Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Staffel 8 – Arztroman - Helen Perkins - Страница 9

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»Meinst du wirklich, ich soll die Einladung annehmen?« Felicitas Norden saß mit ihrem Mann Daniel an einem kleinen Zweiertisch in der Cafeteria der Behnisch-Klinik. Es kam nicht oft vor, dass sie ihre Mittagspause gemeinsam verbringen konnten, aber heute hatte es geklappt. Als Chefarzt und Leiter der Klinik war Dr. Daniel Norden ein vielbeschäftigter Mann. Felicitas hatte als Leiterin der Pädiatrie ebenfalls einen gut gefüllten Terminkalender.

Wann immer es dem Ehepaar Norden möglich war, verbrachten sie Zeit miteinander – auch wenn der Klinikalltag oft nur eine kurze Mittagspause ermöglichte.

»Aber natürlich, Fee. Wie oft soll ich dir das denn noch sagen?«, fragte Daniel Norden. »Du hast es dir verdient, Liebling«, setzte er nach, als er ihren irritierten Blick bemerkte.

»Du klingst genervt«, beklagte sie sich. »Dabei ist es mir wirklich wichtig, dass du einverstanden bist, und zwar nicht nur als Klinikchef, sondern auch als mein Ehemann.«

»Das weiß ich doch. Deshalb sage ich dir das schließlich immer wieder! Flieg nach Teneriffa und mach dir zwei schöne Wochen. Nach dem, was du in den vergangenen Wochen alles geleistet hast und erdulden musstest, wird dir die Auszeit gut tun.«

»Naja, du hast schon recht. Es war allerhand los in letzter Zeit.« Felicitas dachte an die bangen Stunden, als sie bei einem Banküberfall als Geisel genommen und verletzt wurde. Dieses schreckliche Erlebnis lag noch gar nicht lange zurück. Aber nicht nur das hatte an ihren Kräften genagt. Die übergroße Verzweiflung, die Angst und Panik, als sie nicht wussten, ob ihr Sohn Felix einen Flugzeugabsturz überleben würde, hatte ebenfalls tiefe Spuren in ihrem Inneren hinterlassen. Dazu kamen noch die täglichen Anforderungen, die sie als leitende Ärztin erfüllten musste. Wenn sie in sich hineinhorchte, konnte sie die Sehnsucht nach einem Urlaub deutlich fühlen. Fee wusste ganz genau, dass sie Erholung dringend nötig hatte.

Dan riss sie aus ihren Gedanken. »Du warst ja schließlich auch damit einverstanden, als ich vor ein paar Monaten nach Lappland reiste, um dort eine Hundeschlittenfahrt zu unternehmen. Und jetzt bist du dran. Basta!« Daniel erhob sich. Es gab von seiner Seite aus nichts mehr zu sagen. Für ihn war die Sache klar. »Deine Vertretung in der Klinik ist geregelt, in der Familie kommen wir fabelhaft zurecht. Es gibt keinen Grund, die Einladung von Frau Herz nicht anzunehmen.« Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und verabschiedete sich. »Bis heute Abend, Liebes. Ich erwarte Vollzug«, setzte er schelmisch grinsend hinzu. Fee war klar, dass er damit die Buchung des Flugtickets meinte.

Die Einladung zu diesem Urlaub kam für Fee vollkommen überraschend. Auf Petra Herz war sie bei der Hochzeit einer ehemaligen Patientin getroffen. Sie hatte der jungen Frau damals sogar das Leben gerettet. Die Dankbarkeit der Familie war groß, es entwickelte sich aber auch eine tiefe gegenseitige Sympathie zwischen Fee und der Brautmutter, die letztlich dazu führte, dass Petra Herz die Lebensretterin ihrer Tochter spontan zu einem Urlaub in ihre Finca auf Teneriffa einlud. Petra hatte sich einen lang gehegten Traum erfüllt und lebte nun schon seit einigen Monaten auf der Insel. Ihren Lebensunterhalt bestritt sie als Fremdenführerin, sie war sogar fest angestellt in einem der größten Hotels.

»Sie haben meiner Tochter Nina das Leben gerettet, das vergesse ich Ihnen nie«, hatte Petra gesagt, als sie nach der kirchlichen Trauung beim Sektempfang auf dem Kirchplatz beieinander standen. »Bitte nehmen Sie meine Einladung an, dann kann ich mich wenigstens ein bisschen erkenntlich zeigen. Natürlich ist Ihr Mann auch eingeladen, das ist ja selbstverständlich.«

Aber Daniel konnte sich in der Klinik nicht freischaufeln, und so stand schon sehr bald fest, dass Fee alleine reisen würde – sofern sie sich dazu durchringen würde. Fee dachte nach. Dans Worte berührten sie. Lieber wäre es ihr natürlich gewesen, er hätte mit ihr zusammen einen gemeinsamen Urlaub planen können. Aber der Klinikalltag ließ gerade jetzt eine gemeinsame Auszeit nicht zu. Sie schloss die Augen und ließ ihre Sehnsucht nach Ruhe und Erholung in sich aufsteigen. Der Gedanke an die herrliche Natur auf der Kanareninsel Teneriffa, die Lust auf Sonne, Meer und Liegestuhl waren schon sehr verlockend. Kurzentschlossen griff sie nach ihrem Handy, wählte die Nummer von Petra Herz und sagte zu.

»Das freut mich sehr«, rief Petra am anderen Ende der Leitung. »Dann buche ich für Sie gleich noch ein Ticket für meinen Flug, und schon kann es losgehen. Ich freue mich wahnsinnig!«

Nur drei Tage später verabschiedete Fee sich von ihrem Mann und ihrer Familie. Dan hatte sie und Petra zum Flughafen gebracht. Beinahe wäre die Zeit knapp geworden, denn Fee wusste bis zum Schluss nicht, was sie einpacken sollte. Schließlich war es ihre Tochter Dési, die energisch einige leichte Sommerkleider, ein paar bequeme Hosen, kurzärmelige Shirts und zwei Pullis mit langen Armen aus dem Kleiderschrank ihrer Mutter zog und in den Koffer packte.

»So, nun brauchst du noch was Hübsches für abends, was Praktisches für deine Wanderungen und mindestens zwei Badeanzüge«, schlug sie ihrer Mutter vor. »Und vergiss nicht die bequemen Schuhe. Wie ich dich kenne, bist du mehr in der Natur unterwegs als an der Strandpromenade.«

Fee nickte zustimmend. »Am meisten freue ich mich auf den berühmten Botanischen Garten in Puerto de la Cruz. Und auf den Loro Parque. Und dann soll es dort auch einen kleinen Orchideen-Garten geben. Ein Geheimtipp, habe ich im Reiseführer gelesen.«

»Du musst viele Fotos machen, Mama«, bat Dési. »Aber jetzt ist es Zeit, sonst hebt der Flieger ohne dich ab, und du musst deine Lust auf Fauna und Flora in Hellabrunn ausleben. Los jetzt!«

Amüsiert schaute Fee zu, wie ihre erwachsene Tochter geschickt den vollen Koffer schloss und das leuchtend gelbe Kofferband daran befestigte.

Die unüberhörbare Hupe erinnerte sie an die Uhrzeit. Daniel stand mit der Familienkutsche schon vor der Haustür und wartete ungeduldig.

»Da bist du ja endlich, mein Schatz. Wir müssen jetzt unbedingt Frau Herz abholen, das schaffen wir gerade noch.«

Fee konnte den leisen Vorwurf in seiner Stimme hören. Sie wusste aber, dass er ihr nicht wirklich böse war.

In der Abflughalle fiel der Abschied dann entsprechend kurz aus. Petra Herz drehte sich diskret weg, als Daniel seine geliebte Frau zärtlich in den Arm nahm und ihr einen Kuss auf die Stirn gab. »Komm mir gesund wieder, hörst du?«

Fee nickte. »Na klar, mach ich. Und pass du auf dich auf. Arbeite nicht so viel und genieße die freien Abende … ohne mich.« Sie zwinkerte ihn an und konnte nicht verhindern, dass ihr dabei eine kleine Träne aus dem Augenwinkel lief.

»Dein Flug wird aufgerufen, jetzt aber los!« Daniel winkte seiner Frau und ihrer Begleiterin noch lange nach, auch dann noch, als sie schon lange den Schalter zum Einchecken passiert hatten und durch die Schranke gegangen waren, die zum Gate führte.

Fee atmete tief durch, als sie ihr Handgepäck verstaut hatte und sich in den Sitz plumpsen ließ. Jetzt noch anschnallen und abheben. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Nur viereinhalb Stunden später landete das Flugzeug nach einem problemlosen Flug im Urlaubsparadies Teneriffa. Fee hatte die meiste Zeit geschlafen. Die erste halbe Stunde unterhielten sich die beiden Frauen noch, aber als Petra bemerkte, wie Fees Augen immer kleiner und ihre Antworten immer leiser wurden, lehnte sie sich zurück und überließ ihre Sitznachbarin ihren Träumen. Felicitas wurde erst wieder durch den Ruck wach, der ihr anzeigte, dass das Flugzeug soeben gelandet war.

Vom Flughafen aus mussten die beiden Frauen noch eine Stunde Autofahrt hinter sich bringen. Petra hatte den Mietwagen bereits re­servieren lassen. Sie selbst hatte kein eigenes Auto. »Auf der Insel braucht man eigentlich keinen Wagen«, erklärte sie. Vor meiner Finca hält der Linienbus. Er braucht nur ungefähr zwanzig Minuten hinunter ins Zentrum. Von dort fahren Busse in alle Richtungen. Wenn Sie doch mal mit einem Auto irgendwohin möchten, nehmen Sie am besten ein Taxi«, erklärte sie. »Die kosten hier nicht viel. Oder wie jetzt einen Mietwagen. Der ist für längere Fahrten am bequemsten.«

Fee nickte. »Vorerst plane ich noch gar nichts. Sie haben von Ihrem Swimmingpool erzählt. Wenn ich ehrlich bin, interessiert mich der erst einmal am meisten.« Seit das Flugzeug in München abgehoben war, spürte Fee, wie dringend sie Erholung brauchte. Sie nahm sich vor, zwei Wochen lang nichts anderes zu tun, als die Seele baumeln zu lassen. Die Voraussetzungen dafür hätten nicht besser sein können. Petras ­Finca befand sich am oberen Stadtrand der heimlichen Insel-Hauptstadt Puerto de la Cruz. Der Blick vom weitläufigen Garten aus über die pittoreske Altstadt hinunter zum Atlantik war gigantisch. Fee atmete tief ein. Sie konnte das Meer nicht nur sehen, sondern auch riechen. Mit jedem Atemzug spürte sie, wie sich ihr Inneres entspannte. Spätestens jetzt wurde ihr bewusst, dass es richtig gewesen war, Petras Einladung anzunehmen.

»Kommen Sie, Felicitas, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer«, hörte sie Petra von der Terrasse rufen. »Das Gästezimmer ist schnell für Sie hergerichtet«, kündigte sie noch an, bevor sie im Inneren des kleinen Häuschens verschwand. Im Gegensatz zum großen Garten war das Gebäude fast winzig. Von außen betrachtet, konnte es wohl kaum mehr als zwei Räume beherbergen, vermutete Fee. Aber als sie eintrat, wurde sie angenehm überrascht. Außer dem Zimmer, das ihr für die nächsten zwei Wochen als Feriendomizil dienen sollte, gab es noch einen geräumigen Wohn- und Küchenraum, ein weiteres Schlafzimmer und ein großzügiges Badezimmer. Mehr braucht man nicht zum Leben, befand Fee in Gedanken. Die Einrichtung war praktisch, einfach, aber nicht spartanisch. Das Mobiliar war aus dunklem Holz, an den Fenstern wehten luftige Gardinen in einem angenehmen Cremeweiß, die Fußböden waren im gesamten Haus mit Terrakottafliesen belegt. Bei der kleinen Sitzgruppe sorgte ein hellblauer flauschiger Teppich für Gemütlichkeit.

»Schön haben Sie es hier«, sagte Fee anerkennend. »Ich kann es mir sehr gut vorstellen, wie wohl Sie sich fühlen.«

»Oh ja«, stimmte Petra zu. »Aber wollen wir uns nicht duzen? Ich bin Petra.« Sie streckte Fee ihre rechte Hand entgegen und strahlte.

»Gern«, antwortete Fee und ­ergriff erfreut die ausgestreckte Hand. »Nenne mich doch einfach Fee, bitte. Wie meine Familie und meine Freunde.« Sie fühlte sich in diesem Moment am Urlaubsort angekommen.

Den Abend genossen die beiden Frauen auf der Terrasse. Der gigantische Anblick des Sonnenuntergangs verschlug besonders Fee die Sprache. Auch Petra schwieg, bis der rote Feuerball hinter dem Horizont verschwunden war.

Am nächsten Tag verließ Petra das Haus schon sehr früh. Das Hotel, für das sie als Touristenbetreuerin arbeitete, hatte eine größere Gruppe angekündigt. Sie würde bis zum Abend zu tun haben. Fee hatte also den ganzen Tag Zeit, die Insel auf eigene Faust zu erkunden. Der Mietwagen stand noch in der Einfahrt. Sie hatte sich bereit erklärt, ihn bei der hiesigen Filiale abzugeben. Bis zum vereinbarten Termin hatte sie noch ein paar Stunden Zeit, und sie beschloss, den Verlockungen des Swimmingpools noch nicht nachzugeben und stattdessen einen Ausflug zu machen. Ein kurzer Blick in den Reiseführer bestätigte ihre Vermutung, dass der Nationalpark Teide mit dem Auto in kurzer Zeit zu erreichen war. Die Sonne lachte vom Himmel, von der Meerseite wehte ein angenehm frisches Lüftchen. Schöner hätte ihr erster Urlaubstag hier nicht beginnen können. Sie packte Sonnenbrille, Proviant, eine Wasserflasche sowie feste Schuhe ein und startete in Richtung Naturparadies.

Ihre Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Der älteste Nationalpark der Kanarischen Inseln liegt auf 2000 Metern Höhe. Entsprechend klar war die Luft. Fee fuhr nahezu im Schneckentempo die ausgewiesene Straße entlang. Den Gipfel des Vulkans Teide, nach dem der Nationalpark benannt wurde, hatte sie immer im Blick. Ab und zu hielt sie an und stieg aus. Was für eine faszinierende Natur! Sie kam sich vor, als sei sie in eine vollkommen andere Welt eingetaucht. Aus dem Reiseführer wusste sie, dass es hier seltene Echsen gab. Aber auch eine besondere Art von Finken könnte sie dort vielleicht. Ganz zu schweigen von bestimmten Pflanzen, die sich im Klima der Kanarischen Inseln ganz besonders wohlfühlten. Sie kniff die Augen zusammen, um das auffällige Violett des Teide-Veilchens ausfindig machen zu können. Sie hatte gelesen, dass die spezielle Veilchenart zu den botanischen Besonderheiten dieser Region zählte. Schon der berühmte Pflanzenforscher Alexander von Humboldt hatte sie beschrieben. Aber so sehr sie sich anstrengte, sie konnte keines entdecken. Auch nicht, als sie ihre Wanderschuhe anzog, das Auto in der Parkbucht stehen ließ und einen der wenigen Pfade einschlug, die sich durch das Gebiet schlängelten. Schon bald hatte sie ihr eigentliches Ziel, ein Teide-Veilchen zu entdecken, vergessen. So eine große Vielfalt an Vegetation hatte sie selten gesehen. Sie fühlte sich wie im Paradies. Das musste sie unbedingt mit ihrem Smartphone festhalten, um ihren Lieben zu Hause einen Eindruck vermitteln zu können. Aber schon bald steckte sie ihr Handy wieder in den Rucksack und genoss den Anblick dieses Naturwunders. In der Ferne konnte sie eine auffällige Felsformation erkennen. Sie beschloss, dem Pfad zu folgen, dort eine Pause zu machen und danach denselben Weg wieder zurück zu nehmen. Auf diese Weise würde sie sich nicht verlaufen.

Groß war ihre Enttäuschung, als sie beim Näherkommen einen Mann entdeckte, der offensichtlich dieselbe Idee hatte wie sie. Sie hatte gehofft, vollkommen alleine und in absoluter Ruhe ihre Pause genießen zu können. Er saß mit dem Rücken an einen großen Stein gelehnt. Auf dem Boden neben ihm lag sein Rucksack. Der Fremde war so sehr in seine Gedanken vertieft, dass er Fee nicht kommen hörte. Sie überlegte erst, ob sie einfach wieder umkehren sollte, ohne hier wie geplant eine Rast einzulegen. Aber dann entschied sie sich dafür, ihn nur kurz zu grüßen und es sich an einem der anderen Felsgesteine gemütlich zu machen.

»Hola«, rief sie freundlich. Sie hatte nicht vor, die Unterhaltung fortzusetzen und hoffte darauf, dass der Mann sie einfach ignorieren würde. Er wandte ihr sein Gesicht zu und nickte. Gut so, dachte sie.

Eine Weile saßen beide schweigend, und sie hatte ihn beinahe vergessen, als er sie dann doch ansprach. »Alleine hier?«

Was für ein überflüssiger Satz, dachte Fee. Das sieht man doch, wollte sie am liebsten antworten, aber sie überlegte es sich schließlich anders und blieb höflich. »Sie sprechen Deutsch?«, fragte sie stattdessen.

»Ja, Si, Señora. Sie sind doch Deutsche, oder?« Seinem Akzent nach zu schließen, war der Mann Spanier.

»Das stimmt. Woran haben Sie das erkannt?«, fragte sie. Eigentlich hätte sie am liebsten auch sofort gefragt, woher seine hervorragenden Deutschkenntnisse stammten, aber sie erinnerte sich gerade noch rechtzeitig an ihren eigenen Vorsatz, Ruhe zu suchen und sich auf kein Gespräch einzulassen. Mit einem Fremden schon gar nicht.

»Das ist nicht schwer, Señora. Die meisten Touristen hier sind Deutsche. Oder Engländer. Aber Sie sind Deutsche, das habe ich gleich gemerkt.«

Fee hielt sich nicht lange mit Überlegungen auf, worin der Mann Engländerinnen von deutschen Touristinnen unterschied. Es war ihr eigentlich auch egal. Sie wollte ihre Ruhe haben. Deshalb war sie erleichtert, als sie bemerkte, dass der Mann sich erhob und seinen Rucksack über die Schultern streifte.

»Na dann, schönen Urlaub noch, Señora«, sagte er im Vorbeigehen. Später hätte Fee nicht mehr genau sagen können, woran es lag, dass sie ihn dann doch bat, noch eine Weile zu bleiben. War es sein trauriger Blick? Der Kummer, der so offensichtlich auf seiner Seele lag, dass Fee ihn förmlich spüren konnte? »Wollen Sie sich nicht noch ein bisschen zu mir setzen?«, fragte sie ihn, obwohl ihr nicht klar war, ob ihre spontane Einladung vielleicht ein folgenschwerer Fehler war.

Auch er zögerte. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, antwortete er. Dann folgte er ihrer einladenden Handbewegung und ließ sich in gebührendem Abstand neben ihr auf dem Boden nieder. »Carlos. Carlos Garcia«, stellte er sich wortkarg vor.

»Felicitas Norden«, antwortete sie genauso knapp. »Sie leben hier?«

»Ja, ich habe eine Praxis in Puerto. Heute habe ich mir eine Auszeit genommen. Manchmal muss man etwas Abstand zum Alltag haben.«

»Eine Praxis? Sind Sie Arzt?« Jetzt war Fee doch neugierig geworden.

»Kinderarzt.« Er schien kein Mann der vielen Worte zu sein.

»Ach was«, entfuhr es ihr. »Dann erlauben Sie, dass ich mich noch einmal richtig vorstelle. Ich bin Dr. Felicitas Norden, Kinderärztin und Leiterin der Pädiatrie einer Klinik in München. So ein Zufall.« Sie lachte. Ihre blauen Augen strahlten belustigt. Mitten in der Einsamkeit, Tausende Kilometer entfernt von ihrem Zuhause, war der erste Mensch, auf den sie traf, ausgerechnet Kinderarzt.

Auch er lachte kurz auf. Die Traurigkeit in seiner Stimme war aber trotzdem nicht zu überhören. Fee betrachtete ihn näher. Er war mindestens zwanzig Jahre jünger als sie. Sie schätzte ihn auf Ende Dreißig. Seine schlanke Figur konnte über seine breiten Schultern und starken Oberarme nicht hinwegtäuschen. Er wirkte nicht nur sportlich, er schien es auch tatsächlich zu sein, vermutete Fee. Die weichen Locken seines dunklen Haares standen in krassem Gegensatz zu seinen kantigen Gesichtszügen. Fee wunderte sich nicht über seine sonnengebräunte Haut. Schließlich lebte er als Einheimischer auf der Sonneninsel schlechthin. Seine braunen Augen hätten etwas lebhafter sein können, fand sie. Irgendetwas bedrückte ihn, das wurde ihr immer klarer.

»Möchten Sie mir ein bisschen über sich erzählen?«, fragte sie vorsichtig. Fee konnte einfach nicht aus ihrer Haut. Das Schicksal anderer Menschen interessierte sie. Das war eine ihrer vielen Eigenschaften, die sie nicht nur in den Augen ihres Mannes Daniel Norden zu einem besonderen Menschen machten.

»Das wollen Sie alles gar nicht wissen, glauben Sie mir«, wehrte Carlos Garcia ab. »Aber wenn Sie möchten, besuchen Sie mich doch einmal in meiner Praxis. Natürlich nur, wenn Ihr Urlaub noch lange genug dauert.«

»Heute ist mein erster Tag. Zeit ist nicht mein Problem«, gab sie lächelnd zurück. Er nannte ihr die Adresse und seine Praxisöffnungszeiten.

»Ich freue mich, Señora. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss zurück. Ich habe noch Patientenbesuche zu machen. Bis bald und adios.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, stand er auf und lief denselben Weg zurück, den Fee einige Zeit nach ihm einschlug. Der junge Mann ging ihr lange nicht aus dem Kopf. Ihr erster Impuls war, seine Einladung nicht anzunehmen. Dann aber überlegte sie, dass er es sicher ernst gemeint hatte und er es nicht einfach so aus Höflichkeit dahergesagt hatte. Außerdem fand sie es spannend, zu sehen, wie eine Kinderarztpraxis im Urlaubsparadies wohl aussehen mochte. Sie erinnerte sich an frühere Zeiten. Sie hätte es sich damals als junge Ärztin durchaus vorstellen können, eine Praxis an einem ganz besonderen, einem exotischen Ort zu betreiben. Aber wie es im Leben halt so ist, kam es anders. Heute war sie in leitender Position der Pädiatrie in der Klinik in München, in der ihr Ehemann Chefarzt war. Sie fand, das war auch äußerst spannend. Ihr wurde bewusst, welch glückliches Leben sie führte.

Am Abend erzählte sie Petra von ihrer Begegnung. »Ob ich morgen schon die Einladung wahrnehme oder ob ich noch ein bisschen damit warte, weiß ich noch nicht«, resümierte sie.

»Wie war sein Name? Garcia?«, fragte Petra interessiert.

»Genau. Carlos Garcia. Warum fragst du. Kennst du ihn etwa?«

»Nein, nicht persönlich. Aber ich kenne seine Freundin. Oder nein, ich muss sagen, seine Ex-Freundin. Sie ist die Mutter seines Kindes, aber sie sind nicht zusammen. Ich kenne sie aus dem Hotel. Sie arbeitet wie ich in der Tourismusbranche. Martina heißt sie. Martina Bauer. Sie ist auch Deutsche«, erzählte Petra.

»So ein Zufall. Die Welt ist klein. Erst recht auf einer Insel, so wie es aussieht.«

Fee wunderte sich nicht wirklich. Sie amüsierte sich über die Entwicklung des Gesprächs.

»Tja, die beiden haben momentan ein Problem miteinander«, ergänzte Petra. »Aber so genau weiß ich nicht, was los ist. Martina hat nur was angedeutet. Ich hoffe, du hast jetzt nicht den Eindruck, ich sei eine Klatschtante.« Petra schmunzelte.

»Aber nein, niemals«, gab Fee gespielt theatralisch zurück. »Ich bin auch keinesfalls neugierig, ich nenne es lieber Anteilnahme.« Sie prosteten sich lachend mit ihren halbgefüllten Sangria-Bechern zu.

»Ich weiß wirklich nicht mehr darüber.« Petra war ernst geworden. »Aber irgendwas ist im Busch.«

»Das denke ich auch. Dieser Carlos Garcia hat einen bedrückten Eindruck auf mich gemacht. Doch im Grunde geht uns das nichts an. Jeder muss mit seinen Problemen alleine fertig werden.« Fee bemühte sich, innerlich Abstand zu den Sorgen eines Mannes zu bekommen, den sie gar nicht richtig kannte. Sie erinnerte sich mahnend daran, dass sie schließlich hier war, um Ruhe und Erholung zu finden.

*

Am nächsten Morgen genoss Fee ihren Kaffee auf der sonnigen Terrasse. Ihr Blick glitt über den Garten ihrer Gastgeberin. Ob hier wohl ein Gärtner am Werk war? Fee beschloss, Petra am Abend beim gemeinsamen Ausklang des Tages danach zu fragen. Die weitläufige Anlage sah gepflegt aus, aber beim genauen Hinschauen war ganz klar zu erkennen, dass der Natur nur sehr zurückhaltend Grenzen gesetzt wurden. Jedes Pflänzchen durfte sich nahezu frei entwickeln. Fee griff nach ihrem Kaffeebecher und schlenderte durch den Garten, um sich die Bepflanzungen näher anzuschauen. Der Anblick der üppigen Blütenpracht ließ sie immer wieder staunend innehalten. Sie hatte sich schon immer für Pflanzen interessiert, und sie war bisher der Meinung gewesen, dass sie sich halbwegs auskannte. Aber was sie hier sah, ließ sie begreifen, dass die Natur einfach unerschöpflich war in ihrer Vielfalt. Ach ja, der Swimmingpool! Fee überlegte nicht lange, lief ins Haus zurück, zog ihren Badeanzug an und sprang ins Wasser. Sie zog ein paar Bahnen und gab anschließend der Verlockung des Liegestuhls nach, der im Schatten eines Baumes nur eine Aufgabe zu haben schien, nämlich auf sie zu warten. Aber lange hielt sie es nicht aus, sich dem Nichtstun hinzugeben. Sie erinnerte sich an ihre Pläne. Der berühmte Botanische Garten musste doch hier gleich in der Nähe sein. Oder sollte sie zuerst den kleinen, privat betriebenen Orchideengarten besuchen, von dem sie schon gelesen und von dem Petra gestern erzählt hatte. Der Weg dorthin sei zu Fuß zu bewältigen, und danach könnte sie mit dem Linienbus ins Zentrum fahren und eventuell die Praxis von Carlos Garcia besuchen. Unternehmungslustig sprang sie auf, und kurz darauf war sie auch schon unterwegs. Petra hatte ihr einen faltbaren Stadtplan zur Verfügung gestellt. Fee hatte schon immer eine gute Orientierung besessen, und zur Not könnte sie sich auch über das Navigationsprogramm ihres Handys zurechtfinden, aber sie verstaute den Plan trotzdem sicherheitshalber in ihrem Rucksack.

Der Fußweg zum Sitio Litro Garten führte ein Stück die lebhaft befahrene Hauptstraße entlang. Sie bereute, keine Kopfbedeckung mitgenommen zu haben, denn die Sonne brannte kraftvoll herab und wurde durch den Asphalt reflektiert. Zum Glück kam die Abzweigung schon bald, die sie in eine engere und damit auch schattigere Nebenstraße führte. Hier war es zwar etwas kühler, dafür aber stand sie am oberen Absatz einer endlos scheinenden Treppe nach unten. Petra hatte sie schon darauf vorbereitet. »Du musst hier sehr viele Treppen steigen, treppauf, treppab. Immer wieder. Am besten trägst du flache und feste Schuhe, sonst wird’s noch anstrengender«, hatte ihre Freundin gesagt, und Fee hatte auf sie gehört. Dank der festen Sportschuhe fühlte sie sich trittsicher genug, die steilen Stufen abwärts zu nehmen. Zum Glück musste sie nicht die gesamte Länge bewältigen, denn schon beim zweiten Absatz sah sie seitlich den Eingang zum Orchideengarten. Wäre sie nicht darauf vorbereitet gewesen, hätte sie das schmale schmiedeeiserne Tor in der dicken Natursteinmauer glatt übersehen.

Neugierig trat sie ein und hatte sofort das Gefühl, in einer anderen, ganz eigenen Welt zu sein. Natur pur und trotzdem war die ordnende Hand eines sensiblen Gärtners überall zu spüren. Dem Plan nach zu urteilen, den sie zusammen mit der Eintrittskarte erhalten hatte, war dieses Juwel nicht besonders groß. Aber inmitten der üppigen Vegetation erschien das Paradies dennoch unendlich zu sein. Fee tastete sich Schritt für Schritt durch das Labyrinth von schmalen, geschlungenen Wegen. Jeder Winkel brachte Überraschungen mit sich. Staunend betrachtete sie Blüten von Pflanzen, die sie noch nie vorher gesehen hatte. Sie entdeckte aber auch Vertrautes. Überall summten Bienen und Hummeln, die sich hungrig an den Blütenkelchen zu schaffen machten. Sprachlos vor Bewunderung blieb sie vor einer riesengroßen Bougainvillea stehen. Die Kletterpflanze fand Halt an einer hohen Steinmauer. Ein Meer von lila Blüten ergoss sich aus unglaublicher Höhe nach unten.

»Oma, noch eins«, hörte sie plötzlich. Sie war so sehr von den betörenden Eindrücken gefesselt, dass sie die Realität um sich herum völlig ausgeblendet hatte. Natürlich war sie nicht alleine hier. Davon ging sie aus, auch wenn sie das Kind nicht sah, sondern nur hörte. Sie konzentrierte sich wieder auf ihre eigene Entdeckungstour. Bisher hatte sie die mehr als 350 verschiedenen Arten von Orchideen noch nicht ausfindig machen können, für die diese Gartenanlage bekannt war. Suchend schaute sie sich um. Etliche Hinweisschilder sollten für die nötige Orientierung sorgen, trotzdem konnte Fee die Orchideensammlung nicht finden.

»Oma, noch eins.« Das Kind quengelte nur einen kurzen Moment. Offensichtlich gab Oma sehr schnell nach.

»Komm jetzt, Lukas.« Nun hörte Fee auch die Stimme der Großmutter. Sie wäre den beiden am liebsten aus dem Weg gegangen und hätte gern die paradiesische Abgeschiedenheit weiter alleine genossen, beschloss aber, nach ihnen zu suchen, um nach dem Weg zu den Orchideen zu fragen. »Lukas, komm, Mama wartet. Wir müssen pünktlich sein, ich habe es ihr versprochen. Du weißt doch, sie hat viel zu tun.« Die Stimmen kamen näher. Fee musste nur noch die nächste Abzweigung nehmen, und schon sah sie die beiden. Sie schätzte den Jungen auf ungefähr fünf Jahre. Die Großmutter musste ca. 60 Jahre alt sein. Ungeduldig redete sie auf das Kind ein und versuchte, den Kleinen an die Hand zu nehmen.

»Nein!«, kreischte Lukas. »Ich habe Durst! Und wir haben Pedro noch nicht gesehen!«

»Er mag heute vielleicht lieber seine Ruhe haben. Kein Wunder, wenn du so schreist. Zu trinken haben wir nichts mehr, du hast deine Trinkflasche schon ausgeleert.« Fee konnte an ihrer Stimme erkennen, wie genervt sie war.

Sie trat näher und unterbrach das anstrengende Wortgefecht zwischen Oma und Enkel. »Entschuldigen Sie bitte, wie ich höre, sind Sie auch aus Deutschland. Darf ich Sie etwas fragen?«

»Oh, hallo. Ja natürlich«, antwortete die Frau. Endlich hatte sie den Jungen an der Hand. »Noch eins«, quengelte er erneut, und Fee erkannte jetzt, was er damit meinte. Seine Großmutter griff in ihre Handtasche, die sie lässig über der Schulter trug und nahm ein Bonbon heraus. Er war in leuchtend rotes Glanzpapier eingewickelt, das der Junge sofort auf den Weg warf, nachdem er das Bonbon ausgewickelt und in den Mund gesteckt hatte. Fee ärgerte sich, dass die Großmutter ihn gewähren ließ und keinerlei Anstalten machte, den Jungen dazu aufzufordern, die Folie aufzuheben. Stattdessen sah sie Fee erwartungsvoll an und wartete auf die angekündigte Frage.

»Ich suche die Orchideen, wissen Sie, in welche Richtung ich gehen muss?«

Mit ausgestrecktem Arm erklärte die Frau ihr den Weg. »Entschuldigen Sie, ich muss weiter, sonst würde ich schnell mit Ihnen die paar Schritte gehen. Aber Sie finden die Orchideen bestimmt. Sie befinden sich rechts und links von einem schmalen Weg, der gleich dort drüben beginnt. Sie sind sicher hier im Urlaub?«

»Ja. Sie doch bestimmt auch?« Fee wunderte sich. Einerseits hatte die Frau es offensichtlich eilig, andererseits wollte sie ein Gespräch führen.

»Pedro!!!«, schrie der Junge dazwischen. »Dort ist er!!«

»Na gut, dann geh noch kurz hin zu Pedro. Aber danach kommst du gleich zurück, verstanden?« Der Junge hörte den letzten Teil des Satzes schon nicht mehr, denn er hatte sich bereits von Omas Hand losgerissen und stürmte los. Fee hatte den Eindruck, dass er sich mit oder ohne Erlaubnis losgerissen hätte.

»Das kann jetzt dauern«, seufzte die Oma. »Ach, wissen Sie was, jetzt ist es auch schon egal. Wir kommen auf jeden Fall zu spät. Wollen wir vielleicht eine Tasse Kaffee zusammen trinken? Dort hinten gibt es ein kleines Café, nichts Besonderes, ganz bescheiden. Es gehört zum Garten. Kommen Sie?«

Fee nickte. Eine kleine Pause war ihr ganz recht, und außerdem hatte die Dame mit dem ungezogenen Enkelkind ihr Interesse geweckt. Wäre sie hier alleine unterwegs gewesen, hätte sie das kleine Lokal bestimmt nicht gefunden. Es lag nämlich am anderen Ende des Gartens und bestand aus einem winzigen Natursteingebäude mit einer bestuhlten Terrasse. Einen schöneren Ort für eine kleine Plauderei hätte es nicht geben können, fand Fee.

»Um Ihre Frage zu beantworten, wir leben hier. Stammen aber aus Deutschland. Ich kam mit meinem Mann und unserer damals kleinen Tochter hierher, wir haben uns in die Insel verliebt und sind hiergeblieben. Mein Enkel Lukas ist hier geboren. Wir sprechen Deutsch mit ihm, damit er von Anfang an zweisprachig aufwächst. Übrigens: ich bin Heidemarie Bauer«, fügte die Frau noch hin.

»Felicitas Norden. Aus München«, erwiderte Fee höflich. »Ich finde es gut, wenn Kinder zweisprachig aufwachsen. Gerade hier, wo viele deutsche Touristen herkommen. Vielleicht will Ihr Enkel später einmal beruflich was aus seinen Sprachkenntnissen machen.« Fee blickte suchend in die Richtung, in der sie den Jungen zuletzt gesehen hatte, kurz bevor er zu diesem Pedro losgestürmt war.

»Ach was.« Frau Bauer wedelte mit der rechten Hand nach einer Libelle, die zu nah an ihrem Gesicht vorbeiflog. »Wir kehren bald zurück. Lukas soll in Deutschland eingeschult werden. Dafür braucht er unbedingt Deutsch. Aber es ist ja auch seine Muttersprache. Meine Tochter, also seine Mutter, ist in Deutschland geboren. Sie war drei Jahre alt, als wir hierherkamen.«

Eigentlich interessierte sich Fee nicht besonders für die Geschichte der Familie Bauer. Aber sie hörte höflich zu, als ihre Gesprächspartnerin von ihren Plänen erzählte. »Wenn alles gut geht, fliegen wir schon in knapp zwei Wochen nach Deutschland. Wir stammen aus Köln. Mein Mann sucht per Internet bereits nach zwei Wohnungen. Er steht schon in Verhandlung mit einem Anbieter. Wir werden kaufen, verstehen Sie?« Diese Frau Bauer wurde Fee immer unsympathischer. Offensichtlich wollte sie angeben mit ihrer Andeutung, in Köln zwei Eigentumswohnungen kaufen zu können.

Fee beschloss, nicht weiter darauf einzugehen, obwohl sie natürlich gern gewusst hätte, für wen die zweite Wohnung vorgesehen war. Sie vermutete, für Lukas und seine Eltern. Wobei – Frau Bauer hatte bis jetzt immer nur von ihrer Tochter gesprochen, nicht von einem Schwiegersohn. Aber Fee war das im Grunde nicht wichtig.

»Wer ist denn Pedro? Ist Ihr Enkel gut aufgehoben bei ihm?«, fragte sie besorgt. Sie hätte niemals eines ihrer fünf mittlerweile erwachsenen Kinder unbeaufsichtigt gelassen. Von dem Kleinen war weder etwas zu sehen noch zu hören. Auch wenn Fee davon ausging, dass sich der Junge hier auskannte, wäre es ihr doch lieber gewesen, wenn er sich zumindest in Sichtweite befunden hätte.

Frau Bauer lachte laut auf, was Fee ziemlich unpassend fand. »Pedro ist ein Kater«, erklärte sie amüsiert, als ob Fee das hätte wissen müssen.

»Ein Kater«, wiederholte Fee. »Aha.«

»Ja, ein Kater. Um genau zu sein, ist er der heimliche Herrscher über dieses Areal. Er wohnt hier sozusagen. Niemand weiß, woher er kam und es kann sich auch keiner mehr so genau erinnern, wie lange er schon hier ist. Wahrscheinlich heißt er auch nicht Pedro. Lukas hat ihn so getauft. Der Kater wird von der Ehefrau des Gärtners versorgt, aber er würde wahrscheinlich auch ohne diesen Service hier genug zu fressen finden. Wenn Sie mit offenen Augen durch den Garten gehen, entdecken Sie ihn bestimmt. Er hat seine Lieblingsplätze, und manchmal begleitet er die Besucher auch ein Stück. In gebührendem Abstand natürlich. Mit Lukas hat er Freundschaft geschlossen. Er lässt sich normalerweise nicht von Fremden anfassen, aber zu Lukas hat er seit unserem ersten Besuch hier ein besonders vertrautes Verhältnis. Lukas kommt eigentlich nur wegen Pedro so gern hierher. Heute hätten wir ihn wohl beinahe verpasst. Zum Glück hat ihn Lukas doch noch gefunden, sonst hätte ich ihn wahrscheinlich nicht von hier wegbekommen«, erläuterte Frau Bauer.

Fee staunte. »Das ist ja eine schöne Geschichte«, sagte sie und trank ihren Kaffee aus. »Jetzt muss ich aber weiter, ich möchte zu den Orchideen, wie Sie wissen. Und Sie haben ja auch noch Ihre Pläne.« Sie verabschiedete sich und beschloss, nicht weiter über die Familie Bauer nachzudenken. Aber auf Pedro war sie trotzdem neugierig. Sie wollte die Augen offen halten, vielleicht würde sie den Kater ja entdecken. Als sie dann aber den Pfad gefunden hatte, der durch die Orchideensammlung führte, vergaß sie ihren Vorsatz. Sie war zu sehr von der herrlichen Vielfalt beeindruckt, die sich vor ­ihren Augen eröffnete. Sie entdeckte prächtige Exemplare, die sich stolz präsentierten. Es waren aber auch die kleinen, nahezu unscheinbaren Blütenstängel, die Fee in ihren Bann zogen. Sie beschloss, hierher auf jeden Fall noch einmal zurückzukommen in den nächsten Tagen, vor ihrer Rückkehr nach München. Sie musste auf jeden Fall Daniel davon überzeugen, mit ihr zusammen einen Urlaub auf Teneriffa zu verbringen. Das hier wollte sie ihm unbedingt zeigen.

Auf dem Rückweg sammelte sie die Stanniolpapiere der Bonbons auf, die der Junge achtlos hinterlassen hatte. Sie zählte 10 Stück! Und das waren nur die, die sie zufällig fand. Wie konnte man nur einem Fünfjährigen in so kurzer Zeit so viele Bonbons geben! In der Trinkflasche war bestimmt kein Wasser oder ungesüßter Tee gewesen, sondern vermutlich Limonade. Sie warf die Bonbonfolien in den Abfallkorb am Ausgang des Gartens und trat wieder hinaus ins grelle Sonnenlicht. Sie beschloss, den Weg hinunter in das Stadtzentrum zu Fuß zu gehen. Immer wieder blieb sie stehen und bewunderte die Aussicht auf das Meer. Je näher sie dem Zentrum kam, desto lebhafter wurde es auf den Straßen. Hupende Autos mussten sich den Platz auf den schmalen Straßen teilen mit riesigen Fahrzeugen der Müllabfuhr und vor allem mit Reisebussen. Fee staunte nicht schlecht, wie geschickt und routiniert die Busfahrer auf Strecken unterwegs waren, die kaum für zwei Pkws reichten, um aneinander vorbeizufahren. Ihre Füße schmerzten vom vielen Pflastertreten, als sie nach zwei Stunden Fußmarsch an der Strandpromenade ankam. Der nächsten Eisdiele konnte sie nicht widerstehen. Sie bestellte einen gigantischen Früchtebecher mit einer Extraportion Sahne und lehnte sich auf dem bequemen Stuhl zurück. Was für ein Ausblick! Obwohl es hier windstill war, türmten sich weiter draußen meterhohe Wellen auf, die donnernd in Richtung Strand rollten. Ideale Bedingungen für Surfer! Ihrem Sohn Felix würde es hier gefallen. Aber ob er nach seinem traumatischen Erlebnis so schnell wieder ein Flugzeug besteigen würde, war fraglich. Fee spürte einen Stich im Herz, als die Erinnerung in ihr hochstieg. Die Angst, die sie und Dan um ihren Sohn gehabt hatten, als sie nicht wussten, ob er den Flugzeugabsturz überlebt hatte, würde sie nie vergessen können. Sie zwang sich, tief durchzuatmen. Felix hatte alles gut überstanden. Sie brauchte sich keine Sorgen mehr zu machen. Alles war gut.

Sie schaute auf ihre Armbanduhr und erschrak. Sie hatte doch glatt die Zeit vergessen. Eigentlich hätte sie schon längst die Praxis dieses Kinderarztes aufsuchen sollen. Jetzt aber los!

Die Adresse war leicht zu finden dank des Stadtplans, den ihr Petra in fürsorglicher Voraussicht mitgegeben hatte. Die Praxis befand sich im Stadtzentrum, in einer Nebenstraße. Touristen verirrten sich vermutlich nicht oft hierher. Dementsprechend einfach waren die Gebäude gehalten. Wenn Fee genauer hinschaute, konnte sie an einzelnen Häusern deutliche Spuren von Verwitterung erkennen. Das Haus mit der Praxis machte keine Ausnahme. Bevor sie eintrat, studierte sie das Praxisschild. »Doctor Carlos Garcia, Pediatra«, las sie. Darunter stand in deutscher Sprache: Kinderarzt. Die Praxis lag im Erdgeschoss, im Obergeschoss des einstöckigen Gebäudes war offensichtlich die Privatwohnung. Das schloss Fee aus dem zweiten Klingelschild, auf dem nur Garcia zu lesen war. Die Haustür war offen, trotzdem zögerte Fee. Was waren das für laute Stimmen, die an ihr Ohr drangen? Rührte der Lärm aus der Praxis her? Angestrengt versuchte sie, die Geräusche der Straße auszublenden und sich auf die Stimmen zu konzentrieren.

»Das kannst du doch nicht machen! Zwei Wochen!«, hörte sie. Das war doch die Stimme von Carlos Garcia! Wen schrie er denn so laut und unbeherrscht an?

»Natürlich kann ich das machen!«, antwortete eine schrille Frauenstimme, keinen Deut leiser als seine. »Ich habe dir das bereits gesagt, das ist doch jetzt nichts Neues! Es geht lediglich um den Zeitpunkt!«

»Und ich habe dir von Anfang an gesagt, dass ich damit nicht einverstanden bin!«, brüllte Carlos. Ein dumpfes Geräusch ließ Fee zusammenfahren. Was war denn das? Ein Schlag? Oder war jemand gestürzt? Sollte sie wieder gehen und an einem anderen Tag wiederkommen? Aber was, wenn der Streit eskalierte und etwas Schlimmes passierte? Irgendetwas in ihrem Inneren sagte ihr, dass sie nicht wegschauen sollte. Beherzt öffnete sie die Tür zur Praxis und trat ein.

Das Bild, das sich ihr eröffnete, ließ schlagartig alle Sorgen um die Erwachsenen in den Hintergrund treten. Sofort wusste sie, worauf das Geräusch zurückzuführen war. Die beiden Streithähne schrien sich immer noch in unverminderter Lautstärke an. Keiner der beiden hatte bemerkt, dass im Flur ein kleiner Junge lag. Regungslos. Auf den ersten Blick schien er ohne Bewusstsein zu sein. Der dumpfe Schlag, den Fee gehörte hatte, rührte wahrscheinlich vom Sturz des Kindes her. Sie zögerte keine Sekunde und untersuchte den Jungen. Der Puls war zu langsam, die Atemfrequenz dafür zu hoch. Die Lage war sehr ernst. Fee konnte nicht ausschließen, dass im Augenblick sogar akute Lebensgefahr bestand. Das Gesicht war schweißnass und bleich. Plötzlich erkannte sie, wer da vor ihr lag. Lukas! Das bewusstlose Kind war der Junge aus dem Orchideenpark!

»Hallo!«, rief sie so laut, wie es ihr möglich war. Sie musste noch zweimal rufen, bis Dr. Garcia reagierte. »Hierher!«, rief sie noch mal. »Das Kind ist bewusstlos, Atmung vorhanden, Pulsfrequenz zu niedrig«, informierte sie den Kinderarzt kurz und bündig.

»Lukas! Mein Gott, was ist mit meinem Kind?«, schrie die Frau. »Carlos, so tu doch was!«

»Er ist auch mein Kind«, gab Carlos mürrisch zurück, und Fee wunderte sich, wie man in einer solchen Situation irgendwelchen Rivalitäten oder Streitigkeiten Raum geben konnte. Carlos hob seinen Sohn vom Boden auf und trug ihn auf seinen Armen in das Sprechzimmer. Dort legte er den immer noch bewusstlosen Jungen auf die Liege, griff zu seinem Stethoskop und hörte Lukas mit zitternden Händen ab. Fee hatte bis zu einem gewissen Grad Verständnis dafür, beim eigenen Kind in einem Notfall unsicher zu werden. Aber eine so große Hilflosigkeit seitens des Vaters wunderte sie irgendwie schon.

»Soll ich …?«, bot sie an.

»Wieso Sie?«, antwortete Lukas’ Mutter. »Mein … er ist der Arzt! Bitte gehen Sie, es ist jetzt unpassend.«

»Ich bin nicht als Patientin hier«, antwortete Fee so ruhig wie möglich und unterdrückte die Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, dass sie als Erwachsene wohl kaum in eine Kinderarztpraxis gehen würde, wenn sie Beschwerden hätte. »Ich bin ebenfalls Kinderärztin und könnte helfen«, bot sie erneut an. Sie beobachtete Lukas.

Die Haare klebten an der schweißnassen Stirn. Die Gesichtsfarbe war fahl, und der Junge war immer noch bewusstlos.

»Sind Vorerkrankungen bekannt?«, fragte sie die Eltern.

»Nein«, antwortete Carlos. »Oder, Martina? Du weißt doch auch nichts von einer Vorerkrankung?«

»Nein, so tu doch was!«

»Was ist das für ein Geruch?«, überlegte Fee laut. »Wie Nagellackentferner.«

»Er hat ganz bestimmt keinen Nagellackentferner getrunken«, antwortete Lukas’ Mutter. Ihre Entrüstung über diese Frage war ihr deutlich anzuhören.

»Das habe ich auch nicht gesagt.« Fee versuchte, ruhig zu bleiben. »Aber ich denke, Sie wissen, was ich meine, Carlos.«

»Ja, aber das ist unmöglich.«

»Könnte mich bitte jemand aufklären?« Die junge Frau schob Fee beiseite und stellte sich schützend vor ihr Kind.

»Martina, lass uns jetzt die Nerven behalten«, sagte Carlos schroff. Er schien seine Professionalität wiedergefunden zu haben. »Sag mir lieber, ob Lukas in letzter Zeit oft müde war? Hatte er mehr Durst als sonst? Muss er öfter auf die Toilette?«

»Mir ist nichts aufgefallen«, antwortete Martina zögerlich. Sie atmete tief durch und gab sich Mühe, sich zu konzentrieren. »Aber wenn ich genau überlege … er wirkte in den letzten Tagen oft unkonzentriert, und er wollte dauernd trinken. Viel mehr als sonst. Ich habe das nicht weiter ernst genommen. Vor ein paar Tagen hatte er Bauchschmerzen. Er hat erbrochen und hatte Durchfall. Ich dachte, das sei ein Magen-Darm-Infekt. Es ging ihm schnell wieder gut, deshalb habe ich dich nicht kontaktiert.«

»Messen Sie den Glukosewert«, wies Fee den jungen Arzt an. Carlos war im selben Augenblick ebenfalls auf diese Idee gekommen. Mit einem gezielten Griff in die Schublade des Instrumentenschranks holte er ein Blutzuckermessgerät, legte einen neuen Teststreifen ein und pikste mit der Stechhilfe in Lukas’ rechten Zeigefinger. Ein Tropfen Blut reichte aus, um den Teststreifen damit zu benetzen. Fee und Carlos blickten gespannt auf die digitale Anzeige des Geräts.

Es dauerte fünf Sekunden, bis das Ergebnis feststand: 590! Die beiden Ärzte wechselten einen vielsagenden Blick. »Gibt es hier ein Krankenhaus mit einer pädiatrischen Abteilung?«, fragte Fee.

»Natürlich«, antwortete Carlos. »Allerdings in Santa Cruz. Eine Stunde mit dem Auto entfernt. Das dauert selbst mit dem Rettungswagen zu lange.«

Martina schrie auf. »Ist es denn so­ ernst? Carlos, bitte! Unternimm doch was!«

»Haben Sie Elektrolytlösung hier?«, fragte Fee. Sie hatte den Ernst der Lage längst erkannt. Der Junge schwebte in akuter Lebensgefahr. Es sah ganz danach aus, als ob bisher niemand bemerkt hatte, dass Lukas Diabetes hatte. Wenn diese Stoffwechselstörung bis jetzt nicht behandelt wurde, waren Komplikationen zu befürchten. Sie erinnerte sich an sein Betteln nach Süßem, als sie ihn mit seiner Oma im Orchideengarten getroffen hatte. Offensichtlich hatte er viel zu viele Bonbons zu sich genommen und Unmengen von Limonade getrunken. Der Junge brauchte schnell Hilfe.

»Ja. Aber Insulin habe ich nicht hier«, antwortete Carlos besorgt.

»Dann legen wir erst die Infusion«, bestimmte Fee. »Das mache ich, und Sie stellen ein Rezept für Insulin aus.« Die besorgte Mutter wies sie an, damit sofort zur nächsten Apotheke zu laufen. »Es zählt jede Sekunde«, erklärte sie. Ohne abzuwarten, ob die beiden Eltern einverstanden waren, griff sie zur Infusionsflasche, die Carlos bereits vorbereitet hatte. Er schob den einzigen Infusionsständer, der sich in der Praxis befand, an die Liege seines Sohnes und übergab Fee die Flasche samt Infusionsbesteck.

Während Fee mit geübten Handgriffen den Zugang legte und die Infusion mit der stabilisierenden Elektrolytlösung anschloss, schrieb er das Rezept aus und übergab es der Frau, mit der er Minuten vorher noch ernsthaft gestritten hatte. Die junge Mutter hatte ihre Fassung ­inzwischen wiedererlangt. Sofort machte sie sich auf den Weg. Es dauerte 20 Minuten, bis sie zurückkam. Carlos hatte inzwischen einen Rettungswagen gerufen. Die Sanitäter waren bereits eingetroffen. Sie warteten nur noch darauf, bis Carlos seinem Kind das lebensrettende Insulin spritzen konnte, bevor sie den Jungen, so schnell es die Verkehrslage zuließ, in das Krankenhaus in Santa Cruz brachten. Carlos begleitete sein Kind im Krankenwagen.

»Möchten Sie mitkommen?«, fragte Lukas’ Mutter Fee, noch während sie in ihrer Handtasche nach ihrem Autoschlüssel suchte. »Ich fahre hinterher, bitte kommen Sie mit«, bat sie. »Ich bin viel zu aufgeregt zum Fahren. Vielleicht könnten Sie ans Steuer?«

»Gern«, antwortete Fee. Das Schicksal des Kindes lag ihr am Herzen, und sie wollte unbedingt sichergehen, dass Lukas bestmöglich behandelt wurde.

»Martina Bauer. Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Und Sie sind Kinderärztin?«, fragte Lukas’ Mutter.

Fee steuerte den Wagen sicher durch den Verkehr, den Rettungswagen hatte sie dabei immer im Blick.

»Ja. In München. Ich leite die ­Pädiatrie in der Behnisch-Klinik«, antwortete Fee.

»Wie ernst ist es?«, fragte Martina mit zitternder Stimme.

»Ich möchte Ihnen nichts vormachen.« Fee hatte es sich zum Prinzip gemacht, den besorgten Eltern ihrer kleinen Patienten immer die Wahrheit zu sagen. »Bitte werfen Sie sich nichts vor, aber es sieht so aus, als ob Ihr Junge schon seit einiger Zeit Diabetes hat. Das wurde nur von keinem bemerkt.«

»Felicitas Norden«, stellte sich Fee dann kurz und knapp vor. »Gern Felicitas«, fügte sie noch dazu. »Wie gesagt, ich bin ziemlich sicher, dass Lukas Diabetes hat. Bei Kindern ist das oft vererbt. Gibt es in Ihrer Familie vielleicht einen Zusammenhang?«

Martina überlegte. »Nein, nicht dass ich wüsste.«

»Oder in der Familie Ihres Mannes?«

»Carlos ist nicht mein Mann. Er ist Lukas’ Vater. Mehr nicht.«

»Entschuldigung, das konnte ich nicht wissen, aber das ist jetzt auch nicht wichtig.« Fee kamen die Worte ihrer Freundin Petra in den Sinn, als sie sich über ihre Zufallsbekanntschaft mit Carlos Garcia unterhalten hatten. »Sie ist die Mutter seines Kindes, aber sie sind nicht zusammen. Ich kenne sie aus dem Hotel. Sie arbeitet auch in der Tourismusbranche. Martina heißt sie. Martina Bauer. Sie ist auch Deutsche«, hatte sie erzählt.

»Kann es sein, dass es in der Familie Garcia Diabetes gibt oder einmal gab?«

»Das weiß ich nicht, da müssen Sie ihn schon selbst fragen«, antwortete Martina patzig.

»Martina, es kommt jetzt nicht darauf an, ob Sie und Carlos Streitigkeiten haben oder nicht. Jetzt ist es nur wichtig, so schnell wie möglich Klarheit zu bekommen. Für die Behandlung Ihres Jungen ist es ganz entscheidend, welchen Typ Diabetes er hat.« Sie wandte die Aufmerksamkeit nicht von der Straße ab, auch wenn sie Martinas fragenden Blick spüren konnte.

»Ich weiß es wirklich nicht«, lenkte Lukas’ Mutter ein.

Den Rest der Fahrstrecke brachten die beiden Frauen schweigend hinter sich. Jede hing bis zur Ankunft an der Klinik ihren Gedanken nach. Fee sprach ihre Beifahrerin mit Absicht nicht mehr an, als sie merkte, dass Martina stumm betete.

Die Fahrt ins Krankenhaus zog sich in die Länge. Fee war froh, dass der Krankenwagen schneller vorankam als sie mit dem kleinen PKW. Als sie endlich vor der Klinik parkte, war der kleine Patient längst in der Notaufnahme. Martina wurde sofort zu ihrem Sohn gelassen, Fee musste draußen bleiben. Es half auch nichts, als sie sich in ihrer Eigenschaft als Leiterin der Pädiatrie in der Münchner Behnisch-Klinik vorstellte. Sie musste sich fügen und beschloss, sich in der Klinik ein ­wenig umzusehen. Sie lief durch helle Flure, begegnete freundlichen Krankenschwestern und Pflegern und konnte sogar ein paar Blicke durch geöffnete Türen in Krankenzimmer werfen. Am meisten interessierte sie natürlich die Kinderstation. Deshalb folgte sie den Hinweisschildern und stand schon bald vor dem Stationszimmer der Pädiatrie. Hätte sie den leitenden Arzt getroffen, wäre sie einem Fachgespräch nicht abgeneigt gewesen, obwohl sie nicht wusste, ob sie sich in Deutsch oder Englisch hätte verständlich machen können. Aber sie begegnete ohnehin niemandem. Stattdessen entdeckte sie farbenfroh ausgestattete Bereiche, in denen sich zumindest die mobilen Kleinen aufhalten konnten. Obwohl es hier genauso wie in ihrer eigenen Kinderstation sicherlich viel Kummer, Leid und Schmerzen gab, herrschte eine fröhliche, fast ausgelassene Stimmung. Sie hoffte inständig, dass dem kleinen Lukas momentan in der Notaufnahme so weit geholfen werden konnte, dass er schon bald hier, in dieser positiv gestimmten Umgebung weiter behandelt werden würde.

Die Sorge um den Jungen trieb sie wieder zurück zur Notaufnahme. Es gab noch nichts Neues, so viel konnte und durfte man ihr sagen. Sie beschloss, nach draußen zu gehen und in Sichtweite zu Martinas Auto zu bleiben. Sie fand eine schattige Bank und hatte die Idee, die Wartezeit dort zu verbringen. Der Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass gerade jetzt ein günstiger Moment war, ihren Mann Daniel telefonisch zu erreichen.

»Wie schön, mein Feelein«, meldete er sich erfreut. »Wie geht es dir? Genießt du auch schön brav deinen Urlaub? Du sollst dich erholen, das war mein Auftrag an dich, vergiss das nicht.«

Er lachte dabei, und sie wusste, dass es ihm ernst war. In kurzen Worten erzählte sie ihm von den jüngsten Ereignissen.

»Das dachte ich mir schon. Du kannst einfach nicht aus deiner Haut. Dich könnte man wahrscheinlich an das hinterste Ende der Welt schicken, und wenn es dort auch nur ein einziges krankes Kind gäbe, du würdest es finden und dich um das Kind kümmern.« Sie hörte einen leisen Vorwurf.

»Was hätte ich denn machen sollen?«, fragte sie. »Du hättest ganz genauso gehandelt.«

»Ja, natürlich, Liebes. Aber versprich mir, dass du die Behandlung des Jungen den dortigen Ärzten überlässt. Und seinem Vater. Er ist schließlich selbst Kinderarzt. Damit sind ja wohl die besten Voraussetzungen gegeben. Du kannst dich also beruhigt wieder in deinem Liegestuhl am Pool bei deiner Freundin zurücklehnen und die Ruhe genießen. Versprichst du mir das?«

»Nein. Natürlich verspreche ich nichts. Aber ich gebe mir Mühe«, gab sie schmunzelnd zurück.

»Ich vermisse dich, mein Feelein«, hörte sie ihn sagen. »Mein Opfer muss belohnt werden. Ich erwarte eine erholte Frau nach deiner Rückkehr, verstanden?«

»Ach, du …« seufzte sie. »Ich vermisse dich auch. Hier ist es so schön. Du müsstest das Meer sehen. Und die Vegetation! Es würde dir bestimmt auch gut gefallen. Wollen wir hier im nächsten Jahr zusammen Urlaub machen?«

»Warum nicht? Aber jetzt bist erst einmal du dran. Mach dir eine wunderschöne Zeit und komm gesund zurück in meine Arme. Ich küsse dich, Feelein. Entschuldige, ich muss wieder. Es gab einen Notfall heute, ich muss noch mal in den OP.«

»Ja, natürlich, ich muss auch Schluss machen, ich sehe gerade die Eltern des Kleinen aus dem Krankenhaus kommen. Viel Erfolg bei der OP und … ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch, Fee. Mehr als alles auf der Welt. Pass auf dich auf«, sagte er zärtlich, bevor er auflegte.

»Er ist bei Bewusstsein.« Carlos hatte ihre Frage erst gar nicht abgewartet. »Wir hatten recht. Der HbA1c-Wert liegt bei 14,1, viel zu hoch.«

»Der Blutzucker-Langzeitwert«, erklärte Fee mit einem Blick zu Martina. Sie hatte ihren fragenden Gesichtsausdruck richtig gedeutet. »Dann ist er also tatsächlich in ein diabetisches Koma gefallen.«

»Ja, und es war ein Glücksfall, dass Sie gerade anwesend waren, als es passierte.« Carlos schluckte. Er war tief bewegt. »Ich weiß nicht, ob ich so schnell darauf gekommen wäre.«

»Doch, das wären Sie bestimmt.« Sie legte aufmunternd eine Hand auf seine Schulter. »Ich hatte ja am Vormittag schon das Vergnügen, ihn zusammen mit seiner Großmutter im Orchideengarten zu treffen und habe mitbekommen, dass er so viel Süßes gegessen hatte. Sonst wäre ich vielleicht erst etwas später auf die richtige Spur gekommen.«

»Meine Mutter hat ihm wieder Süßes gegeben?«, warf Martina ein. Sie standen bereits wieder an ihrem Fahrzeug. Carlos setzte sich ans Steuer, und die beiden Frauen nahmen auf der Rückbank Platz. Fee konnte seinen Blick im Rückspiegel auffangen. Sie sah seine Sorge. Aber sie erkannte auch noch etwas anderes. Seine Liebe! Fee wusste in diesem Moment, dass dieser Mann unendlich tiefe Liebe für Martina und den gemeinsamen Sohn empfand. Ihr fielen die Probleme wieder ein, die diese beiden jungen Menschen miteinander hatten und hoffte inständig, dass sie die Hindernisse aus dem Weg räumen könnten.

»Ich fasse es nicht!« Martinas Ausruf lenkte Fee von ihren Gedanken ab. »Wie oft habe ich es ihr schon gesagt, dass sie ihm nicht dauernd Bonbons geben soll. Wahrscheinlich hat sie ihm zu Mittag auch wieder seine geliebten Pfannkuchen gemacht, und zu trinken gab es sicher wieder Orangenlimonade.«

»Naja, auch für einen gesunden Jungen wäre das nicht die optimale Ernährung, aber für einen Diabetiker kann das tatsächlich fatal enden. Zur Ehrenrettung Ihrer Mutter muss ich aber anführen, dass sie genauso wenig wie Sie als Mutter von der Krankheit wusste.« Fee versuchte, die Wogen zu glätten.

»Das schon. Aber mein Junge ist die meiste Zeit bei meiner Mutter, weil ich ja arbeiten muss. Das heißt, er wird ständig falsch ernährt. Wahrscheinlich ist sie sogar daran schuld, dass mein Lukas überhaupt Diabetes bekommen hat.« Martina krampfte die Hände ineinander und schluckte tapfer ihre Tränen hinunter.

Fee beschloss, sich nicht weiter einzumischen. Sie bat darum, an der Finca ihrer Freundin abgesetzt zu werden und verabschiedete sich von den beiden.

Sie war überzeugt davon, dass die Sache für sie damit erledigt war. Petra wartete schon mit dem Abendessen auf sie. Die beiden Frauen saßen nach der Mahlzeit noch lange auf der Terrasse und genossen die laue Sommernacht.

Fee empfand es als Wohltat, als sie spürte, wie ihre innere Anspannung nach und nach abfiel.

*

»Soll ich dich bei deiner Mutter vorbeibringen, bevor wir den Teddybär und ein paar Sachen für Lukas aus eurer Wohnung holen und dann wieder zu ihm fahren?«, fragte Carlos. Er konzentrierte sich auf den Straßenverkehr, aber seine Gedanken waren ständig bei seinem kleinen Sohn.

Martina saß wie versteinert auf dem Beifahrersitz, die Hände ineinander verkrampft. »Ja, aber nur kurz. Ich will meine Eltern informieren. Aber ich muss ihnen auch sagen, dass es so nicht weitergehen kann. Meine Mutter ist schuld daran, was heute passiert ist.«

»Nein, das kannst du so nicht sagen, und das weißt du auch. Wir sind genauso dafür verantwortlich. Es hätte uns längst auffallen müssen, dass Lukas so viel Durst hat und dass er in letzter Zeit häufig müde war.«

»Wir? Du meinst mich! Wann siehst du Lukas denn schon. Du hast ja nie Zeit für ihn!« Der Vorwurf in Martinas Stimme war nicht zu überhören.

»Das kann ich dir nur zurück­geben!«, blaffte Carlos. »Wenn du dich öfter mal selbst um unseren Sohn kümmern würdest, bräuchtest du ihn nicht so oft bei deinen Eltern abzugeben.«

»Du hast ja leicht reden!«, rief sie schrill. »Der Herr Vater nimmt seine Pflichten nur dann ernst, wenn er gerade mal Zeit und Lust dafür hat. Wie ich das mit meinem Job hinkriege, ist dir doch egal.«

»Du weißt genau, dass das nicht stimmt. Ich bin nun mal einer der wenigen Kinderärzte hier auf der Insel, und ich kann eben nicht so einfach über meine Zeit bestimmen wie du. Als wir unsere Vereinbarung trafen, wer von uns beiden sich wann um Lukas kümmern solle, hast du selbst gesagt, dass du freiberuflich tätig bist und dass du dir deine Zeit frei einteilen kannst. Außerdem biete ich dir immer an, Lukas zu mir zu holen, sobald ich Zeit für ihn habe. Aber du lehnst ja fast immer ab!« Carlos musste sich sehr beherrschen, um nicht noch lauter zu werden. Die Angst um seinen Sohn saß ihm noch tief in den Knochen. Als Arzt wusste er, dass die Situation sehr ernst gewesen war, und es musste in der Zukunft auf jeden Fall etwas getan werden, damit so etwas nicht wieder vorkam. Seine Nerven lagen blank.

Martina ging es nicht viel anders. Noch nie hatte sie sich so hilflos gefühlt wie in dem Augenblick, als ihr kleiner Liebling bewusstlos im Flur lag. Die Zeit, bis klar war, was ihm helfen konnte, hatte sich unendlich lange hingezogen. Auch sie war am Ende ihrer Kräfte.

»Soll ich mit reinkommen?«, fragte Carlos versöhnlich gestimmt, als er das Auto vor dem Wohnhaus von Martinas Eltern parkte.

»Nein, bitte warte hier. Ich brauche nicht lange«, erwiderte Martina.

Das Gespräch mit ihren Eltern verlief kurz und heftig. Sie ließ ihre verblüffte Mutter erst gar nicht ­richtig zu Wort kommen. »Lukas liegt im Krankenhaus, und du bist schuld«, schrie sie. Ihre Stimme überschlug sich mehrmals, während sie weitersprach. »Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst ihm nicht so viel Süßes geben. Jetzt hast du die Quittung! Mein Kind hat Diabetes!« Sie schlug die Hände vors Gesicht. Ihre Tränen konnte sie jetzt nicht mehr zurückhalten.

»Um Himmels willen, was ist hier eigentlich los?« Die Stimme ihres Vaters drang aus dem Wohnzimmer.

Seine schmerzenden Kniegelenke hinderten ihn daran, sich aus seinem Sessel zu erheben und in den Flur zu seiner Frau und seiner Tochter zu kommen. »Was ist mit Lukas? Kommt rein und sprecht mit mir!«

»Keine Zeit, Papa!«, rief Martina. »Ich muss nach Hause, ein paar Sachen holen, dann fährt mich Carlos wieder ins Krankenhaus zu meinem Kind. Wir sprechen uns noch!« Sie drehte sich um und knallte die Haustür hinter sich zu.

»War das nötig?«, fragte Carlos, als sie mit gerötetem Gesicht und keuchend vor Aufregung wieder neben ihm saß. Martina hatte so laut und heftig mit ihrer Mutter gestritten, dass er ihre Stimme bis nach draußen gehört hatte.

»Ja, das war dringend nötig«, entgegnete sie. »Das ändert zwar nichts an der Situation, aber es war längst überfällig, dass ich meiner Mutter die Meinung sage.«

»Und ich dachte, du wärst mit deinen Eltern ein Herz und eine Seele. Jetzt, wo du mit ihnen sogar nach Deutschland zurückkehren willst. Wie soll das denn gehen, wenn ihr euch dauernd streitet?«

»Das lass mal mein Problem sein«, gab Martina patzig zurück. »Jetzt fahr schon los, ich will so schnell wie möglich wieder bei Lukas sein.«

Wenig später standen sie wieder am Krankenbett ihres Kindes. Lukas schlief. Er sah erschöpft und mitgenommen aus. Carlos machte sich auf die Suche nach einem Arzt, um Informationen über den Stand der Dinge zu bekommen. Es war mittlerweile spät geworden. Nachts gab es nur einen einzigen Arzt, der für vier Stationen zuständig war. Dem blassen Doktor war seine Müdigkeit anzusehen. Aber er gab sich beim kurzen Gespräch mit Carlos Mühe, wenigstens ein paar Infos aus der Krankenakte mitzuteilen. Normalerweise hätte er den besorgten Vater abgewimmelt und auf den nächsten Tag vertröstet, wenn der zuständige Stationsarzt wieder im Dienst war. Aber als Carlos sich als Vater und Kinderarzt vorstellte, gab der Kollege nach. Er hatte jedoch nicht viel Neues zu berichten. Der Junge sei über den Berg, berichtete der Diensthabende. Die Insulinbehandlung hatte angeschlagen, die aktuellen Blutzuckerwerte seien gesunken. Wie man langfristig weiterverfahren würde, könne er jetzt noch nicht sagen. Es müsse ein Facharzt für Diabetologie hinzugezogen werden, der sich mit Zuckerkrankheit bei Kindern besonders gut auskenne. Leider gebe es keinen Arzt mit der entsprechenden Fachzusatzausbildung im hiesigen Krankenhaus. »Soweit ich informiert bin, will die Kinderklinik morgen nach einem Spezialisten suchen, der kurzfristig hierherkommen kann«, fügte der Arzt hinzu. »Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muss weitermachen.«

Nachdenklich kehrte Carlos zu Martina und Lukas zurück. Ein Kollege, der sich auf Diabetes im Kindesalter spezialisiert hatte – er kannte keinen. Er wusste auch nicht, ob es auf der Insel wenigstens einen Internisten mit dem Spezialgebiet Zuckerkrankheit bei Kindern gab. »Im Moment ist alles gut«, sagte er leise zur Mutter seines Kindes. »Morgen werden wir mehr wissen.« Von der Suche nach einem Spezialisten sagte er nichts. Er wollte Martina nicht noch mehr beunruhigen. »Wir können im Augenblick nichts tun, wollen wir nicht nach draußen gehen? Soll ich dich heimfahren?«

Martina schaute auf ihre Uhr. Mittlerweile war es weit nach Mitternacht. Sie wollte nicht nach Hause, sondern gleich bei Tagesanbruch wieder bei ihrem Kind sein.

»Dann bleiben wir hier. Wir warten gemeinsam, bis die Sonne aufgeht. Komm mit«, forderte Carlos sie auf. Sanft führte er sie die spärlich beleuchteten Krankenhausflure entlang. Es herrschte eine gespenstische Stille. Als sie beim Nachtpförtner vorbeiliefen und ins Freie traten, kam es ihnen vor, als wären sie wieder in der Wirklichkeit gelandet. Es waren um diese Uhrzeit nicht viele Autos und Busse auf den Straßen unterwegs. Aber die typischen Geräusche einer lebendigen Stadt waren trotzdem zu hören. Auf dem Weg zum Auto kamen sie an ­einer Bank vorbei. Es war dieselbe Bank, auf der Felicitas Norden vor einigen Stunden gesessen hatte, als sie auf Carlos und Martina wartete.

»Wollen wir uns setzen?«, fragte Carlos. Sein Zorn, seine Aufregung und vor allem seine Angst hatten sich zwischenzeitlich gelegt. Besorgt war er immer noch, und er wusste ganz genau, dass sich das Leben seines Kindes mit dem heutigen Tag massiv verändert hatte. Für alle Zeiten. Diabetes ist eine chronische Stoffwechselerkrankung. Es würde einige Tage dauern, bis man herausgefunden hatte, welche Kategorie der Zuckerkrankheit vorlag. Erst dann würde man das weitere Vorgehen festlegen und präzisere Prognosen treffen können. Wenn es gut lief, hatte Lukas Diabetes Typ 2. Das würde bedeuten, dass mit einer radikalen Änderung der Lebensgewohnheiten wirksam dagegengehalten werden könnte. Carlos wusste aber auch, dass es für einen kleinen Jungen nicht ganz einfach sein würde, auf vieles zu verzichten, was für ihn bisher ganz normal gewesen war. Und das alles gerade jetzt, wo die Entscheidung gefallen war, dass Lukas nach Deutschland übersiedeln sollte. Weit weg von ihm, seinem Vater.

»Du sagst ja gar nichts.« Martina riss ihn aus seinen Gedanken. Sie saßen nebeneinander auf der Bank. Für ein Paar, das keines war, saßen sie eigentlich zu nah aneinander. So sehr sie sich in den vergangenen ­Tagen gestritten hatten und so schlimm ihre Auseinandersetzungen am heutigen Nachmittag auch waren – im Augenblick fühlten sie sich zueinander hingezogen. Sie spürten, dass sie sich in ihrer gemeinsamen Sorge um Lukas gegenseitig Kraft geben konnten. Und das tat irgendwie gut. Carlos gab seinem inneren Impuls nach und legte seinen Arm schützend um Martinas Schultern. Erfreut stellte er fest, dass sie es geschehen ließ. Sie legte sogar ihren Kopf etwas zur Seite. Ihre raspelkurzen hellblonden Haare kitzelten ihn am Hals. Sanft streichelte er ihren Arm. »Es wird alles gut werden, Martina. Wir bekommen das gemeinsam in den Griff, hörst du?«, murmelte er in ihr Ohr. Sie antwortete nicht. Ihre regelmäßigen Atemzüge verrieten ihm, dass sie eingeschlafen war. Es war ganz gut so, dass sie seine letzte Bemerkung nicht mehr bewusst mitbekam, denn gerade das »Gemeinsam«, das war ja das große Problem zwischen ihnen. Wenn er Martina nicht umstimmen konnte, war klar, dass er seinen Sohn dann nur noch sehr selten zu Gesicht bekommen würde – wenn überhaupt.

Er kam ins Grübeln. Wie konnte es nur so weit kommen, dass sie als Paar ihre Chancen verspielt hatten? Martina, Lukas und er als Familie – dieser Traum, war er zu schön gewesen, um wahr zu werden?

Während Martina, vertrauensvoll an ihn gelehnt, schlief, ließ Carlos die letzten Jahre ihrer gemeinsamen Beziehung in Gedanken Revue passieren. Er hatte die bildhübsche Martina vor sechs Jahren bei einem Surfkurs kennengelernt. Vom ersten Moment an zog sie ihn in ihren Bann. Sie erschien ihm wie ein Engel, der nur deshalb vom Himmel herabgestiegen war, um sein Herz zu stehlen. Ihr Spanisch ließ einen Akzent erahnen, also nahm er an, sie sei eine deutsche Touristin. Zum Glück beherrschte er die deutsche Sprache, denn als hiesiger Kinderarzt wurde er häufig von Touristen aus Deutschland mit ihren kranken Kindern konsultiert. Da die Eltern selten Spanisch sprachen, hatte er sich schon bald dazu entschlossen, Deutsch zu lernen. Jetzt war er besonders froh über seinen Entschluss, denn er hatte mit seiner Vermutung voll ins Schwarze getroffen.

»Sie surfen schon gut, das ist sicher nicht Ihr erster Kurs, oder?« Das waren seine ersten Worte an sie. Noch am selben Abend saßen sie zusammen in einer Bar an der Strandpromenade. Ihre strahlend blauen Augen, das kurze blonde Haar, ihr lebhaftes Lachen und ihre positive Ausstrahlung verzauberten ihn. Dass sie auch noch schlank und sportlich war, gefiel ihm besonders gut. Er selbst war athletisch gebaut, und das kam nicht von ungefähr. Da er als vielbeschäftigter und engagierter Arzt nicht oft Gelegenheit hatte, sich regelmäßig sportlich zu betätigen, hatte er sich in seiner Wohnung über der Praxis einen kleinen privaten Fitnessbereich mit verschiedenen Geräten eingerichtet. Immer wenn er Zeit hatte, war er auf dem Heimtrainer, Crosstrainer oder dem Rudergerät und dem Laufband zu finden.

Noch am selben Abend waren sie beim vertrauten Du angelangt. Er hatte jede Gelegenheit genutzt, ihre Hand zu berühren, und sie hatte sich nicht dagegen gewehrt. Den ersten Kuss gab es vor ihrer Haustür, nachdem er sie heimbegleitet hatte. Er war glücklich darüber, dass sie keine Touristin war, sondern hier wohnte wie er. Sie hatte ihm erzählt, dass sie als dreijähriges Kind zusammen mit ihren Eltern nach Teneriffa gekommen war und seither hier lebte. Jetzt war sie 24 Jahre alt und verdiente ihr Geld als Kauffrau im Hotel- und Tourismusbereich. Seit Kurzem hatte sie eine eigene kleine Wohnung in der malerischen Altstadt von Puerto de la Cruz. Er nahm ihre Einladung auf einen letzten Drink gerne an. Und dann war er nach ihrem ersten Kuss in ihrer Wohnung gelandet und einfach nur glücklich gewesen.

Sie hatten eine heftige und sehr leidenschaftliche Affäre miteinander. Für eine feste Beziehung fühlte sie sich noch zu jung, und auch er war zunächst nicht darauf aus gewesen, in der attraktiven Martina eine künftige Ehefrau zu sehen. Sie genossen ihre gemeinsamen Momente und fühlten sich unendlich frei und glücklich.

Doch plötzlich änderte sich alles. Eines Abends stand Martina mit verheulten Augen vor seiner Tür. Schluchzend erzählte sie ihm, sie sei schwanger. Nach der ersten Überraschung machte sich in Carlos ein unbändiges Glücksgefühl breit. Er als Vater! Bisher hatte er noch keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, eine Familie zu gründen. Aber wenn es das Schicksal so wollte, dann sollte es eben so sein. Er musste nicht viel mehr tun, als Martina zu versichern, dass er zu seiner Verantwortung stehen würde. Etwas anderes kam für ihn gar nicht infrage. Für Martina kam sein Statement überraschend. Sie hatte befürchtet, dass er sich irgendwie aus der Affäre ziehen würde. Dass er sich zu ihr und dem Kind bekennen wollte, war für sie ein großes Geschenk. Aus Martina und Carlos wurde ein Paar, das sich auf die gemeinsame Verantwortung für ein Kind riesig freute. Martina stimmte zu, schon bald zu ihm zu ziehen. Das Zimmer mit den Fitnessgeräten sollte zum Kinderzimmer umgestaltet werden. Martina hätte für einige Jahre ihren Beruf an den Nägel hängen können. Sie malten sich die Zukunft in rosa Farben aus. Auch eine Hochzeit tauchte in den Plänen auf. Aber erst einmal sollte das gemeinsame Kind auf die Welt kommen.

Seufzend lehnte sich Carlos ein wenig zurück, ohne Martina zu wecken. Sie schlief immer noch in seinem Arm. Ach, wenn er die Geschehnisse, die dann gekommen waren, doch rückgängig machen könnte. Das Schlimmste für ihn war, dass er es war, der ihr gemeinsames Glück zerstört hatte. Sein Inneres sträubte sich gegen die Erinnerung, aber es war nun einmal nicht mehr zu ändern. Sein Fehltritt gehörte unauslöschlich zu seinem Leben. Heute konnte er sich nicht mehr erklären, warum er den Verführungskünsten seiner damaligen jungen Sprechstundenhilfe erlag. Martina war noch nicht zu ihm gezogen, und Helena arbeitete erst seit zwei Wochen bei ihm. Er hatte ihre heißen Blicke natürlich mitbekommen, verhielt sich ihr gegenüber aber immer korrekt. Bis auf dieses eine Mal. Der letzte kleine Patient hatte mit seiner Mutter gerade die Praxis verlassen. Er war mit Helena allein. Anstatt, wie es ihre Aufgabe gewesen wäre, das Sprechzimmer aufzuräumen, legte sie es darauf an, ihn zu verführen. Viel zu nah kam sie an ihn heran. Ihr üppiger Busen streifte wie zufällig seinen Arm. Er wollte ein paar Schritte zurücktreten, aber da hatte sie schon ihre Hand direkt auf seinen Schritt gelegt. Ihr Griff war sanft und kräftig zugleich. Sein Körper reagierte wie von selbst. Im Nachhinein war ihm klar, dass er in diesem Moment den größten Fehler seines Lebens gemacht hatte. Anstatt sie zurückzuweisen und sich ihrem fordernden Griff zu entziehen, ließ er sie gewähren. Nur einen Moment – dann schaltete sich sein Gehirn aus.

Er küsste ihre vollen Lippen, während seine Hände über ihren Rücken hinunter zu ihrem Po glitten. Minuten später fanden sie sich in leidenschaftlicher Umarmung auf dem Behandlungstisch wieder.

Er konnte es sich nicht verzeihen, aber es war nun mal geschehen.

Als er damals aus dem kurzen Rausch der Leidenschaft erwacht war, machte er sich schwere, bittere Vorwürfe. Wie hatte das nur passieren können? Diese Frage stellte er sich immer wieder, ohne eine Antwort darauf zu finden. War er denn wirklich so schwach? Oder war er einfach zu leichtlebig? Bisher hatte er nur wenige Affären gehabt, die er nicht weiter ernstgenommen hatte. Eine feste Bindung war er vor seiner Zeit mit Martina noch nie eingegangen, daher hatte er sich über das Thema Treue auch nie den Kopf zerbrochen. Aber jetzt war er in einer festen Beziehung, er wurde Vater! Das war doch etwas ganz anderes.

Wie sollte er sich verhalten? Sollte er Martina seinen Fehltritt gestehen, oder konnte er hoffen, dass der Sex mit seiner Sprechstundenhilfe unentdeckt bleiben würde? Nein, das kam nicht infrage für ihn. Er wusste, dass eine Beziehung ohne absolute Ehrlichkeit als Basis keine Chance hatte.

Später, und auch jetzt im Rückblick, überlegte er, ob alles anders gekommen wäre, wenn er sich sofort mit Martina ausgesprochen hätte. Aber es war nun mal anders gekommen, und das war nicht mehr zu ändern. Noch bevor er selbst mit Martina sprechen konnte, hatte sie es von der Sprechstundenhilfe erfahren. Helena hatte sich mehr ­versprochen als einen One-Night-Stand. Sie wäre einer ernsten Beziehung mit ihm nicht abgeneigt gewesen. Aber Carlos hatte ihr noch am selben Tag seines Fehltritts gekündigt und sie für die restliche Zeit der Kündigungsfrist freigestellt. Sie war enttäuscht, zornig und wollte Rache!

Es schmerzte Carlos immer noch, wenn er sich an Martinas Tränen, ihre Vorwürfe und ihren Schmerz erinnerte. Noch bevor er sie um Verzeihung bitten konnte, hatte sie sich von ihm getrennt. Bis zur Geburt ihres gemeinsamen Sohnes ließ sie keinen Kontakt zu. Seine Anrufe drückte sie weg. Wenn er vor ihrer Wohnung stand, klingelte oder klopfte, machte sie nicht auf. Seine Nachrichten übers Handy ließ sie unbeantwortet. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Trennung zu akzeptieren. Und das war schrecklich gewesen.

Von der Geburt seines Sohnes erfuhr er von Martinas Mutter. Ohne Martinas Wissen hatte sie ihn angerufen und ihn mit kurzen Worten davon unterrichtet, dass er jetzt ­Vater war. Er kaufte einen großen Strauß Rosen und besuchte die Mutter seines Kindes in der Hoffnung, dass er das Baby sehen und vielleicht sogar in den Arm nehmen durfte. Sie erlaubte es ihm tatsächlich. Darüber war er mehr als glücklich. Er wusste, das war nicht selbstverständlich. An das überwältigende Gefühl konnte er sich auch jetzt noch, fünf Jahre danach, erinnern. Es hatte ihn tief in seinem Herzen getroffen und danach sein Inneres überflutet. Sein Baby in seinem Arm! Gleichzeitig war er traurig, dass er die Chance auf ein glückliches Familienleben verspielt hatte.

»Wovon träumst du denn gerade?« Martinas verschlafene Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Umständlich schälte sie sich aus seinem Arm. »Wie spät ist es denn? Oh, fast fünf Uhr. Es ist ja auch schon hell!«

Carlos war so tief in seine Erinnerungen versunken, dass er das erste zarte Licht der Dämmerung gar nicht wahrgenommen hatte. Er hatte auch das laute Zwitschern der Vögel nicht gehört.

»Hast du auch ein bisschen geschlafen?«, fragte sie. Hörte er einen Anflug von Fürsorge aus ihrer Stimme?

»Ja«, log er, denn er war sich vollkommen sicher, dass sie seine Wehmut spüren würde, wenn er ihr von seinem gedanklichen Ausflug in die Vergangenheit erzählt hätte. Er wischte sich mit der Hand über die Augen, als ob er die Schatten der Erinnerung damit vertreiben könnte. »Komm, lass uns reingehen. Ich hole uns am Automaten einen Kaffee. Vielleicht lassen sie uns auch schon zu Lukas ins Zimmer«, schlug er vor.

*

Auch Fee war an diesem Morgen schon früh wach. Es war spät geworden am Vorabend, aber das änderte nichts daran, dass sie voller Tatendrang um kurz nach sechs Uhr aus dem Bett sprang. Durch das weit geöffnete Fenster sog sie die frische Luft gierig in ihre Lungen. Sie ließ ihren Blick über die gepflegte Gartenanlage schweifen und wunderte sich erneut darüber, wie Petra es schaffte, trotz ihrer Arbeit im Hotel den Garten so perfekt zu pflegen. Sie dachte an ihr eigenes Zuhause in München. Sie dachte an Dan! Wie schön wäre es doch, wenn sie beide gemeinsam den Zauber des neuen Tages genießen könnten. Spontan griff sie zu ihrem Handy und rief ihn an.

»Was machst du denn schon so früh?« Seine Stimme klang so, als ob sie ihn aus dem Tiefschlaf gerissen hätte. »Wie schön, dass du anrufst, mein Feelein. Geht es dir gut?«

»Ja, das schon. Nur du fehlst.« Sie zog sich wieder in ihr Bett zurück und zog die Decke bis über ihre Schultern. Weder sie noch Dan achteten auf die Zeit, während sie miteinander telefonierten. Erst als es Daniel auffiel, dass er schon fast zu spät dran war, um pünktlich in die Behnisch-Klinik zu fahren, beendeten sie das Telefonat.

Beschwingt stand Fee auf, duschte und zog sich an. Auf dem Weg in die Küche begegnete sie Petra. »Ach, jetzt wollte ich dich mit einem Frühstück überraschen, aber wie ich sehe, bist du auch schon fit. Bewundernswert. Du hast doch Urlaub, wieso schläfst du denn nicht mal aus?«, fragte Petra amüsiert.

»Hast du noch genug Zeit? Können wir zusammen frühstücken?«, erwiderte Fee hoffnungsvoll und freute sich, als Petra nickte. Wenig später saßen sie draußen im Garten, jede einen Pott Kaffee vor sich, etwas frisches Obst, eine Schale Nüsse. Für frische Brötchen war es viel zu früh, der Bäcker um die Ecke hatte noch gar nicht geöffnet. Fee fröstelte leicht. Zum Glück hatte sie ihre leichte Strickjacke mit nach draußen genommen.

»Ja, um diese Tageszeit ist es noch etwas frisch«, bemerkte Petra. »Aber ich denke, heute wird ein schöner und sonniger Tag. Was hast du vor? Hast du konkrete Pläne?«, wollte sie wissen.

Fee überlegte. Der Botanische Garten stand noch auf ihrem Urlaubsprogramm. Dafür wollte sie einen ganzen Tag einplanen. Genau wie für einen Besuch des berühmten Loro Parques. Sie war zwar nicht unbedingt eine Freundin von Tierhaltung in Zoos, aber die dortige Papageien-Sammlung sollte etwas ganz Besonderes sein. »Hmh … ich denke, ich besuche die Altstadt von Puerto de la Cruz, mache ein bisschen die Läden unsicher, esse einen riesigen Eisbecher und schlendere dann die Strandpromenade entlang«, plante sie stattdessen. Sie hatte Lust auf das entspannende Gefühl, sich einfach nur treiben lassen zu können. »Und weil das alles nicht eilt, werde ich den Vormittag an und in deinem Pool verbringen, wenn es dir recht ist.«

Nachdem Petra das Haus in Richtung ihres Arbeitsplatzes im Hotel verlassen hatte, setzte Fee ihren Plan sofort in die Tat um. Ausgestattet mit ihrem Buch und einer weiteren Tasse Kaffee ließ sie sich in den Liegestuhl sinken und genoss ihren Urlaub.

»Señora, entschuldigen Sie, es ist Besuch für Sie da.« Fee hatte gar nicht gemerkt, dass sie eingeschlafen war. Als sie aufwachte, blickte sie in ein runzliges Gesicht. Erschrocken fuhr sie hoch und wäre beinahe mit dem Mann zusammengestoßen. »Wer sind Sie?«, fragte sie so ruhig, wie es ihr möglich war.

»Entschuldigen Sie«, wiederholte der alte Mann. »Ich bin Mario, der Gärtner. Und, wie gesagt, Sie haben Besuch.«

Fee sprach ihre Frage nicht aus, wer sie denn hier besuchen wollte. Stattdessen überprüfte sie den Sitz ihres geblümten Sommerkleids und stand auf. Noch bevor sie sich bei dem Gärtner bedanken konnte, war er auch schon wieder bei seiner Arbeit. Damit hatte sich für sie zumindest diese eine Frage geklärt, wie es sein konnte, dass der Garten sich in einem derart schönen Zustand befand.

»Verzeihen Sie, dass ich einfach so vorbeikomme«, hörte sie eine bekannte Stimme rufen. Beim Näherkommen erkannte sie ihn. Ihr Besucher war niemand anders als Carlos Garcia. Fee wusste nicht so genau, ob sie sich über sein Erscheinen freuen sollte. Erst gestern noch war sie überzeugt davon gewesen, dass für sie der ­medizinische Notfall abgeschlossen sein würde. Gleichzeitig war sie neugierig darauf, was der Kinderarzt von ihr wollte.

»Schon gut«, antwortete sie freundlich und lächelte ihn an. Sie lud ihn ein, auf der Terrasse Platz zu nehmen und holte Kaffee aus der Küche.

»Ich weiß, Sie wollen Ihre Ruhe«, begann Carlos. »Darf ich Sie trotzdem etwas fragen?«

»Selbstverständlich, was kann ich denn für Sie tun?«, antwortete Fee, ohne auf seine erste Bemerkung einzugehen.

»Ich komme gleich zur Sache. Kennen Sie sich aus mit der Behandlung von Diabetes bei Kindern?«

Fee überlegte. Als Leiterin der Pädiatrie in der Behnisch-Klinik war sie schon einige Male mit dem Thema Diabetes mellitus bei Kindern konfrontiert gewesen. Sie wusste, dass derartige Stoffwechselstörungen eine fachärztliche Betreuung erforderlich machten, und sie konnte sich durchaus vorstellen, dass es hier auf Teneriffa keinen entsprechenden Experten gab, denn sie wusste, dass die Stoffwechselerkrankung bei Kindern eher selten vorkam. Eine Praxis mit einer solchen Spezialisierung würde sich auf einer relativ kleinen Insel vermutlich nicht lohnen. Sie ahnte, worauf Carlos hinauswollte und war hin- und hergerissen. Wenn sie jetzt ehrlich war und über ihre Kompetenz auf diesem Gebiet sprach, würde sie mit Gewissheit in den nächsten Tagen wenig Zeit für das haben, was für sie einen erholsamen Urlaub ausmachte. Andererseits – es war für sie gar keine Frage. Natürlich wollte sie helfen.

»Ja«, antwortete sie deshalb. »Was brauchen Sie von mir?«

Zwei Stunden später betrat sie an der Seite von Carlos Garcia erneut das Krankenhaus in Santa Cruz. Zielstrebig erreichten sie das Arztzimmer der Kinderstation. »Das ist Frau Doktor Norden aus Deutschland. Genauer aus München. Sie ist die Leiterin der Pädiatrie in der dortigen Behnisch-Klinik, und sie hat Erfahrung in der Behandlung von Diabetes mellitus«, stellte Carlos sie dem verblüfften Stationsarzt vor.

»Das ging jetzt aber schnell. Wir haben gerade nach einer Möglichkeit gesucht, einen Kollegen aus Madrid herfliegen zu lassen. Aber das erübrigt sich dann ja. Willkommen im Team, Frau Dr. Norden«, antwortete der Stationsarzt in einwandfreiem Deutsch.

Bevor Fee Einwände erheben konnte, drückte man ihr Lukas’ Patientenakte in die Hand. Ein letztes Mal versuchte sie, zu erklären, dass sie lediglich zur Beratung hier sei und keinesfalls vorhabe, als verantwortliche Ärztin die Behandlung zu übernehmen, aber niemand hörte ihr dabei richtig zu. Sie war ohnehin schon damit beschäftigt, die Auswertung des aktuellen Blutbildes zu lesen.

»Es sieht doch ganz gut aus«, murmelte Carlos, der ihr über die Schultern schaute.

»Ja, im Moment besteht keine akute Gefahr mehr. Die Insulindosis sollte noch mal nach unten angepasst werden, und ich denke, Lukas kann dann entlassen werden. Allerdings muss unbedingt eine Schulung stattfinden. Eine Diabetesschulung. Und Lukas braucht einen Kinderarzt, der die Insulindosierung … damit sind wir wieder beim Thema, Carlos. Herr Garcia, meinte ich natürlich.«

»Bleiben Sie ruhig beim Vornamen«, bemerkte er. »Ich weiß, Sie können das nicht übernehmen. Mir ging es lediglich darum, dass Sie eine Einschätzung der aktuellen Situation geben. Ich werde mich unverzüglich um Fachliteratur kümmern, damit ich meinen Sohn so gut wie möglich medizinisch betreuen kann. Ich kümmere mich auch darum, ob es hier auf der Insel Diabetesschulungen für Eltern von Diabetes-Kindern gibt und bin sicher, dass Martina und ihre Mutter daran teilnehmen werden. Das heißt, solange sie noch hier sind.«

»Tun Sie das. Ich kann die Schulung aber auch übernehmen«, hörte sich Fee sagen und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Wie war das noch mal? Sie wollte hier Urlaub machen!

»Das wäre ganz toll.« Carlos zeigte sich sofort begeistert. »Wollen wir vielleicht gleich heute damit anfangen?«, fragte er hoffnungsvoll. »Dann können wir Ihre knapp bemessene Zeit ausnutzen. Vielleicht kann ich Lukas dann auch gleich mit nach Hause nehmen und ihn zu Martina bringen. Die Typisierung könnte auch ambulant vorgenommen werden. Sobald wir wissen, welche Art Diabetes er hat, können wir überlegen, ob er eventuell eine Insulinpumpe bekommt.«

»Na gut.« Fee gab nach, und spätestens als sie die leuchtenden Augen von Lukas sah, als sein Vater ihn hochhob und ihm ankündigte, dass er heute noch das Krankenhaus verlassen könnte, war sie froh über ihren eigenen Entschluss.

Noch am selben Tag saßen alle im Wohnzimmer der Bauers zusammen. Auch Vater Bauer hatte sich dazugesellt und hörte sich Fees Vortrag an. Martina und ihre Mutter saßen nebeneinander auf dem Sofa. Fee konnte zwar die Kälte zwischen den beiden Frauen spüren, aber sie nahm wahr, dass sich Mutter und Großmutter beide sehr um Lukas sorgten und für sein Wohlergehen ihr Bestes geben wollten. Sie hörten aufmerksam zu, was Fee ihnen erklärte. Auch Carlos war konzentriert bei der Sache.

Fee stellte zunächst einige gezielte Fragen. Es stellte sich heraus, dass es weder in Martinas noch in Carlos’ Familie zurückliegend Diabetes gegeben hatte. Damit lag schon mal ein gewichtiger Hinweis darauf vor, dass es sich wahrscheinlich nicht um­ den gefürchteten, wesentlich schwieriger zu beeinflussenden Typ 1 handelte. Fee bat darum, Lukas noch einmal gründlich untersuchen zu dürfen. Sie ließ sich außerdem die Ultraschallaufnahmen aus der Klinik zeigen, die sich Carlos per USB-Stick auf seinen Computer übertragen hatte.

Die Familie wartete geduldig, bis Fee ihre Diagnose stellte.

»Tut mir leid, dass ich das sage, aber Sie wissen ja selbst, dass Lukas zu viel Gewicht hat. Sie haben mir erzählt, dass er am liebsten Pommes, Chips und Pfannkuchen isst, dass er in letzter Zeit ungewöhnlich oft Durst hat, dass er immer häufiger über Bauchschmerzen klagt und oft sehr müde ist. Das alles zusammen mit der Anamnese in Bezug auf die Familiengeschichte lässt mich zu dem Schluss kommen, dass Typ 2 vorliegt.«

Carlos nickte. Martina und ihre Mutter schauten sie fragend an.

»Das bedeutet«, fuhr Fee fort, »dass die Krankheit mit einer gezielten Umstellung der Ernährung und mit viel mehr Bewegung als jetzt bekämpft werden kann. Allerdings muss zumindest eine ganze Zeit lang weiterhin Insulin gegeben werden. In der ersten Phase per Spritze, später vielleicht mit Tabletten, das kommt auf die weitere Entwicklung an. Im günstigsten Fall kann nach einiger Zeit ganz ­darauf verzichtet werden, aber das hängt auch alles davon ab, wie streng die neuen Regeln eingehalten werden.«

»Was sind die Regeln?«, fragte Martina.

Fee erklärte sehr ausführlich, dass künftig Süßigkeiten nur noch im Ausnahmefall erlaubt seien. »Es gibt eine Menge gesunder Alternativen, aber grundsätzlich heißt das nicht, dass Lukas nie mehr wird naschen dürfen. Nach neuesten Erkenntnissen können Diabetiker alles essen, es kommt allerdings sowohl auf die Menge an als auch auf die Zusammensetzung der Mahlzeiten und auf körperliche Bewegung. Letzteres ist eigentlich am allerwichtigsten.«

Martina und ihre Mutter wechselten besorgte Blicke. »Das wird nicht einfach werden«, bemerkte Heidemarie Bauer. Sie hatte auf einem Block mit Bleistift Notizen gemacht und ging die Stichpunkte noch mal durch. »Mehr Bewegung, gut, das lässt sich machen. Aber weniger Süßes …«

»Das habe ich dir doch schon immer gesagt«, unterbrach sie Martina unwirsch. »Du stopfst ihn ständig voll mit Kuchen, Keksen, Bonbons und Schokolade, und dann machst du ihm abends auch noch süße Pfannkuchen!« Der Vorwurf war nicht zu überhören.

»Wenn ich Sie bitten dürfte, bei der Sache zu bleiben.« Fee versuchte, die beiden Frauen zu beruhigen. »Es ist jetzt wichtig, sich zu konzentrieren. Es gibt nämlich noch eine Sache, die Sie unbedingt beherrschen müssen.«

Carlos stand in den Türrahmen gelehnt. »Sie meinen das Messen des Blutzuckerwertes und die Gabe von Insulin.«

»Ganz genau. Sie als Arzt brauchen das nicht zu lernen, aber Sie, Martina, und Sie ebenfalls, Frau Bauer, müssen sich unbedingt damit auseinandersetzen. Es ist von größter Wichtigkeit, dass die Gabe von Insulin genauestens auf den jeweils aktuellen Blutzuckerwert und auf das, was Lukas isst und trinkt, abgestimmt wird. Ebenso wichtig ist die Berücksichtigung der Bewegungseinheiten.« Sie erkannte in den fragenden Augen der beiden Frauen, dass sie zu professionell erläutert hatte. Martina und ihre Mutter sahen sie hilflos an.

»Ich denke, diesen Punkt kann ich getrost in Ihre Hände geben, Carlos?«, fragte Fee. Sie ging davon aus, dass er als Kinderarzt wusste, was zu tun war.

»Selbstverständlich«, antwortete er. »Ich kümmere mich darum. Trotzdem …« Carlos wirkte plötzlich unsicher. Fee wartete geduldig ab, bis er weitersprach. »Gibt es an Ihrer Klinik in München eine Weiterbildungsmöglichkeit für mich?«

Martina und Heidemarie blickten überrascht auf.

»Ich werde mit meinem Mann sprechen«, stellte Fee in Aussicht. »Ich denke, da kann man was organisieren. Eventuell vor Ort oder vielleicht sogar virtuell? Was halten Sie davon? Ich könnte einen Online-Kurs für niedergelassene Kinderärzte organisieren, denn ich kann mir gut vorstellen, dass der Bedarf an Weiterbildung zur Behandlung von Diabetiker-Kindern international hoch ist.« Fee gefiel ihre Idee. Sie nahm sich vor, noch heute mit Dan am Telefon darüber zu sprechen.

»Ich bin auf jeden Fall dabei«, versprach Carlos. »Entweder in München oder auch hier im Fernkurs. Bitte halten Sie mich unbedingt auf dem Laufenden.«

»Papa.« Lukas unterbrach mit seinem zarten Stimmchen die Erwachsenen in ihren Überlegungen. Sofort gingen Martina und Carlos zu ihrem Sohn, der im Zimmer nebenan auf dem Sofa geschlafen hatte. Fee blieb mit Heidemarie Bauer und ihrem Mann zurück.

»Das wird ja jetzt sowieso alles ganz anders«, begann Heidemarie. »Wenn Martina mit dem Jungen erst mal mit uns in Köln ist, wird sich dort ganz bestimmt ein Kinderarzt mit der entsprechenden Fachrichtung finden lassen.«

Fee schwieg. Da war es wieder, das familiäre Problem, von dem ihr Petra in Stichpunkten erzählt hatte. Sie konnte sich gut vorstellen, wie schwer es für Carlos sein musste, seinen Sohn ziehen zu lassen. Aber ging sie das etwas an? Nein! Sie beschloss, sich nicht weiter mit dem Thema zu befassen. Die Probleme anderer Leute sollten nicht ihre sein. Schon gar nicht im Urlaub. Sie hatte getan, worum sie gebeten wurde, indem sie ihren fachärztlichen Rat einbrachte. Alles Weitere lag nun in Carlos’ Händen, und sie hatte keinerlei Bedenken, dass er als Vater und Arzt diese Aufgabe sehr gut bewältigen würde.

»Ich denke, für heute ist alles gesagt, Frau Bauer. Ich werde mich verabschieden. Richten Sie doch bitte Ihrer Tochter und Herrn Garcia meine Grüße aus. Wenn es recht ist, schaue ich in den nächsten Tagen noch einmal nach Lukas. Wo werde ich ihn denn finden?«, fragte sie.

»Bei uns natürlich«, gab Frau Bauer patzig zurück. »Martina wird wie immer arbeiten gehen, und Lukas ist – ebenfalls wie immer – tagsüber bei uns. Ich bringe Sie zur Tür.« Ohne einen Versuch zu machen, Fee zum Bleiben zu überreden, reichte sie ihr die Hand. Felicitas nickte Herrn Bauer zum Abschied wortlos zu. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass Lukas’ Großmutter ziemlich froh war, sie loszuwerden.

Sie beschloss, den Rest des Tages am Pool ihrer Gastgeberin zu verbringen. Auf dem Heimweg besorgte sie ein paar Leckereien für das gemeinsame Abendessen und setzte dann ihren Plan sofort in die Tat um. Kaum hatte sie sich auf dem be­quemen Liegestuhl niedergelassen, schwirrten in ihrem Kopf die Gedanken. Die Idee, eine online Weiterbildung für Kinderärzte anzubieten, nahm Formen an. Voller Elan stürzte sie sich in die Planung. Sie würde die Spezialisten aus der IT-Abteilung benötigen und hätte am liebsten sofort Kontakt mit dem ­Leiter aufgenommen. Der nächste Punkt der Organisation war eine Liste von relevanten Themen. Ihre Ideen sprudelten nur so. Zum Glück hatte sie ihren Notizblock und einen Stift mit zur Liege genommen. Anstatt sich auszuruhen und die Sonne zu genießen, fand sie sich schon bald hochkonzentriert in der Planung ihres neuen Projekts.

Als sie am Abend ihrem Mann Dan am Telefon davon erzählte, zeigte sich der wenig überrascht. »Das war mir von vornherein klar, dass du was auf die Beine stellst. Du hast mir ja von dem Jungen und der speziellen Problematik erzählt. Du wärst nicht meine Fee, wenn du jetzt anders handeln würdest.«

»Kann ich auf dich zählen, Dan?«

»Was ist denn das für eine Frage, mein Feelein. Das weißt du doch. Ich fühle schon mal in der IT-Abteilung vor. Falls Kosten entstehen, werde ich, bis du zurückkommst, mit der Verwaltung sprechen, und dann kannst du gleich loslegen, wenn du wieder daheim bist. Das heißt, nicht sofort. Darauf muss ich bestehen.«

»Nein? Nicht sofort?«, fragte Fee.

»Zu allererst wirst du dich um deinen vernachlässigten Ehemann kümmern müssen, das ist dir ja hoffentlich klar?« Fee hörte ihn schallend lachen.

»Aber selbstverständlich, Liebling. Wie kannst du nur etwas anderes denken. Du bist und bleibst der wichtigste Punkt, den ich bei meiner Rückkehr zu erledigen habe.« Sie ging auf seinen humorvollen Ton ein.

»Ich weiß jetzt nicht so genau, ob mich die Formulierung beruhigen soll oder eher nicht. Erledigt will ich­ eigentlich nicht werden.« Das abendliche Telefongespräch ging noch eine Weile so weiter. Sie neckten sich liebevoll, bis sie beide lauthals lachen mussten.

»Ich freue mich so darauf, wenn du wieder bei mir bist.« Daniel war wieder ernst geworden. »Aber das soll dich nicht davon abhalten, deinen Urlaub zu genießen.«

Den nächsten Tag hatte Fee endlich ganz für sich. Sie erkundete den nahegelegenen Botanischen Garten, von dem sie schon so viel gelesen und gehört hatte. Staunend schlenderte sie die breiten Wege entlang, bog hin und wieder in einen verschlungenen Pfad. Sie bewunderte die Jahrhunderte alten Bäume und fragte sich an so mancher Stelle, wer hier wohl schon alles vor ihr gestanden und die Schönheit der Natur betrachtet hatte. Sie fand eine Bank im Schatten eines ausladenden Laubbaums und ließ sich darauf nieder. Tief atmete sie durch. Einen besseren Platz für den Augenblick konnte sie sich nicht vorstellen. Mit jedem Atemzug wurde sie innerlich gelöster. Sie ruhte in sich selbst und wusste in diesem Moment, dass sie sich nirgendwo besser erholen konnte als hier.

Irgendwann musste sie sich dann doch von ihrem Ruhe- und Erholungsplatz trennen. Der Botanische Garten hatte begrenzte Öffnungszeiten, und wenn sie nicht die Nacht hier verbringen wollte, musste sie sich wohl oder übel auf den Heimweg machen.

Aber das war gar nicht so schlimm, denn die entspannten Abende mit Petra waren ihr inzwischen ans Herz gewachsen.

Später saßen die beiden Frauen dann wieder beisammen. Nach dem Abendessen holte Petra eine Flasche Rotwein und zwei Gläser aus der Küche. »Du hast Martina ein ziemliches Problem beschert«, bemerkte sie, nachdem sie sich und ihrem Gast eingeschenkt hatte.

»Ich? Wieso denn?«

»Naja, jetzt, wo klar ist, dass Lukas voraussichtlich für längere Zeit ärztliche Betreuung braucht, hat sie ein zusätzliches Problem zu lösen. Carlos will nun erst recht nicht, dass sie mit ihren Eltern zurück nach Deutschland geht. Die beiden streiten jetzt noch mehr als vorher.«

»Aber da kann doch ich nichts dafür«, verteidigte sich Fee.

»Nicht direkt«, erwiderte Petra. »Mit deinem Angebot einer Onlineschulung hätte Carlos die Möglichkeit, sich alles anzueignen, was ihm noch fehlt, um seinen eigenen Sohn bestmöglich zu betreuen. Er sagt, dass er nicht einsieht, dass Martina mit dem Jungen weggeht und die Gesundheit seines Sohnes einem anderen Arzt überlässt. Außerdem wirft er seine Rechte als Vater in den Ring. Er hat sogar einen Anwalt damit beauftragt, der prüfen soll, ob das Kind auch ohne seine Zustimmung in Deutschland leben darf.«

»Ich verstehe ihn. Aber ich werde mich da nicht einmischen. Das sind Familienangelegenheiten, und außerdem habe ich damit nichts, aber auch gar nichts zu tun.« Fee war entschlossen, sich nicht länger mit dem Thema zu beschäftigen. Sie nahm sich trotzdem für den nächsten Tag vor, ihr Versprechen einzulösen und nach Lukas zu sehen. Bei der Gelegenheit könnte sie vielleicht noch einmal mit seiner Großmutter über Einzelheiten bei der Umstellung der Lebensgewohnheiten sprechen. Nicht mehr und nicht weniger.

Gleich am nächsten Morgen setzte sie ihren Plan in die Tat um. Mittlerweile kannte sie sich in den schmalen Gassen der geschichts­trächtigen Hafenstadt gut genug aus, um den Weg ohne Probleme wiederzufinden. Sie rechnete damit, nicht besonders freundlich empfangen zu werden und war dann sehr überrascht, als sie von Frau Bauer sehr herzlich begrüßt wurde.

»Kommen Sie herein, Frau Doktor Norden. Mein Mann ist bei Lukas, er spielt mit ihm im Wohnzimmer. Wollen Sie den Kleinen gleich untersuchen?«

»Nein, es genügt mir, wenn Sie mir sagen, wie es ihm geht und ob Sie noch Fragen haben.« Fee wollte sich auf keinen Fall in die Behandlung durch Carlos einmischen. »Oh, was gab es denn bei Ihnen Leckeres zum Frühstück?«, fragte sie, als sie den verführerischen Duft von gebratenem Speck wahrnahm.

»Meine Männer mögen das so sehr. Rührei mit Speck. Cornflakes und dann noch Croissants mit Marmelade. Es ist noch was da, und ich habe den Tisch noch gar nicht abgeräumt. Darf ich Ihnen was anbieten?« Frau Bauer wirkte wie ausgewechselt. Keine Spur mehr von mürrischer Ablehnung. Sie strahlte von innen heraus, und Fee konnte deutlich spüren, dass Lukas’ Großmutter in ihrem Element war.

»Gern Kaffee, essen möchte ich nichts, danke«, antwortete sie. »Sie sagen, Ihre Männer mögen das üppige Frühstück? Lukas also auch, nicht nur Ihr Mann?«, fragte sie vorsichtig. Sie wollte die Frau nicht provozieren. Aber angesichts des reichhaltig gedeckten Tisches hatte sie eine besorgniserregende Ahnung.

»Oh ja, Lukas besonders. Es ist erstaunlich, wie viel der kleine Kerl futtern kann!« Heidemarie Bauer strahlte.

»Frau Bauer«, begann Fee. Sie bemühte sich, ihre Worte mit Bedacht zu wählen. »Wie kommen Sie denn mit dem Messen des Blutzuckerwertes zurecht und mit der Dosierung des Insulins?«

Heidemaries gute Laune war mit einem Schlag verflogen. »Jetzt fangen Sie auch noch damit an«, beschwerte sie sich. »Carlos hält mir schon ständig Vorträge. Aber sehen Sie sich den Jungen doch an. Er ist fröhlich, ihm geht es gut. Es gibt keinen Grund, ihn ständig in den Finger zu piksen und ihm anschließend eine Spritze in den Oberschenkel zu jagen.«

»Frau Bauer … das geht so nicht.« Fee konnte sich nicht länger zurückhalten. »Sie spielen mit der Gesundheit Ihres Enkels. Wenn nicht sogar mit seinem Leben. Außerdem haben Sie es jetzt in der Hand, zu beeinflussen, wie Lukas in­ seinem späteren Leben mit der Krankheit zurechtkommen wird. Wenn die Stoffwechselstörung nicht kontrolliert wird, drohen schwerwiegende Langzeitfolgen. Bitte erlauben Sie mir, den Zuckerwert im Blut kurz zu messen. Sie haben bestimmt ein Messgerät hier?«

Wortlos deutete Frau Bauer zur Kommode im Flur. Das Messgerät mit den Teststreifen und eine Schatulle mit dem Insulin inklusive mehrerer Kanülen lagen griffbereit. Daneben entdeckte Fee einen handgeschriebenen Zettel mit Anweisungen und Erklärungen sowie einer unübersehbar groß geschriebenen Telefonnummer.

»Das ist Carlos’ Nummer. Er traut mir offensichtlich nicht zu, dass ich meinen Enkelsohn gut versorge«, erklärte Heidemarie beleidigt.

Fee unterdrückte eine Antwort, die ihr auf der Zunge lag. Ihrer Ansicht nach war die Sorge absolut begründet.

Sie war sicher, dass Lukas hier zwar sehr geliebt wurde, aber medizinisch besorgniserregend schlecht betreut. Ihre Sorge bestätigte sich, als sie das Wohnzimmer betrat. Sie hatte sich schon gewundert, warum sie kein Kinderlachen gehört hatte oder andere Geräusche, die darauf hingedeutet hätten, dass hier ein Großvater mit seinem Enkelkind Spaß hätte. Stattdessen fand sie ein trügerisches Idyll vor, das sie unter anderen Umständen im Herzen gefreut hätte. Aber mit dem Wissen, dass Lukas viel zu viel und vor allem das Falsche zum Frühstück gegessen hatte, noch dazu ohne die nötige Insulingabe, versetzte sie der Anblick in Alarmstimmung. Herr Bauer saß in einem ausladenden Ohrensessel, die Beine auf einem Hocker gelagert, auf seinem Schoß hatte sich Lukas zusammengerollt. Beide schliefen.

»Oh, die beiden ruhen sich aus, da können Sie natürlich jetzt nicht den Blutzucker messen«, wandte Frau Bauer ein.

»Doch. Gerade jetzt«, entgegnete Fee energisch. »Frau Bauer, ich muss Ihnen sagen, dass Lukas mit großer Sicherheit nicht schläft, weil er einfach so müde war. Vermutlich ist sein Zuckerwert extrem hoch. Er braucht Insulin und zwar schnell. Sonst laufen wir Gefahr, dass er wieder in ein diabetisches Koma fällt.« Sie versuchte, sich ihren Ärger nicht anmerken zu lassen.

Frau Bauer war bleich geworden. »Glauben Sie das wirklich? Aber schauen Sie doch. Die Zwei wirken so süß miteinander.«

»Frau Bauer! Ich werde jetzt bei Lukas den Glukosewert messen. Das muss ich tun. Als Ärztin habe ich keine andere Wahl. Sonst wäre es unterlassene Hilfeleistung.« Fee war empört. Wie konnte diese Frau nur so uneinsichtig sein! Sie erinnerte sich an den Streit, den Martina mit ihrer Mutter gehabt hatte, als sie den beiden Frauen näherbrachte, was künftig zu beachten sei. Lukas reagierte schwach, als sie seinen rechten Zeigefinger desinfizierte und anschließend die Stechhilfe ansetzte. Er blinzelte kurz und sah Fee verwundert an. Seine Reaktion beruhigte Fee ein wenig, denn das zeigte ihr, dass er noch nicht ins Koma gefallen war. Aber als die Anzeige auf dem Messgerät einen Wert von 330 anzeigte, wusste sie, dass sie mit ihrer Maßnahme richtig lag. Sie wusste, was zu tun war. Ohne auf den Protest der Großmutter zu achten, zog sie eine Insulinspritze auf und gab dem Jungen die rettende Injektion.

»Was ist denn hier los?«, fragte Herr Bauer verschlafen. Er war wach geworden und wunderte sich. Als er aber das besorgte Gesicht der Ärztin sah, überblickte er die Situation. »Ich habe dir gleich gesagt, dass das Frühstück zu reichhaltig war«, murmelte er vorwurfsvoll.

»Ach!«, gab Frau Bauer aufgebracht zurück. »Und du hältst es nicht für nötig, mich zu informieren, wenn Lukas so einfach einschläft?«

»Ich bin doch selbst eingeschlafen«, verteidigte sich der Großvater, und Fee überlegte einen Augenblick, ob sie auch bei ihm den Zuckerwert messen sollte. Womöglich lag ein unerkannter Diabetes bei ihm vor. Das wäre ein wichtiger Hinweis für den behandelnden Arzt, denn dann wurde es wahrscheinlicher, dass der Diabetes von einer Vererbung herrührte. Sie entschloss sich aber, nichts weiter in dieser Richtung zu unternehmen, sondern stattdessen Carlos von ihrem Verdacht zu erzählen. Sie blieb den ganzen Vormittag bei den Bauers und kontrollierte jede halbe Stunde den Blutzuckerwert des kleinen Patienten. Beruhigt stellte sie fest, dass die Insulinspritze Wirkung zeigte. Der Junge war kurzfristig nicht mehr in Gefahr.

»Wie gut, dass Sie gerade hier waren«, gab Frau Bauer kleinlaut zu. »Ich mag mir gar nicht ausmalen, was alles hätte passieren können.«

»Sie müssen die Sache wirklich ernst nehmen, Frau Bauer. Mit Diabetes kann man gut leben. Auch Kinder können es. Aber nur, wenn diszipliniert dagegen vorgegangen wird.« Fee bemühte sich um einen professionellen Ton. Es fiel ihr schwer, denn am liebsten hätte sie der Frau Vorwürfe gemacht.

»Entschuldigen Sie übrigens die Unordnung.« Frau Bauer wechselte urplötzlich das Thema. Erst jetzt fielen Fee die vielen Kartons auf, die in einer Ecke des Wohnzimmers übereinander getürmt waren. »Wir packen. Nächste Woche fliegen wir. Die Wohnung hier wird vom Makler verkauft. Mein Mann hat die Zusage für die beiden Wohnungen in Köln bekommen. Gleich nach unserer Ankunft findet der Termin beim Notar statt. Wir müssen noch eine Woche ins Hotel, dann können wir die Wohnungen beziehen. Eine für uns und eine für Martina und Lukas.«

Fee nickte. Sie folgte ihrem Impuls, nicht auf die Information zu antworten. Zumindest sagte ihr das die Vernunft. Im Inneren aber fühlte sie etwas anderes. Es tat ihr im Herzen leid, dass die Trennung von Carlos und seinem Sohn anscheinend beschlossene Sache war. Sie versicherte sich noch einmal, dass es Lukas wieder gut ging und verabschiedete sich. Beim Hinausgehen fiel ihr Blick abermals auf den handgeschriebenen Zettel mit der Telefonnummer für den Notfall. Spontan beschloss sie, Carlos noch ein einziges, ganz bestimmt ein letztes Mal aufzusuchen und ihn über den heutigen Vorfall zu unterrichten. Danach, so nahm sie sich ganz fest vor, wollte sie endgültig mit dem Thema abschließen.

Fee beeilte sich nicht sonderlich beim Weg zur Praxis. Sie konnte dem ­Angebot der vielen Souvenirläden nicht widerstehen und vergaß zwischen traditionell handgeklöppelten Spitzendecken und den üblichen kitschigen Andenken die Zeit. So war es schon später Nachmittag, als sie ihr Ziel erreicht hatte. Erst dachte sie, ein Déjà-vu Erlebnis zu haben. Genauso hatte es sich angehört, als sie das erste Mal vor der Praxis gestanden hatte und Martinas und Carlos’ Streit mitbekommen hatte. Diesmal zögerte sie nicht. Sie wollte ihre Information über den medizinischen Notfall von heute Vormittag loswerden und dann wieder gehen. Umso besser, wenn beide Elternteile anwesend waren. Alles andere ging sie nichts an.

Der Streit war laut und heftig. Carlos und Martina bekamen nicht einmal mit, dass Fee längst eingetreten war. Sie musste sich erst energisch räuspern, bis sie bemerkt wurde. Die Luft brannte zwischen den beiden Streithähnen. Fee hätte am liebsten ein Fenster geöffnet, um die aufgeladene Spannung hinauszulassen, aber schließlich war das nicht ihre Praxis, und sie war hier nicht zu Hause. Sie entschloss sich, in kurzen, knappen Sätzen ihre Botschaft loszuwerden und sich gleich wieder zu verabschieden.

Die Nachricht wirkte wie ein Zündfunke in einem Berg von Dynamit. Carlos konnte sich nicht länger beherrschen. »Da siehst du, was passieren wird! In Deutschland wird Lukas nur noch von deiner Mutter betreut werden, ich sehe das kommen. Sie wird ihn umbringen!« Sein Gesicht war rot vor Wut. Er ballte die Fäuste und atmete stoßweise.

»Was redest du für einen Unsinn!«, schrie Martina. Die beiden hatten Fee schon wieder vergessen. Sie warfen sich Dinge an den Kopf, die Felicitas am liebsten nicht gehört hätte. Nichts wie weg von hier, beschloss sie. Aber sie kam nicht weiter als bis zur Eingangstür der Praxis. Dort wäre sie beinahe mit Heidemarie Bauer zusammengestoßen, die mit angsterfüllten Augen, ohne auf Fee zu achten, in die Praxis stürmte.

»Ist Lukas hier?«, fragte sie. »Er ist verschwunden!«

*

»Er muss unser Gespräch mitbekommen haben«, erklärte Heidemarie niedergeschlagen, nachdem Carlos die Polizei benachrichtigt hatte. »Bisher haben wir ihm ja noch nicht gesagt, dass es schon nächste Woche losgeht. Mein Gott, es tut mir alles so leid«, jammerte sie.

»Das nützt jetzt nichts«, antwortete Carlos harsch. »Lass uns lieber gemeinsam überlegen, wo er sein könnte«, schlug er vor.

Martina saß zusammengekauert auf einem Stuhl. Sie war so bleich, dass sich Fee ernsthaft Sorgen um sie machte. Sehr gern hätte sie ihr den Blutdruck gemessen und eventuell ein leichtes Beruhigungsmittel verabreicht.

»Ich konnte nicht wissen, dass Lukas bisher nicht eingeweiht war«, entschuldigte sie sich.

»Sie können nichts dafür, Frau Doktor«, gab Heidemarie zurück. »Mein Mann ist zu Hause und wartet dort, vielleicht kommt er ja zu uns zurück.«

»Wie viele Einheiten haben Sie Lukas heute Vormittag gespritzt?«, fragte Carlos, und Fee wusste, worauf er hinauswollte.

»So viel, dass der Akutzustand beeinflusst wird. Hat er danach noch etwas gegessen oder getrunken?«, fragte sie Heidemarie.

»Nein, ich habe mich daran gehalten, was Sie gesagt haben.«

»Ich habe ganz gewiss nicht gesagt, dass er nichts essen darf, Frau Bauer«, erwiderte Fee aufgebracht. »Ich habe lediglich geraten, er solle das Richtige essen. Kohlehydratarm und fettarm. Und ohne Zucker.« Am liebsten hätte sie hinzugefügt, dass es doch gar nicht so schwer sei, diese Regeln umzusetzen, aber sie verkniff sich die Bemerkung.

»Wo kann er sein, denkt nach!«, meldete sich Martina. »Du sagst, du hast alle Freunde schon durchtelefoniert?«, versicherte sie sich erneut bei ihrer Mutter.

»Ja, alle. Er ist bei keiner anderen Familie, die wir kennen.«

»Hat er irgendetwas mitgenommen? Vielleicht seinen Teddy?«, fragte Carlos.

»Ach ja, jetzt wo du es sagst. Ich glaube, sein Teddy ist nicht mehr da. Er wäre mir aufgefallen, ich habe in der ganzen Wohnung in jedem Winkel nach Lukas gesucht.«

Carlos war nachdenklich geworden. »Wenn er seinen Teddy mitgenommen hat, ist er vermutlich nicht nur zu einem Freund gegangen. Es sieht ganz so aus, als ob er sehr zielgerichtet ausgerissen ist.«

Martina schluchzte. »Die Polizei wird ihn doch finden?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

»Bestimmt.« Carlos versuchte, sie zu beruhigen, war aber selbst bis zum Anschlag angespannt. Sein Sohn war fünf Jahre alt! Puerto de la Cruz war ein lebendiger Ort. Es war Mitte Mai. Touristische Hochsaison. Es waren viele Fremde unterwegs. Ein Junge mit seinem Teddy im Arm würde niemandem auffallen. Keiner würde sich um ihn kümmern. Er hoffte inständig, dass er von keinem Bus oder Lastwagen überfahren würde.

»Ich habe so große Angst«, flüsterte Martina. »Hoffentlich hat Lukas nicht auch so viel Angst. Wenn er sich verlaufen hat und nicht mehr heim findet …« Weiter kam sie nicht, denn sie wurde von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt. Carlos konnte nicht anders. So heftig sie noch vor wenigen Minuten gestritten hatten, so viel Liebe empfand er jetzt, in diesem Moment der Not. Liebe für seinen Sohn, aber auch eine tiefe Liebe zu Martina, obwohl sie im Begriff war, ihm das Liebste zu nehmen, was er in seinem Leben hatte. Er folgte seinem inneren Impuls, zog einen weiteren Stuhl neben sie, setzte sich und nahm sie vorsichtig in den Arm. Sofort barg sie ihr Gesicht an seinem Hals und ließ ihren Tränen freien Lauf. Es dauerte lange, bis sie sich beruhigte. Fee überlegte in der Zwischenzeit fieberhaft, wo Lukas sein könnte. Aber sie kannte die Familie noch zu wenig, um eine Idee zu haben. Sie war hier eigentlich überflüssig, fand sie.

»Entschuldigen Sie, ich werde jetzt gehen. Rufen Sie mich an, wenn ich irgendetwas tun kann«, sagte sie. »Meine Nummer haben Sie ja«, setzte sie noch hinzu. Da sie keine Antwort bekam, verließ sie grußlos die Praxis und machte sich bedrückt auf den Heimweg.

Am Abend hatte sie noch nichts darüber gehört, ob Lukas zwischenzeitlich gefunden worden sei. Sie hatte vergessen, darum zu bitten, auch dann benachrichtigt zu werden, wenn der Junge wieder auftauchen würde.

»Die Familie hat wohl nicht als erstes den Gedanken, dich anzurufen, wenn er wieder da ist«, gab Petra beim Abendessen zu bedenken. »Aber seltsam ist es schon. Du hast so viel für die Bauers getan, da könnten sie dir wenigstens Bescheid geben.«

»Ich rufe jetzt an«, beschloss Fee. Sie wusste genau, dass sie in der kommenden Nacht keine Minute Ruhe haben würde, wenn der Junge noch nicht gefunden sein sollte. Und genau so war es. Carlos hatte auf ihre Frage leider keine beruhigende Antwort. Lukas war wie vom Erdboden verschluckt. Sie hörte Martina im Hintergrund weinen.

»Ist Martina bei Ihnen?«, fragte sie. »Wäre es nicht besser, wenn auch in Martinas Wohnung jemand wäre, falls Lukas nach Hause gelaufen kommt?«

»Das haben wir berücksichtigt«, gab Carlos zurück. »Martinas Mutter wartet dort, in der Wohnung der Bauers ist Martinas Vater, und wir warten hier. Mehr können wir nicht tun. Ich hoffe nur, dass er was zu essen dabei hat. Die Dosis, die Sie ihm gespritzt haben, hat den Zuckerwert nach unten gejagt. Wenn er jetzt nichts isst …«

»Ich weiß. Daran habe ich auch schon gedacht. Die Gefahr einer Unterzuckerung ist nicht von der Hand zu weisen.« Fee hatte längst den Gedanken daran gehabt und hoffte wie Carlos, dass sich der Junge vielleicht ein Croissant vom Frühstückstisch mitgenommen hatte.

Die Nacht war lang und unruhig. Fee konnte nicht richtig schlafen. Sie wälzte sich die ganze Nacht im Bett, und in den kurzen Momenten, in denen sie leicht wegdämmerte, wurde sie von schlimmen Albträumen geplagt. Sie schreckte jedes Mal hoch. Die Situation war unerträglich für sie. Wie schlimm musste das erst für die Eltern und Großeltern des Jungen sein! Sie konnte es kaum abwarten, bis es sieben Uhr war. Vorher wollte sie nicht bei Carlos anrufen und sich nach dem Stand der Dinge erkundigen. Seine Antwort war ernüchternd. Lukas war immer noch nicht gefunden worden.

»Könnten Sie bitte hierher kommen? In meine Praxis?«, bat Carlos am Telefon.

»Ich kann doch gar nichts dafür tun, damit Ihr Sohn gefunden wird. Ich störe doch nur.«

»Ich halte es nicht mehr aus und muss mich selbst auf die Suche machen«, erwiderte Carlos. »Und ich möchte Martina nicht alleine hier lassen. Sie ist … sie braucht jemanden an ihrer Seite, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Fee verstand. Als Mutter wusste sie ganz genau, in welcher Verfassung die junge Frau jetzt war. Es war für sie selbstverständlich, zu helfen. Eine Stunde später traf sie in der Praxis ein. Sie wunderte sich nicht, als sie das Schild an der Eingangstür entdeckte. »Por hoy cerrado« las sie. »Heute geschlossen«, so viel konnte sie mit ihren spärlichen Spanischkenntnissen übersetzen.

»Ich habe ihr eine geringe Dosis Valium gegeben«, informierte sie der junge Arzt. »Sie schläft jetzt. Es ging nicht anders. Ihr Puls war bedenklich hoch, und sie war einfach nicht zu beruhigen. Ich hatte Angst, dass sie kollabiert. Meine Sprechstundenhilfe habe ich übrigens nach Hause geschickt. Die Termine sind alle abgesagt. Mein … unser Kind ist jetzt wichtiger.«

Fee versprach, auf Martina aufzupassen und wünschte Carlos viel Erfolg bei seiner Suche nach Lukas. Sie wusste, er musste bald gefunden werde. Sehr bald!

Aber auch der Vormittag verging ohne die erlösende Nachricht. Martina war zwischenzeitlich aufgewacht. Sie hatte sich etwas beruhigt, aber die Angst um ihr Kind stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Sie haben unseren Streit gestern mitbekommen, entschuldigen Sie bitte.«

»Aber ich bitte Sie, das ist doch jetzt Nebensache. Obwohl … der Inhalt Ihres Streits könnte der Auslöser für diese ganze Misere sein«, überlegte Fee.

»Ja. Bestimmt war er das. Es war ein Fehler, dass ich Lukas nicht schon länger davon erzählt habe. Dann wäre er besser vorbereitet gewesen.« Martinas Blick ging ins Leere. »Er hängt an seinem Papa, das ist nun mal so.«

»Ganz sicher ist das so«, bestätigte Fee. »Aber es ist umgekehrt genauso. Auch Carlos hängt an seinem Sohn. Sind Sie wirklich sicher, dass Sie das Richtige tun? Es geht mich zwar nichts an, aber ich denke, Sie sollten Ihre Entscheidung, nach Deutschland zurückzukehren, noch einmal überdenken.« Fee machte sich darauf gefasst, von Martina in die Schranken gewiesen zu werden, aber das Gegenteil war der Fall.

»Was glauben Sie, was ich die ganze Zeit schon mache. Wenn es für mich auch nur die kleinste Chance gäbe, mit Lukas hierbleiben zu können, würde ich das tun. Ohne zu zögern.«

Fee wunderte sich. Bisher hatte sie den Eindruck gehabt, es sei Martinas größtes Bestreben, Teneriffa zu verlassen. Für immer. Sie antwortete nicht, sondern wartete ab und dachte angestrengt nach.

»Ich kann ohne meine Eltern meiner Arbeit nicht nachgehen«, fuhr Martina fort. »Von ganz klein auf war er bei meiner Mutter, so dass ich gleich nach seiner Geburt weiter arbeiten konnte. Ich musste Geld verdienen. Lukas ist eigentlich viel mehr bei seinen Großeltern als bei mir. Sie sind seine Bezugspersonen. Nicht ich.« Sie schluckte. »Die Situation hat sich nicht wesentlich geändert. Wenn meine Eltern nächste Woche von hier weggehen, stehe ich alleine da. Ich müsste meine Arbeit aufgeben, verstehen Sie? Ohne finanzielle Absicherung … wie sollte das denn gehen?«

»Gibt es hier keine Kindergärten?«, warf Fee ein.

»Doch. Ich habe mich sogar schon für einen Platz beworben, und es sah ganz danach aus, als ob wir Glück hätten. Aber jetzt … ein krankes Kind … das wird nicht funktionieren.«

Fee wagte nicht, Carlos ins Gespräch zu bringen. Aber sie brauchte nur abzuwarten, bis Martina weitersprach.

»Ob Sie es glauben oder nicht, aber es hat mir richtig gut getan, Carlos in den letzten Tagen an meiner Seite zu haben. Auch gestern und in der vergangenen Nacht. Wie er sich um mich gekümmert hat … als ob es niemals zwischen uns Streit gegeben hätte.«

»Ich denke, Carlos ist ein Mann mit Verantwortung. Er hat Format, er würde Sie und Ihr gemeinsames Kind niemals im Stich lassen. Ich weiß nicht, was zwischen Ihnen vorgefallen ist, was dazu geführt hat, dass Sie kein Paar mehr sind. Aber ich bin mir vollkommen sicher, dass zwischen Ihnen noch Liebe existiert. Liebe, die ein gemeinsames Leben möglich macht. Vielleicht liegt die Lösung für Ihr Problem genau vor Ihren Augen.« Mehr wollte Fee nicht sagen. Aber sie hatte eigentlich schon genug gesagt. Und nicht erst seit heute Vormittag hatte sie das untrügliche Gefühl, dass Martina und Carlos noch eine Chance als Paar und als Familie hatten.

»Ich verstehe, was Sie mir sagen wollen«, antwortete Martina. »Aber ich kann jetzt nicht darüber nachdenken. Meine Angst ist zu groß.« Die Sorge um ihr Kind war wieder in den Vordergrund getreten und verdrängte alle anderen Gedanken.

»Lassen Sie uns noch einmal gemeinsam überlegen, wo er sein könnte«, schlug Fee vor.

Martina nickte und richtete sich in ihrem Stuhl auf. Sie fuhr mit beiden Händen durch ihre kurzen blonden Haare, die danach noch wilder in alle Richtungen von ihrem Kopf abstanden. »Ja, gehen wir noch einmal alles durch. Sie waren bis zur Mittagszeit in der Wohnung meiner Eltern. Da war Lukas noch dort.«

»Natürlich. Ich habe ihn noch kurz zuvor untersucht. Es war alles in Ordnung, er war munter, Ihre Mutter war über das weitere Vorgehen informiert, und ich hatte medizinisch keine Bedenken, zu gehen. Kurz bevor ich die Wohnung verließ, sprach Ihre Mutter die Auswanderungspläne an. Lukas hat das bestimmt mitbekommen, daran habe ich keine Zweifel.«

»Mutter hat erzählt, dass sie sich danach um die Küche gekümmert hat und erst zwei Stunden später wieder nach meinem Sohn geschaut hat. Sie dachte, er sei bei seinem Opa gut aufgehoben«, ergänzte Martina.

»Genau, das hat Ihre Mutter gestern erzählt. Fatalerweise dachte Ihr Vater das Gegenteil, nämlich, dass Lukas bei seiner Oma in der Küche sei. In diesen zwei Stunden hat er demnach unbemerkt die Wohnung verlassen«, fuhr Fee fort.

»Das haben wir gestern auch der Polizei genauso erzählt. Die werden ihn doch finden, oder? Bitte sagen Sie, dass die Polizei gleich mit ihm vor der Tür steht. Oder dass Carlos ihn finden wird.« Martina klammerte sich an Fees Arm. Eine Welle der Verzweiflung überrollte sie.

»Ich hoffe es. Bitte, Martina, überlegen Sie. Wenn er nicht hierher zu seinem Vater gelaufen ist, nicht nach Hause zu Ihrer Wohnung und auch nicht zurück in die Wohnung seiner Großeltern, wohin könnte er gegangen sein?«

Die beiden Frauen grübelten schweigend. »Gibt es außer der Familie und seinen Spielfreunden auf der Insel noch eine Menschenseele, zu der er so viel Vertrauen hat, dass er sich dorthin wenden könnte?« Obwohl es sich Fee nicht vorstellen konnte, dass ein Erwachsener sich nicht bei den Eltern melden würde, wenn ein kleines Kind mit einem Teddy im Arm hilfesuchend vor ihm stand, hielt sie es für möglich, dass Lukas bei irgendjemandem Zuflucht gefunden hatte.

»Nein. Wir leben hier relativ zurückgezogen, wie Sie wissen. Lukas pendelt zwischen mir und seinen Großeltern und ab zu seinem Vater hin und her. Sonst kennt er hier keine Menschenseele gut genug, um Vertrauen fassen zu können«, antwortete Martina resigniert.

»Das ist es!!«, rief Fee. Martina zuckte vor Schreck zusammen. »Keine Menschenseele«, wiederholte Fee. »Klar! Dass wir nicht schon vorher darauf gekommen sind. Kommen Sie schnell. Ich glaube, ich weiß, wo er ist!« Sie hielt sich nicht lange mit Erklärungen auf, schnappte stattdessen ihre Handtasche und rief Martina noch einmal zu, sie solle sich beeilen. Bevor sie die Praxis verließen, fiel ihr noch etwas ein. »Haben Sie Traubenzucker in Ihrer Tasche?«

Martina verstand den Hintergrund der Frage nicht. Sie beschloss aber, sich Fees Anweisungen zu fügen. Wenn es auch nur die kleinste Chance gäbe, Lukas zu finden, musste sie diese nutzen.

»Nein«, antwortete sie. »Aber ich weiß, wo Carlos seine Bonbons aufbewahrt. Er steckt manchmal seinen kleinen Patienten Traubenzuckerbonbons zu. Als Belohnung nach Impfungen zum Beispiel.« Martina schaute sich kurz um. Die große Bonbonniere aus Glas stand wie immer auf dem Tresen der Rezeption. Sie deutete Fees Kopfnicken richtig und ließ eine Handvoll einzeln verpackter Drops in ihrem Rucksack verschwinden. Zwei Sekunden später standen die beiden Frauen draußen auf dem Gehweg vor dem Haus und stoppten mit unübersehbarem Winken das nächste freie Taxi.

Während der kurzen Fahrt erklärte Fee ihre Idee. »Ihre Mutter geht doch regelmäßig mit Lukas in den Orchideengarten.«

Martina nickte. »Pedro!«, rief sie aus. »Natürlich! Lukas hängt an dem Kater. Er hat mir oft von ihm erzählt. Den Weg dorthin kennt er bestimmt. Meine Mutter geht häufig zu Fuß zum Sitio Litro. Vielleicht … vielleicht ist er tatsächlich dorthin gelaufen.«

Fee behielt ihre Sorge für sich. Sie wollte Martina nicht noch mehr beunruhigen. Falls Lukas seit gestern Nachmittag alleine war, die ganze Nacht im Freien verbracht hatte, nichts gegessen und getrunken hatte, bestand akute Lebensgefahr. Sein Blutzuckerwert könnte dramatisch gesunken sein. »Haben Sie die Traubenzuckerbonbons dabei?«, vergewisserte sie sich noch einmal. Martina nickte. Fee hoffte, sie würden als erste Hilfe ausreichen, falls sie Lukas tatsächlich hier finden würden.

Das Taxi schlängelte sich durch den lebhaften Verkehr. Die Fahrt dauerte nur zehn Minuten, aber Fee erschienen sie wie endlose Stunden. Schließlich hielt der Wagen vor dem kleinen schmiedeeisernen Tor an. Fee zahlte, während Martina bereits am Kassenhäuschen fragte, ob ein kleiner Junge gesehen worden sei. Ihr verzweifelter Gesichtsausdruck sagte alles, als sie Fee die spanische Antwort der Dame an der Ticketkasse übersetzte. »Nein, sie hat nichts bemerkt. Aber wir dürfen hinein und selbst nachschauen.«

Fee und Martina machten sich getrennt auf die Suche. Es waren nur wenige Besucher im Garten. Keiner hatte Lukas gesehen. Nach einer halben Stunde trafen die beiden Frauen an einer Weggabelung wieder aufeinander. Erfolglos. Martina war niedergeschlagen und mutlos. »Es wäre zu schön gewesen, aber leider ist er nicht hier«, sagte sie leise.

»Wir suchen weiter. Ihre Mutter hat mir erzählt, dass sich Pedro oft zurückzieht. Es könnte doch sein, dass Lukas sich mit ihm zusammen irgendwo versteckt. Kommen Sie, Martina, nicht aufgeben!« Fee spürte, dass Martina kurz davor war, die Hoffnung zu verlieren. Sie stand mit zitternden Beinen, kreidebleich und mit verweinten Augen vor ihr, wie jemand, der jeglichen Halt verloren hatte.

»Setzen Sie sich«, forderte Fee die verzweifelte Martina auf. »Warten Sie hier, ich durchsuche inzwischen noch mal alles, bis in den kleinsten Winkel. Ich verspreche Ihnen, wenn Lukas sich hier versteckt hat, werde ich ihn finden, hören Sie?«

Martina sah sie mit flehenden Augen an. Sie war am Ende ihrer Kräfte und konnte nicht einmal mehr antworten. Aber Fee verstand auch so, was sie sagen wollte. »Bitte finden Sie mein Kind.«

»Geben Sie mir die Traubenzuckerbonbons.« Fee wusste, dass sie die Drops dringend brauchen würde, falls sie Lukas tatsächlich finden sollte. Entschlossen machte sie sich zum zweiten Mal auf die Suche. Sie ging systematisch vor, soweit es die verschlungenen Pfade der Gartenanlage erlaubten. Diesmal konzentrierte sie sich auf die versteckten Winkel. Es war nicht anzunehmen, dass sich Lukas auf einem der Hauptwege befand. Dort wäre er längst jemandem aufgefallen. Vielleicht war er auch bereits in eine gefährliche Unterzuckerung gefallen und lag ohne Bewusstsein unter einem Busch oder in einem Winkel, der von den Wegen aus nicht einsehbar war? Plötzlich erkannte sie, dass sie mit ihrer Ahnung richtig gelegen hatte. Ein knallrotes, glitzerndes Stanniolpapier lag direkt vor ihren Füßen. Lukas hatte offensichtlich ein paar seiner Lieblingsbonbons mitgenommen! Sie atmete auf. Hoffentlich war das Papier nicht von seinem letzten Besuch hier übrig geblieben, dachte sie dann wieder bang. Aber als sie ein Stückchen weiter noch eines fand, war sie sicher, dass sich Lukas irgendwo hier in der Nähe versteckte. Immer wieder rief sie seinen Namen. Nichts. Keine Antwort. Sie rief sogar nach Pedro, obwohl sie nicht annahm, dass der Kater auf sie gehört hätte. Oder vielleicht doch? Sie kniff die Augen zusammen, um besser erkennen zu können, was sie in einiger Entfernung wahrnahm. Dort war doch gerade eine Katze unter die tief hängenden Zweige der leuchtend lila blühenden Bougainvillea gehuscht, die sie bei ihrem ersten Besuch hier so sehr bewundert hatte? Oder war es eine Täuschung gewesen? Sie verließ den Pfad, den sie eingeschlagen hatte und lief quer über eine Wiesenfläche. Die Schilder, die in spanischer, englischer und deutscher Sprache darauf hinwiesen, dass das Betreten verboten sei, ignorierte sie. Mit schnellen Schritten näherte sie sich der Stelle, von der sie glaubte, eine Katze gesehen zu haben. Keuchend stand sie vor der prachtvollen Pflanze. Keine Spur von Pedro, erst recht nicht von Lukas. Fee bückte sich und schob die untersten Zweige zur Seite. Erschrocken fuhr sie zurück. »Pedro!«, rief sie aus. Der Kater war mit einem beherzten Sprung dicht an ihr vorbei aus dem Gebüsch gesprungen. Sie hatte sich also nicht getäuscht.

»Lukas?«, rief sie. Ihre Augen mussten sich erst an das Dunkel gewöhnen. Die herunterhängenden Zweige der Prachtpflanze bildeten mit ihrem dichten Laub ein Blätterdach, unter dem sich ein kleines Kind durchaus verkriechen konnte. Hier wäre das perfekte Versteck, fand sie. Sie blinzelte. »Lukas«, wiederholte sie. Keine Antwort. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie hier richtig war. Sie gab nicht auf. »Lukas, bist du hier irgendwo?«, rief sie wieder. Ihre Augen hatten sich mittlerweile an die Lichtverhältnisse gewöhnt. Dort! Dicht am dicken Stamm der Pflanze lag er! Zusammengekauert und offenbar ohne Bewusstsein.

Beherzt zog Fee den Jungen unter dem Strauch hervor. »Martina!!«, rief sie, so laut sie konnte. »Hierher!!! Ich habe ihn gefunden!« Sie wusste, dass sie sofort handeln musste. Lukas atmete, das war schon mal beruhigend. Bevor sie ihm den Traubenzucker einflößen konnte, musste sie erst wissen, ob der Blutzuckerwert zu hoch oder zu niedrig war. Wie viele Bonbons hatte er gegessen? Sie klopfte Lukas ins Gesicht, hob seinen Oberkörper an. Er hing schlaff in ihren Armen, als seine Mutter atemlos angerannt kam. Fee ärgerte sich, dass sie in der Hektik des Aufbruchs nicht daran gedacht hatte, ein Zuckermessgerät aus der Praxis mitzunehmen. Sie überlegte einen Moment, welcher Schritt als nächstes wichtig war, um den Jungen zu retten. Umso überraschter war sie, als Martina ihr wortlos ein Messgerät entgegenhielt. Später erklärte sie, dass sie seit Lukas’ Krankenhausaufenthalt immer ein Testgerät bei sich hatte. Jetzt wäre jedes Wort zu viel gewesen. Es musste gehandelt werden.

Fee zögerte keine Sekunde. Sie brachte das Kind in die stabile Seitenlage, pikste Lukas in den rechten Zeigefinger, setzte den Messstreifen an und führte ihn anschließend in das Messgerät ein. Nach fünf Sekunden wusste Fee Bescheid. Der Junge hatte deutlich Unterzucker!

»Schnell, laufen Sie zum Café gleich dort drüben und holen Sie Orangensaft oder Cola«, wies sie Martina an, die sich sofort auf den Weg machte. Als sie nach nur wenigen Minuten zurückkam, reagierte Lukas schwach. Fee stützte seinen Rücken und hielt ihn in der Sitzposition, während sie versuchte, ihm den Orangensaft schluckweise einzuflößen. Die halbgeöffneten Augen und der erstaunte Blick ließen darauf schließen, dass er wieder bei Bewusstsein war. »Lassen Sie zwei Traubenzuckerbonbons im Saft auflösen«, forderte Fee Martina auf. »Und rufen Sie Carlos an. Sagen Sie ihm Bescheid, er soll eine Elektrolyt-Infusion mitbringen und die Polizei benachrichtigen.« Fee handelte besonnen und professionell. Wie immer.

Lukas erholte sich schnell. Suchend blickte er sich um. »Wo ist mein Teddy?«, fragte er.

»Ich hole ihn dir gleich«, beruhigte ihn Martina. »Er liegt bestimmt noch unter dem Busch. Was machst du denn für Sachen?«

»Bitte jetzt keine Vorwürfe«, ermahnte sie Fee. »Er muss sich auf jeden Fall noch erholen. Am besten sollte er wieder ins Krankenhaus, aber wenn Carlos sich die nächsten 24 Stunden um ihn kümmern kann, wäre das auch in Ordnung.«

»Ja, natürlich kann ich das machen.« Carlos hatte ihren letzten Satz gehört. Er war so schnell wie möglich in den Sitio Litre Garten geeilt und war nun überglücklich, seinen Sohn wohlauf vorzufinden.

»Wir können Ihnen nicht genug danken«, wiederholten er und Martina beinahe gleichzeitig und immer wieder. »Sie haben unserem Jungen schon zum zweiten Mal das Leben gerettet! Wir sind Ihnen so dankbar!«

»Nun machen Sie beide was daraus«, erwiderte Fee und hätte sich danach gleich am liebsten auf die Zunge gebissen.

Martina und Carlos wechselten einen vielsagenden Blick. Sie hatten sie also verstanden, aber sie wusste auch, dass sie mit ihrer Bemerkung eigentlich zu weit gegangen war.

»Sie kommen jetzt sicherlich alleine zurecht«, sagte sie und verabschiedete sich. Es gab nichts mehr zu tun für sie. Wie es nun mit der kleinen Familie weitergehen sollte, mussten die beiden untereinander ausmachen.

*

Am Abend war Felicitas ziemlich erschöpft. Die Aufregungen der vergangenen Stunden saßen ihr in den Knochen. Mit Entspannung hatte ihr Aufenthalt im Urlaubsparadies bis jetzt noch nicht besonders viel zu tun gehabt. Trotzdem war sie zufrieden.

»Weißt du«, sagte sie beim Abendessen zu Petra, »ich bin Ärztin mit Leib und Seele. Davon abgesehen, dass es ohnehin meine Pflicht war, zu helfen, hätte ich es mir nicht vorstellen können, einfach wegzusehen.«

»Naja, dann hat dein Urlaub hier ja doch auch etwas Positives. Erkenntnisse über sich selbst sind überaus wichtig. Ich spreche aus Erfahrung«, entgegnete Petra. »Aber deine letzten Tage hier auf der Insel kannst du hoffentlich ohne derartige Aufregungen verbringen. Wann fliegst du zurück nach München? Ich müsste es eigentlich wissen, aber ich habe es vergessen.« Petra schmunzelte, und Fee wurde einmal mehr bewusst, welcher Charme von der attraktiven Frau ausging.

»In drei Tagen. Am Freitag fliege ich zurück. Einerseits freue ich mich sehr auf meine Familie, auf meinen Mann und sogar auf meine Arbeit. Andererseits könnte ich es durchaus noch eine Weile hier aushalten.« Fee lehnte sich zurück, nippte an ihrem Rotwein und versuchte, ihre Gedanken auszuschalten. Es gelang ihr fast. Bis Martina sie wieder in die Wirklichkeit zurückholte.

»Martina hat mir vorhin eine Nachricht geschrieben. Sie fragt mich, ob sie dich wohl noch einmal kontaktieren darf.«

»Warum fragt sie mich denn nicht selbst?«, gab Fee amüsiert zurück.

»Naja, sie weiß ganz genau, dass du nahezu deinen ganzen Urlaub damit verbracht hast, die Familie Bauer auf verschiedene Weise zu unterstützen.«

»Ich melde mich morgen bei ihr«, kündigte Fee an. »Was will sie denn? Hat sie was angedeutet?«

»Nein, aber ich könnte mir vorstellen, dass ihr Entschluss, nach Deutschland zu gehen, ins Wanken geraten ist.«

»Das wäre ja wünschenswert«, murmelte Fee. »Wieso um alles in der Welt, wollen denn ihre Eltern unbedingt zurück? Weißt du das?«

»Tja. Im Alter bereut man so manchen Schritt, den man in jungen Jahren getan hat«, sagte Petra nachdenklich. »Martinas Vater hat gesundheitliche Probleme. Ihre Mutter sprach schon lange davon, dass sie sich ihren Lebensabend in der alten Heimat mindestens genauso gut vorstellen könnte wie hier. So kam eins zum anderen. Und nun fliegen sie demnächst zurück. Ich denke, ihr Entschluss steht. Ob Martina es sich noch einmal anders überlegt, hängt jetzt ganz davon ab, ob sie sich mit Carlos einigt.«

»Du meinst, sie bliebe lieber hier, kann es aber nicht, wenn sie keine Unterstützung erhält?« Fee war nicht sicher, ob sie die Situation richtig überblickt hatte.

»Genauso ist es«, bestätigte Martina Fees Vermutung. »Wenn die beiden damals ein Paar geblieben wären, gäbe es kein Problem. Carlos hätte seine Fitnessgeräte in den Keller geräumt, und schon wäre für Lukas ein Kinderzimmer vorhanden. Sie könnten zu dritt über der Praxis wohnen, Martina könnte vielleicht sogar ein paar Stunden im Hotel ­arbeiten und ansonsten … Friede, Freude, Eierkuchen, wie man so schön sagt.«

»Naja, so einfach ist es ja nicht«, wandte Fee ein. Und schon wieder steckte sie knietief in den Problemen anderer Leute. Sie seufzte. »Ich kümmere mich darum«, sagte sie. Wie oft hatte sie diesen Satz in ihrem Leben wohl schon gesagt? Aber im Grunde war sie froh darüber, dass sie so viel Einfühlungsvermögen besaß. Wäre es nicht so, würde sie nicht andauernd wieder von anderen Menschen um Rat gefragt werden.

Sie hätte es gar nicht anders haben wollen, das war ihr in diesem Moment bewusst geworden.

Am nächsten Tag war Martina hörbar erleichtert, als sich Fee bei ihr am Telefon meldete. Sie verabredeten sich für den späten Vormittag in der Eisdiele an der Strandpromenade, die Felicitas schon von ihren Spaziergängen her kannte. Lukas war auch dabei. Zufrieden nahm Fee zur Kenntnis, dass Martina ihrem Jungen nur eine Kugel Eis bestellte und auf sein Drängeln nach mehr nicht einging. Endlich zeigte man dem Kind die nötige Konsequenz, dachte Fee.

»Sie wollten mit mir sprechen?«, begann Fee, als sie spürte, dass Martina nicht so recht wusste, wie sie das Gespräch beginnen sollte.

Martina zögerte. Fee wartete geduldig. »Ja. Danke, dass Sie sich noch einmal für uns Zeit nehmen«, sagte sie endlich. »Ich muss mit einer neutralen Person sprechen, und da habe ich natürlich an Sie gedacht. Sie nehmen mir das hoffentlich nicht übel.«

»Keineswegs, scheuen Sie sich nicht. Heraus mit der Sprache.« Fee glaubte zu wissen, was die hübsche junge Frau mit ihr besprechen wollte. »Geht es um Ihre bevorstehende Abreise?«, half sie ihr auf die Sprünge.

»Ja, so ist es.« Martina atmete auf. Es tat ihr gut, sich nicht erst lange erklären zu müssen. Sie kam gleich zur Sache. »Ich habe meine Eltern vorhin zum Flughafen gebracht.«

»Das ging jetzt aber schnell.« Fee war überrascht. So rasch hätte sie nicht damit gerechnet.

»Ja, es gab ein Problem mit dem Notartermin für die beiden Wohnungen, und da meine Eltern ja sowieso schon alles vorbereitet hatten, buchten sie ihren Flug spontan um. Und ich werde auch bald fliegen.«

»Das habe ich mir gedacht, aber sagen Sie, wie kann ich Ihnen denn jetzt helfen?«

»Bestätigen Sie mir bitte, dass ich mich richtig entschieden habe.« Martinas Blick sprach Bände.

Fee spürte die Unsicherheit der jungen Mutter. »Sie haben sich das doch bestimmt alles gut überlegt, Martina. Oder haben Sie noch Zweifel?«

»Ja … oder nein … ach, ich weiß nicht. Es ist so …« Dann begann sie endlich, sich alles von der Seele zu reden. Sie erzählte von ihrer Angst um ihren Sohn. Ihr Entschluss, künftig in Deutschland zu leben, hatte auch mit ihm zu tun. Er sollte die bestmögliche medizinische Versorgung erhalten. Aber das war nicht alles, was hinter ihrem Plan steckte. Ihre Eltern waren nicht mehr die Jüngsten. Momentan waren sie noch einigermaßen fit, jedenfalls soweit, dass sich ihre Mutter um Lukas kümmern konnte, während Martina arbeitete. Lukas war bislang gewissermaßen bei seinen Großeltern aufgewachsen. Eine Trennung von ihnen wäre für den Jungen sicherlich nur schwer zu verkraften. Noch dazu kam, dass sie für ihre Eltern da sein wollte, wenn sie irgendwann einmal selbst Unterstützung und Hilfe benötigten. Wie sollte sie das von Teneriffa aus bewerkstelligen? Es gab aber auch ein ganz pragmatisches Argument dafür, ihren Eltern nach Deutschland zu folgen. Wer sollte sich denn nun um Lukas kümmern, während sie den Lebensunterhalt verdiente? Durch die Vermittlung ihres Vaters hatte sie in Köln bereits eine Stelle in einem Reisebüro in Aussicht. Bliebe sie hier, müsste sie aller Voraussicht nach ihre bisherige Arbeit im Hotel aufgeben und würde kein Geld mehr verdienen können.

Martina unterbrach ihren Redeschwall. Fee merkte ihr an, dass sie krampfhaft alle Argumente aufzuzählen versuchte, die für ihre Abreise sprachen. Aber ihre traurigen Augen sprachen eine andere Sprache. Sie erzählten von Kummer und Schmerz, von tiefer Verunsicherung und Verzweiflung.

»Und Carlos?« Fee brachte das Thema ganz bewusst auf den Punkt. »Wie sehr hängt Lukas an seinem Vater? Und rührt es Sie denn gar nicht, dass Carlos sehr unter einer Trennung von seinem Sohn leiden würde?«

»Die beiden lieben sich. Glauben Sie bitte nicht, dass mich das kalt lässt. Aber ich denke, Lukas wird die Trennung von seinem Vater eher verkraften als die von seinen Großeltern.«

»Glauben Sie das wirklich?« Fee warf einen besorgten Blick auf Lukas. Er war hochkonzentriert damit beschäftigt, die bunten Streusel aus seinem Vanilleeis zu picken. Offensichtlich bekam er nicht mit, worüber die beiden Frauen sprachen.

»Ich weiß es nicht«, gab Martina offen zu. »Es mag sein, dass ich mir die Sache so hinbiege, damit ich mit meiner Entscheidung besser klarkomme. Deshalb wollte ich doch mit Ihnen sprechen, Felicitas. Bitte sagen Sie mir offen Ihre Meinung. Was halten Sie davon?«

Fee räusperte sich. »Nun gut, dann werde ich nicht hinterm Berg mit meinem Urteil halten. Erstens: Ich denke, Sie haben Ihre Möglichkeiten hier auf Teneriffa noch nicht vollständig ausgeschöpft. Auch wenn Sie und Carlos kein Paar mehr sind, können Sie sich beide um Ihren gemeinsamen Sohn kümmern. Ich hatte bisher den Eindruck, dass Carlos dazu absolut bereit wäre, sich mehr als bisher einzubringen. Das müssen Sie natürlich auch zulassen.« Fee unterbrach sich selbst. Sie wollte Martina Zeit geben.

»Und zweitens?«

»Zweitens: Wissen Sie, mein Mann und ich, wir haben fünf Kinder. Sie sind mittlerweile alle erwachsen und gehen ihre eigenen Wege. Der Unterschied zu Ihnen und Carlos ist der, dass wir als Paar gemeinsam an einem Strang ziehen. Aber ich weiß ganz genau, dass unseren Kindern der Vater genauso wichtig war und ist wie ich als Mutter. Ich denke, wenn es in unserer Familie das Undenkbare gegeben hätte, ein Zerwürfnis, hätten mein Mann und ich dennoch in der Kindererziehung an einem Strang gezogen. Ich sage das, obwohl ich sicher bin, dass wir niemals auseinandergegangen wären. Verstehen Sie, was ich Ihnen damit zum Ausdruck bringen will?« Aufmerksam forschte Fee in Martinas Gesicht nach einer Reaktion.

»Ja. Sie wollen mir damit sagen, dass Lukas und Carlos genauso zusammengehören wie Lukas und ich«, fasste Martina zusammen.

»Nicht nur das. Ich bin überzeugt davon, dass Lukas langfristig sehr darunter leiden würde, wenn Sie ihm den Vater entziehen.« Jetzt war es raus. Anfangs hatte Fee gar nicht so deutlich werden wollen, aber jetzt konnte sie nicht mehr anders.

»So sehen Sie das? Ich entziehe ihm den Vater?«

Fee nickte. »Es kommt noch dazu, dass Ihre Bedenken hinsichtlich der medizinischen Versorgung zwar verständlich, aber überflüssig sind. Ich meine … Carlos ist Kinderarzt! Gibt es denn bessere Voraussetzungen? Außerdem nimmt er­ an der Fortbildung teil, die ich gleich nach meiner Rückkehr nach München in Angriff nehmen werde. Ich bin sicher, dass Sie sich über dieses Thema keine Sorgen machen müssen. Und bevor Sie jetzt erneut das Großeltern-Argument in den Ring werfen: Es sind nur wenige Flugstunden. Einem gegenseitigen Besuch, wann immer Sie wollen, steht nichts im Weg. Was später einmal sein wird, wenn Ihre Eltern selbst Unterstützung benötigen, steht in den Sternen. Das können Sie doch getrost abwarten. Ich bin sicher, dass Sie als funktionierende Familie auch dann die richtigen Lösungen finden werden.«

Fee rechnete damit, von Martina in die Schranken gewiesen zu werden. Vielleicht war sie zu weit gegangen, aber das, was sie sagte, entsprach ihrer vollsten Überzeugung. Umso überraschter war sie, als Martina nachdenklich schwieg.

»Da ist noch etwas anderes, Felicitas«, sagte sie endlich. »Ich kann Carlos nicht mehr vertrauen, seit … seit er mich betrogen hat. Verstehen Sie das?«

»Ja. Aber Vertrauen kann man wieder aufbauen. Außerdem hat das höchstens etwas mit Ihnen als Mann und Frau zu tun. Aber nicht mit der Beziehung zwischen Vater und Kind. Machen Sie nicht den Fehler, Ihre Enttäuschung als Frau auf Ihr Kind zu übertragen. Benutzen Sie Ihr Kind nicht dazu, Ihre erlittenen Verletzungen zu rächen.«

»Wissen Sie, in den letzten Tagen hat sich in mir etwas bewegt. Ich habe Carlos zum ersten Mal seit damals fürsorglich und liebevoll erlebt. Und noch mehr. Ohne ihn hätte ich die Angst um Lukas nicht überstanden. Er war da. Nicht nur für Lukas, sondern auch für mich, verstehen Sie? Es gab da ein paar Momente …«

»Martina, natürlich verstehe ich Sie. Deshalb rate ich Ihnen ja, mit Ihrer Entscheidung noch zu warten. Überstürzen Sie nichts«, schlug Fee vor.

Wie Martinas Entscheidung ausfiel, erfuhr Fee vorläufig nicht. Die beiden Frauen verabschiedeten sich. Fee streichelte Lukas zärtlich über den Wuschelkopf und kümmerte sich in den verbliebenen zwei Tagen ihres Urlaubs nur noch um sich selbst.

Die Überraschung war groß, als sie am Tag ihrer Heimreise von Petra zum Flughafen gebracht und verabschiedet wurde.

»Du kommst wieder, versprich mir das«, hauchte Petra ihrer Freundin während der letzten Umarmung ins Ohr.

Bevor sich Fee für alles bedanken konnte, wurde sie abgelenkt. Ein Kind schluchzte laut und herzzerreißend. Instinktiv schaute sie sich um … und erschrak! Es war Lukas! Krampfhaft hielt er seinen Teddy vor die Brust. Hilflos stand er vor seinem Vater. Der war vor ihm auf die Knie gegangen und versuchte, seinen Sohn zu beruhigen. Zärtlich nahm er ihn in die Arme. Fee konnte Carlos’ Gesicht sehen und erkannte, dass er übermenschliche Kräfte aufbrachte, um nicht ebenfalls zu weinen.

»Sei nicht traurig, mein kleiner Schatz«, hörte sie seine heisere Stimme. »Ich besuche dich, so oft ich kann. Und wenn du größer bist, kannst du auch alleine zu mir fliegen. Wann immer du willst.« Er strich dem zitternden Kind über die Haare.

»Neiiiiiiiiiin!!!!!!!!!«, brüllte der Kleine. »Will hier bleiben!!!!« Dicke Tränen kullerten ihm über die Wangen. Sein erhitztes Gesicht war puterrot vor Anstrengung.

»Ich weiß es doch, mein Liebling.« Carlos’ Stimme versagte.

Fee beschloss, sich nicht einzumischen. Auch nicht, als sie Martina in einiger Entfernung zu der dramatischen Abschiedsszene mit versteinertem Gesicht warten sah, bis sich Carlos und Lukas endlich voneinander lösten.

»Ich hab dich lieb, Lukas. Vergiss das nie. Aber ich muss mich jetzt von dir trennen«, hörte sie Carlos mit tränenerstickter Stimme sagen. »Ich verspreche dir, dass ich immer für dich da sein werde. Wann immer du mich brauchst, bin ich hier. Wenn etwas ist, steige ich ins Flugzeug und komme zu dir. Wir gehen jetzt nicht endgültig auseinander. Das musst du mir glauben, ja?«

Lukas hatte sich etwas beruhigt. Seine Schultern zuckten noch ab und zu, aber er weinte nicht mehr hemmungslos. Traurig hörte er seinem Vater zu und nickte tapfer.

»Ich bin und bleibe immer dein Papa. Und du bist für immer mein kleiner Liebling. Immer … vergiss das nicht. Ich bin in Gedanken Tag und Nacht bei dir.« Carlos nutzte den Moment. Er fasste Lukas an den Schultern, drehte ihn in Martinas Richtung und gab ihm einen auffordernden Klaps auf den Po. »Jetzt lauf zu Mama, sie wartet schon.« Mit hängendem Kopf, seinen Teddybär immer noch fest umklammernd, lief Lukas zu seiner Mutter.

»Das ist also Ihre Entscheidung?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Fee stand mit Martina und Lukas am Check-in Schalter.

»Mein Flieger geht eine halbe Stunde nach Ihrem, laut Aushang«, antwortete Martina, ohne auf Fees Frage einzugehen.

»Dann stehen Sie hier falsch«, stellte Fee nüchtern fest. »Der Schalter für die Maschine nach Köln ist dort drüben.« Beim Umschauen entdeckte sie Carlos. Er hatte sich ein ganzes Stück zurückgezogen. In einiger Entfernung, gerade noch so, dass er Martina und Lukas beim Einchecken beobachten konnte, stand er an eine Säule gelehnt. Trotz der Entfernung konnte Fee seinen Kummer erkennen. Der Mann tat ihr im Herzen leid.

Die Abfertigung an ihrem Schalter ging zügig voran. Als sie an der Reihe war, gab sie ihren Koffer ab, zeigte ihr Ticket und ließ sich die Bordkarte aushändigen. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie noch ein bisschen Zeit hatte, bis sie sich in die Abflughalle begeben musste. Petra war noch nicht gegangen. Auch sie hatte die herzerweichende Szene zwischen Vater und Sohn beobachtet.

»So, nun noch mal in aller Ruhe und ohne Ablenkung vielen Dank für alles, Petra. Ich komme sehr gern wieder, und ich hoffe, wir sehen uns auch in München. Du besuchst ja bestimmt ab und zu deine Tochter, und dann meldest du dich auch bei mir, einverstanden?« Fee umarmte ihre Freundin herzlich.

»Mach ich. Ich wünsche dir einen guten Flug, und erhol dich gut von diesem ereignisreichen Urlaub.« Petra lächelte verschmitzt. »Das hier war ja wohl nix mit Erholung.« Sie drückte Fee einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange. »Jetzt entschuldige, ich will Martina auch noch Lebewohl sagen. Im Gegensatz zu dir werde ich sie wohl nie mehr sehen. Ich finde es auch sehr schade, dass sie sich nicht einmal von mir und den anderen Kollegen verabschiedet hat«, beklagte sie sich.

»Sie hat den Kopf voller Sorgen. Da vergisst man schon mal wichtige Dinge«, lenkte Fee ein. »Dann also los, sonst verpasst du sie noch. Wie ich sehe, hat sie auch schon eingecheckt. Ich denke, sie will gleich weiter in die Abflughalle, damit sie Carlos nicht mehr sehen muss.«

Fee beobachtete das kurze Gespräch zwischen Martina und Petra. Lukas klammerte sich an die Hand seiner Mutter und suchte unablässig mit seinen Augen nach seinem Vater. Er konnte ihn wohl nicht entdecken, sonst hätte er sich bestimmt noch einmal losgerissen und wäre zu ihm hingerannt, vermutete Fee. Eine letzte Umarmung zwischen Petra und Martina und dann war es soweit. Entschlossen zog Martina ihren Sohn an der Hand hinter sich her. Lukas stolperte mehrmals über seine eigenen Füße, weil er nicht auf den Weg achtete, sondern noch immer seinen Kopf nach allen Richtungen drehte. Beim Anblick dieser Szene stiegen Fee die Tränen in die Augen. Sie konnte diese Frau beim besten Willen nicht verstehen. Kopfschüttelnd sah sie den beiden nach, bis sie aus ihrem Blickfeld verschwunden waren.

Fee hatte noch Zeit, sich einen Kaffee aus dem Automaten zu holen. Carlos stand wie versteinert an die Säule gelehnt. Fee hätte ihn gern getröstet, aber was hätte sie ihm denn sagen sollen? Martina hatte ihre Entscheidung getroffen, und er musste damit zurechtkommen. Wie hart das Leben doch manchmal war!

»Papa!!!!!«, hörte sie plötzlich. Im selben Moment löste sich Carlos aus seiner Erstarrung. Mit ausgebreiteten Armen rannte er an Fee vorbei. Sie drehte sich um und sah ihm nach. »Aber was machst du denn?«, hörte sie ihn rufen. »Bist du ausgerissen?«

»Papa!!!«, rief der Junge wieder. Carlos hob ihn hoch. Lukas quietschte laut vor Vergnügen, als er von seinem Vater mit erhobenen Armen herumgewirbelt wurde.

Das Drama geht weiter, dachte Fee. Sie wurde aber gleich darauf eines Besseren belehrt, denn ihr Blick fiel auf Martina, die am Check-in Schalter ihres Fluges in eine heftige Diskussion verwickelt schien. Was war denn jetzt los?

»Kann ich helfen?«, fragte sie.

»Ja, indem Sie mir meine Koffer aus Köln zurückschicken, aber das geht ja nicht, Sie fliegen ja nach München.« Martinas Wangen waren gerötet, ihre Augen funkelten.

»Heißt das, Sie bleiben hier?«, fragte Fee hoffnungsvoll.

»Ja. Aber unser Gepäck fliegt. Das kann ich nicht mehr rückgängig machen. Aber was soll’s, dafür wird es eine Lösung geben. Entschuldigen Sie mich jetzt bitte. Ich wünsche Ihnen einen guten Flug.« Ohne Fees Antwort abzuwarten, lief sie auf Carlos und Lukas zu. Fee lächelte, als sie beobachtete, wie Martina und Carlos ein paar Worte wechselten und er sie dann zärtlich in den Arm nahm. Zufrieden ging sie in den Warteraum, stieg beim Aufruf ihres Flugs in die Maschine und freute sich auf ihren Mann. Sie war sich absolut sicher, dass Martina und Carlos einen Weg finden würden. Vielleicht sogar einen gemeinsamen Weg. Sie wünschte es den beiden von Herzen, und erst recht wünschte sie es dem kleinen Lukas.

Ihr Mann Daniel nahm sie bei ihrer Ankunft in München zärtlich in die Arme. »Was machst du denn hier?«, fragte Fee erfreut. »Warum bist du nicht in der Klinik? Du hast doch gar keine Zeit, mich abzuholen?«

»Die Zeit nehme ich mir, mein Feelein. Es gibt nichts, was wichtiger wäre, als meine geliebte Frau vom Flughafen abzuholen.« Sein Kuss fiel leidenschaftlicher aus als eigentlich beabsichtigt, aber als er sie endlich wieder in seinen Armen halten konnte, ging sein Temperament mit ihm durch.

Amüsiert schob sie ihn ein Stück weg von sich.

»Dan, wir sind hier nicht alleine«, sagte sie lächelnd.

»Dann wird es höchste Zeit, nach Hause zu fahren«, antwortete er und steuerte mit ihr im Arm den Taxistand an.

Chefarzt Dr. Norden Staffel 8 – Arztroman

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