut?«, fragte er besorgt.

Während Leon nur glücklich nickte, sprudelte es aus Moritz heraus: »Oh, Christian! Ich bin ja so froh, dass du da bist! Wir stecken echt in Schwierigkeiten!«

Christian lachte leise. »Das weiß ich schon, Mo. Dein Bruder hat mir eine Nachricht geschrieben. Kommt mit! Wir gehen jetzt zusammen in das Büro von Dr. Norden, und dann erzählt ihr uns alles ganz genau. Und anschließend reden wir gemeinsam mit der Polizei.«

»Nein!«, rief Moritz entsetzt. Er winkte Christian zu sich hinunter, um ihm ins Ohr zu flüstern. »Die Polizei darf doch nicht wissen, dass wir heiße Ware haben. Dann werden wir nämlich verhaftet und müssen uns mit Onkel Sascha eine Zelle im Gefängnis teilen.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Onkel Sascha hat das gesagt.«

Christian sah aus, als wäre er plötzlich sehr wütend, doch dann zog er den kleinen Moritz nur in seine Arme und drückte ihn an sich. »Keine Sorge, Mo. Niemand wird euch verhaften. Das verspreche ich euch, und meine Versprechen halte ich immer.«

»Puh, dann ist ja gut«, sagte Moritz, während Leon brummte: »Habe ich dir doch gleich gesagt.«

Im Büro des Chefarztes erzählten die Kinder alles, was sich in den letzten Tagen auf dem Hof des Onkels ereignet hatte. Dabei spielte das Päckchen, das vor ihnen auf dem Schreibtisch lag, eine entscheidende Rolle.

»Können wir es aufmachen?«, fragte Moritz neugierig.

»Nein, das ist sicher keine so gute Idee.« Daniel nahm es an sich. »Das darf nur die Polizei machen. Ich werde mich darum kümmern, Mo. Vielleicht solltet ihr inzwischen zu eurer Mutter gehen und ihr alles berichten.«

»Aber regt sie sich dann nicht zu sehr auf?«, fragte Leon besorgt.

»Nicht, wenn sie euch sieht und weiß, dass euch nichts passiert ist.«

»Außerdem bin ich ja auch noch da«, sagte Christian. »Gemeinsam bekommen wir das schon hin.«

Christian war es dann auch, der bei Maria das Reden übernahm. Ab und zu steuerten die Kinder ihren Anteil bei, aber eigentlich waren sie sehr froh, dass ihr großer Freund ihnen das Meiste abnahm.

»Es überrascht mich nicht, dass Sascha wieder krumme Geschäfte macht«, sagte Maria bedrückt. »Aber ich hätte nie gedacht, dass er euch da reinziehen würde. Es tut mir so leid, dass ihr so etwas Schreckliches mitmachen musstet.«

»Schon gut, Mama. Uns ist doch nichts passiert«, versicherte Leon schnell. »Außerdem ist es nicht deine Schuld, dass wir bei Onkel Sascha gelandet sind.«

»Genau!« Auch Moritz hatte das Bedürfnis, seine Mutter zu trösten und ihr das schlechte Gewissen zu nehmen. »Du warst doch im Koma und hast geschlafen!«

»Du hast sehr kluge Söhne«, sagte nun auch Christian lächelnd. »Du solltest auf sie hören. Sie haben nämlich recht. Es ist nicht deine Schuld.«

Später kam Daniel zu ihnen. Er nahm sich einen Stuhl, setzte sich an Marias Bett und brachte ihr schonend bei, dass ihr Bruder verhaftet worden sei. »In seiner Scheune wurde sehr viel Diebesgut gefunden. Angesichts der Beweise war er geständig und hat zugegeben, mit zwei Komplizen in Häuser eingebrochen zu sein, um Geld und Wertsachen zu stehlen.«

»Und was war in dem Päckchen?«, fragte Moritz neugierig dazwischen. »Ganz viel Geld?«

»Nein, teurer Schmuck. Herr Lehmann aus dem Trödelladen half eurem Onkel immer, solche Sachen ins Ausland zu bringen. Die Polizei hat auch ihn inzwischen verhaftet.«

Maria konnte nur traurig nicken. »Um Sascha tut es mir nicht leid. Allein dafür, dass er meinen Kindern Angst gemacht hat, verdient er es, im Gefängnis zu sitzen. Aber ich muss mir nun überlegen, was aus Oma Hilda werden soll. Bis zum Nachmittag ist sie ja noch in der Tagespflege, aber danach ist niemand mehr da, der sie versorgen kann.«

»Darüber müssen Sie sich keine Gedanken machen«, konnte Daniel sie beruhigen. »Meine Sozialarbeiterinnen haben sich schon um alles gekümmert. Sie konnten einen freien Platz in einer wunderschönen Demenz-Wohngruppe besorgen. Wenn Sie damit einverstanden sind, kann Ihre Großmutter noch heute dort einziehen. Die Schwestern von der Tagespflege wissen auch schon Bescheid. Sie werden dafür sorgen, dass der Fahrdienst sie am Nachmittag in die WG bringt.«

»Danke! Vielen Dank!«, schniefte Maria und blinzelte unter den besorgten Blicken ihrer Kinder schnell die Tränen fort. »Ich weiß gar nicht, ob ich das je wieder gutmachen kann, was Sie für uns getan haben.«

»Sie wissen, dass das nicht nötig ist«, sagte Daniel warm und drückte Marias Hand. »Freuen Sie sich einfach darüber, dass es Menschen gibt, die für Sie da sind.« Bei seinen letzten Worten sah er lächelnd zu Christian.

»Was ist denn mit Hasso?«, rief Moritz. »Ich kann ihn zwar überhaupt nicht leiden, aber er soll da auch nicht allein auf dem Hof bleiben und verhungern.«

Daniel konnte dem Jungen diese Sorge nehmen. »Das wird er nicht. Die Polizei hat den Tierschutz angerufen. Sie werden für Hasso ein neues, besseres Zuhause finden.«

»Für Hasso wird man sicher gut sorgen, Mo«, sagte Maria sanft. »Viel wichtiger ist jetzt, was aus euch wird. Ihr wisst sicher, dass ihr nun nach Coburg zu Tante Lore müsst.«

Sofort verfinsterten sich die Mienen der Kinder. »Wir wollen aber lieber bei dir bleiben«, protestierte Leon. »Wenn wir in Coburg sind, können wir dich nie besuchen.«

»Ich weiß, Leon. Mir gefällt das auch nicht. Aber was sollen wir denn sonst machen? Allein auf dem Hof bleiben könnt ihr nicht.«

»Sie könnten bei mir wohnen«, sagte Christian. Als ihn alle erstaunt ansahen, sagte er ruhig: »Ich habe einen Haufen Überstunden angesammelt, die ich jetzt abbummeln kann. Mit meinem Chef habe ich das schon abgesprochen. Ich hätte also Zeit für die Jungs. Und meine Wohnung ist groß genug. Sie könnten das Gästezimmer haben. Das steht ohnehin die meiste Zeit leer.«

Alle schauten zu Maria, die nicht so recht zu wissen schien, wie sie auf Christians Vorschlag reagieren sollte.

»Nun, ich weiß nicht«, sagte sie schließlich zu Christian. »Wenn du meinst, dass das geht …« Der Rest ging in dem lauten Jubel der Buben unter, die Christians Vorschlag einfach nur ganz wundervoll fanden.

In den kommenden Tagen erholte sich Maria von ihren Verletzungen. Dass die Kinder sie jeden Tag besuchten, half ihr, schnell wieder gesund zu werden. Maria war es allerdings auch wichtig, dass ihre Söhne nicht nur bei ihr am Krankenbett saßen. Sie war deshalb Fee Nordens Vorschlag, die Kinder am Unterricht der Klinikschule teilnehmen zu lassen, nur zu gern gefolgt.

Auch Christian war von dieser Lösung sehr angetan. Er war sehr gern mit den Kindern zusammen, aber die Stunden, die er allein mit ihrer Mutter verbringen konnte, liebte er auch – vielleicht sogar noch etwas mehr. Und so fand man ihn immer, wenn die Kinder in der Schule waren, bei Maria. Sie redeten viel, lernten sich besser kennen oder wagten schon einen kurzen Ausflug in den Klinikpark, wenn das Wetter so gut war wie heute.

»Es ist wunderschön hier«, sagte Maria und betrachtete mit einem entzückten Lächeln die vielen blühenden Stauden. Dann seufzte sie leise. »Ich habe plötzlich Sehnsucht nach meinem eigenen Garten bekommen. Er ist nicht groß – nur ein kleiner Vorgarten und hinterm Haus gibt es eine kleine Rasenfläche und ein paar Gemüsebeete. Aber ich liebe ihn und wäre jetzt sehr gerne dort. Doch andererseits …« Sie stockte und blickte Christian unsicher an.

»Doch andererseits?«, fragte er lächelnd und griff nach ihrer Hand.

»Andererseits gibt es hier jemanden, den ich sehr vermissen würde.«

»Dann sollten wir uns auf gar keinen Fall mehr trennen.« Christian beugte sich vor und wagte es endlich, sie zu küssen. »Ich liebe dich, Maria. Und ich liebe deine tollen Kinder. Ich weiß nicht, wie das so schnell passieren konnte. Du hast geschlafen, und ich habe an deinem Bett gesessen und mich unsterblich in dich verliebt. Ist das nicht verrückt?«

Maria lachte.

»Noch verrückter ist es, dass ich mich in dich verliebt habe, während ich im Koma lag.« Sie streichelte seine Wange, als sie voller Liebe sagte: »Ich habe nur deine Stimme gehört und wusste, dass du es bist, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen möchte. Ob das in Coburg oder München sein wird, ist mir egal.«

»Coburg«, sagte Christian sofort. »Hier würdest du sicher deinen Garten vermissen und die Kinder ihre Freunde. Ich gebe in München nicht viel auf, und in Coburg brauchen sie sicher auch gute Feuerwehrmänner.«

»Sie bekommen den allerbesten«, sagte Maria glücklich, bevor sich ihre Lippen erneut zu einem süßen Kuss fanden.

Chefarzt Dr. Norden Staffel 8 – Arztroman

Подняться наверх