Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Staffel 9 – Arztroman - Helen Perkins - Страница 9

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Fee Norden stellte die Kanne mit dem frischen Kaffee auf den Frühstückstisch und setzte sich. Ihr Mann Daniel war bereits in die Morgenzeitung vertieft, während Désirée sofort ihre Tasse füllte und dabei seufzte: »Bei dem Regenwetter werde ich ohne Koffein nicht munter. Der Herbst nervt.«

Dr. Daniel Norden legte die Zeitung beiseite und erinnerte seine Tochter: »Vor kurzem hast du dich über den viel zu heißen Sommer beschwert. Ich habe den Verdacht, das Wetter kann es dir in diesem Jahr nicht recht machen, Schätzchen.«

Das hübsche Mädchen mit dem leuchtenden Blondhaar lächelte verhalten. »Ich geb’s zu, Paps, ich bin zu anspruchsvoll. Aber im Moment könnte etwas Sonne nicht schaden, findet ihr nicht?« Sie warf einen missmutigen Blick aus dem Fenster, vor dem aus tief hängenden, grauen Wolken Schnürlregen fiel.

»Ich hätte gegen ein paar Sonnenstrahlen auch nichts einzuwenden«, gestand der Chefarzt und Leiter der Behnisch-Klinik seiner Tochter zu. »Vor allem, da ich heute arbeiten muss und nicht, wie ihr beiden, auf der faulen Haut liegen kann.«

Fee lachte leise, wobei ihre erstaunlich blauen Augen amüsiert funkelten. Nachdem sie fünf Kinder groß gezogen hatte, arbeitete sie wieder in ihrem Beruf als Ärztin. Sie war als Leiterin der Pädiatrie in der Behnisch-Klinik beruflich ebenso engagiert wie ihr Mann. »Wir haben eine lange Liste von Arbeiten im Haus, die heute erledigt werden müssen, Dan. Auf der faulen Haut liegen würde ich das nicht unbedingt nennen.«

»Also schön, ich nehme alles zurück. Wird denn diese Hausarbeitsorgie wenigstens ein feines Abendessen zeitigen?«

»Ihr redet schon übers Abendessen, während ich noch nicht mal gefrühstückt habe«, beschwerte Janni sich und ließ sich neben seiner Zwillingsschwester am Tisch nieder. »Der Professor«, wie er im Familien- und Freundeskreis genannt wurde, rückte seine Hornbrille zurück und lächelte einnehmend. »Was gibt’s denn?«

»Wir haben uns noch keine Gedanken darüber gemacht«, gab Dési zu. »Aber Mama und ich fahren nachher zum Biohof nach Unterschleißheim. Da gibt’s das beste frische Obst und Gemüse von ganz München. Daraus lässt sich bestimmt was zaubern, nicht wahr, Mama?«

»Obst und Gemüse?«, wunderte Janni sich und biss in eine Semmel. »Sind wir neuerdings Veganer?«

»Das nicht, aber eine gesunde Ernährung hat noch niemandem geschadet, stimmt’, Paps?«

Daniel Norden konnte ihr nicht widersprechen, Janni hingegen verzog den Mund. Er lebte nach dem Motto, dass ihm nur gut tat, was ihm schmeckte. Und »Kaninchenfutter« war eben nun mal so gar nicht sein Ding.

»Wenn euch auf dem Weg in die Pampa ein Huhn vors Auto läuft, bringt es mit«, bat er seine Schwester und erhob sich. »Ich muss los, treffe mich mit ein paar Kumpels.«

»Wollt ihr wieder mal den ganzen Tag vor dem Computer herum hängen und kindische Spiele machen?«

»Keineswegs, Schwesterherz. Wir treffen sich an der Uni mit einem Doktoranden, der uns was über Informatik erzählt.«

Dr. Norden horchte auf. »Heißt das, du hast dich definitiv entschieden, etwas in diese Richtung zu studieren?«

»Ganz sicher bin ich mir noch nicht, aber es läuft wohl darauf hinaus. IT, Richtung Medizin. Ich glaube, das ist das Richtige für mich.«

»Klingt gut«, befand sein Vater. »Halt mich auf dem Laufenden. Einen fähigen Computerspezialisten können wir in der Behnisch-Klinik immer brauchen.«

Dési lachte leise. »Der und fähig! Janni war schon mit fünf ein zerstreuter Professor. Und daran hat sich bis heute nichts geändert, finde ich.«

»Das werden wir ja sehen, wer von uns beiden zuerst sein Studium abgeschlossen und einen Job gefunden hat.«

»Was soll das werden, ein Wettbewerb? Das fehlte noch!«

Janni triumphierte. »Dachte ich mir, dass du kneifst. Weil du genau weißt, dass ich dich um Längen schlagen werde. Du hast ja noch keinen Dunst, was du überhaupt studieren willst.«

»Na und? Ich finde schon was Passendes.«

»Da bin ich aber mal gespannt. Dann bis heute Abend.« Er grinste breit. »Und vergesst das Huhn nicht…«

»So amüsant eure kleinen Kabbeleien auch sind, ich muss ebenfalls los«, ließ Daniel sich nun vernehmen.

Fee begleitete ihn noch zur Haustür, wo sie einen zärtlichen Kuss tauschten, dann bat sie: »Komm nicht zu spät. Ich koche uns was Schönes.«

Er lächelte jungenhaft. »Schon überredet. Bis dann!«

Während Fee und ihre Tochter wenig später den Tisch abräumten, fragte sie: »Hast du schon ein bestimmtes Studienfach ins Auge gefasst?« Sie dachte daran, dass Dési mit Modedesign liebäugelte, war davon aber nicht sonderlich begeistert, denn das hätte wohl bedeutet, dass sie nach Paris oder Mailand gehen würde. Fee hatte schon so ihre Schwierigkeiten gehabt, die drei Größeren gehen zu lassen. Dass die Zwillinge noch da waren, hatte sie bis zu deren Abi getröstet. Nun hoffte sie im Stillen, dass sowohl Dési als auch Janni in München studieren würden.

»Kunstgeschichte reizt mich«, gab das Mädchen zu.

»Klingt viel versprechend.« Sie lächelte. »Lass dir trotzdem Zeit mit der Entscheidung. Es eilt ja nicht.«

»Heute werde ich mir darüber auch keine Gedanken mehr machen«, meinte Dési daraufhin unbekümmert. »Wo hab ich nur den Zettel fürs Einkaufen hingelegt? Mal sehen, ob wir auch nichts vergessen haben.« Sie griff nach der Liste, die auf dem Küchenschrank lag und überflog sie. »Ich glaube, das ist alles. Aber schau du lieber auch noch mal drüber, Mama. Was willst du eigentlich heute Abend kochen? Doch kein Huhn, oder?«

Fee lachte. »Einen schönen Gemüseeintopf mit frischem Brot. Und deinem Bruder zuliebe tun wir auch ein paar geräucherte Würste rein, einverstanden?«

»Okay. Aber mir genügt das Gemüse von Thomas Mayer. Bin mal gespannt, wie du ihn findest. Er ist unheimlich nett.« Sie hatte den Biohof auf einer Radtour entdeckt und schwärmte seither von den frischen Produkten ebenso wie vom Bauern selbst.

Fee bedachte sie mit einem forschenden Blick. »Er gefällt dir wohl, dieser Biobauer…«

»Ich mag ihn, das stimmt. Aber nicht so, wie du denkst. Vor einem Jahr ist seine Frau gestorben. Hella Braun, die im Hofladen arbeitet, hat mir das erzählt. Es war sehr schlimm für ihn, er trauert immer noch.«

»Verstehe. Und diese Hella, wie ist die so?«

»Genauso nett. Dabei hat sie schon einiges hinter sich. Ihr ehemaliger Freund hat sie geschlagen und terrorisiert. Sie hat sogar mal eine Weile im Frauenhaus gewohnt, weil sie nicht wusste, wohin. Seit sie mit ihrer kleinen Tochter auf dem Biohof lebt, geht es ihr gut. Da hat sie endlich Ruhe vor dem miesen Kerl. Und Isabell ist ein ganz süßes Mädchen, geht in die erste Klasse und hilft schon auf dem Hof. Sie sagt, sie möchte später mal Bäuerin werden, ist das nicht niedlich?«

»Klingt alles richtig paradiesisch.«

»Na ja, es ist wohl in erster Linie harte Arbeit. Aber ich finde es gut, was sie machen. Giftfreie Lebensmittel, frisch vom Acker, was will man mehr? Und wenn dann noch ein nettes Schwätzchen abfällt …«

Fee lachte. »Dann sollten wir uns auf den Weg machen. Ich bin schon richtig neugierig.«

*

Als Klinikchef oblagen Daniel Norden nicht nur medizische Aufgaben, er musste sich auch um Verwaltung und Organisation kümmern und häufig den Weg durch die Instanzen beschreiten, um etwas zu erreichen oder zu verbessern. Diese Vorgänge waren aber nicht nur langwierig, sie lagen dem engagierten und manchmal ungeduldigen Mediziner nicht wirklich. So kam es, dass sich stets einiges ansammelte, das Daniel Norden dann in einem Rutsch abarbeitete, bevorzugt an einem Samstag wie diesem, an dem er ungestört war. Katja Baumann, seine Assistentin, hatte frei. Die Tür zum Vorzimmer stand offen, es war still. Was dem Chefarzt der Behnisch-Klinik ein wenig fehlte, war der Kaffeeduft.

Katja hatte vor einer Weile einen Vollautomaten angeschafft, und Daniel Norden machte lieber einen Bogen um den einschüchternden Kasten mit den vielen Knöpfen und dem bläulich schimmernden Display. Er würde eben auf Kaffee verzichten müssen, auch wenn es ihm beim Ausfüllen von Formularen und Anträgen an die Klinikverwaltung schwer fiel, so den rechten Schwung und Elan aufrecht zu halten…

Ein schüchternes Klopfen an der Tür erschien Dr. Norden nach einer Weile wie eine willkommene Unterbrechung. Er rief ein freundliches »Herein«, und gleich darauf betrat eine Frau in mittleren Jahren sein Büro. Sie war klein und rundlich, ihr graues Haar kurz geschnitten. In ihrem gutmütigen Gesicht bestachen die tiefblauen Augen, die stets zu lächeln schienen.

»Frau Kappler, das ist eine Überraschung«, sagte Daniel Norden und bot der Besucherin Platz an.

»Ich will Sie aber nicht stören, Herr Doktor«, wandte sie ein und zögerte, sich zu setzen.

»Sie stören nicht, nun setzen Sie sich schon.«

Maria Kapplers Vater hatte vor ein paar Wochen einen schweren Herzinfarkt erlitten und lag seitdem in der Behnisch-Klinik. Der ehemalige Lokführer war ein Feuerkopf, ein Zornnagel erster Güte. Er lebte bei Tochter und Schwiegersohn in der Einliegerwohnung und bestimmte deren Leben total. Die Kapplers konnten sich einfach nicht gegen den Tyrannen wehren.

»Ich würde Ihnen einen Kaffee anbieten, aber meine Assistentin hat heute frei«, ließ er sie wissen.

Die Besucherin überlegte nicht lange. »Ich koche uns schnell eine Kanne. Wo ist denn die Maschine?«

»Sie steht im Vorzimmer, aber …«

Maria hatte das Büro des Chefarztes schon wieder verlassen, er hörte sie im Vorzimmer sagen: »Ein Vollautomat, so einen hab ich mir immer gewünscht. Was soll es denn sein, Herr Doktor? Da hat man die Auswahl.«

Daniel Norden trat in die Tür und lächelte. »Ich überlasse Ihnen die Entscheidung, Frau Kappler.«

Es dauerte nicht lang, dann kehrte sie ins Chefbüro zurück, mit einem Tablett, auf dem nicht nur frischer Kaffee verführerisch duftete, sondern sich auch noch ein Teller mit selbst gebackenen Schokokeksen befand.

»Ich hoffe, sie schmecken Ihnen. Eigentlich habe ich sie meinem Vater mitgebracht. Aber er sagt, sie wären zu hart und hätten einen tranigen Beigeschmack. Er hat mir die Tüte an den Kopf geworfen.« Sie senkte verschämt den Blick.

Dr. Norden probierte einen Keks und lobte: »Die sind sehr gut. Knusprig und frisch. Und sie schmecken wunderbar nach Schokolade. Mein Kompliment.«

»Danke. Ich nehme immer Blockschokolade und gebe noch ein bisschen echten Kakao dazu, meinem Mann schmecken sie dann am besten. Nur dem Vater, dem kann man eben nichts recht machen …« Sie seufzte leise. »Aber ich will Sie nicht mit meinen Sorgen belästigen. Eigentlich wollte ich nur fragen, wielange mein Vater noch hier bleiben muss.«

»Das kann Ihnen der Kollege Schön sagen, Frau Kappler. Ihr Vater ist ja sein Patient.«

»Ja, ich weiß. Aber er… Na ja, er hat mich zu Ihnen geschickt, zum Fragen. Er sagt, man geht nie zum Schmiedel, wenn man was erfahren will, sondern immer gleich zum Schmied.«

Dr. Norden musste schmunzeln. »Am besten rede ich mal mit Ihrem Vater. Soweit ich den Fall verfolgt habe, wird er nach seiner Entlassung auf Pflege angewiesen sein. Ich denke mir, ein professioneller Pflegedienst wäre das Beste.«

»Oh nein, das mache ich! Der Vater will keine Fremden im Haus. Das hat er gleich gesagt, als es darum gegangen ist.«

»Können Sie das denn leisten, Frau Kappler? Eine Pflege ist anstrengend und auch mental belastend.«

Sie hob die Schultern. »Ich habe auch meine Mutter gepflegt. Sie war lange bettlägrig. Ich schaffe das schon.«

»Zusätzlich zu ihrer Arbeit?«

»Ich will es erst mal versuchen. Wenn ich es nicht schaffe, gebe ich meine Putzstellen auf. Das habe ich schon mit meinem Mann abgesprochen.«

Daniel Norden machte ein skeptisches Gesicht. Seiner Meinung nach wäre Johann Frey am besten in einem Pflegeheim untergebracht gewesen. Er war ein sehr schwieriger Patient, uneinsichtig, herrschsüchtig und verbohrt. Hatte er Tochter und Schwiegersohn bislang bereits terrorisiert, so würde es nach seiner Entlassung aus der Behnisch-Klinik vermutlich noch schlimmer werden. Und das wollte er, wenn möglich, verhindern.

»Also, wenn Sie einverstanden sind, Frau Kappler, begleite ich Sie, und wir reden mal zusammen mit Ihrem Vater.«

»Ja, aber nur, falls Sie auch Zeit haben. Ich will Sie nicht von etwas Wichtigem abhalten.«

»Wichtig sind mir in erster Linie meine Patienten«, stellte er freundlich klar und erhob sich. »Gehen wir?«

Maria Kappler nickte mit einem erleichterten Lächeln. Dass der Chefarzt sie begleiten wollte, war gut. Dann würde ihr Vater sich hoffentlich ein wenig manierlicher benehmen als eben.

Johann Frey lag mit grimmiger Miene im Bett. Als seine Tochter das Krankenzimmer betrat, grollte er: »Wo bist du nur so lange gewesen, du dummes Huhn? Kein Mensch braucht eine halbe Stunde, um jemandem eine Frage zu stellen. Getrödelt hast du, gib’s zu!«

Dr. Norden folgte Maria und sagte zu dem Patienten: »Herr Frey, wir sollten uns mal in Ruhe unterhalten.«

»Tag, Herr Doktor. Das hätte es aber nicht gebraucht, dass Sie gleich mitkommen. Die Maria sollte Sie ja nur was fragen.«

»Ich weiß. Aber ich wollte mich über Ihren Fall informieren, habe mit dem Kollegen Schön gesprochen. Er ist der Meinung, dass Sie bald nach Hause entlassen werden können. Und dann wird sich dort ja einiges ändern.«

»Ach, Herr Doktor, das soll nicht Ihre Sorge sein. Ich hab die Kinder im Griff, die versorgen mich schon richtig.«

Maria senkte den Blick, als er sie streng musterte. »Nicht wahr, ich kann doch auf euch zählen! Schließlich geb’ ich euch ja auch meine Rente. Dafür kann ich was verlangen.«

»Ihre Tochter ist keine ausgebildete Pflegerin«, gab Daniel Norden zu bedenken. »Bei der Pflege eines Infarktpatienten ist einiges zu beachten, auch was die Medikation angeht. Meiner Meinung nach wäre es deshalb sinnvoller, einen Pflegedienst zu engagieren. Die Leute kommen ein- oder zweimal am Tag ins Haus und kümmern sich ebenso kompetent um Sie wie das Klinikpersonal. Vielleicht denken Sie mal darüber nach, Herr Frey.«

»Nun, Herr Doktor, ich bin ja nicht grundsätzlich dagegen«, behauptete der daraufhin geschmeidig. »Es ist nur, das kostet gewiss eine Kleinigkeit. Und so groß ist meine Rente auch wieder nicht, dass ich die Kinder damit unterstützen und mir noch eine Pflege leisten könnte.«

»Die Krankenkasse springt da ein. Das lässt sich durchaus regeln. Und es wäre eine Erleichterung für Ihre Tochter.«

Der Kranke bedachte Maria mit einem kurzen, ärgerlichen Blick, sagte dann aber sehr freundlich zu Dr. Norden: »Wenn Sie es für das Beste halten, Herr Doktor, denke ich gern darüber nach.«

Ein wenig erstaunt über den guten Willen, den der sonst so unzugängliche Patient bei ihm zeigte, verabschiedete Daniel Norden sich wenig später. Ob er tatsächlich etwas erreicht hatte, erschien ihm aber eher fraglich. Und er sollte sich – leider – nicht getäuscht haben.

»Sag mal, spinnst du?«, fuhr Johann Frey seine Tochter sofort an, als sie unter sich waren. »Rennst zum Chefarzt und ziehst über mich her! Das wirst du noch bereuen, du Widerwurzen.«

»Aber, Vater, das hab ich gar nicht…«

»Schweig still und geh mir aus den Augen!«, knurrte er.

Maria erhob sich und bat: »Denk halt wirklich mal über das nach, was der Dr. Norden gesagt hat. Ein Pflegedienst würde dich gewiss besser versorgen, als ich das kann.«

»Du willst dich wohl drücken.«

»Natürlich nicht. Ich denk dabei nur an dich.«

Da lachte er ironisch auf und warf ihr vor: »Du bist ein undankbares Stück! Mein Geld nimmst, aber dafür tun willst du nix. Vielleicht denkst du mal dran, dass ihr schon längst aus eurem Häusel herausgeflogen wärt ohne meine monatliche Unterstützung. Der Herbert bringt doch nur einen Hungerlohn heim als Postbote. Und du erst recht! Ein bisschen Dankbarkeit könnte ich schon erwarten. Aber davon kann ja keine Rede sein! Du denkst nur an dich, immer nur an dich.«

»Ist schon recht, Vater. Ich pflege dich ja, wie wir es besprochen haben. Ich dachte nur…«

»Spar dir die Gedanken, dabei kommt doch nur was Dummes heraus. Und tu in Zukunft, was ich dir sag, dann ist alles gut.«

Mit einem resignierten Seufzer nickte sie. »Ja, Vater…«

*

»Da vorne musst du abbiegen!« Dési Norden deutete auf ein Holzschild. »Da geht’s zum Biohof!«

Fee setzte den Blinker und atmete auf, als der Hof in Sicht kam. »Das ist aber wirklich nicht leicht zu finden.«

»Hauptsache, wir sind da.« Dési sprang aus dem Auto, kaum dass die Mutter angehalten hatte, und eilte Richtung Hofladen.

Fee Norden schaute sich erst einmal in Ruhe um. Idyllisch war es hier, obwohl die Weltstadt mit Herz nur wenige Kilometer weit entfernt war. Der Hof stammte gewiss noch aus dem vorvorigen Jahrhundert. Er war groß, solide gebaut und zeigte jene bäuerliche Tradition, für die das Alpenvorland seit jeher stand. Man konnte sich wohl fühlen an diesem Ort, umgeben von Feldern, Wiesen und Weiden. Das einzige Zugeständnis an die moderne Landwirtschaft waren die Glashäuser für die empfindlichen Obst- und Gemüsekulturen. Ansonsten konnte man in Nostalgie schwelgen und die würzige Landluft genießen.

»Mama, wo bleibst du denn?« Dési winkte ihr.

»Ich komme!« Fee folgte ihrer Tochter in den Hofladen, wo frisches Obst und Gemüse in selbst gezimmerten Holzregalen zu finden waren. Es duftete süß nach Äpfeln, Birnen und Pflaumen.

Fee schaute sich um, denn es waren noch ein paar Kunden vor ihnen. Dési packte bereits Obst in ihren Einkaufskorb.

»Darf man sich denn selbst bedienen?«, fragte Fee sie.

»Klar, das spart Hella Arbeit. Gewogen wird dann alles zum Schluss.«

»Klingt unkompliziert. Es ist wirklich sehr frisch.« Sie betrachtete nachdenklich die verschiedenen Kohlsorten. »Mal sehen, was wir für den Eintopf brauchen…«

»Hallo, Dési!« Hella Braun trat zu den beiden, das Mädchen stellte seine Mutter vor und meinte: »Ihr habt heute ja eine tolle Auswahl.«

»Ja, Thomas hat heute Morgen einen Teil vom Kohl geerntet.«

»Ich glaube, wir nehmen so einen Spitzkohl«, entschied Fee.

Hella Braun nickte. »Der ist mild und gut verdaulich. Aber sie sollten trotzdem etwas Kümmel dran tun.«

»Gute Idee. Und vielleicht noch zwei Stangen Lauch …«

Dési schaute sich derweil lieber beim Obst um. Hellas kleine Tochter Isabell hockte hier auf einem Stühlchen und blätterte in einem Bilderbuch. Dési wunderte sich, dass das sonst ziemlich quirlige Mädchen an diesem Tag so blass und still war.

»Hallo, Isabell, wie geht’s? Kennst du mich noch?«, fragte sie, ging neben der Kleinen in die Knie und lächelte ihr zu.

Das Mädchen mit den blonden Löckchen und den großen, rehbraunen Augen erwiderte ihr Lächeln. »Du bist Dési aus München.«

»Richtig! Du hast ein gutes Gedächtnis. Aber sag, ist heute denn kein Schultag?«

»Doch. Ich hab Fieber, deshalb bin ich daheim. Die anderen sind heute wandern gegangen.«

Dési musste schmunzeln. »Wandertage gibt’s also noch… Wenn du krank bist, solltest du dich aber besser ins Bett legen.«

»Sie hat nur leichtes Fieber«, sagte Hella da. Die hübsche Frau mit den himmelblauen Augen blickte besorgt auf ihr Kind. »Der Doktor hat gestern nach ihr gesehen und gemeint, es könnte eine Erkältung sein. Sie soll ein paar Tage daheim bleiben, muss aber nicht im Bett liegen, wenn sie nicht müde ist. Ich hoffe, es geht schnell vorbei. Sie ist so still, das kenne ich nicht.«

Isabell schaute die Mutter fragend an. »Soll ich mal schreien und ganz viel Krach machen?«

»Lieber nicht, dann laufen uns die Kunden vor Schreck fort.«

Dési lachte. »Du bist ja schon wieder munter, du kleiner Kobold. Hast du alles, Mama?«

Fee nickte und folgte Hella zur Kasse. In diesem Moment betrat Thomas Mayer den Laden. Er brachte noch eine Steige mit gerade geernteten Kartoffeln. Fee wollte ein Kilo davon mitnehmen.

Während Hella es abwog, sagte Fee zu dem Bauern: »Sie bieten hier eine tolle Qualität, da kann der Viktualienmarkt bald einpacken. Aber Sie sollten besser ausschildern. Ohne meine Tochter, die schon mal hier war, hätte ich den Hof kaum gefunden.«

»Ja, ich weiß, die Schilder kommen immer wieder weg.«

»Weg? Meinen Sie damit, dass sie gestohlen werden?«

Der hoch gewachsene, schlanke Mann lächelte schmal. »Sozusagen. Wir haben hier Konkurrenz, sind nicht der einzige Biobetrieb. Und nicht jeder arbeitet mit fairen Mitteln.«

Fee schnaubte. »Das ist ja allerhand.«

Thomas Mayer schien es locker zu nehmen. »Wir kommen schon zurecht. Qualität setzt sich immer durch.«

»Auch wieder wahr.« Fee zahlte und bemerkte, dass der Bauer den Laden erst verließ, nachdem er sich kurz um Isabell gekümmert hatte. Hella Braum lächelte ein wenig.

»Thomas kann gut mit Kindern umgehen. Für Isabell ist es das erste Mal, dass sie keine Angst vor einem Mann haben muss.«

»Ihr Exfreund?«

Sie nickte. »Ja, und später war es für uns auch schwierig. Erst als wir hierher gekommen sind, haben wir beide Frieden gefunden. Es ist ein ganz besonderer Ort.«

Fee ahnte, dass sie damit nicht nur den Hof meinte, sondern wohl auch den Mann, der ihn bewirtschaftete…

»Komm, Dési, fahren wir«, sagte sie zu ihrer Tochter, die noch neben Isabell stand und sie aufmerksam musterte. »Auf Wiedersehen, Hella. Und gute Besserung für Ihre Kleine.«

»Ich danke Ihnen. Kommen Sie bald mal wieder vorbei!«

Auf dem Rückweg in die Stadt fragte Dési: »Meinst du, dass Isabell wirklich nur erkältet ist? Sie war so still, fast schon apathisch. Als ich letztes Mal auf dem Hof gewesen bin, hat sie herumgetobt, war fröhlich und ausgelassen.«

»Sie hatte keine Symptome«, meinte Fee. »Hatte sie deutlich spürbares Fieber?«

»Nur leicht erhöhte Temperatur, würde ich sagen.«

»Es ist schwer, eine Ferndiagnose zu stellen.«

»Ja, ich weiß, aber ich mache mir doch Sorgen um die Kleine. Vielleicht solltest du sie mal untersuchen, Mama.«

»Dazu besteht noch kein Anlass. Wenn wir nächstes Mal auf den Hof kommen, und ihr Zustand sich nicht gebessert hat, werde ich mal mit Hella über eine Untersuchung bei uns in der Klinik reden. Warten wir einfach bis dahin ab.«

Dési nickte, obwohl sie dabei kein wirklich gutes Gefühl hatte. Etwas sagte ihr, dass es besser gewesen wäre, gleich zu handeln, keine Zeit zu verschwenden. Aber sie konnte diesen Gedanken nicht begründen, es war mehr ein Gefühl. Und sie hoffte, dass sie sich irrte.

*

Als Thomas Mayer am frühen Abend vom Feld zurückkam, war Hella gerade dabei, das Abendbrot zu richten. Allerdings hatte sie nur zwei Teller hingestellt.

»Geht es Isabell schlechter?«, fragte der junge Mann automatisch, in seinen klaren, grauen Augen stand die Sorge um das kleine Mädchen deutlich geschrieben.

»Nein, sie hatte nur keinen Appetit und war müde, deshalb habe ich sie ins Bett gesteckt. Das Fieber ist weg.«

Thomas atmete auf. Seit Hella und Isabell auf seinem Hof lebten, hatte sich für ihn alles zum Guten gewandt. Er war nicht mehr so einsam wie zuvor, er war wieder gerne daheim, und er freute sich immer, wenn er die beiden sah.

Thomas Mayer hatte den Hof von seinen Eltern übernommen. Die waren vor zehn Jahren in den vorgezogenen Ruhestand gegangen, nachdem Franz Mayer einen leichten Infarkt erlitten hatte und die Hofarbeit zu schwer für ihn geworden war. Thomas hatte den Mastbetrieb auf ökologisches Obst und Gemüse umgestellt. Ein großer Schritt, der einen langen Atem bedingt hatte. Doch der junge Landwirt war davon überzeugt, dass in biologisch erzeugten Produkten die Zukunft lag. Böden zu vergiften, auszulaugen und auszubeuten war für ihn keine Option. Er arbeitete mit der Natur, nicht gegen sie. Und damit hatte er im vergangenen Jahrzehnt gute Erfahrungen gemacht.

Natürlich hatte er das alles nicht allein bewältigen können. Seine Jugendliebe Sarah, die er mit Anfang zwanzig geheiratet hatte, war an seiner Seite gewesen. Gemeinsam hatten sie geschuftet, auf vieles verzichtet, vieles verschoben. Wenn der Betrieb lief, dann wollten sie ihre Flitterwochen nachholen, dann wollten sie auch mal kürzer treten und vor allem eine Familie gründen. Doch alles war ganz andere gekommen.

Während der Betrieb eine solide Basis erhielt und anfing, grüne Zahlen zu schreiben, war es Sarah plötzlich schleichend immer schlechter gegangen. Zuerst hatte sie die Beschwerden nicht ernst genommen, aber irgendwann hatte Thomas darauf bestanden, dass sie sich gründlich untersuchen ließ. Und dann war die niederschmetternde Diagnose erfolgt, die ihrer beider Leben zerstört hatte: Leukämie.

Sarah hatte tapfer gekämpft und verloren. Ein Jahr war es nun her, dass Thomas das Liebste auf Erden hatte hergeben müssen, dass er an ihrem Grab fassungslos und hilflos wie ein Kind geweint hatte. Die Welt schien über ihm zusammenzubrechen, nichts war mehr da, woran er sich hätte festhalten können, nur Trümmer, zerbrochene Träume, Trauer und Qual.

Wochen und Monate hatte er wie in Trance gelebt. Seine Eltern, die ihren Lebensabend auf Mallorca verbrachten, waren für eine Weile zurückgekehrt, hatten ihn unterstützt, geholfen, wo sie konnten. Doch die rabenschwarze Verzweiflung hatte noch lange über sein Leben geherrscht, bis sie endlich zu einem halbwegs erräglichen Gefühl von Trauer und Verlust geworden war.

Dann war Hella aufgetaucht, das kleine Mädchen mit dem sonnigen Lächeln an der Hand, und da war es fast so gewesen, als gehe endlich wieder die Sonne über Thomas Mayers Leben auf.

Seither waren sie zu einer kleinen Familie zusammen gewachsen, auch wenn zwischen ihm und Hella weiterhin eine gewisse Distanz blieb. Er trauerte noch, und die junge Frau fand es schwierig, wieder einem Mann zu vertrauen, nachdem sie sehr schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Sie waren sozusagen Leidensgenossen und verstanden sich vermutlich gerade deshalb besonders gut.

»Denkst du, der Doktor hat Recht, dass es wirklich nur eine leichte Erkältung ist?«, fragte er sie nach dem Essen.

»Ich weiß nicht. Isabell war schon öfter erkältet, aber dabei nie so schlapp und müde.«

»Vielleicht sollte er sie noch mal untersuchen.«

»Warten wir erst mal ab. Wenn es ihr jetzt besser geht, war seine Diagnose wohl doch richtig.«

Der Biobauer hob die breiten Schultern. »Hoffen wir es.«

Während Hella und Thomas zu Abend aßen, fanden sich im nahe gelegenen München auch die Nordens um den Esstisch zusammen.

Janni schnüffelte genießerisch, als seine Mutter den Eintopf auf den Tisch stellte.

»Es riecht zwar nicht nach Huhn, aber ziemlich gut«, stellte er fest. »Ich nehme einen großen Teller und zwei Scheiben von dem Brot dazu!«

»Du bist doch nicht mehr im Wachstum«, spöttelte Dési.

»Na und? Ich habe Hunger«, rechtfertigte ihr Bruder sich.

»Wie war’s an der Uni?«, wollte sein Vater interessiert wissen. »Hast du was Neues erfahren?«

»Nicht wirklich«, erwiderte Janni kauend. »Was den Studiengang betrifft, der sieht ungefähr so aus, wie ich ihn mir vorgestellt habe.« Er grinste schmal. »Allerdings gibt es eine ziemlich erfreuliche Neuigkeit. Der Anteil der weiblichen Studenten beim Scientific Computing, wie man das neudeutsch nennt, nimmt seit einer Weile kontinuierlich zu.«

»Und was hat das mit dir zu tun?«, fragte Dési spöttisch.

»Na, ist doch klar: Die Mädels werden von mir stark beeindruckt sein, ich bin dann der Hahn im Korb und steche die anderen Nerds locker aus«, warf Janni sich in die Brust.

Fee musste lächeln. »Schön, dass unsere Kinder ein gesundes Selbstbewusstsein entwickelt haben, findest du nicht auch, Dan?«

»Ich kann dir nicht widersprechen, Liebes«, gab er zu. »Und wie war es auf dem Land? Das Ergebnis eures Einkaufs ist schon mal überaus lecker, vor allem das Brot und die Würstchen.«

»Ach, Paps!« Dési schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Das Brot stammt von unserem Bäcker und die Würsterln von unserem Metzger. Das gute Gemüse ist doch das Herzstück des Eintopfs!«

»Natürlich.« Daniel Norden seufzte. »Es schmeckt einfach alles ganz hervorragend!«

»Vor allem das Brot und die Würstchen«, wiederholte Janni mit einem frechen Grinsen. »Nur gut, dass ich weiterhin hier wohnen kann, wenn ich mit dem Studium anfange. Solche Köstlichkeiten gibt es in der Mensa ganz bestimmt nicht.«

Fee lächelte ihrem Sohn erfreut zu. »Du hast dich demnach schon eingeschrieben?«

»Noch nicht, ich hatte nicht alle Unterlagen dabei. Aber das mache ich in den nächsten Tagen.«

Daniel bedachte seine Frau mit einem verständnisvollen Blick. Er wusste ja, wie sehr sie sich wünschte, dass die Zwillinge zumindest während ihres Studiums noch daheim wohnen blieben. Und was Janni anging, so schien sich dieser Wunsch nun tatsächlich zu erfüllen …

»Du kannst deine Mutterinstinkte noch ein wenig ausleben, Liebes«, sagte er, als sie später bei einem Glas Rotwein zusammen saßen. »Janni bleibt uns erhalten. Und wie ich Dési kenne, wird sie das Nest auch nicht vorschnell verlassen.«

Fee seufzte. »Hoffentlich. Es fällt mir nicht leicht, sie gehen zu lassen. Seltsam, früher habe ich immer über dieses Gefühl des leeren Nests geschmunzelt. Ich dachte, mich wird das nie betreffen. Ich falle in kein Loch, wenn die Kinder alle aus dem Haus sind, schließlich habe ich einen wunderbaren Mann und einen Job, der mich ausfüllt, aber…«

Daniel schmunzelte. »Theorie und Praxis?«

»Ich fürchte, ja«, seufzte Fee. »Wechseln wir lieber das Thema. Wie war es in der Klinik? Hast du alles erledigt, was du dir vorgenommen hattest?«

»Nicht ganz, das Meiste aber schon. Frau Kappler ist aufgetaucht. Ich muss sagen, sie tut mir leid.«

»Das ist die Frau mit dem tyrannischen Vater, nicht wahr?«

Daniel nickte. »Der Mann ist unausstehlich. Mir gegenüber hat er sich sehr freundlich und zugänglich gezeigt, aber das war so übertrieben, dass es unecht gewirkt hat. Es geht ihm nur darum, nach außen hin einen guten Eindruck zu machen. Er tyrannisiert seine Tochter und deren Mann, behandelt sie wie Lakaien. Und er besteht darauf, dass seine Tochter ihn pflegt.«

»Will sie sich denn darauf einlassen?«

»Natürlich. Sie tut alles, was er sagt. Ich fürchte nur, das wird kein gutes Ende nehmen.«

»Hast du nicht versucht, es ihr auszureden?«

»Doch, ich habe mit beiden geredet. Der Vater denkt nicht daran, auf das Vergnügen, sie weiter fertigzumachen, zu verzichten. Und sie traut sich nicht, ihm etwas abzuschlagen.«

»Das klingt gar nicht gut.«

»Ganz meine Meinung. Leider sind mir die Hände gebunden. Ich kann sie nicht zwingen, einen Pflegedienst in Anspruch zu nehmen. Aber ich werde noch mal mit den Kapplers reden. Vielleicht kann ich sie ja überzeugen, dass er in einem Pflegeheim am besten aufgehoben wäre.«

»Möglicherweise machst du dir ja auch zu viele Sorgen…«

»Ja, kann sein, aber ich habe bei der ganzen Geschichte ein ziemlich schlechtes Gefühl. Und das hat mich bisher leider noch nie getrogen…«

*

Ein paar Tage später fuhr Dési Norden mit dem Rad zum Biohof, denn sie wollte wissen, wie es der kleinen Isabell ging. Sie hatte die ganze Zeit an das Mädchen denken müssen und sich dabei Sorgen gemacht. Hella Braun freute sich, Dési zu sehen. Sie wirkte aber ziemlich bekümmert, was nichts Gutes ahnen ließ.

»Isabell geht es immer noch nicht besser«, gab sie leise zu. »Sie hat kein Fieber mehr, ist aber trotzdem dauernd müde und kann sich zu nichts aufraffen. Wenn sie aus der Schule kommt, legt sie sich meistens gleich hin und schläft dann stundenlang. Das ist doch nicht normal, oder?«

Auch Dési fand diese Entwicklung beunruhigend. »Hast du noch mal einen Arzt geholt?«, fragte sie Hella.

»Ja, natürlich. Er hat sie gründlich untersucht, aber nichts finden können, was auf eine Krankheit hindeutet. Er hat mir nur geraten, sie zu beobachten.«

»So ein Stümper! Man kann das doch nicht einfach so vage stehen lassen. Isabell muss richtig untersucht werden, mit Blutabnahme und allem. Das machst du am besten in der Behnisch-Klinik. Ich rede nachher gleich mit meiner Mutter und mache einen Termin für deine Tochter aus. Bist du damit einverstanden?«

Hella zögerte nicht. »Ja, ich glaube, das wäre das Beste.«

»Wo ist die Kleine denn?«

»Hinter dem Haus, da steht eine Schaukel.«

»Ich schau noch kurz nach ihr, bevor ich mich wieder auf die Socken mache. Wenn ich einen Termin habe, rufe ich dich an.«

»Danke, das ist wirklich sehr lieb von dir, Dési.«

»Ach, Unsinn, das ist doch selbstverständlich. Isabell ist so eine süße Maus, sie soll wieder fröhlich sein!«

Davon konnte allerdings nicht die Rede sein. Das Mädchen saß mit blassem Gesicht auf der Schaukel, und dabei fielen ihm dauernd die Augen zu. Als Dési die Kleine begrüßte, lächelte sie matt und murmelte: »Ich bin so müde, ich will ins Bett.«

Das Mädchen legte eine Hand auf Isabells Stirn und stellte fest, dass diese wärmer war als normal. Also hatte die Kleine wieder Fieber. Das gefiel Dési gar nicht. Sie wusste, dass viele chronische Erkrankungen mit einer leichten Erhöhung der Körpertemperatur einhergingen. Ihr Vater hatte mal gesagt, das sei stets ein Warnsignal.

»Komm, wir gehen zu deiner Mama«, beschloss Dési, nahm Isabell an die Hand und kehrte in den Hofladen zurück.

»Sie fiebert wieder«, sagte sie zu Hella, die nicht überrascht war, sondern zugab: »Gestern auch schon. Heute Morgen war ihre Temperatur aber wieder normal. Ich habe mir weiter nichts dabei gedacht, Kinder kriegen schnell mal Fieber.«

»Aber nicht andauernd, das ist nicht normal.«

»Kannst du kurz im Laden bleiben, denn bringe ich sie ins Bett. Ich glaube, das ist das Beste.«

Dési nickte. Nachdem Hella mit Isabell gegangen war, zückte sie ihr Handy und rief ihre Mutter in der Behnisch-Klinik an. Sie schilderte kurz das Problem und wollte wissen, wann Hella ihre Tochter zur Untersuchung bringen könne.

»Am besten noch heute, sobald es geht«, meinte Fee, denn was Dési zu berichten hatte, klang nicht gut.

»Okay, ich rede mit ihr und schicke sie dir dann.«

Als sie Hella vorschlug, gleich in die Behnisch-Klinik zu fahren, erschrak diese doch.

»So schnell? Was hat deine Mutter denn gesagt?«

»Dass ihr kommen sollt, sobald ihr könnt. Ich finde auch, dass schon zu viel Zeit verschwendet worden ist. Isabell muss endlich gründlich untersucht werden, damit die Ursache für ihre Beschwerden gefunden werden kann.«

»Also gut, dann machen wir uns auf den Weg.«

»Soll ich noch bleiben und den Laden abschließen?«

Hella zögerte. »Würdest du das tun?«

»Klar, warum denn nicht? Wenn du einverstanden bist.«

»Ich danke dir, Dési, von Herzen!« Hella drückte das Mädchen kurz, dann eilte sie davon.

Schon wenig später fuhren sie, Isabell und Thomas Mayer nach München. Der Bauer hatte es sich nicht nehmen lassen, sie zu begleiten. Er machte sich nun ebenfalls große Sorgen und wollte wissen, was mit Isabell los war. Die Kleine saß apathisch im Fond des Autos und sprach kein Wort.

In der Behnisch-Klinik wurde Isabell bereits erwartet. Fee Norden kümmerte sich selbst um das Kind, während Hella und Thomas im Warteraum der Kinderstation Platz nahmen.

Schwester Gitta, die Fee Norden bei der Untersuchung zur Hand ging, wunderte sich: »Das ist aber eine liebe kleine Patientin. Sie hat keine Angst und sie schreit nicht. Das gibt es selten.«

Die Leiterin der Pädiatrie lächelte schmal und gab zu: »Es wäre mir lieber, wenn sie ein bisschen lebhafter wäre…«

Nachdem Schwester Gitta der Kleinen Blut abgenommen hatte, wies Fee sie an, dies sofort im klinikeigenen Labor untersuchen zu lassen. Sie wollte alle Befunde zusammen haben, bevor sie mit Hella sprach. Die erfahrene Ärztin hatte bereits einen Verdacht, der allerdings eher vage war.

Isabell litt nicht nur unter leichtem Fieber, Mattigkeit und allgemeiner Schwäche, ihre Lymphknoten waren zudem geschwollen, was auf eine chronische, entzündliche Erkrankung hindeutete. Dies würden aber erst die Befunde der Blutuntersuchung untermauern oder widerlegen.

Es dauerte nicht lange, dann hatte Fee Norden die Zahlen auf ihrem Laptop. Und was sie da sah, war alarmierend. Sie zögerte nicht, sogleich einen Kollegen hinzuzuziehen.

Dr. Philip Schuhmann arbeitete auf Fees Station. Er war aber nicht nur Kinderarzt, sondern hatte eine Zusatzqualifikation als Onkologe. Und Fee befürchtete, dass sie genau diesen Fachmann nun brauchen würde…

»Herr Kollege, bitte schauen Sie sich diese Befunde an«, bat sie, als der junge Arzt ihr Büro betrat. Er warf einen langen Blick auf den Laptop und stellte fest: »Eine deutliche Erhöhung des Leukozytenanteils im Plasma, zudem noch ansteigend.«

Fee seufzte. »Die kleine Patientin weist alle Symptome einer akuten entzündlichen Reaktion im Körper auf.«

»Kann ich die anderen Befunde noch sehen? Ich nehme an, Sie haben die Patientin gründlich durchgecheckt.«

Sie hatte nichts dagegen, ließ ihm Zeit, sich alles in Ruhe anzusehen. Schließlich fragte sie nach seiner Diagnose.

»Es handelt sich eindeutig um eine leukämische Erkrankung des Blutes«, stellte er sachlich fest. »Wie lange besteht sie?«

»Schwer zu sagen. Das Kind hat seit einer Weile schwache Symptome gezeigt.«

»Das heißt, heute wurde die erste gründliche Untersuchung durchgeführt. Die Werte sind nicht gut, meiner Meinung nach besteht schon seit Tagen ein Wachstum. Sie sollte so schnell wie möglich therapiert werden.«

Fee nickte, sie war zu dem gleichen Schluss gekommen, hatte aber eine zweite Meinung hören wollen. Es fiel ihr in diesem Fall schwer, sachlich zu bleiben. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie gleich dabei bleiben könnten, ich muss mit der Mutter reden«, erklärte sie.

Dr. Schuhmann war einverstanden. Er stellte sich Hella Braun vor, blieb aber dannzunächst im Hintergrund. Thomas Mayer begleitete die junge Frau, die Fee Norden ängstlich musterte.

»Was fehlt Isabell?«, fragte der Biobauer Fee. »Es hat ziemlich lange gedauert.«

»Ich habe die Kleine gründlich untersucht, das war nötig. Wir haben jetzt auch einen Befund. Isabell leidet an einer Erkrankung des Blutes, sie muss fürs Erste hier bleiben und stationär behandelt werden.«

Hella sprang auf. Sie starrte Dr. Norden an, ihre Augen füllten sich mit Tränen, ihr Mund formte Worte, die aber unausgesprochen blieben, denn die Stimme versagte ihr.

Thomas Mayer wollte zögernd wissen: »Was bedeutet das? Was genau hat das Kind denn?«

Dr. Schuhmann räusperte sich. »Es ist Leukämie.«

»Nein!« Hella fiel kraftlos auf den Stuhl zurück, schlug die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich. »Nein, das kann nicht sein! Sie darf nicht sterben! Ich habe ja nur sie! Sie müssen sich geirrt haben, Frau Doktor, ja, Sie haben sich geirrt, es ist nicht meine kleine Isabell, die so krank ist, nein, sie ist es nicht, nein, nein, nein…«

»Hella, bitte…« Thomas legte eine Hand auf ihren Arm, doch sie schüttelte seinen Griff ab und weinte nur umso lauter. »Wo ist mein Baby? Meine Kleine, ich gebe sie nicht her, ich…«

Die Mediziner tauschten einen knappen Blick, Dr. Schuhmann erhob sich und kam eben noch recht, um Hella Braun aufzufangen, die unvermittelt in sich zusammen klappte und vom Stuhl rutschte. Thomas Mayer stand hilflos neben ihr, er murmelte: »Das kann doch nicht wahr sein, nicht schon wieder …«

»Warten Sie bitte draußen, Herr Mayer«, bat Fee ihn, dann kümmerte sie sich zusammen mit ihrem Kollegen um die junge Frau, die unter Schock stand.

Thomas Mayer lief vor dem Büro wie in Trance auf und ab. Er hatte das Gefühl, in einem schrecklichen Albtraum zu stecken. Erinnerungen an den Tod seiner Frau übermannten ihn, der Schmerz der Verzweiflung nahm ihm den Atem. Er hatte große Mühe, seine Fassung nicht zu verlieren.

Als Fee Norden ihr Büro verließ, fragte er sofort: »Ist es wirklich wahr? Isabell ist noch so klein…«

»Es tut mir leid, es gibt keinen Zweifel an der Diagnose. Ich habe extra einen Kollegen hinzu gezogen, um eine zweite Meinung zu hören.«

»Und was geschieht jetzt?«

»Isabell bleibt hier, auf meiner Station. Der Kollege Schuhmann wird sofort mit der Behandlung beginnen. Die nächste Zeit wird sehr schwer werden, für die Kleine, aber auch für ihre Mutter. Sie braucht Hilfe, Verständnis und Trost. Trauen Sie sich das zu, Herr Mayer? Meine Tochter hat mir erzählt, dass Ihre Frau ebenfalls an Leukämie erkrankt war.«

Er nickte und senkte den Blick. »Es ist erst etwas länger als ein Jahr her. Ich habe ihren Tod noch nicht überwunden.«

»Das bedeutet, Isabells Krankheit wird alte Wunden aufreißen.«

»Vermutlich.« Er stöhnte. »Aber das ist meine Sache. Ich werde mich um die beiden kümmern, das ist doch selbstverständlich.«

»Gut. Dann gehen Sie jetzt zu Frau Braun. Sie ist wieder bei Bewusstsein, doch sie steht noch unter Schock.«

»Wollen Sie… ich meine, soll sie auch hier bleiben?«

»Sie hat den Wunsch geäußert, nach Hause zu fahren. Ich muss Sie aber bitten, sorgsam auf sie zu achten. Sie braucht jetzt Hilfe, kann das nicht allein durchstehen.«

»Ich verstehe. Ich kümmere mich um sie.« Er betrat das Büro und setzte sich zu Hella, die apathisch auf einer Liege lag.

Eine Weile schwiegen sie, schließlich fragte sie tonlos: »Ist es wirklich wahr? Werde ich Isabell verlieren?«

»Sie ist krank. Das bedeutet aber nicht…«

»Meinst du? Oder willst du mich nur beruhigen?«

»Die Ärzte hier kümmern sich um Isabell, sie tun alles für die Kleine. Dr. Norden ist eine gute Medizinerin, du solltest ihr und ihren Fähigkeiten vertrauen. Sie hat schnell heraus gefunden, was mit Isabell los ist.«

»Das bedeutet nicht, dass sie ihr auch helfen kann. Vielleicht kann das niemand. Vielleicht ist es schon zu spät…«

»Daran solltest du nicht mal denken, Hella. Jetzt komm, wir sagen Isabell noch auf Wiedersehen.«

»Nein, ich will bei ihr bleiben!«

»Das geht nicht. Wir fahren heim, kommen aber morgen wieder. Wir werden sie jeden Tag besuchen, uns um sie kümmern. Dann fällt es ihr bestimmt leichter, hier zu bleiben. Und sie wird wieder ganz schnell gesund.«

Hella schaute Thomas unglücklich an. »Ich wünschte, ich könnte das glauben. Aber es ist so schrecklich, Leukämie, das klingt wie ein Todesurteil.«

Er senkte den Blick, atmete tief durch und erwiderte: »Das kann es sein, ich habe es selbst erleben müssen. Aber Kinder werden oft geheilt. Wir dürfen nur die Hoffnung nicht verlieren.«

»Oh, Thomas, ich habe so schreckliche Angst!« Hella fiel ihm um den Hals und weinte verzweifelt. »Was kann man nur tun, um Isabell zu helfen? Ich fühle mich so nutzlos …«

»Das bist du nicht. Wir werden uns um sie kümmern, für sie da sein, wir lassen sie nie allein. Das ist ebenso wichtig wie die Behandlung hier in der Klinik.«

»Glaubst du wirklich?«

»Ja, das glaube ich. Und nun komm, gehen wir zu Isabell.«

*

»Was? Aber das ist ja schrecklich!« Dési war blass geworden, sie starrte ihre Mutter ungläubig an. »Die arme Hella! Und Thomas Mayer erst, wo er doch seine Frau durch die gleiche Krankheit verloren hat. Mein Gott, das ist ein Drama.«

»Wie geht es der Kleinen?«, fragte Daniel seine Frau. Sie saßen zusammen am Abendbrottisch, nur Janni fehlte. Er war noch mit seinen Freunden unterwegs.

»Ihr Zustand ist ernst. Der Kollege Schuhmann behandelt zunächst konservativ.«

»Ich halte bei einem so kleinen Kind nichts davon«, gab er zu. »Leider sind die genbasierten Medikamente, mit denen wir wohl eher etwas erreichen könnten, hier noch nicht zugelassen.«

»Es ist eine Quälerei für Patient und Angehörige«, pflichtete Fee ihrem Mann bei. »Und in diesem Fall besonders tragisch.«

»Ich werde Isabell morgen besuchen«, entschied Dési. »Und ich will auch mal mit Hella reden. Vielleicht kann ich was helfen.«

»Ja, das ist eine gute Idee«, meinte ihre Mutter. »Sie wird jetzt jede Hilfe brauchen, die sie kriegen kann.«

Tatsächlich war Hella Braun seit Tagen in einem absoluten Ausnahmezustand. Seit Dr. Schuhmann Isabells Krankheit beim Namen genannt hatte, war es Hella, als wäre ihr Herz gebrochen.

Die junge Frau, die schon viel Schweres hinter sich gebracht hatte, ohne je den Mut zu verlieren, war völlig am Boden zerstört. Der Schmerz in ihrem Herzen war unerträglich. Die Angst um Isabell schnürte ihr die Kehle zu. Sie sah kein Licht am Ende dieses endlos scheinenden Tunnels.

Wie ein Schatten schlich sie durch das Haus, unfähig, ihre Arbeit zu tun. Immer wieder fragte sie sich: Warum?

Wozu hatte sie all den Kummer, die Enttäuschungen und Demütigungen hinter sich gebracht? Nur um jetzt mit leeren Händen dazustehen? Was für eine bittere Ironie!

Thomas bemühte sich, zumindest ein klein wenig Normalität aufrecht zu erhalten. Neben der Hofarbeit übernahm er die wichtigsten Pflichten im Haus und fuhr täglich mit Hella nach München in die Behnisch-Klinik. Für den Hofladen hatte er eine Aushilfe angestellt, damit Obst und Gemüse nicht verdarben. Trotz allem musste das Leben ja weitergehen. Und es gab ihm zudem eine gewisse Sicherheit, sich sozusagen an den Pflichten des Alltags entlang zu hangeln.

Trotzdem war die Situation auch für den jungen Witwer mehr als belastend. Wie Fee Norden es ausgedrückt hatte; alte Wunden rissen auf. Er spürte, wie Sarahs Tod ihm wieder näher kam. Erinnerungen verfolgten und quälten ihn. Und jede Nacht träumte er nun wieder von der Vergangenheit, von der schlimmsten Zeit seines Lebens.

Als eine Woche vergangen war, ohne dass es Isabell ein wenig besser ging, machte Hella ihm einen überraschenden Vorschlag.

Sie saßen zusammen beim Abendbrot, die junge Frau rührte kaum etwas an, sie verspürte keinen Hunger, ihr Magen war wie verriegelt. Auch Thomas aß nicht, wie sonst, mit gesundem Appetit. Er schwieg sich aus, müde und zerquält. Obwohl Hella selbst durch die Hölle ging, merkte sie doch, was mit ihm los war. Und sie hatte das Gefühl, die Schuld daran zu tragen.

»Ich glaube, es wäre besser, wenn ich kündige«, sagte sie in die Stille hinein. »Du brauchst eine Mitarbeiterin, die etwas leistet, das bin ich nicht mehr.«

»Hella…«

»Nein, lass mich bitte ausreden. Ich will mir in der Stadt ein Zimmer nehmen, in der Nähe der Klinik. Dann kann ich immer zu Isabell, wenn ich möchte. Die ewige Fahrerei kostet dich viel zu viel Zeit. Und außerdem… ist das alles doch nur eine Last für dich. Ich sehe, wie du leidest. Das macht mir noch zusätzlich zu schaffen. Glaub mir, Thomas, es ist besser, wenn ich gehe.«

»Du willst Rücksicht auf mich nehmen?«

»Natürlich. Ich verdanke dir sehr viel. Du hast uns bei dir aufgenommen, als es mir sehr, sehr schlecht gegangen ist. Der Hof ist wie eine Heimat für uns geworden. Ich kann dir das nicht antun, das ist einfach nicht fair.«

»Seit wann ist das Leben fair?«

»Vielleicht ist es das nicht, bestimmt sogar. Sonst wäre Isabell jetzt nicht in der Klinik. Aber ich will zumindest versuchen, fair zu sein. Morgen ziehe ich aus.«

»Nein, das tust du nicht, das wäre ganz falsch.«

»Aber ich…«

»Jetzt hör mir mal zu, Hella. Was du da eben gesagt hast, mag stimmen. Aber es ist nur eine Seite der Medaille. Du hast keine Ahnung, wie schlecht es mir ging, als ihr zwei aufgetaucht seid. Ich betrachte euch als meine Lebensretter.«

»Was?« Sie schaute ihn verständnislos an.

»Nach Sarahs Tod wollte ich auch nicht mehr leben, alles erschien mir sinnlos. Meine Eltern waren eine Weile hier, um mir zu helfen. Aber sie merkten irgendwann, dass es keinen Sinn hatte. Mit Sarah war alles in mir gestorben. Es gab nichts, was sie dagegen tun konnten. Ich hatte mich aufgegeben. Erst als ihr beide hier eingezogen seid, hat sich das langsam geändert.«

»Das wusste ich nicht. Warum hast du nie etwas gesagt?«

»Du hattest selbst genug Altlasten. Und wozu noch in alten Wunden herum stochern? Es wurde besser, das war alles, was zählte. Ihr beide habt meinem Leben wieder einen Sinn gegeben. Ich lasse dich jetzt nicht einfach gehen, Hella. Wir stehen das zusammen durch.«

Sie lächelte unter Tränen, als sie zugab: »Ich bin sehr froh, dass du das sagst. Ich wollte dir nicht zur Last fallen, aber es wäre doch schwer für mich geworden, jetzt allein zu sein.«

»Das wollen wir ganz schnell vergessen. Und morgen fahren wir zusammen in die Behnisch-Klinik, einverstanden?«

Hella zögerte nun nicht mehr. »Einverstanden.«

*

Als Hella und Thomas am nächsten Morgen die Behnisch-Klinik erreichten, war Dési schon bei Isabell. Sie saß am Bett des Mädchens und las ihm etwas vor. Bei der Ankunft der beiden Besucher erhob sie sich und sagte leise: »Sie ist gerade eben eingeschlafen. Gehen wir kurz raus?«

Hella nickte. Auf dem Klinikflur wollte Dési dann von ihr wissen, wie sie sich fühle.

»Kann ich was für dich tun, dir irgendwie helfen?«

»Ich wünschte, das könntest du«, seufzte sie. »Leider gibt es nichts, was mir helfen würde. Ich habe nur einen Wunsch …«

»Ich verstehe. Isabell wird bestimmt bald gesund.«

»Ja, das hoffen wir alle.« Hella betrat das Krankenzimmer und setzte sich an Isabells Bett, während Thomas Dési auf einen Kaffee einlud.

Sie gingen in das kleine Bistro im Erdgeschoss.

»Wie geht es dir, kannst du es aushalten?«, fragte sie ihn.

»Ich gebe mir Mühe. Sag, Dési, hat deine Mutter daheim vielleicht etwas verlauten lassen, was Isabell betrifft? Ich kann mir vorstellen, dass auch Ärzte über ihre Arbeit reden.«

»Schon, aber sie sagte nur, dass es ihr nicht gut geht. Dr. Schuhmann behandelt sie mit starken Medikamenten, das ist bei einem so kleinen Kind eine heikle Sache. Aber es gibt sonst nichts, was er tun kann.«

»Wie ist es denn mit einer Stammzellenspende?«

»Keine Ahnung, davon hat sie nichts gesagt.«

»Für meine Frau war es zu spät, die Krankheit ist zu schnell fortgeschritten. Aber Isabell könnte so eine Spende helfen. Und ich weiß, dass sie viel weniger gefährlich ist als die herkömmliche Behandlung.«

»Mag sein, das solltest du Dr. Schuhmann sagen.«

»Ja, vielleicht rede ich mal mit ihm. Ich weiß, dass Ärzte es nicht mögen, wenn man sich in ihre Arbeit einmischt. Aber in dem Fall ist das doch eigentlich zweitrangig, oder? Es geht hier ja schließlich um Isabells Leben.«

Dési nickte. »Du hast recht. Und ich finde, du solltest mit Dr. Schuhmann darüber reden.«

Ermuntert durch Désis Zustimmung sprach Thomas Mayer den jungen Onkologen noch am selben Tag an. Als dieser eher reserviert reagierte, stellte er klar: »Ich weiß, dass es mich eigentlich nichts angeht, schließlich bin ich nicht mal mit Isabell Braun verwandt. Aber ich habe selbst jemanden an diese schreckliche Krankheit verloren und weiß deshalb, dass es noch mehr Möglichkeiten der Behandlung gibt.«

»Das stimmt schon«, gestand Philip Schuhmann ihm zu. »Allerdings ist die medikamentöse Behandlung immer der erste Schritt, um die Krankheit einzudämmen. Wenn er für eine Heilung nicht ausreicht, gehen wir weiter, suchen nach einer Spende. Das ist aber ein aufwendiges Verfahren. Und es ist manchmal unmöglich, in der Kürze der Zeit einen passenden Spender zu finden. Deshalb ist es durchaus sinnvoll, auf die konservative Behandlung zu setzen.«

»Aber der Kleinen geht es immer schlechter…«

»Für einen medizinischen Laien mag es so aussehen. Fakt ist, dass vor einer Besserung stets die Krisis steht. Das bedeutet, bevor eine Stabilisierung des Zustandes eintritt, kommt zunächst der Tiefpunkt, der schlechteste Zustand, der möglich ist. Und die Krisis ist bei Isabell noch nicht erreicht.«

»Wird es ihr danach besser gehen?«

»Das bleibt abzuwarten. Durch die Medikation ist es uns gelungen, das Wachstum der Leukozyten zu bremsen. Noch nicht genug, denn erst wenn es gegen Null tendiert, kann der Heilungsprozess einsetzen. Es ist eine Durststrecke, die unterschiedlich lange dauern kann. Ich muss Sie einfach um Geduld bitten, Herr Mayer.«

Thomas nickte. »Ich verstehe. Man kann also momentan nichts machen, außer abzuwarten.«

»Die Medikation greift. Wir müssen Isabells Körper Zeit lassen, sich gegen die Krankheit zu wehren. Das bedeutet einfach, Geduld zu haben, auch wenn es schwerfällt.«

Der junge Witwer hatte sich von dem Gespräch mehr erhofft. Es schien ihm, als habe er nichts erreicht, weshalb er auch Hella gegenüber zunächst schwieg. Er wollte ihr Mut machen, sie nicht noch weiter nach unten ziehen.

Isabell lag an diesem Tag blass und reglos in ihrem Bett und schlief fast die ganze Zeit. War sie doch mal wach, unterschied sich dieser Zustand kaum von dem vorigen. Sie döste vor sich hin, war kaum ansprechbar. Hella saß lange am Krankenbett ihrer Tochter und ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihr die Situation zusetzte. Erst als sie zum Biohof zurückfuhren, ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf.

»Es geht ihr immer schlechter. Was sollen wir nur machen, Thomas? Wir können doch nicht tatenlos zusehen, wie sie …«

»Die Ärzte in der Behnisch-Klinik tun alles für Isabell.«

»Aber es genügt nicht! Du musst doch auch sehen, wie schlecht es ihr geht. Die Medikamente, die sie ihr geben, helfen nicht, sie schaden ihr.«

»Ich… habe mit Dr. Schuhmann gesprochen«, gab er da zu.

Hella warf ihm einen überraschten Blick zu. »Wann?«

»Heute, als du bei der Kleinen warst. Ich habe erst Dési gefragt, ob ihre Mutter vielleicht daheim etwas hat verlauten lassen, aber sie wusste nichts. Als meine Frau so krank war, kam das Thema Stammzellenspende zur Sprache. Es ist eine weitere Möglichkeit, Leukämie zu heilen. Man braucht einen Spender, dessen Stammzellen zu denen des Erkrankten passen. Es ist kompliziert, funktioniert aber gut.«

»Und warum behandelt Dr. Schuhmann Isabell nicht damit?«

»Das habe ich ihn auch gefragt. Er sagte, dass zunächst medikamentös behandelt wird, um die Krankheit einzudämmen. Und wenn das nicht zu einer Heilung führt, dann suchen sie nach einem Spender. Es ist nur manchmal nicht möglich, einen zu finden, die Zeit reicht oft nicht aus.«

»Dann sollten sie jetzt schon mit der Suche anfangen.«

»Ja, das wäre vielleicht sinnvoll.«

»Warum hast du ihm das dann nicht vorgeschlagen?«

»Ich kann Dr. Schuhmann doch nicht vorschreiben, wie er seine Arbeit zu tun hat. Das würde er sich mit Recht verbitten.«

»Es geht um Isabells Leben!«

»Das weiß ich doch. Trotzdem sollten wir vielleicht ein wenig Geduld und Vertrauen aufbringen. Ich weiß, wie schwer dir das fällt, Hella, aber wir können auch nichts erzwingen.«

»Wir müssen alles tun, um Isabell zu helfen!«

»Ich verstehe dich.« Er bog von der Straße ab und stoppte vor dem Hof. »Wenn ich wüsste, was wir tun können, würde ich es sofort tun. Aber ich fürchte, Dr. Schuhmann hat recht. Uns bleibt jetzt nichts anderes übrig, als abzuwarten und das Beste zu hoffen…«

*

Ende der Woche wurde Johann Frey aus der Behnisch-Klinik entlassen. Der Internist Dr. Schön war mit dem Gesamtzustand des Patienten zufrieden, mahnte ihn aber, die anstehende Reha nicht zu vernachlässigen und riet ihm, zu diesem Zweck noch einmal für mindestens einen Monat stationär zu gehen. Davon wollte der Kranke allerdings nichts wissen.

»Darum kümmert sich meine Tochter«, erklärte er überzeugt. »Sie hat sich alles angeeignet, was wichtig ist, und wird rund um die Uhr für mich da sein.«

Dr. Schön runzelte die Stirn. »Das wird nicht leicht …«

Doch Johann Frey wischte seine angefangene Bemerkung mit einer lässigen Handbewegung einfach fort und forderte: »Gehen wir! Ich habe hier nichts mehr zu suchen. Vielen Dank für alles, Herr Doktor, den Rest schafft meine Tochter schon!«

Maria Kappler tauschte einen unbehaglichen Blick mit ihrem Mann. Sie hatte in den vergangenen Tagen mehrfach versucht, vernünftig mit ihrem Vater zu reden. Er schien tatsächlich zu glauben, dass sie jeden Tag vierundzwanzig Stunden für ihn da sein konnte. Wie er sich das vorstellte, blieb sein Geheimnis. Denn Diskussionen, so hatte er klar gestellt, würde es darüber keine geben. Es war wie vorher; er bestimmte, sie hatte zu gehorchen.

Dr. Norden verabschiedete sich ebenfalls von dem Patienten und bat Maria Kappler dann noch kurz ins Ärztebüro.

»Haben Sie ihn noch mal auf das Thema Pflegedienst angesprochen?«, fragte er die Frau eindringlich. »Sie können das nicht allein bewältigen. Nicht bei einem so anspruchsvollen Patienten. Ihr Vater ist ein Fall für einen professionellen Pflegedienst, wenn Sie ihn schon in kein Heim geben wollen.«

»Ich habe gestern noch mal mit meinem Mann darüber geredet. Herbert wäre für ein Heim, er ist aber auf jeden Fall für einen Pflegedienst. Nur will mein Vater nichts davon wissen.«

»Vielleicht sollte ich es noch einmal versuchen.«

Maria schüttelte den Kopf. »Es ist nett von Ihnen, Herr Doktor, dass Sie sich um mich Sorgen machen. Und ich bin Ihnen auch dankbar, dass Sie versucht haben, auf meinen Vater einzuwirken. Aber ich fürchte, er wird sich nie ändern. Er redet Ihnen freundlich ins Gesicht, und danach kriege ich entsprechend was von ihm zu hören. Er hat sehr genaue Vorstellungen davon, was nun werden soll. Und ich fürchte, er wird uns zwingen, das zu tun, was er will. So ist es schließlich bisher immer gewesen.«

Der Chefarzt der Behnisch-Klinik musste einsehen, dass er nun nichts ändern konnte. Doch er wollte zumindest im Hintergrund greifbar bleiben, falls die Kapplers Hilfe brauchten.

»Also gut, dann lasse ich Sie jetzt gehen, wenn auch mit einem unguten Gefühl, Frau Kappler. Sollte was sein, rufen Sie mich bitte an. Ich bin immer für Sie da.«

»Vielen Dank, Herr Doktor. Aber das wird nicht nötig sein.«

Mit dieser Einschätzung, das sollte sich schon recht bald erweisen, lag Maria Kappler allerdings falsch…

Auf der Heimfahrt schwieg Johann Frey sich noch aus. Kaum hatten sie aber das schmale Reihenhaus im Außenbezirk Gröbenzell erreicht, ging es los.

Der Pflegebedürftige beschwerte sich über alles. Die Treppe war ihm zu steil, Herbert half ihm zu schnell nach oben, dann zu langsam. Im Haus kam er nicht zurecht, alles schien ihm mit einem Mal zu eng zu sein. Das Pflegezimmer, das die Kapplers eingerichtet hatten, fand überhaupt keine Gnade vor seinen Augen. An allem hatte er etwas auszusetzen.

Schließlich lag er glücklich im Bett, und Maria wollte schon aufatmen, da verlangte er ein ordentliches Essen und danach Hilfe und Unterstützung bei den Übungen, die er machen musste.

Als Herbert ihm anbot, das zu übernehmen, während Maria das Essen kochte, winkte der Alte allerdings ab.

»Du grober Klotz bist mir keine Hilfe. Das muss Maria machen. Sie hat sich bereit erklärt, mich zu pflegen, und das soll sie jetzt gefälligst auch tun!«, beharrte er.

»Aber sie kann sich doch nicht zerreißen. Komm halt und …«

»Bleib mir vom Leib!«, schrie Johann da panisch. »Ihr wollt mich los werden, das ist mir längst klar. So ein Pflegefall in der Familie ist unbequem. Aber so leicht mache ich es euch nicht. Ich habe nämlich vor, sehr alt zu werden!«

»Vater, wir sind doch froh, dich bei uns zu haben«, versicherte Maria da begütigend. »Wir raufen uns schon zusammen, keine Sorge. Ich koch uns jetzt was Schönes und danach…«

»Denk an meine Diät. Ich erwarte eine angepasste Ernährung, die meinem Gesundheitszustand entspricht!«

»Freilich, ich denke an alles«, versicherte sie langmütig.

Natürlich hatte Johann am Mittagessen so einiges auszusetzen. Es schmeckte ihm nicht, die Kartoffeln waren zu weich, das Gemüse zu fest, und dass das Ganze salzarm sein sollte, bezweifelte er ebenfalls. Als Maria dann die Physio mit ihm machen wollte, ging es weiter mit den Beschwerden. Sie konnte ihm nichts recht machen. Dass sie nicht die Geduld verlor und auch nicht laut wurde, sprach von großer Duldsamkeit.

Als Maria und ihr Mann später am Abend noch vor dem Fernseher saßen, fielen ihr allerdings sofort die Augen zu. Erschöpft döste sie bei ihrer Lieblingssendung weg. Herbert ließ sie schlafen. Er fragte sich allerdings, wie das Ganze weitergehen sollte. Wenn Maria schon nach einem Tag dermaßen fertig war, würde sie diesen Stress kaum länger aushalten können. Über kurz oder lang mussten sie sich eine andere Lösung überlegen.

Ein Klopfen an der Wand weckte Maria kurze Zeit später wieder auf. Sie wollte gleich zu ihrem Vater, doch ihr Mann bestimmte: »Du bleibst sitzen, das mache ich.«

Sie wollte ihm widersprechen, war aber zu müde und schwieg.

Johann thronte in seinem Pflegebett und musterte seinen Schwiegersohn ungnädig. »Was willst du? Die Maria soll kommen.«

»Sie ist zu müde. Worum geht’s?«

»Zu müde? Was soll das heißen? Die macht doch den ganzen Tag nix, wovon man müde wird.«

»Also, wenn nichts ist, geh ich wieder.«

»Halt! Ich muss ins Bad und dann meine Medikamente nehmen.«

»Schön, dann komm.« Herbert half ihm aus dem Bett, wartete, bis er alles erledigt hatte, und reichte ihm dann ein Glas Wasser mit den Tabletten, die im Dosierfach für die Nacht gelegen hatten. Der Kranke bedachte ihn mit einem misstrauischen Blick und wollte wissen: »Sind das auch die richtigen Tabletten?«

Herbert nickte. »Denk schon.«

»Was ist denn das für eine Antwort? Es geht hier um meine Gesundheit. Da kann man doch wohl verlangen, dass du dir zumindest etwas Mühe gibst.«

»Es sind die Tabletten, die die Maria für die Nacht in dieses Fach gelegt hast. Bist du jetzt zufrieden?«

Johann schluckte seine Medikamente und verzog den Mund. »Als Pfleger wärst du wirklich ungeeignet, du grober Klotz. Und ab morgen kümmert sich die Maria wieder um mich, verstanden? Darauf bestehe ich!«

»Ist schon recht. Angenehme Nachtruhe.« Er verließ das Pflegezimmer, ohne sich noch einmal umzusehen. Dass sein Schwiegervater sich noch immer über ihn beschwerte, ignorierte er. Als er dann ins Wohnzimmer zurückkehrte, fragte Maria ihn: »Ist alles in Ordnung? Soll ich nicht noch mal nach ihm sehen? Das ist ihm doch so wichtig.«

»Morgen ist auch noch ein Tag.« Er musterte sie skeptisch. »Ist dir eigentlich klar, was du dir da aufgeladen hast?«

»Er ist mein Vater, Herbert.«

»Das entschuldigt nicht alles. Wir hätten auf Dr. Norden hören und einen Pflegedienst anfordern sollen.«

»Ich schaffe das schon.«

»Ich weiß nicht … Ich habe gar kein gutes Gefühl dabei.«

*

»Und wie ist ihr aktueller Zustand?« Fee Norden betrachtete mit gerunzelter Stirn die neuesten Befunde von Isabell Braun. Die Werte hatten sich weiter verschlechtert, obwohl es Dr. Schuhmann zunächst gelungen war, die Wachstumsrate der weißen Blutkörperchen deutlich zu senken.

»Sie ist bei Bewusstsein, aber die Temperatur ist deutlich erhöht und die Nebenwirkungen der Medikamente machen ihr zunehmend zu schaffen.«

»Denken Sie daran, sie auf Intensiv zu legen?«

»Noch nicht. Aber wenn sich ihr Zustand nicht stabilisiert…«

»Das gefällt mir nicht. Sind Sie einverstanden, wenn ich meinen Mann einbeziehe? Ich glaube, wir sollten uns allmählich über andere Möglichkeiten unterhalten. Was momentan geschieht, ist ein gefährliches Treten auf der Stelle zu Ungunsten der Patientin.«

Philip Schuhmann nickte. »Ich weiß, ich bin auch unzufrieden. Vielleicht hat Ihr Mann eine Idee, die uns weiterbringt…«

Daniel Norden schüttelte den Kopf, als er die Befunde der kleinen Isabell studiert hatte. »Das ist eine Katastrophe. So können Sie nicht weitermachen, Herr Kollege. Die Wachstumsrate der Leukozyten ist nach wie vor hoch, sogar wieder angestiegen. Von einer Konsolidierung kann keine Rede sein, geschweige denn von einer Besserung.«

»Was denkst du, Dan, sollen wir umstellen?«

»Unbedingt. Sie braucht eine Stammzellenspende, und zwar so schnell wie irgend möglich. Bevor ihr Zustand sich noch weiter verschlechtert und sie auf Intensiv verlegt werden muss.«

Dr. Schuhmann senkte den Blick, er hatte das Gefühl, versagt zu haben. Obwohl er sich fachlich nichts vorzuwerfen hatte, war die Behandlung der kleinen Patientin wirkungslos geblieben. Das war ein herber Schlag für den engagierten Mediziner.

»Machen Sie sich keine Vorwürfe, Herr Kollege«, bat Daniel Norden ihn verständnisvoll. »Sie haben alles getan, was möglich war. Leider sind wir nicht immer erfolgreich.«

»Soll ich die Medikation absetzen?«, fragte er verunsichert.

Der Chefarzt der Behnisch-Klinik verneinte. »Damit würden wir einem ungehemmten Leukozytenwachstum Tür und Tor öffnen. Nein, setzen Sie die Behandlung in moderater Form fort. Das Ziel sollte sein, den Zustand der Patientin zu stabilisieren. Wenn irgend möglich, sollten wir eine Verlegung auf die ITS vermeiden, um jederzeit die Stammzellenbehandlung ansetzen zu können, sobald es einen passenden Spender gibt.«

Nach dieser Besprechung schaute Fee Norden bei der kleinen Patientin vorbei und traf dort ihre Tochter an. Dési hatte Isabell in den letzten Tagen öfter besucht und schaute ihre Mutter nun sehr bekümmert an.

»Es geht ihr wirklich schlecht. Wie lange wird das denn noch dauern? Sie ist doch schon eine Weile hier.«

»Ihr Zustand ist ernst, leider.«

»Soll das heißen …« Dési riss entsetzt die Augen auf, doch ihre Mutter versicherte begütigend: »Es könnte sein, dass sie auf Intensiv gelegt werden muss, das wollte ich damit sagen.«

»Das ist trotzdem schlimm. Ich habe gestern mit Hella geredet, sie gibt sich Mühe, das Ganze irgendwie auszuhalten. Aber man merkt ihr an, dass sie es kaum noch schafft. Wenn es nur einen kleinen Hoffnungsschimmer geben würde, irgend etwas, woran sie sich festhalten kann…«

»Ich wünschte, ich könnte dazu etwas sagen. Aber da ist leider nichts, Schätzchen. Isabells Zustand ist sehr ernst. Die Behandlung hat nicht das gebracht, was wir uns erhofft haben.«

»Dann geht es jetzt wohl mit einer Stammzellenspende weiter.«

Fee war überrascht. »Woher weißt du…«

»Ich habe mit Thomas Mayer darüber geredet. Er hat das schon vor einer Weile angesprochen und gemeint, dass diese Therapie sehr erfolgversprechend wäre. Es sei eben nur schwierig, einen passenden Spender zu finden.«

»Mit ein wenig Glück gelingt es.«

Dési seufzte und blickte bekümmert auf das schlafende Kind. »Dann wollen wir ganz fest die Daumen drücken…«

Wenig später erschienen Hella und Thomas, Dési verabschiedete sich. Allerdings nicht, ohne den beiden die große Neuigkeit mitzuteilen.

»Ist das gut oder schlecht?«, fragte Hella unsicher.

»Das ist gut«, war Thomas überzeugt. »Wenn ein passender Spender gefunden wird, kann Isabell wieder ganz gesund werden.«

Hella wollte das gerne glauben, doch wenn sie ihre kleine Tochter anschaute, kamen ihr Zweifel. Als Isabell in die Behnisch-Klinik gekommen war, hatte sie leichte Symptome, war müde und schlapp gewesen. Doch seit sie hier behandelt wurde, ging es ihr immer schlechter. Die junge Frau fragte sich, ob diese neue Therapie ihrer kleinen Tochter auch wirklich helfen könnte. Oder war es nur wieder ein Versuch der Ärzte, der zum Scheitern verurteilt war?

Hella bemühte sich, Fee Norden zu vertrauen, sie wollte ja glauben, dass Isabell geheilt werden konnte. Doch mit jedem Tag, der verging, und an dem der Zustand ihres Kindes sich noch weiter verschlechterte, schwanden Glaube und Hoffnung aus ihrem Herzen. Was blieb, war pure Verzweiflung.

*

Hella hatte den ganzen Nachmittag in der Behnisch-Klinik verbracht. Isabell war nicht zu sich gekommen, sie hatte nur geschlafen. Als die junge Frau heimkam, überfiel sie mit Macht das heulende Elend. Obwohl Fee Norden noch einmal ausführlich mit ihr und Thomas über die neue Therapie gesprochen hatte, erschien ihr nun doch alles Grau in Grau. Sie hatte keine Kraft und keine Hoffnung mehr.

Thomas spürte natürlich, was in ihr vorging. Sie kannten sich mittlerweile gut, er war sensibel genug, um zu ermessen, wie sehr sie litt. Doch als er versuchte, ihr ein wenig Trost zu spenden, wehrte sie ihn erbost ab.

»Ich will nichts hören! Lauter Lügen und Ausreden. Wozu soll das gut sein? Es ändert ja doch nichts!«

»Aber, Hella, ich habe dich nie belogen.«

»Ach nein? Du redest mir die ganze Zeit ein, dass Isabell gesund wird. Dabei müsstest du nur einen Blick auf sie werfen, um festzustellen, was los ist. Aber du flüchtest dich lieber in fromme Lügen, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben!«

»Das ist nicht wahr. Isabell wird wieder gesund.«

»Ach ja? Hast du dir das auch bei deiner Frau eingeredet? So lange, bis sie …«

Er senkte den Blick, seine Stimme klang spröde, als er zugab: »Ja, ich habe bis zuletzt gehofft. Was soll man auch sonst tun? Einfach aufgeben, hinwerfen? Das hat doch keinen Sinn.«

»Und welchen Sinn hat es, sich etwas einzureden, das doch nicht passiert? Obwohl man genau weiß, dass es Unsinn ist, klammert man sich an Lügen, weil man die Wahrheit nicht ertragen kann. Aber sie holt einen doch ein. Und dann wird es umso schlimmer!«

»Manchmal erweist sich eine Wunschvorstellung als Wahrheit.«

»Vielleicht. Aber wann geschieht das schon mal?«

»Hella, du darfst nicht so negativ sein. Ich weiß, es ist schwer, dem nicht nachzugeben. Aber ohne die Hoffnung bleibt uns doch nichts.«

»Hoffnung, so ein Quatsch!« Sie starrte ihn böse an. »Ich habe immer gehofft und bin immer auf der Nase gelandet. Als ich mich in Max verliebte und schwanger wurde, da habe ich gehofft, dass er sich bessert, weniger trinkt und nicht mehr so gewalttätig ist. Und was ist passiert? Was ist geworden aus dieser Hoffnung? Sie ist zerplatzt wie eine Seifenblase. Es wurde immer schlimmer, ich bin weggelaufen und habe mich im Frauenhaus vor ihm versteckt. Keine Nacht konnte ich mehr schlafen vor Angst um mich und Isabell. Hoffnung? Ja, sicher. Und dann habe ich endlich einen Platz gefunden, an dem es sich leben ließ. Hoffnung? Nein, denn das war auch nur Einbildung.«

»Du hast diesen Platz gefunden. Und du hast mich gefunden, Hella. Du und Isabell, ihr habt mein Leben verändert. Das war eine Hoffnung, die Wahrheit geworden ist.«

»Und was jetzt? Wenn ich Isabell verliere?«

»Das wird nicht passieren, sie wird gesund.«

»Und wenn nicht, was dann?« Sie starrte ihn zwingend an. »Wie soll ich weiterleben ohne mein Kind? Wo ist da noch Hoffnung?«

»Wir stehen es zusammen durch, egal, was kommt. Das habe ich dir versprochen. Und dazu stehe ich.«

»Ach, Thomas, wenn das möglich wäre …«

»Es ist möglich. Und es hat nichts mit Hoffnung zu tun. Es ist eine Tatsache. Wir halten zusammen, so wie die ganze Zeit.«

»Meinst du wirklich, dass das möglich ist? Ich habe keine Kraft mehr, ich bin so müde und verzweifelt. Und der Weg ist noch so lang…«

Da nahm er ihre Hände fest in seine, schaute ihr in die Augen und versprach: »Wenn es sein muss, werde ich dich tragen, Hella. Du kannst dich auf mich verlassen. Ich beweise es dir. Nach allem Schweren, nach all den Enttäuschungen, die hinter dir liegen, hast du den Platz zum Leben gefunden. Und den Menschen. Zusammen schaffen wir es.«

Sie lächelte angedeutet, aber dann kamen ihr doch die Tränen. Sie spürte, dass Thomas es ernst meinte. Und sie wollte ihm glauben. Aber sie konnte es nicht. Denn sie hatte einfach keine Hoffnung mehr.

*

»Maria, daher!« Johannes Frey verzog wütend den Mund. »Sackerl Zement, wo treibt sich dieses dumme Huhn nur wieder herum? Maria! Komm sofort her!«

Der Kranke wartete kurz, dann fing er wieder an zu schreien, diesmal so laut, dass seine Stimme die Straße entlangschallte. Seine Tochter hatte ihn vor einer Viertelstunde wissen lassen, dass sie einkaufen gehe und bald zurück sein würde. Dass es so schnell ging, war natürlich nicht anzunehmen. Aber das schien Johann egal zu sein. Wenn er etwas wollte oder brauchte, hatte seine Tochter gefälligst zu springen. Er war immer noch der Herr im Haus, er hatte das Sagen. Und die Jungen mussten sich dem beugen, was er anordnete. Mit dieser Einstellung war Johann Frey durchs Leben gegangen, hatte sich beruflich rücksichtslos durchgesetzt und privat geherrscht wie ein echter Tyrann. Seine Frau hatte er in ein frühes Grab gebracht, seine Tochter betrachtete er als sein Eigentum, mit dem er nach Gutdünken verfahren konnte. Und da er nun mit seiner Rente zum Unterhalt des Hauses beitrug, bildete er sich ein, alle Rechte auf seiner Seite zu haben.

»Maria!« Immer wieder schrie er nach seiner Tochter.

Als diese sich dem Haus näherte, hörte sie ihn bereits brüllen. Eine Nachbarin trat aus der Haustür und mahnte: »Ihrem Vater scheint es sehr schlecht zu gehen, er ruft schon seit einer ganzen Weile nach Ihnen. Ich hab überlegt, ob ich nachsehen soll, aber ich hab ja keinen Schlüssel…«

Maria lächelte schmal. Typisch! Diese Gelegenheit zum Schnüffeln ließ die neugierige Frau Steiz sich natürlich nicht entgehen. Musste Johann sie aber auch immer vor aller Welt blamieren und bloß stellen?

»Danke, aber das ist nicht nötig. Er ruft nur aus Langeweile, da steckt nichts dahinter«, versicherte sie.

»So.« Die Miene der Nachbarin verriet deutlich, dass sie das nicht glaubte. Maria konnte sich plastisch vorstellen, wie der Tratsch in der Straße sich schon bald mit ihr und ihrem ach so vernachlässigten kranken Vater beschäftigen würde …

Sie beeilte sich, ins Haus zu kommen und ging als Erstes zu Johann, der sie vorwurfsvoll musterte.

»Wo warst du denn stundenlang? Mir ist gar nicht gut«, beschwerte er sich. »Das ist doch kein Zustand, dass du mich hier einfach hilflos zurücklässt.«

»Ich hab dir gesagt, dass ich einkaufen geh, Vater. Und ich war nicht länger als eine halbe Stunde fort. Musst du da die ganze Nachbarschaft zusammen brüllen? Die Frau Steiz hat schon gelungert, die wird gleich herum tratschen, wie schlecht ich dich behandle. Das muss doch nicht sein.«

Er musterte sie abfällig. »Es ist die Wahrheit. Du behandelst mich wirklich schlecht. So habe ich mir das nicht vorgestellt.«

»Ich tu mein Bestes. Und wenn das nicht reicht, dann müssen wir eben doch einen Pflegedienst…«

»Kommt nicht infrage! Du kümmerst dich um mich, so war es abgemacht, und dabei bleibt es.«

Maria seufzte. »Also schön. Und was brauchst du? Du hast doch wohl aus einem bestimmten Grund so lange gerufen.«

»Das hab ich vergessen«, behauptete er trotzig. »Jetzt geh mir aus den Augen, dummes Ding, ich will meine Ruhe.«

Resigniert verließ sie das Pflegezimmer und ging in die Küche, um ihre Einkäufe in die Schränke zu räumen. Während sie das tat, überfiel sie ohne Vorwarnung ein starker Schwindel. Hätte Maria sich nicht an einer Stuhllehne festhalten können, sie wäre wohl zu Boden gegangen. Kurz wurde ihr schwarz vor Augen, alles drehte sich. Sie schnappte nach Luft, ließ sich auf den Stuhl fallen und wartete darauf, dass der Schwindel endlich verschwand. Es dauerte eine Weile. Und als es ihr ein wenig besser ging, dröhnte schon wieder die Stimme ihres Vaters durchs Haus, der unduldsam ihren Namen rief …

*

»So, hier ist die Liste. Das sind alle Datenbanken.« Katja Baumann reichte ihrem Chef ein Blatt und fuhr fort: »Ich habe die Namen der zuständigen Mitarbeiter und ihre Telefonnummern dazu geschrieben. Sie werden wohl dort anrufen wollen, oder?«

»Gut mitgedacht«, lobte Daniel Norden, während er die Namen überflog. »Eine persönliche Anfrage ist meistens Erfolg versprechender. Wir haben nicht mehr viel Zeit, um einen passenden Spender für die kleine Isabell zu finden.«

»Wie geht es dem Kind?«, fragte seine Assistentin mitfühlend.

»Nicht gut. Ich muss heute nach der Visite darüber entscheiden, ob die Kleine auf die ITS verlegt werden soll. Eigentlich wäre das bereits vor Tagen nötig gewesen, aber wir wollten noch abwarten, bis die großen Spenderdateien sich melden. Leider gab es dort keinen Treffer.«

»Wenn Sie verlegt ist, kann sich ihr Zustand vielleicht bessern«, gab Katja zu bedenken.

»Das wäre wünschenswert, ist aber eher unwahrscheinlich.« Er griff nach dem Telefon, die junge Frau kehrte ins Vorzimmer zurück. Der bedrückende Fall der kleinen Isabell bewegte alle in der Behnisch-Klinik. Es waren immer wieder die tragischen Schicksale kleiner Patienten, die die Menschen berührten und den Wunsch zu helfen weckten.

Daniel Norden hatte bereits daran gedacht, einen öffentlichen Aufruf zur Typisierung zu starten. Aus Erfahrung wusste er, dass viele Menschen dem folgen würden. Und auch wenn nicht der passende Spender für Isabell darunter war, so brachte eine solch massenweise Typisierung doch viele neue Chancen für andere Kranke mit sich. Die Spenderdateien wurden auf diese Weise immer mehr erweitert, die Möglichkeiten, Menschenleben zu retten, ausgebaut. Das war zumindest ein tröstender Gedanke.

Bis zur Mittagsvisite telefonierte der Chefarzt der Behnisch-Klinik die Liste ab, die Katja Baumann für ihn zusammen gestellt hatte. Er rief auch kleinere Institute an, um keine Chance zu verpassen. Ob es einen Treffer geben würde, musste der elektronische Abgleich der Daten zeigen, der nun vorgenommen werden konnte. Da hieß es einfach, abzuwarten.

Dr. Norden wollte eben zur Visite, als seine Frau erschien.

»Fee, wie schön, holst du mich ab?«, fragte er.

»Es gibt schlechte Neuigkeiten. Ich wollte dir vor der Visite Bescheid geben«, erwiderte sie niedergeschlagen.

»Isabell Braun?«, fragte er ahnungsvoll.

Sie nickte und seufzte leise. »Die Kleine hat das Bewusstsein verloren. Mir ist nichts anderes übrig geblieben, als sie auf Intensiv zu verlegen.«

»Mist. Wir sind mit allem zu spät dran.«

»Die Krankheit schreitet schneller voran, als abzusehen war. Dem Kollegen Schuhmann ist da kein Vorwurf zu machen. Er hat alles getan, was möglich war.«

»Ich weiß. Trotzdem hätten wir uns schon früher um eine Spende kümmern sollen. Wenn sich ihr Zustand weiter verschlechtert, wird sich das Zeitfenster für eine mögliche Übertragung bald schließen. Dann haben wir verloren.«

»Hast du schon herumtelefoniert?«, fragte Fee mit einem Blick auf die Liste, die auf dem Schreibtisch lag. Daniel nickte.

»Ich habe es dringend gemacht. Aber das sind ja im Grunde alle Fälle, mit denen diese Leute es zu tun haben.«

»Dein Name hat Gewicht. Es war gut, dass du persönlich mit den zuständigen Stellen gesprochen hast.«

»Ich hoffe, es nützt was. Nichts ist frustrierender, als helfen zu wollen und es nicht zu können.«

Fee lächelte freudlos. »Wem sagst du das…«

Die Visite verlief wie jeden Tag routiniert. Dr. Schuhmann tauchte allerdings nicht auf, Daniel Norden traf ihn später auf der Intensivstation, wo er mit dem Kollegen Schulz über den Zustand seiner kleinen Patientin sprach.

Als der Chefarzt sich ihnen anschloss, sagte der Intensivmediziner gerade: »Ihr Zustand ist stabil, ich möchte da momentan nichts ändern. Der Körper braucht diese Pause einfach.«

»Kann ich mal die Befunde sehen?«, fragte Dr. Norden.

»Es ist meine Schuld, ich habe versagt«, klagte Philip Schuhmann sich bedrückt an. »Thomas Mayer hat schon zu Beginn der Behandlung die Stammzellenspende angesprochen. Hätte ich nur auf den Mann gehört, statt arrogant über seine Bemerkung hinweg zu gehen. Nun muss die Kleine die Zeche zahlen.« Er warf einen kurzen Blick durch die Glasscheibe, hinter der in einem der Intensivbetten Isabell Braun lag, dann wandte er sich ab und eilte davon.

Daniel Norden folgte ihm und holte ihn bei den Aufzügen ein.

»Hören Sie auf, sich Vorwürfe zu machen, das ist sinnlos«, mahnte er den jungen, engagierten Arzt.

»Ich weiß.« Er seufzte. »Aber ich kann nicht anders.«

Die beiden Mediziner betraten den Lift, Dr. Norden stellte fest: »Sie haben gute Arbeit geleistet. Dass der Zustand der Patientin sich so schnell verschlechtern würde, damit war nicht zu rechnen. Sie trifft keine Schuld.«

»Mag sein, aber das tröstet mich nicht.« Dr. Schuhmann stieg auf der Pädiatrie aus und eilte davon. Er wollte nun nichts hören, er brauchte kein Verständnis und keinen Trost. Das Einzige, was er sich wünschte, war diesen Fall zur Heilung zu führen, denn es fiel ihm schwer, einen Patienten zu verlieren. Doch nun hatte er keinen Einfluss mehr auf das Schicksal von Isabell Braun. Er musste abwarten und hoffen, dass sich in absehbarer Zeit ein passender Stammzellenspender finden würde. Geschah dies nicht, konnte auch er nichts mehr ausrichten. Und diese Gewissheit bedrückte ihn sehr.

Fee Norden sprach währenddessen mit Hella und Thomas, die Isabell hatten besuchen wollen. Die Nachricht, dass ihre Tochter auf die Intensivstation verlegt worden war, versetzte Hella einen neuerlichen Schock.

»Sie wird sterben«, schluchzte sie verzweifelt. »Niemand hat ihr helfen können. Warum nur? Andere werden doch auch geheilt!«

»Beruhige dich, Hella, noch ist nichts verloren«, versuchte Thomas Mayer, sie zu besänftigen, aber sie wehrte ihn ab.

»Du lügst! Das sagst du nur, damit ich mich nicht aufrege.«

»Bitte, Hella, hören Sie mir zu«, bat Fee Norden sie da mit ruhiger Stimme. Und als die junge Frau sie fragend ansah, erklärte sie: »Isabells Körper hat in den vergangenen Wochen schlimme Strapazen überstehen müssen. Ihr jetziger Zustand dient der Regeneration. Solange sie nicht bei Bewusstsein ist, wird sich die Krankheit nicht weiter verschlimmern. Das gibt uns die Zeit, die wir brauchen, um einen Stammzellenspender zu finden.«

»Ist das auch wahr?«, fragte Hella misstrauisch.

Fee nickte. Dass sie das Ganze beschönigt hatte, musste die leidgeprüfte Frau nicht wissen. Und in gewisser Weise stellte Isabells Zustand nun tatsächlich so etwas wie eine Erholung für ihren Körper dar. Wenn es den Kollegen auf der ITS gelang, sie auf niedrigem Niveau stabil zu halten, würde die Übertragung der Stammzellen noch eine Weile möglich bleiben …

»Auf Intensiv wird Isabell genau überwacht, dort ist die Versorgung ideal. Sie müssen sich nicht sorgen, es wird alles Menschenmögliche für Ihre kleine Tochter getan. Allerdings können Sie sie nicht besuchen, solange sie dort ist.«

»Warum nicht? Gibt es dafür einen bestimmten Grund?«

»Besuche sind auf dieser Station verboten, das ist alles.«

»Du kannst Frau Dr. Norden ruhig glauben«, meinte Thomas. »Wir wissen doch, dass wir ihr vertrauen können.«

Hella seufzte leise. »Ja, sicher. Es tut mir leid, ich wollte nicht…«

»Schon gut, ich verstehe Sie. Ich habe fünf Kinder auf die Welt gebracht und kann sehr gut nachvollziehen, was Sie nun durchmachen müssen, Hella. Es ist die Hölle auf Erden für eine Mutter, wenn ihr Kind leidet. Aber es wird eine Heilung geben, wir tun alles dafür. Sie dürfen nur die Hoffnung nicht aufgeben.«

»Ich danke Ihnen.« Die junge Frau senkte den Blick. »Ich will mich bemühen, optimistisch zu bleiben.«

»Sobald Isabell die Intensivstation verlassen kann, können Sie sie auch wieder besuchen«, versprach Fee Norden ihr beim Abschied. »Ich gebe Ihnen gleich Bescheid.«

Hella drückte ihre Hand lange und schaute sie mit einem fast unergründlichen Blick an. Ja, sie hatte Vertrauen in Fee Norden. Doch die Angst um Isabell brach ihr das Herz.

*

Einige Tage vergingen, ohne dass etwas geschah. Isabells Zustand blieb zwar stabil, doch ein passender Stammzellenspender konnte nicht gefunden werden.

Hella arbeitete wieder im Hofladen. Thomas war eigentlich dagegen gewesen und hatte sich überlegt, die Aushilfe noch länger zu beschäftigen. Aber die junge Frau hatte darauf bestanden, wieder ihre Pflichten auf dem Biohof zu erfüllen. So schwer es ihr auch fiel, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, freundliche Gespräche mit den Kunden im Hofladen zu führen und sich nicht anmerken zu lassen, wie es ihr ums Herz war.

Hella hatte das Gefühl, immer tiefer in Thomas’ Schuld zu stehen, und das wollte sie nicht. Auch wenn er behauptet hatte, dass sie und Isabell ihm nach dem Tod seiner Frau quasi das Leben gerettet hatten, wusste sie doch, dass es eigentlich umgekehrt gewesen war.

Oft dachte Hella in diesen trüben Spätherbsttagen an die Zeit zurück, als sie und ihre kleine Tochter kein Daheim gehabt hatten, ein Spielball des Schicksals, allen Widerwärtigkeiten des Lebens schutzlos ausgeliefert. Sie erinnerte sich noch sehr genau daran, wie unendlich glücklich und erleichtert sie gewesen war, die Stelle auf dem Biohof antreten zu können. Als sie die Tür ihrer kleinen Wohnung zum ersten Mal hinter sich hatte zuziehen können, da hatte sie geweint vor Glück.

Wie weit lag dieser Tag zurück, auch wenn es nur ein paar Monate waren. Wie sehr hatte das Schicksal sie in die Mangel genommen, ihr Leben auf den Kopf gestellt. Nichts schien mehr wichtig zu sein, nichts bedeutete Hella noch etwas. All ihr Fühlen und Denken war einzig auf einen Punkt gerichtet, fokussiert auf die Münchner Behnisch-Klinik, in der sich nicht nur Isabells Schicksal entscheiden sollte, sondern auch ihr eigenes. Sie ahnte, dass sie den Verlust ihres Kindes nicht würde ertragen können. Thomas gab sich große Mühe, ihr beizustehen, ihr Trost und Zuversicht zu vermitteln. Doch auch seine guten Absichten konnten nichts daran ändern, wie Hella empfand. Ohne Isabell verlor ihr Leben jeden Sinn. Sie war bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, wie groß das Ausmaß ihrer Verzweiflung tatsächlich war. Doch sie spürte jeden Tag deutlicher, dass sie auf dünnem Eis unterwegs war, das jederzeit brechen konnte …

Thomas Mayer beobachtete Hella genau und fragte sich, wie sie es schaffte, unter diesen Bedingungen ihren Alltag zu meistern, denn ihm selbst fiel das zunehmend schwerer.

Seit Isabell auf der Intensivstation lag, träumte er wieder jede Nacht von Sarah. Er sah sich noch einmal auf dem langen Klinikflur vor ihrem Krankenzimmer sitzen, warten, hoffen, bangen. Er war wieder allein auf dem Hof, versuchte verzweifelt, seine Arbeit zu tun, ohne noch zu wissen, was er tat. Die schwerste Zeit seines Lebens kam ihm erneut unerträglich nah.

Obwohl der junge Witwer sich sehr bemühte, diese Empfindungen in den Hintergrund zu drängen, begannen sie doch wieder, über sein Leben zu herrschen. Ein Gefühl der Sinnlosigkeit lähmte ihn und drückte ihn nieder. Es schien keinen Ausweg zu geben. Was, wenn Isabell starb? Wie sollte er Hella helfen, ihr beistehen, sie trösten, wenn die Schatten der Vergangenheit sein eigenes Leben zu verdunkeln drohten?

*

Herbert Kappler kam an diesem Tag etwas früher von der Arbeit als sonst. Als er das Haus betrat, war das erste, was er hörte, die Stimme seines Schwiegervaters. Er brüllte nach Maria, so laut und unduldsam, dass Herbert endgültig der Kragen platzte.

Seit Wochen hatte er sich nun mit ansehen müssen, wie Johann seine Tochter behandelte. Es war erstaunlich, wie viele Arten, Maria zu schikanieren, dem Alten eingefallen waren. Und ihre ruhige, duldsame Art schien ihn noch weiter anzustacheln. Er hatte sich vom Tyrannen zum Monster entwickelt, anders konnte Herbert das nicht mehr bezeichnen. Und er war es endgültig leid, diesen Wahnsinn auch nur noch einen Tag länger mitmachen zu müssen. Es reichte ihm, ein für alle Mal!

Der Mann eilte die Treppe hinauf und riss die Tür zum Pflegezimmer auf. Johann schrak zusammen, starrte ihn kurz giftig an und beschwerte sich dann: »Willst du mich vielleicht zu Tode erschrecken? Was soll das? Verschwinde und sag deiner nutzlosen Frau, sie soll endlich herkommen. Ich warte schon seit einer halben Stunde. Das ist eine Unverschämtheit!«

»Die Maria ist nicht deine Sklavin. Also hör endlich auf, sie weiter zu terrorisieren, oder…«

Johann bekam schmale Augen. »Oder?«

»Oder wir werden uns mal ernsthaft über ein Pflegeheim unterhalten müssen!«

Der Kranke lachte darüber nur. »Das kannst du nicht bezahlen, du kleiner Wicht. Dafür ginge ja euer Häuschen drauf.«

»Na und? Ich wohne lieber in einem Zimmer, wenn ich weiß, dass es Maria gut geht, als diesen Zirkus hier weiter mitzumachen!«

»Ach, geh mir aus den Augen, du Depp«, knurrte Johann unwillig. »Schick die Maria rauf, aber ein bisschen schnell!«

Herbert hatte eine heftige Erwiderung auf der Zunge, schwieg aber und verließ einfach das Zimmer. Er hatte keine Lust mehr, sich zu streiten, denn dabei gewann Johann ja doch nur Oberwasser. Sie mussten sich nun ernsthafte Gedanken über die Zukunft machen. Denn so ging es auf keinen Fall weiter.

»Maria, wo bist du?« Herbert schaute in die Küche, doch diese war leer. Seine Frau hielt sich auch nicht im Wohn- oder Schlafzimmer auf. Erst als er das Bad betrat, fand er sie, bewusstlos auf den Fliesen.

»Maria, mein Gott, was ist passiert?«, rief er entsetzt.

Als sie nicht reagierte, ging er neben ihr in die Knie, nahm ihr blasses Gesicht mit den geschlossenen Augen in beide Hände und bat tonlos: »Bitte, Schatz, komm zu dir! Sag was!«

Kein Lebenszeichen. Sie atmete flach, Schweiß glänzte auf ihrer Stirn, das Gesicht wurde zunehmend bleich und die Lippen schimmerten bläulich. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht!

»He, ihr da unten, ich bin auch noch da!«, rief Johann giftig.

Herbert kümmerte sich nicht um seinen Schwiegervater. In fliegender Hast griff er nach dem Telefon und rief in der Behnisch-Klinik an.

»Schicken Sie einen Krankenwagen, schnell! Das ist ein Notfall. Meine Frau ist bewusstlos«, haspelte er in den Hörer und war kaum in der Lage, die korrekte Adresse anzugeben.

Als er dann zu Maria zurückkehrte, war diese noch immer ohnmächtig. Er nahm ihre Rechte und hielt sie, bis der Notarzt da war. Johann hatte in der Zwischenzeit gemerkt, dass etwas vorging, und verhielt sich ruhig. Er schien zu lauschen.

Herbert war es ganz einerlei, was der Alte tat. All seine Sorgen galten seiner Frau und der bangen Frage, was mit ihr los war. Wenn sie nun auch einen Infarkt erlitten hatte wie ihr Vater? Eine schreckliche Vorstellung!

»Was ist mit ihr, Herr Doktor?«, fragte er, als zwei Sanis Maria Kappler per Rollliege zum Krankenwagen schoben.

Dr. Steinbach, der Rettungsarzt, erklärte: »Es sieht nach einem Infarkt aus. Aber Genaueres können Ihnen die Kollegen in der Klinik sagen, wenn sie gründlich untersucht worden ist. Ich habe sie stabilisiert, sodass wir sie jetzt mitnehmen können.«

»Kann ich, darf ich mitfahren?«

»Es tut mir leid, das geht nicht. Aber Sie können in die Behnisch-Klinik kommen. Dort wird man Ihnen Auskunft geben.«

Herbert bedankte sich automatisch und blickte auf die hinteren Türen des Krankenwagens, die gerade geschlossen wurden. Es fiel ihm schwer, sich klar zu machen, dass seine Maria dort drinnen lag und vielleicht schwer krank war. Bei diesem Gedanken zog sich sein Magen schmerzhaft zusammen. Und das alles nur…

Nachdem der Krankenwagen abgefahren war, ging Herbert zu seinem Schwiegervater, der ihn gleich wieder mit einem wahren Wortschwall von Beleidigungen und Unverschämtheiten empfing. Worüber er sich eben noch geärgert hatte, das war ihm nun völlig egal. Johann schien es zu spüren, denn er verstummte schließlich und schaute seinen Schwiegersohn abwägend an.

»Was war denn los?«, fragte er vorsichtig.

»Was los war?« Herbert starrte ihn böse an. »Du warst los, du gemeiner Haustyrann!«

»Was bildest du dir ein…«

»Du hast es glücklich erreicht, dass die Maria jetzt in die Klinik gebracht worden ist, mit Verdacht auf Herzinfarkt!«

»Ich? Was habe ich denn getan?«, fragte er lahm, denn diese Neuigkeit traf Johann dann doch. »So eine Unverschämtheit!«

Herbert ging nicht auf seine Worte ein, er stellte nur klar: »Ich fahre gleich in die Behnisch-Klinik, um bei Maria zu sein. Wenn du brüllen willst, dann tue es, aber erwarte nicht, dass einer kommt. Du kannst dich ja bei den Nachbarn beschweren.«

»Warte, Herbert!« Der Alte machte eine hilflose Geste. »Sie ist meine Tochter, ich würde sie auch gern sehen.«

»Das geht jetzt nicht. Sie braucht Ruhe, besonders vor dir.«

Er verließ das Pflegezimmer und gleich darauf das Haus. Nun gab es für ihn nur eines: Er wollte in der Nähe seiner Frau sein, ihr beistehen und dafür sorgen, dass es ihr bald besser ging. Und er würde auch dafür sorgen, dass sein Schwiegervater sie endlich in Ruhe ließ und aufhörte, sie zu tyrannisieren. Viel zu lange hatte er zugesehen, wie Johann Maria gequält hatte. Damit musste nun ein für alle Mal Schluss sein. Er hoffte inständig, dass es für eine Umkehr noch nicht zu spät war.

*

Dr. Erik Berger, der Leiter der Notfallambulanz in der Behnisch-Klinik, hatte Maria Kappler bereits untersucht und auf die Innere verlegen lassen, als ihr Mann erschien.

Der ruppige Notfallmediziner, dem der Umgang mit Angehörigen wenig lag, gab sich Herbert Kappler gegenüber ungewöhnlich freundlich. Er spürte die Verzweiflung des einfachen Mannes, der seine Frau offenbar von Herzen lieb hatte. Das rührte ihn sogar ein wenig und sorgte dafür, dass er begütigend versicherte: »Ihre Frau wird wieder gesund, Herr Kappler. Es war kein Infarkt, sozusagen nur ein Warnschuss.«

»Ist Maria denn auch herzkrank? Ihr Vater hatte einen schweren Infarkt, da dachte ich …«

»So was ist, entgegen der landläufigen Meinung, nicht erblich. Was zum Zusammenbruch Ihrer Frau geführt hat, nennt man stressbedingte, nervöse Herzbeschwerden. Es ist nicht organisch.«

»Stressbedingt? Also doch!« Herbert presste die Lippen so fest zusammen, dass sie nur noch einen Strich bildeten. Sein Schwiegervater konnte froh sein, dass er sich gerade nicht in seiner Nähe befand…

»Was meinen Sie?«, wollte Dr. Berger wissen.

»Wir… mein Schwiegervater lebt bei uns, er ist seit dem Infarkt ein Pflegefall und benimmt sich einfach unmöglich. Maria ist so gutmütig, sie lässt sich alles gefallen, sie rennt und bedient ihn und denkt dabei keine Sekunde an sich selbst. Wir sind ja nun beide auch über fünfzig.« Er senkte den Blick. »Ich schäme mich, dass ich dem nicht schon längst ein Ende gemacht habe. Es ist meine Schuld, dass meine Frau jetzt krank ist.«

»Machen Sie sich keine Vorwürfe, sie wird in ein paar Tagen wieder auf dem Posten sein. Ich habe sie auf die Innere verlegen lassen, zur Beobachtung. Aber ich nehme an, dass Sie schon bald wieder nach Hause kann. Dann sollte sie sich aber nicht wieder diesem Stress aussetzen. Finden Sie eine Lösung, Herr Kappler. Es gibt sehr gute Pflegedienste. Niemand muss sich selbst zu Grunde richten, weil er einen kranken Angehörigen betreut.«

»Ich werde mich darum kümmern. Darf ich noch nach meiner Frau sehen, Herr Doktor?«

»Sicher.« Erik Berger rief nach Schwester Anna und bat sie, Herbert Kappler zu seiner Frau zu bringen. Der reichte dem Mediziner die Hand und bedankte sich sehr bei ihm. Schwester Anna wunderte sich, dass ihr Chef so freundlich zu diesem Mann war. Doch als sie Erik Berger fragend musterte, fing sie sich schon wieder einen seiner Feuerblicke ein. Die freundliche Phase schien bereits beendet zu sein …

Maria lächelte, als ihr Mann sich an ihr Bett setzte, ihre Hand nahm und sie sacht drückte.

»Wie fühlst du dich, Schatz?«, fragte er.

»Jetzt wieder ganz gut. Der Doktor sagt, ich muss ein paar Tage zur Beobachtung hier bleiben. Aber das geht doch nicht. Ich kann dich ja nicht mit Vater allein lassen…«

»Darüber wollte ich mit dir reden, Maria. Ich hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl, als du angeboten hast, die Pflege zu übernehmen. Schließlich haben wir uns nie wirklich gut mit ihm verstanden. Er geht über unsere Wünsche hinweg, er bestimmt und denkt in keiner Sekunde daran, wie es uns dabei geht. Das war schon schwierig, als er noch gesund war. Aber jetzt ist es unerträglich geworden.«

»Ach, Herbert, so schlimm ist es auch wieder nicht.«

»Oh doch, das ist es. Der Doktor hat gesagt, dass dein Zusammenbruch durch Stress gekommen ist. Ich mache mir jetzt doch Vorwürfe. Schließlich habe ich auch gesehen, was dein Vater da aufführt, wie er dich behandelt. Wir hätten das ändern müssen, bevor es so weit gekommen ist.«

»Wie denn? Er wollte doch keinen Pflegedienst.«

»Ich weiß, aber jetzt geht es mal nicht nur darum, was er will. Wenn er bei uns bleiben soll, dann müssen wir einen Pflegedienst anstellen. Du kannst das nicht schaffen. Und ich lasse auch nicht zu, dass du dich weiter von ihm terrorisieren lässt. Das geht einfach nicht.«

»Und wenn das mit dem Pflegedienst nicht funktioniert?«

»Dann bleibt nur das Heim. Ich sage das nicht gern, es gefällt mir wirklich nicht. Aber ich kann auch nicht weiter tatenlos zusehen, wie dein Vater unser Leben zerstört.«

Maria senkte den Blick. »Ich weiß, du hast ja recht. Es fällt mir nur so schwer, konsequent zu sein. Ich habe jetzt schon ein schlechtes Gewissen, weil ich hier in der Klinik bin, statt daheim und mich um ihn kümmere.«

»Das ist nicht richtig, Maria. Du musst endlich aufhören, dich ihm unterzuordnen. Du bist ebenso wichtig wie er. Für mich bist du ja noch viel wichtiger. Ich kann den Gedanken, dass es dir schlecht geht, du leidest, nicht ertragen. Wir müssen eine Lösung finden, damit wir wieder normal leben können.«

Sie seufzte. »Also gut. Ich überlasse das dir. Du musst mit ihm reden, ich kann das nicht.«

»Ich weiß, ich bespreche das mit ihm. Ich wollte nur, dass du Bescheid weißt. Und jetzt ruh dich aus, damit es dir bald wieder besser geht.« Er küsste sie zum Abschied und drückte sie lange.

Als Maria dann allein war, wurde ihr das Herz sehr schwer. Sie wusste, dass Herbert mit allem, was er gesagt hatte, recht hatte. Und sie fürchtete sich auch davor, noch einmal so einen Zusammenbruch zu erleiden. Das war wirklich schlimm gewesen. Sie hatte sich plötzlich ganz hilflos gefühlt, nicht mehr in der Lage, auch nur den kleinen Finger zu rühren. Und dann die Herzschmerzen… Nein, das wollte sie nicht noch einmal durchmachen müssen! Aber der Gedanke, ihren Vater vielleicht in ein Pflegeheim abschieben zu müssen, der belastete ihr Gewissen sehr. Sie wollte das nicht. Und doch gab es vielleicht keinen anderen Ausweg, das war bitter.

*

Thomas Mayer klopfte gegen Hellas Wohnungstür und fragte: »Ist alles in Ordnung? Geht es dir gut?« Sie hatten nun eigentlich zur Behnisch-Klinik fahren wollen, aber Hella ließ sich nicht blicken. Der Biobauer machte sich ernsthafte Sorgen um sie.

Am Vorabend hatte sie kaum ein Wort mit ihm gesprochen, nur blass dagesessen und ins Leere geblickt.

An diesem Morgen hatte Fee Norden angerufen und sie gebeten, am Nachmittag vorbei zu kommen. Sie wollte etwas besprechen, das anscheinend wichtig war. Hella hatte es ohne sichtliche Regungen zur Kenntnis genommen.

Nun war sie nicht zur verabredeten Zeit erschienen, und Thomas machte sich Sorgen. Noch einmal klopfte er gegen die Wohnungstür, doch drinnen blieb alles still. War Hella gar nicht hier? Der junge Witwer verließ wenig später das Haus und schaute sich in der näheren Umgebung um. Es war ein trüber und nebliger Novembertag, kaum dass es richtig hell wurde. Die Sonne versteckte sich hinter dicken, grauen Wolkenbänken. Die landwirtschaftlich geprägte Gegend wirkte nun trist mit den umgebrochenen Feldern, über denen einige Krähen aufstoben, als Thomas sich ihnen näherte. Ihr Krächzen passte zu der Novemberstimmung. Immer wieder blickte er sich um, hielt Ausschau nach Hella. Schließlich erreichte er eine große Weide, an deren Rand Feldhecken wuchsen. Hier stand auch eine Bank. Und darauf saß die junge Frau, die Thomas gesucht hatte.

Er steuerte auf sie zu und sah, dass sie sehr blass war. Ihr Blick ging ins Leere. Sie reagierte auch nicht, als er sich neben sie setzte.

»Hella, was tust du hier?«, fragte er. »Es ist kalt.«

Sie hob nur die Schultern und schwieg sich weiter aus.

»Wir müssen nach München. Frau Dr. Norden wollte doch etwas mit uns besprechen.«

»Wozu? Das hat doch keinen Sinn«, murmelte sie dumpf.

»Natürlich hat es einen Sinn«, widersprach er ihr mit Nachdruck. »Wenn sie mit uns reden will, ist es bestimmt etwas Wichtiges. Vielleicht geht es Isabell endlich ein bisschen besser, und wir dürfen sie sehen …«

»Das glaubst du doch selbst nicht.«

»Hella…«

»Lass mich in Ruhe! Ich will nichts hören. Von mir aus kannst du nach München fahren, ich bleibe hier. Ich habe es satt, mich immer weiter herum zu quälen, mir falsche Hoffnungen zu machen.«

»Isabell ist deine Tochter, sie braucht dich.«

»Aber ich kann ihr nicht helfen. Das kann niemand. Es geht ihr immer schlechter. Ich kann daran nichts ändern.«

»Ich verstehe dich«, gestand er ihr da zu. »Ich weiß genau, wie du dich fühlst.«

Sie schüttelte den Kopf, schwieg aber.

»Mir ging es genauso, als Sarahs Zustand sich immer weiterverschlechterte. Ich wollte aufgeben. Nichts hatte mehr einen Sinn für mich. Ich wollte nur, dass es endlich aufhört, dass dieser Schmerz verschwindet, dass ich wieder atmen, wieder leben kann. Aber das sind nur fromme Wünsche. Man wird nicht gefragt, wie man sich fühlt, wenn so etwas geschieht. Man muss es aushalten, ob man das kann oder nicht.«

»Ich kann es aber nicht mehr aushalten!«

»Du kannst. Komm, fahren wir nach München. Isabell wird gesund, davon bin ich fest überzeugt. Aber dazu braucht sie nicht nur die Behandlung in der Behnisch-Klinik, sondern auch ihre Mutter, die für sie da ist und ihr beisteht.«

»Ach, Thomas, wie kannst du das sagen? Es ist alles so sinnlos. Wenn es nur einen Hoffnungsschimmer geben würde …«

»Vielleicht wartet der in der Klinik auf uns.« Er streckte die Hand nach ihr aus, doch sie zögerte noch immer. »Ich bin ja bei dir, du musst das nicht allein durchstehen.«

Mit einem schweren Seufzen legte sie ihre Rechte da in seine und murmelte: »Ohne dich hätte ich schon längst aufgegeben.«

Als sie dann Fee Nordens Büro betraten, rief die noch ihren Mann dazu. Hella musterte die beiden Ärzte unsicher. Was hatte das zu bedeuten? Gab es schlechte Nachrichten…

»Bitte setzen Sie sich, wir möchten gerne etwas mit Ihnen besprechen«, erklärte Daniel Norden sachlich.

»Geht es Isabell schlechter, ist sie…«

»Ihr Zustand ist stabil. Was uns aber Sorge bereitet, ist die Tatsache, dass noch kein passender Stammzellenspender gefunden werden konnte«, gab der Klinikchef da zu. »Es gibt eine ganze Anzahl von Instituten und Organisationen, die sich der Typisierung von Spendern verschrieben haben. In einem Fall wie diesem ist es üblich, einen allgemeinen Abgleich zu machen. Meist findet sich dann bereits nach kurzer Zeit ein passender Spender.«

»Muss er die gleiche Blutgruppe haben?«, fragte Thomas.

Dr. Norden verneinte. »Die Blutgruppe ist irrelavant. Es geht um gewisse Merkmale im Blut, die so genannten HLA-Indikatoren. Stimmen diese bei zwei Personen weitgehend überein, wird eine Spende möglich.«

»Und dann entnehmen Sie die Zellen aus dem Rückenmark?«

»Nein, das war einmal. Diese Methode war umständlich und auch für den Spender nicht ohne Risiko. Heutzutage erhält der Spender ein Medikament, das bewirkt den Übergang der Stammzellen ins Blut. Dann können diese mittels Transfusion verabreicht werden. Das ist unkompliziert und effizient.«

»Aber es nützt nichts, wenn es keine passende Spende gibt.«

»Das ist leider wahr. Nachdem wir also alle Institute, mit denen wir normalerweise zusammenarbeiten, erfolglos kontaktiert haben, bleibt uns nun nur noch ein öffentlicher Aufruf.«

»Und wie geht der vonstatten?«

»Wir veröffentlichen den Aufruf in allen relevanten Medien, natürlich auch im Internet. Erfahrungsgemäß lassen sich dann viele Menschen typisieren, vor allem, wenn es um ein krankes Kind geht. Das erhöht unsere Erfolgschancen.«

»Dann möchte ich mich auch typisieren lassen«, erklärte Thomas spontan. Dr. Norden hatte nichts dagegen. Er blickte nun Hella an, die die ganze Zeit schweigend da gesessen hatte. »Sind Sie damit einverstanden, dass wir ein Foto von Isabell mit dem Aufruf veröffentlichen? So etwas spricht die Leute an und motiviert sie, sich typisieren zu lassen.«

»Denken Sie wirklich, dass das funktionieren wird?«, antwortete Hella mit einer Gegenfrage. »Bis jetzt ist es Isabell doch immer schlechter gegangen.«

»Wir brauchen einen passenden Spender. Dann kann Ihre Tochter gesund werden«, entgegnete der Klinikchef überzeugt. »Und je schneller wir ihn finden, umso besser. Das ist momentan unser einziges Problem.«

»Also gut. Ich schicke Ihnen ein digitales Foto zu. Ich habe mein Handy im Moment nicht dabei.«

»Gut, dann können wir loslegen.«

»Hoffentlich klappt es«, sagte Fee zu ihrem Mann, nachdem die beiden Besucher gegangen waren.

Daniel nickte. »Ja, Frau Braun wird nicht mehr viel ertragen können, sie ist völlig fertig.«

»Sie tut mir so leid. Ich kann verstehen, was sie durchmacht.«

»Kinder machen eben immer Sorgen. Aber nicht nur Kinder, sondern manchmal auch Eltern. Erinnerst du dich an den Fall Johann Frey?«

Fee überlegte kurz und nickte dann. »Der despotische Vater.«

»Seine Tochter ist gestern eingeliefert worden, Verdacht auf Myokardinfarkt. Glücklicherweise war es nur ein Herzkasper, ein Warnschuss.«

»Er hat sie wohl so lange tyrannisiert …«

»Sieht so aus. Ich werde mal nach ihr schauen. Die Kapplers hätten auf mich hören und zumindest einen Pflegedienst engagieren sollen. Jetzt wird es nicht mehr anders gehen.«

*

Maria Kappler freute sich, Dr. Norden wieder zu sehen. Sie mochte den Chefarzt, der so menschlich war und immer Anteil nahm. Doch was er ihr nun zu sagen hatte, das gefiel ihr nicht.

»Sie müssen Ihre Situation jetzt definitiv ändern, Frau Kappler, sonst wird das nicht der letzte Zusammenbruch sein.«

»Ich weiß, Herr Doktor. Herbert, mein Mann, hat das auch schon gesagt. Aber ich kann meinen Vater nicht in ein Heim abschieben, das bringe ich nicht fertig.«

»Es muss ja nicht gleich ein Heim sein. Was Sie brauchen, ist Entlastung. Die kann ein Pflegedienst schaffen.«

Die Patientin seufzte. »Aber wenn er sich da auch so benimmt wie mir gegenüber, wird sich niemand um ihn kümmern wollen.«

»Wie kommen Sie auf die Idee? Mir gegenüber war Ihr Vater sehr höflich. Er legt doch Wert auf einen guten Eindruck.«

»Bei Ihnen, ja. Er hat Respekt vor Ihnen, Herr Doktor. Aber die Pflegekräfte würde er bestimmt schnell vergraulen.«

Dr. Norden machte ein nachdenkliches Gesicht und fragte die Patientin: »Wären Sie einverstanden, wenn ich noch mal mit Ihrem Vater rede? Ich könnte einen kurzen Krankenbesuch machen.«

»Aber das ist doch viel zu umständlich, Herr Doktor. Sie sind ein vielbeschäftigter Mann und haben bestimmt Wichtigeres zu tun, als sich um unsere Probleme zu kümmern.«

»Das Wichtigste, Frau Kappler, sind für mich die Patienten, das habe ich Ihnen schon einmal gesagt und das gilt nach wie vor. Also, einverstanden?«

»Wenn Sie möchten, gerne. Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, denn ich glaube, mein Mann wird auch nichts erreichen…«

»Gut, abgemacht. Ich schaue heute gegen Abend bei Ihrem Vater vorbei. Vielleicht genügt der Respekt, den er vor mir hat, ja, um ihn endlich zur Vernunft zu bringen…«

Herbert Kappler erschrak sehr, als Daniel Norden dann vor der Haustür stand. »Ist was mit meiner Frau? Geht es ihr vielleicht schlechter?«, fragte er mit flacher Stimme.

»Nein, nein, es geht ihr gut. Ich habe mich heute ausführlich mit ihr unterhalten, und wir haben beschlossen, dass ich noch mal mit ihrem Vater reden werde.«

Der Mann war erstaunt. »Und da kommen Sie extra zu uns?«

»Anders geht es eben nicht. Also, kommen Sie mit?«

»Ich…« Er zuckte leicht zusammen, als Johanns Stimme erklang: »Wer ist denn da an der Haustür?«

Herbert hob die Schultern. »Es tut mir leid, aber so brüllt er den ganzen Tag herum.«

Dr. Norden betrat das schmalbrüstige Reihenhaus, gefolgt von Herbert Kappler, der sich noch immer darüber wunderte, dass der Chef der Behnisch-Klinik bei ihnen sozusagen einen Hausbesuch machte. Dieser Arzt schien etwas ganz Besonderes zu sein.

Johann Frey machte große Augen, als der Besucher das Pflegezimmer betrat.

»Herr Dr. Norden, das ist mir aber eine Ehre!«, versicherte er überfreundlich. »Dass Sie noch an mich alten, kranken Mann denken, rechne ich Ihnen hoch an.«

»Das wird sich vielleicht bald ändern«, meinte Dr. Norden und setzte sich. »Ich bin nämlich hier, um mal ein ernstes Wort mit Ihnen zu reden.«

»So? Maria hat sich wohl wieder beschwert …«

»Nein, das hat sie nicht. Das tut sie wohl nie, deshalb liegt sie ja nun in der Klinik. Sie haben Ihre Tochter dermaßen unter Druck gesetzt, dass sie zusammengeklappt ist.«

Johann wurde blass. »Ich dachte, es wäre das Herz, dass sie eben ein bisschen empfindlich ist«, murmelte er betreten.

So ungehemmt er sich innerhalb seiner Familie aufspielte, so wenig konnte er es ertragen, auf andere Menschen einen schlechten Eindruck zu machen. Schon gar nicht, wenn er Respekt vor ihnen hatte, wie vor dem Klinikchef.

»Ihre Tochter ist organisch gesund«, ließ Daniel Norden ihn wissen. »Der Herzanfall hatte rein mentale Gründe. Ihr Verhalten ist der einzige Grund dafür.«

»Ich…« Johann musterte seinen Schwiegersohn, der schweigend in der offenen Tür stand, und fuhr ihn an: »Koch Kaffee, damit wir dem Herrn Doktor etwas anbieten können. Hast du denn überhaupt keine Kinderstube?«

Herbert Kappler folgte. Noch ehe Dr. Norden den Kranken für seine rüden Worte rügen konnte, gab dieser zu: »Ich habe ein schlechtes Gewissen, Herr Doktor. Dass Maria im Krankenhaus landet, habe ich nicht gewollt, wirklich nicht!«

»Aber Sie hätten sich doch denken können, dass Ihr Verhalten auf Dauer eine starke Belastung für Ihre Tochter sein würde.«

»Sehen Sie, ich habe mich mein ganzes Leben immer durchsetzen müssen. Meine Eltern hatten nichts. Der Vater war ein Säufer, die Mutter hat versucht, uns Kinder irgendwie durchzubringen. Als ich zehn war, ist mein kleiner Bruder an Schwindsucht gestorben. Das war sehr schlimm für mich, das habe ich nie vergessen. Damals habe ich mir vorgenommen, niemals schwach zu sein. Ich wollte mein Schicksal bezwingen, es zu etwas bringen, immer obenauf sein, bestimmen, die Richtung vorgeben. Das ist mir in Fleisch und Blut übergegangen.«

»Aber heute brauchen Sie das nicht mehr. Ihre Tochter liebt Sie, sie tut alles für Sie. Und Ihr Schwiegersohn ist ein veträglicher Mensch, soweit ich das beurteilen kann. Mit ein bisschen gutem Willen sollten Sie mit ihnen auskommen.«

»Ich habe Angst vor einem Heim. Ich möchte hier bleiben. Aber ich weiß nicht, ob ich mich immer zusammenreißen kann.«

»Das müssen Sie nicht. Niemand erwartet Unmögliches von Ihnen. Machen Sie ein Zugeständnis. Mit einem mobilen Pflegedienst wäre Ihre Tochter entlastet. Ihr Verhältnis zueinander könnte sich entspannen. Damit wäre allen geholfen. Was sagen Sie?«

Johann Frey schwieg eine Weile, man sah ihm an, dass er einen inneren Kampf ausfocht, der letztendlich zugunsten des gesunden Menschenverstandes ausging, denn er meinte: »Probieren kann man es ja mal, oder? Vielleicht finde ich sogar Gefallen daran und lasse mich dann nur noch bedienen.« Er lachte dünn. »Es ist mir wirklich wichtig, hier zu bleiben. Ich dachte, ich schaffe es mit Zwang und Druck, so wie immer. Es wird mir nicht leicht fallen, völlig umzudenken.«

»Sie schaffen das schon. Immerhin haben Sie eine Motivation. Statt allein im Heim zu sitzen, können Sie den Rest Ihres Lebens im Kreise Ihrer Familie verbringen. Aber ohne Zugeständnisse wird das nicht funktionieren. Und Sie werden immer mal wieder umdenken müssen, Herr Frey. Die Welt dreht sich. Und wir lernen und entwickeln uns, solange wir leben.«

»Ja, bei Ihnen ist das gewiss so, Herr Doktor. Aber ich sag mir, was Hänschen nicht gelernt hat, das lernt Hans nimmermehr.«

»Ach, das finde ich nicht gut. Wie wär’s stattdessen mit »Man lernt nie aus«? Das klingt doch eher nach Motivation, oder?«

»Eins muss man Ihnen lassen, Herr Dr. Norden. Sie wissen, was Sie wollen und erreichen es. Und das auf freundliche Art und Weise, ich muss sagen, Sie haben mich noch mehr beeindruckt. Ich will versuchen, mir davon eine Scheibe abzuschneiden.«

Herbert Kappler betrat nun mit einem Tablett und frischem Kaffee das Pflegezimmer.

»Ach, du Trantüte, hat das wieder lange gedauert«, schimpfte sein Schwiegervater. »Unser Gast will gerade gehen.« Als er Dr. Nordens Blick begegnete, besann er sich allerdings, räusperte sich und murmelte: »War nicht so gemeint. Die gute Absicht zählt, nicht wahr, Herr Doktor?«

»Nicht nur die«, meinte Daniel Norden schmunzelnd, nahm sich eine Tasse und trank sie noch in aller Ruhe, bevor er sich auf den Heimweg machte.

»Das ist eine Persönlichkeit, der Herr Dr. Norden, von dem kannst du noch lernen, Herbert«, meinte Johann voller Bewunderung, als sie wieder unter sich waren.

»So?« Herbert lächelte schmal. »Nur ich?«

Kurz blitzte es in den hellen Augen seines Schwiegervaters gefährlich auf, dann aber entspannte sich seine Miene und er fing an zu lachen. »Nein, ich wohl auch«, gab er zu.

*

Wie erwartet, war die Resonanz auf den Typisierungsaufruf überwältigend. Besonders in den sozialen Medien des Internets schlossen sich ganze Gruppen zusammen und warben weiter dafür, die kleine Isabell zu retten. Rührende Botschaften mit vielen Herzchen und lächelnden Smileys wurden geschrieben.

Die große Anteilnahme rührte auch Hella. Doch wirklich freuen konnte sie sich darüber nicht, denn alles, was für sie zählte, war der passende Spender.

Jeden Morgen wartete man in der Behnisch-Klinik gespannt auf weitere Abgleichslisten und hoffte auf den ersehnten Treffer. Doch nichts geschah. Der passende Spender ließ sich nicht finden. Zugleich schwankte Isabells Zustand erheblich. Dr. Schulz bemühte sich, die kleine Patientin zumindest auf niedrigem Niveau stabil zu halten. Doch selbst das schien an manchen Tagen unmöglich. Isabell ging es schlechter, die Krankheit schritt voran. Und ein Gefühl der Ohnmacht erfüllte alle, die mit diesem tragischen Fall in Berührung kamen.

Und dann geschah doch noch ein Wunder.

Thomas Mayer saß an diesem kalten, trüben Frühwintermorgen hinter dem Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer und erledigte die ungeliebte Büroarbeit. Bislang hatte Hella das übernommen, doch sie lag mit einer Erkältung und leichtem Fieber im Bett.

In den vergangenen Tagen schien sie langsam aber stetig allen Mut zu verlieren. So sehr Thomas sich auch bemühte, sie zu trösten und ihr gut zuzureden, nichts half mehr. Sie hatte gehofft, dass der Aufruf endlich die Erlösung bringen würde. Doch je mehr Zeit verging, in der nichts geschah, desto mutloser und niedergeschlagener fühlte sie sich.

Als das Telefon klingelte, griff Thomas automatisch danach und meldete sich. Er rechnete mit einem Kunden, der Obst oder Gemüse bestellen wollte, und war umso elektrisierter, als sich Fee Norden am anderen Ende der Leitung meldete.

»Herr Mayer, ich habe gute Neuigkeiten. Wir haben den passenden Spender gefunden«, hörte er sie sagen.

Das kam so unerwartet und war zugleich so überwältigend für ihn, dass er einen Moment lang verblüfft schwieg.

»Sind Sie noch da?«, erkundigte Fee sich, als die Stille ihr dann doch zu lange dauerte.

»Ich … ja!« Er musste sich räuspern und rief dann: »Aber das ist wunderbar, das bedeutet, Isabell wird endlich gesund!«

»Und es ist noch nicht alles. Sie werden es vielleicht nicht glauben, aber der Spender sind Sie!«

»Ich? Aber das… gibt’s doch nicht.«

»Doch, es ist so. Wir haben alle Datenbanken weltweit nach einem Treffer durchsucht, dabei war der Treffer direkt vor unserer Nase. So etwas nennt man Betriebsblindheit. Ich muss Sie noch der Form halber fragen, ob Sie bereit sind, eine Spende zu machen. Wenn ja, kommen Sie am besten noch heute hierher, damit wir alles besprechen und das Prozedere einleiten können.«

»Natürlich bin ich bereit. Ich komme bald. Aber zuerst muss ich noch mit Hella reden!« Er atmete tief durch. »Das ist nicht zu fassen! Ich bin ja so froh.«

»Ich erwarte Sie, Herr Mayer«, sagte Fee noch, dann war das Gespräch, das auf einen Schlag einfach alles geändert hatte, auch schon beendet.

Thomas blieb noch einen Augenblick sitzen, blickte versonnen vor sich hin und genoss das Gefühl der Erleichterung. Aber es war mehr als das. Es war auch seine Chance, mit Sarahs Tod abzuschließen. Wenn er Isabells Leben retten könnte, dann würde sein Herz vielleicht endlich Frieden finden …

Hella hatte ein wenig gedöst, als Thomas erschien. Sie musste ihn nur ansehen, um zu wissen, dass etwas geschehen war. Sein Augen strahlten richtig.

»Ich weiß, du bist krank, und Kranke soll man nicht aufregen«, sagte er und lächelte dabei unentwegt. »Aber ich muss es trotzdem tun. Es gibt einen passenden Spender für Isabell.«

»Das heißt, sie wird gesund?« Hella setzte sich auf und starrte den jungen Mann ungläubig an. Tränen der Erleichterung und des Glücks sammelten sich in ihren Augen, als er nickte.

»Oh, Thomas, ich habe schon nicht mehr daran geglaubt!«

»Ich weiß, mir ging es nicht besser. Aber jetzt wird alles gut. Du weißt übrigens noch nicht alles. Ich bin der Spender.«

»Du?« Sie schien nicht zu begreifen, was er ihr da sagte.

»Ja, ich. Als Dr. Norden es mir gesagt hat, konnte ich es zuerst auch gar nicht glauben. Stell dir nur vor, wie viele Leute sich haben typisieren lassen. Und ausgerechnet ich habe die passenden Merkmale im Blut.«

»Wirst du Isabell helfen? Ich meine, es ist doch nicht ganz selbstverständlich.« Sie schaute ihn ernst an. »Deiner Frau konntest du nicht helfen…«

Da nahm er ihre Hände in seine, schaute ihr in die Augen und versicherte ihr mit großer Ernsthaftigkeit: »Es gibt nichts, was ich mir mehr wünsche. Ihr beide, ihr seid für mich die wichtigsten Menschen in meinem Leben. Und ich möchte euch nie wieder verlieren.«

»Danke.« Sie fiel ihm um den Hals, und er hielt sie fest. Es war ein süßer Moment selbstvergessenen Glücks, beinahe heiter und voller Innigkeit. Und wie ein kurzer Blick in eine Zukunft, die ihnen gemeinsam gehören sollte …

*

Noch am gleichen Tag fuhr Thomas zur Behnisch-Klinik, denn er wollte nun keine Zeit mehr verlieren. Der Chefarzt untersuchte ihn zunächst gründlich, dann erklärte er ihm die Wirkungsweise des Hormons, das ihm gespritzt wurde.

»Es dauert ein paar Tage, bis die Stammzellen aus dem Rückenmark ins Blut übergehen. In dieser Zeit kann es zu leichten Symptomen kommen, die einer Erkältung ähneln. Sonst sollten Sie keine Beschwerden haben.«

»Das klingt nicht schlimm. Dann also los!«

Daniel Norden lächelte. »Sie haben es wirklich eilig. Wenn ich Ihnen die Spritze gesetzt habe, bleiben Sie noch eine halbe Stunde hier, um sicher zu gehen, dass Sie das Präparat vertragen. Wir sehen uns dann Ende der Woche zur Blutabnahme wieder. Falls Sie in den kommenden Tagen ungewöhnliche Beschwerden haben, kommen Sie bitte gleich her.«

Thomas versprach es, dann setzte Dr. Norden die Spritze. Ein kleiner Pieks und alles war erledigt.

Als der junge Biobauer später heimkam, wartete Hella bereits ungeduldig auf ihn. Er berichtete ihr alles und versicherte: »Nur noch ein paar Tage, dann wird es Isabell endlich besser gehen.« Dass sie ihn dabei sehr ernst ansah, verstand er allerdings nicht. »Was hast du, Hella? Bald wird alles gut!«

»Ja, aber wird die Zeit reichen? Isabell geht es doch jeden Tag schlechter. Glaubst du, sie hält noch bis Ende der Woche durch? Ich wusste nicht, dass die Behandlung so lange dauert, ich dachte, das geht gleich heute.«

»Leider nicht. Aber Dr. Norden sagt, Isabells Zustand ist stabil. Es wird klappen, glaub mir. Nur noch ein klein wenig Geduld, dann ist dieser Albtraum endlich zu Ende.«

»Ich hoffe, du hast recht«, seufzte sie bedrückt. Doch wirklich daran zu glauben, das schaffte sie einfach nicht…

Die Nordens feierten diesen Etappensieg mit einem gemeinsamen Mittagessen im klinikeigenen Bistro. Sie waren beide sehr erleichtert, doch ein Wermutstropfen blieb.

»Ich hoffe, die Kleine hält durch«, sagte Daniel zu seiner Frau. »Schulz tut alles dafür, aber die Wachstumsrate der Leukozyten steigt wieder an. Und solange Isabell nicht bei Bewusstsein ist, können wir die bisherige Behandlung nicht wieder aufnehmen.«

»Also wieder einmal ein Rennen gegen die Zeit«, seufzte Fee.

»Und ein verdammt knappes, wenn du mich fragst. Aber wir sollten positiv denken. Wir haben den Spender, der Rest wird irgendwie hinhauen. Es ist schließlich nicht der erste Fall, den wir mit Hängen und Würgen zu einem glücklichen Ende führen.«

»Hauptsache, es wird ein glückliches Ende.«

»Na, sieh mal einer an. So verbringt ihr also euren Arbeitstag. Das lasse ich mir gefallen!« Dési trat neben den Tisch der Eltern und schüttelte den Kopf. »Tafeln wie die Fürsten, während die Patienten sich selbst überlassen sind.«

Daniel musste lachen und bat: »Setz dich zu uns, Liebchen. Hast du Hunger?«

»Nein, ich habe gerade mit einer Freundin einen Hamburger verdrückt. Aber etwas zum Nachspülen könnte ich brauchen.« Sie bestellte sich einen Kaffee und meinte dann: »Ich wollte zu Isabell. Darf sie wieder Besuch haben?«

»Noch nicht. Sie liegt noch auf Intensiv.«

»Ach, ich dachte, jetzt, wo es einen Spender gibt …«

»Thomas Mayer hat heute erst die Spritze bekommen, es dauert noch ein paar Tage, bis wir die Behandlung durchführen können«, ließ Fee ihre Tochter wissen. »Aber es ist lieb von dir, dass du an Isabell gedacht hast.«

»Die arme Kleine geht mir nicht aus dem Kopf. Es ist wirklich schlimm, wenn ein Kind so was durchmachen muss. Da wird einem erst mal bewusst, wie gut es einem selbst geht.«

Daniel nickte anerkennend. »Hört, hört!«

»Wir müssen wieder was tun«, mahnte seine Frau ihn, Dési trank ihren Kaffee aus und beschloss: »Dann mache ich mich auch auf die Socken. Soll ich noch was fürs Abendessen einkaufen?«

»Frisches Brot wäre nicht schlecht. Und vielleicht ein paar Tomaten. Ach ja, und Käse haben wir auch keinen mehr.«

»Okay, das kann ich mir merken, dann bis später.« Sie dampfte voller Schwung davon, Fee blickte ihr einen Moment versonnen nach. Als sie dann zu ihrem Mann in den Lift stieg, wollte dieser wissen: »Alles in Ordnung? Du wirkst so zerstreut.«

Fee lächelte. »Es ist nichts. Mir ist nur mal wieder bewusst geworden, was für ein Glück wir haben, dass all unsere Kinder gesund sind.«

»Toi, toi, toi«, meinte Daniel und klopfte sich gegen die Stirn. »Dass es so bleibt, meine ich.«

»Ach, du Scherzkeks. Ich wollte damit sagen, dass man dankbar dafür sein sollte, wenn keines der Kinder ernsthaft krank wird, solange sie noch klein sind. Ich kann nachvollziehen, wie es Hella ums Herz ist. Und ich bin wirklich froh, dass ich das nicht erleben musste.«

»War das nicht einer der Gründe, weshalb du dich für die Pädiatrie entschieden hast, Liebes?«, erinnerte er sie.

»Ja, ich wollte etwas gegen dieses schreckliche Leid tun, wenn ein Kind ernsthaft erkrankt. Damals wusste ich noch nicht, was es wirklich bedeutet, das selbst zu erleben. Und heute berührt es mich noch immer, trotz all der Jahre Berufserfahrung.«

»So soll es sein«, meinte ihr Mann. »Wir brauchen zwar einen gewissen professionellen Abstand. Aber abzustumpfen ist dabei keine Option. Ich glaube, erst ein gewisses Maß an Mitleiden macht gute Ärzte aus uns.«

Fee lächelte ihm zu. »Ich kann dir nicht widersprechen. Dann bis heute Abend.« Sie tauschten einen zärtlichen Kuss, danach stieg Fee auf ihrer Station aus, während ihr Mann in sein Büro zurückkehrte, wo eine Menge Arbeit auf ihn wartete. Die kleinen Auszeiten vom Stress, die er sich aus Pflichtbewusstsein viel zu selten gönnte, waren leider immer ganz schnell vorbei.

*

»Gut, das war es für heute. Vielen Dank, Kollegen.« Daniel Norden beendete gerade die tägliche Visite, als Dr. Schön zu ihm trat und ihn bat: »Würden Sie mal mitkommen? Ich möchte Ihnen gerne was zeigen, Chef. Es ist sehenswert und ich glaube, es ist auch Ihr Verdienst.«

»Warum so geheimnisvoll, Herr Kollege?«, fragte er.

Der Internist schmunzelte still vergnügt. »Das werden Sie schon sehen.«

Die beiden Mediziner betraten wenig später die Innere, wo an diesem Tag Maria Kappler entlassen wurde. Ihr Mann war bei ihr, doch er war nicht allein gekommen. Johann Frey hockte auf seinem Rollator und plauderte freundlich mit seiner Tochter.

Dr. Norden musste tatsächlich zweimal hinsehen, denn die Veränderung, die mit dem ehemaligen Tyrannen vor sich gegangen war, erschien ihm bemerkenswert.

Dr. Schön lächelte. »Na, habe ich zuviel versprochen?«

»Das ist tatsächlich erstaunlich.«

»Wenn ich daran denke, wie dieser Patient die ganze Station in Atem gehalten hat, kann ich es selbst kaum glauben. Wer Johann Frey nicht kennt, der könnte ihn glatt für einen netten, alten Herrn halten, finden Sie nicht?«

»Allerdings. Dann hat er wohl die Wahrheit gesagt. Ihm liegt wirklich daran, bei seiner Tochter zu bleiben. Und er bemüht sich sichtlich, mit den beiden auszukommen.«

Johann Frey hatte die Ärzte auf dem Klinikflur bemerkt und rief: »Herr Dr. Norden, das ist aber eine nette Überraschung! Möchten Sie nicht hereinkommen?«

»Nur wenn ich nicht störe.«

»Sie und stören!« Maria Kappler drückte ihm die Hand. »Vielen, vielen Dank für alles, Herr Doktor. Sie wissen schon…«

»Ich freue mich, dass es Ihnen wieder gut geht, Frau Kappler. Und Ihnen ebenfalls, Herr Frey.«

Der lachte. »Das ist ja nur Ihr Verdienst, Herr Doktor.«

»Na, sagen wir mal so. Ich habe ein paar Anregungen geliefert. Es lag Ihnen, etwas daraus zu machen.«

»Das tun wir«, versicherte Maria. »Wenn jeder sich ein bisschen Mühe gibt, dann klappt es auch.«

Herbert nahm ihren Koffer. »Jetzt komm, Schatz, wir fahren heim. Du musst dich noch ausruhen«, meinte er fürsorglich und verabschiedete sich dann herzlich von Dr. Norden.

Johann Frey folgte den beiden ohne Eile. Er tappte neben Daniel Norden her und gab zu: »Sie haben mehr für mich getan, als Sie ahnen, Herr Doktor. Nach unserem Gespräch habe ich über vieles nachgedacht, auch über die Vergangenheit. Da sind mir wieder Dinge eingefallen, die ich lange Zeit vergessen hatte. Und mir ist klar geworden, dass Sie recht haben. Man muss sich nicht mit Gewalt durchsetzen. Es geht auch anders.« Er seufzte. »Ich wünschte, diese Erkenntnis wäre mir früher gekommen. Dann hätte ich vielleicht eine bessere Ehe führen und ein besserer Vater sein können. Meine Frau starb vor der Zeit und meine Tochter hatte immer nur Angst vor mir. Das ist nicht richtig. Ich will mich bemühen, das in meinen letzten Jahren zu ändern, denn ich möchte nicht von dieser Welt gehen, ohne mein Haus bestellt und diese Dinge geregelt zu haben.«

»Das klingt so endgültig. Sehen Sie es doch als Chance, sich zu ändern, sich weiter zu entwickeln.«

»Das klingt wirklich besser.« Er drückte dem Chefarzt der Behnisch-Klinik zum Abschied die Hand. »Noch mal danke, Herr Doktor. Sie haben mir wirklich sehr geholfen.«

»Gern geschehen«, versicherte er und meinte es auch so.

Gerade in diesem Moment meldete sich Dr. Nordens Notfallpiepser. Er wurde auf der ITS gebraucht. Rasch eilte er davon, ein bewundernder Blick von Johann Frey folgte ihm, bevor er in den Lift zu Tochter und Schwiegersohn stieg.

»Na, ist er immer noch dein Idol?«, spöttelte Herbert.

Maria erschrak, denn eine solche Bemerkung hätte früher sogleich eine scharfe Rüge und üble Beschimpfung zur Folge gehabt. Aber das war einmal gewesen. Nun lächelte ihr Vater wohl wollend und versicherte: »Mehr denn je. Was er für uns alle getan hat, das ist viel mehr, als man von einem Arzt erwarten kann. Er ist schon was Besonderes, der Dr. Norden.«

»Oh ja, das ist er«, pflichtete Maria ihrem Vater bei. »Hast du mich auch ein bisschen vermisst, Vater?«

»Sehr sogar. Und ich bin wirklich froh, dass es dir jetzt wieder gut geht, du gesund bist. Damit das so bleibt, wirst du dich wirklich noch eine Weile ausruhen, wie Herbert gesagt hat.«

»Aber daheim wartet Arbeit auf mich!«

»Die läuft nicht weg. Und ich bin jetzt, dank Monika und Lars, bestens versorgt.«

»Monika, Lars?«, wunderte Maria sich.

»Ja, meine beiden Pfleger vom mobilen Dienst. Ganz nette, junge Leute. Sie kümmern sich jeden Tag um mich. Wenn du also magst, Maria, darfst du mir gerne Gesellschaft leisten. Aber für mich rennen musst du nicht mehr, das ist vorbei.«

Sie staunte ihren Vater an. »Du lässt dich von einem mobilen Pflegedienst versorgen? Das glaube ich nicht!«

»Glaub es nur, denn es stimmt«, meinte er schmunzelnd.

Herbert nickte. »Ja, der Besuch von Dr. Norden hat bei deinem Vater wahre Wunder gewirkt. Ich weiß ja nicht, was er ihm gesagt hat, aber seitdem gibt’s bei uns keinen Streit und kein Brüllen mehr. Und mit den Leuten vom Pflegedienst kommt dein Vater auch aus. Wer hätte das gedacht?«

»Übertreib es nicht, Herbert«, warnte Johann ihn da allerdings. »Ein völliger Depp bin ich auch wieder nicht.«

»Das hat der Herbert bestimmt nicht gemeint«, widersprach Maria ihrem Vater. »Im Gegenteil. Wir freuen uns doch, dass jetzt alles geregelt ist und du bei uns bleiben kannst.«

»Tatsächlich?«, entfuhr es ihm ein wenig überrascht.

»Tatsächlich!«, bestätigte seine Tochter und lächelte ihm so lieb zu, dass ihm das Herz aufging.

Also hatte Dr. Norden doch recht gehabt. Obwohl er wirklich kein guter Vater gewesen war, hatte Maria ihn lieb. Diese Erkenntnis beschämte ihn. Und zugleich wurde Johann Frey auch bewusst, dass er dies alles vielleicht niemals erfahren hätte, wenn er nicht auf Daniel Norden gehört hätte und über seinen Schatten gesprungen wäre…

*

Am Freitagmorgen fuhr Thomas Mayer zeitig nach München zur Behnisch-Klinik. Gleich um acht hatte er einen Termin zur Blutentnahme und wollte nicht zu spät kommen.

Hella hätte ihn gerne begleitet, aber jemand musste sich um den Hofladen kümmern, deshalb blieb sie dort. Sie hatte aber mit Fee Norden abgemacht, dass sie gegen Mittag in die Klinik kommen würde. Dann war die Transfusion erfolgt, und sie würde Isabell endlich wieder sehen dürfen.

Mit unruhigem Herzen dachte die junge Frau an ihre kleine Tochter. Immer wieder fragte sie sich, ob auch alles gut gehen konnte. Ging es Isabell nicht bereits zu schlecht? Würden die Stammzellen ihr überhaupt noch helfen können?

Auch Thomas war unruhig. Dr. Norden gab sich verschlossen, er antwortete nur ausweichend auf seine Fragen nach Isabell.

Tatsächlich hatte die kleine Patientin vor ein paar Tagen einen Zusammenbruch erlitten und lag seitdem im Koma.

Die Intensivmediziner hatten alles getan, um ihren Zustand zumindest soweit zu stabilisieren, dass die Behandlung wie geplant durchgeführt werden konnte.

Bevor Dr. Norden zur Blutentnahme ging, hatte er sich lange mit dem Kollegen Schulz unterhalten. Dieser hatte davor gewarnt, die Behandlung zu schnell durchzuführen.

»Ihr Zustand ist schlecht. Es könnte sein, dass die Medikation sie umbringt«, warnte er.

»Wir müssen sie vorbereiten, damit die Stammzellen ihre heilende Wirkung tun können«, hatte der Chefarzt ihm entgegengehalten. »Es ist der letztmögliche Zeitpunkt. Zu warten kann keine Option sein.«

»Das weiß ich. Sie sollten sich nur bewusst machen, wie hoch das Risiko ist. Ich kann keine Garantie übernehmen, dass die Behandlung anschlägt.«

»Das verlangt auch niemand. Wir tun einfach alle unser Bestes«, hatte Dr. Norden ärgerlich festgestellt. Natürlich wusste er, wie heikel die Situation war. Doch Skepsis und zögerliches Verhalten konnten nun alles nur noch schlimmer machen. Es brauchte motivierte Mitarbeiter und ein Quäntchen Optimismus, um die Anforderungen zu meistern.

»Was ist mit Isabell?«, fragte Thomas Mayer nicht zum ersten Mal. »Ist es zu spät? Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit!«

»Ihr Zustand ist schlecht, aber wir werden die Behandlung durchziehen. Es ist die einzige Chance, die wir haben.«

Thomas senkte den Blick. »Das klingt nicht gut.«

»Entspannen Sie sich jetzt, die Blutennahme wird eine Weile dauern«, bat Dr. Norden, dann ließ er den jungen Mann allein.

Eine Weile später begann die Transfusion. Daniel Norden hatte entschieden, sie auf der ITS durchzuführen, um für alle Fälle gerüstet zu sein. Er überwachte den Vorgang, den Dr. Schuhmann durchführte.

Das blutbildende System war zuvor medikamentös zerstört worden, um nun durch die Stammzellenspende neu aufgebaut zu werden. Dieser Vorgang war eine Belastung für den Körper. Nach allem, was Isabell bereits hinter sich hatte, fragten sich die anwesenden Mediziner, ob sie dieser neuerlichen Belastung noch gewachsen sein könnte. Und zunächst sah es tatsächlich nicht danach aus.

Als die Transfusion abgeschlossen war, erlitt die kleine Patientin einen Herzstillstand. Nun machte sich Dr. Nordens Entscheidung, sie auf der ITS zu belassen, bezahlt, denn die Reanimation konnte zeitnah durchgeführt und die kleine Patientin bestmöglich versorgt werden.

Die Mediziner gaben ihr Bestes, doch es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bist das Herz der Kranken wieder zu schlagen begann.

Und dann verging noch einmal eine Weile, bis ihr Zustand sich allmählich stabilisierte.

»Das war eine echte Zitterpartie«, stellte Dr. Schulz fest, nachdem die Patientin stabil war.

»Ihre Mutter kommt später her. Ich möchte, dass Sie eine Ausnahme machen. Sie soll die Kleine kurz sehen dürfen«, sagte Dr. Norden zu ihm, bevor er die Station verließ.

»Wie lange wird sie noch auf Intensiv bleiben müssen?«, fragte sich Dr. Schuhmann. »Denken Sie, die Spende kam noch rechtzeitig, Chef?«

»Ich hoffe es. Aber ob es der Fall ist, werden wir erst in den nächsten Tagen wissen.«

Dieser Umstand gefiel Daniel Norden gar nicht. Denn nun hieß es für die leidgeprüfte Hella Braun noch einmal, geduldig sein, abwarten. Er hoffte, dass sie diese letzte, belastende Phase noch durchstehen konnte, ohne zusammenzubrechen.

*

Thomas fühlte sich nach der Blutentnahme ein wenig schlapp, doch er ließ es sich nicht nehmen, Hella abzuholen, damit sie Isabell endlich wieder besuchen konnte. Sie hatte den Hofladen bereits abgesperrt und saß wie auf heißen Kohlen.

Als der junge Mann endlich auftauchte, überhäufte sie ihn sogleich mit Fragen.

»Wie geht es dir? Wie war die Blutentnahme? Fühlst du dich auch gut? Haben sie das Blut schon übertragen? Geht es Isabell besser, hast du sie gesehen?«

Er lachte und erwiderte: »Es geht mir gut, war alles nicht so schlimm. Isabell liegt noch auf der Intensivstation, aber du darfst nachher zu ihr, hat Dr. Norden gesagt.«

»Aber ich dachte … Dann geht es ihr immer noch schlecht? Hat denn die Spende nichts genützt?«

»Das dauert ein bisschen. Es ist ja kein Zauberelexier, das innerhalb von Sekunden wirkt.«

Hella schwieg, sie war blass geworden. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als habe ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Nach all dem Schweren, was hinter ihr lag, hatte sie nun fest geglaubt, dass alles gut werden würde. Dass Isabell genesen konnte, dass sie wieder ganz gesund wurde. Doch nichts schien sich geändert zu haben. Das war doch unmöglich!

»Es war also alles nur eine Lüge?«, fragte sie tonlos.

Thomas stutzte. »Was meinst du?«

»Alles, diese Stammzellenspende, sie nützt ebenso wenig wie die Behandlung vorher. Wenn Isabell immer noch auf der Intensivstation liegt, dann hilft doch nichts, gar nichts!«

»Hella, beruhige dich. Ich habe dir doch gesagt, dass es eben etwas dauert, bis die Transfusion wirkt. Wenn du mir nicht glaubst, kannst du nachher Dr. Norden fragen.«

»Und mich weiter belügen lassen? Nein, ich glaube gar nichts mehr. Es ist alles nur eine große, gemeine Lüge!« Sie vergrub das Gesicht in den Händen und weinte bitterlich.

Der junge Mann verließ die Stadtautobahn und hielt an. Behutsam zog er die Widerstrebende in sein Arme und bat: »Bitte, reg dich nicht so auf. Ich weiß, du hast mehr ertragen, als ein Mensch aushalten kann. Aber jetzt wird doch alles gut.«

»Nein, nichts wird gut, nichts…« Sie hörte nicht auf zu weinen, was Thomas auch sagte.

Schließlich fuhr er zur Behnisch-Klinik, denn Hellas Zustand erschien ihm bedenklich. Sie war nicht ansprechbar, sie greinte wie ein Kind, schien völlig weggetreten zu sein.

Wenig später kümmerte Erik Berger sich um die junge Frau und ließ ihren Begleiter dann wissen: »Sie hat einen nervösen Zusammenbruch. Ich muss sie hier behalten.«

»Es war alles zuviel für sie«, murmelte Thomas bekümmert.

»Sie ist die Mutter der kleinen Isabell, nicht wahr?«, fragte Schwester Anna. Und als der Biobauer dies bejahte, sagte sie zu Dr. Berger: »Kein Wunder, dass ihre Nerven versagen. Sie hat eine sehr schwere Zeit hinter sich.«

»Woher wissen Sie…«, wunderte Thomas sich.

»Die ganze Klinik hat an Isabells Schicksal Anteil genommen.«

»So?«, machte Dr. Berger.

Da hob Schwester Anna die Schultern und gestand ihm zu: »Na ja, vielleicht nicht alle, aber doch die Meisten. Kommen Sie, Herr Mayer, setzen Sie sich und ruhen Sie sich ein bisschen aus. Sie sind reichlich blass um die Nase. Haben Sie nach der Blutentnahme etwas gegessen?«

»Ja, es gab Saft und Zwieback.«

»Ach, das ist doch kein Essen für einen gesunden Mann. Ich bringe Ihnen was Kräftiges aus der Kantine.«

Erik Berger verzog den Mund und mahnte: »Die Patientin muss auf die Innere verlegt werden.«

»Ja, gleich«, war alles, was Schwester Anna dazu sagte.

Einige Zeit später durfte Thomas dann zu Hella. Sie schlief, Dr. Schön hatte ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht. Ihr blasses Gesicht war entspannt, doch Thomas wusste, dass sich das ändern würde, wenn sie aufwachte. Die Angst um Isabell hatte sich in einem für sie unerträglichen Maße gesteigert. Der junge Mann hoffte, dass ein Besuch bei ihrer kleinen Tochter ihr helfen würde, diese Angst zu überwinden. Doch das war wohl erst möglich, wenn es ihr wieder besser ging.

Thomas wusste nicht, wie lange er an Hellas Bett gesessen hatte, als Dr. Norden das Krankenzimmer betrat.

»Wie geht es Isabell?«, fragte der junge Witwer sofort.

»Es geht ihr besser, sie ist wieder bei Bewusstsein und hat nach ihrer Mutter gefragt«, erwiderte der Klinikchef zufrieden.

»Gott sei Dank!«, entfuhr es Thomas wie ein Stoßseufzer.

»Wenn Sie möchten, können Sie nach ihr sehen. Frau Braun wird noch eine Weile schlafen.«

»Muss sie denn länger hierbleiben?«

»Zunächst nur bis morgen, zur Beobachtung.«

»Es ist meine Schuld, dass sie zusammengeklappt ist«, klagte Thomas sich bedrückt an, als er mit Dr. Norden zusammen das Krankenzimmer verließ. »Ich habe ihr gesagt, dass Isabell noch auf der Intensivstation liegt. Das war dumm von mir. Ich habe mir nichts dabei gedacht. Aber es hat wohl so auf sie gewirkt, als ginge es der Kleinen nach wie vor schlecht. Und das war einfach zuviel für sie.«

»Es ging Isabell auch schlecht. Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Herr Mayer. Es stand auf Messers Schneide. Auch nach der Transfusion war nicht sofort klar, ob sie es schafft.«

Thomas atmete tief durch. »Aber jetzt schon, oder?«

Daniel Norden nickte mit einem Lächeln. »Ja, jetzt schon.«

Isabell war wieder auf die Pädiatrie verlegt worden. Fee Norden war bei der Kleinen, die nach all den Strapazen, die hinter ihr lagen, noch sehr blass und schwach wirkte.

Doch als Thomas an ihr Krankenbett trat, da lächelte sie ein klein wenig und sagte leise: »Endlich besuchst du mich wieder. Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr, Onkel Thomas. Wo ist meine Mama? Kommt sie auch?«

»Bald. Aber erst musst du dich jetzt ausruhen und wieder zu Kräften kommen. Zuviel Besuch ist schädlich.«

Isabell nickte angedeutet, dann schlief sie übergangslos ein.

Die Erwachsenen verließen leise den Raum. Thomas fragte Fee Norden: »Wann wird es ihr besser gehen?«

»Das dauert eine Weile. Sie hat sehr viel hinter sich. Und ihr Körper ist noch damit beschäftigt, zu heilen. Sie müssen ein bisschen Geduld haben.«

»Die habe ich. Es ist nur, Hella wartet so sehr darauf, ihre Tochter endlich wieder in die Arme schließen zu können. Erst dann wird sie wirklich glauben, dass Isabell gesund wird.«

»Sie muss sich erst mal selbst ausruhen und wieder Kräfte sammeln«, meinte Fee. »Das wird ein paar Tage dauern. Und bis dahin wird es auch Isabell besser gehen.«

»Dann müssen Sie nun gleich zwei Krankenbesuche am Tag bewältigen, Herr Mayer«, stellte Dr. Norden lächelnd fest. »Wird Ihnen das nicht zuviel, zusätzlich zu Ihrer Arbeit auf dem Hof?«

»Zuviel?« Der junge Mann lachte leise. »Ich würde vor der Behnisch-Klinik ein Zelt aufschlagen, wenn es sein müsste. Sie wissen nicht, was diese beiden Menschen mir bedeuten.«

»Ich kann es mir denken«, versicherte ihm der Klinikchef.

*

Tatsächlich ging es Hella am nächsten Tag bereits so gut, dass sie ihr Bett verließ und sich zur Pädiatrie durchfragte.

Fee Norden brachte sie zu Isabell, die ihre Mutter glücklich in die Arme schloss und gar nicht wieder loslassen wollte.

»Aber, Mama, warum hast du denn einen Morgenmantel an?«, wunderte die Kleine sich. »Bist du auch krank?«

»Nein, jetzt geht es mir gut. Und ich werde dich wieder jeden Tag besuchen, bis du heim darfst.«

»Ehrlich? Das ist schön! Ich war die ganze Zeit so einsam.«

»Aber du hast doch geschlafen, mein Spatz.«

»Ich war auch wach. Und da waren nur Leute, die ich nicht gekannt habe. Das war nicht schön.«

»Das ist jetzt vorbei.«

Dési Norden erschien, brachte Isabell einen Teddybären mit und einen Stapel Bilderbücher. Das Mädchen freute sich sehr. Und noch größer war die Freude, als Dési ihr gleich eine Geschichte vorlas, und Hella an ihrem Bett sitzen blieb und ihre Hand hielt. Die tapfere kleine Isabell, die so viel Schweres hatte durchleiden müssen, lächelte schon wieder. Sie spürte, dass die Krankheit besiegt war, dass sie wieder gesund wurde. Und sie spürte, dass sie geliebt und umsorgt wurde. Und das war ganz einfach wunderbar!

Es dauerte noch eine Weile, bis Isabell die Behnisch-Klinik als geheilt verlassen durfte.

In der Zwischenzeit hatte der Winter im Voralpenland Einzug gehalten. Auf dem Biohof von Thomas Mayer begann nun die ruhigere Zeit im Jahr. Lediglich zwei der Glashäuser, die beheizt werden konnten, wurden bewirtschaftet. Hier wuchsen frische Kräuter und Wintergemüse. Und die Stecklinge für die nächste Saison wurden herangezogen.

Hella spuckte nun wieder fleißig in die Hände. Sie hatte fast vergessen, wieviel Spaß ihr die Arbeit auf dem Biohof immer gemacht hatte. Und wenn sie nach getaner Arbeit zusammen mit Thomas zur Behnisch-Klinik fuhr, dann schlug ihr Herz stets höher vor Glück.

Denn täglich ging es Isabell nun besser. Ihr Körper erholte sich, ihre Wangen bekamen wieder Farbe, sie wurde lebhaft und munter. Es war eine wahre Freude, zu sehen, wie aus dem kleinen, kranken Kind wieder der Wildfang wurde, der das Leben in vollen Zügen genoss. Und das tat Isabell, auch schon in der Klinik. Obwohl sie erst sieben Jahre alt war, hatte sie doch bereits die Erfahrung gemacht, dass das Leben kostbar und zerbrechlich war. Ihre kindliche Seele schien dies auf eigene Art zu verarbeiten. Die Kleine war nun umso fröhlicher und stets zu Scherzen aufgelegt. Vor allem aber genoss Isabell die Zeit mit Hella und Thomas aus vollem Herzen. Und sie freute sich unbändig auf den Tag, an dem sie endlich wieder auf den Biohof zurückkehren dürfte.

Thomas hatte sich so einiges für die Rückkehr des kleinen Mädchens einfallen lassen. Da stand nun statt der alten Schaukel ein großes Gerüst zum Schaukeln, Turnen und Klettern. Ein kleines Kätzchen, rot gestromt, wie Isabell es sich gewünscht hatte, wartete auf das Mädchen. Und es sollte zudem im kommenden Frühling ein großes Hoffest zu Isabells Heimkehr geben.

Alles war also gerüstet für den großen Tag. Ende März war es dann so weit.

Dr. Schuhmann hatte alle abschließenden Tests gemacht und die Befunde Fee Norden vorgelegt. Zusammen mit ihrem Mann ging sie diese durch, und beide waren froh und zufrieden, dass die Heilung der kleinen Isabell so umfassend verlaufen war. Bevor das Kind aber nach Hause durfte, stand noch ein Gespräch mit Hella und Thomas an.

»Die Leukämie ist geheilt. Allerdings braucht Isabell weiterhin regelmäßige Nachsorge. Die Untersuchungsintervalle werden allmählich größer, das können Sie mit Ihrem Hausarzt besprechen. Insgesamt sollte die Nachsorge über sieben Jahre laufen. Flammt die Krankheit in diesem Zeitraum nicht wieder auf, gilt Isabell als endgültig geheilt«, erläuterte Dr. Norden.

»Das ist eine lange Zeit«, stellte Hella mit ernster Miene fest. »Meine Tochter ist jetzt Erstklässlerin. Bis zu der Gewissheit, dass sie wirklich gesund ist, wird sie schon ein Teenager sein. Das sind keine schönen Aussichten.«

»Es ist nicht so, dass die Krankheit sie weiter begleitet«, stellte Fee Norden daraufhin klar. »Die Nachsorge stellt nur sicher, dass Isabell gesund bleibt. Und die Wahrscheinlichkeit einer Neuerkrankung ist nach einer Stammzellenspende sehr gering. Die Nachsorge dient lediglich zur Sicherheit.«

»Darüber sollten Sie sich keine Sorgen machen.«

»Das ist leichter gesagt als getan, Herr Dr. Norden«, merkte Hella an. »Aber ich will mich bemühen, es zu akzeptieren. Müssen wir sonst noch etwas beachten?«

»Nein, Isabell ist jetzt ein gesundes, kleines Mädchen, das wieder zur Schule gehen und die Welt erkunden kann«, versicherte der Klinikchef ihr freundlich.

»Das soll sie auch, sie hat viel nachzuholen«, meinte Thomas. »Übrigens geben wir am Wochenende ein Hoffest und würden uns freuen, wenn Sie und Ihre Familie auch kommen. Es findet zu Isabells Heimkehr statt.«

»Eine nette Idee, wir kommen gern«, meinte Fee.

Und dann war es endlich soweit. An der Hand von Hella und Thomas hüpfte die kleine Isabell fröhlich und munter aus der Behnisch-Klinik. Wer sie sah, wäre nie auf die Idee gekommen, was hinter diesem kleinen Kobold lag. Und wenn Hella ihre Tochter anschaute, dann glaubte auch sie endlich an das Wunder, das in der Behnisch-Klinik an Isabell vollbracht worden war…

*

Am Wochenende war herrliches Wetter. Der Himmel war blau, die Sonne schien und es lag bereits ein deutlicher Hauch von Frühling in der klaren Luft.

Der Biohof von Thomas Mayer war für das besondere Fest herausgeputzt worden. Im Wirtschaftshof gab es viele Tische und Stühle, wo man gemütlich beisammen sitzen und die Schmankerln verkosten konnte, die allesamt mit Zutaten aus eigener Produktion hergestellt worden waren. Viele Besucher kamen, verkosteten und kauften und genossen den herrlichen Vorfrühlingstag. Auch Dési Norden hatte einen großen Korb mitgebracht, um ihre »Beute« zu verstauen. Janni hatte dankend abgewinkt und war lieber mit seinen Freunden in der Stadt unterwegs. Fee und Daniel aber genossen das gute Essen, unterhielten sich lange mit Hella und Thomas und freuten sich beide, als sie sahen, wie ausgelassen und fröhlich Isabell mit den anderen Kindern spielte.

Es wurde ein besonderer Tag für Isabell, aber auch für Hella und Thomas. Als die meisten Gäste sich wieder verabschiedet hatten, saßen sie noch mit den Nordens zusammen.

»Das war nicht das letzte Fest in nächster Zeit«, deutete der junge Biobauer an. »Ich habe nämlich vor, wieder zu heiraten.«

Fee strahlte Hella an. »Das ist ja wunderbar!«

»Finde ich auch«, gab diese ein wenig verschämt zu. »Ohne Thomas hätte ich die letzten Monate nicht durchgestanden. Ich verdanke ihm so viel, mir blieb gar nichts anderes übrig, als ja zu sagen«, scherzte sie.

Alle lachten, dann erklärte der junge Biobauer: »Ich finde, wir sind quitt, Hella. Die Stammzellenspende war eine einzigartige Möglichkeit für mich, endlich mit der Vergangenheit abzuschließen. Ich konnte mich lange nicht von dem Verlust lösen, hatte Schuldgefühle, weil ich Sarah nicht helfen konnte. Jetzt weiß ich, dass ich mir nichts vorzuwerfen habe. Und die Gelegenheit, die das Schicksal mir gegeben hat, habe ich genutzt. Das ist ein wirklich gutes Gefühl.«

»Sie haben ein Leben gerettet, Thomas«, stellte Daniel Norden heraus. »Das ist etwas Wunderbares und einer der wichtigsten Gründe, warum ich Arzt geworden bin.«

»Sie müssen aber auch mit dem Gegenteil leben. Und ich weiß nicht, ob ich das könnte«, sinnierte Hella.

»Es ist nicht leicht«, gestand Fee ihr offen zu. »Aber es gehört dazu. Schmerz und Freude sind eben nun mal zwei Seiten der gleichen Medaille. Für Sie beide ist das jetzt aber kein Thema mehr. Wann soll die Hochzeit denn stattfinden?«

»Im Mai. Sie sind herzlich eingeladen.«

»Das lassen wir uns nicht entgehen«, versprach Daniel.

So plauderte man noch eine Weile, bis die Nordens sich schließlich auch verabschiedeten. Dési hatte Isabell, der in der Zwischenzeit nach all dem Spielen und Toben die Augen zugefallen waren, ins Bett gebracht und schleppte frisches Obst und Gemüse ins Auto. Ihr Vater lachte leise.

»Dein Bruder wird nicht begeistert sein.«

Das Mädchen hob die Schultern. »Den bekehre ich auch noch zu einer gesünderen Ernährung. Was meinst du, Mama, backen wir morgen einen besonders guten Kuchen mit frischem Obst?«

Fee schmunzelte. »Eine wirklich gute Idee. Ich habe das Gefühl, dass wir dem Biohof als Kunden noch lange erhalten bleiben werden.«

Dési nickte. »Und als Freunde …«

Hella und Thomas spazierten derweil noch ein Stück durch den Vorfrühlingsabend, genossen die frische Luft und die Düfte der ersten Blüten und waren einander genug. Sie spürten beide, dass ihre Liebe eben erst erwacht war und auf ein langes, gemeinsames Leben wartete, um ganz zu erblühen.

Wenig später zog es sie dann zurück zum Haus, und als sie Hand in Hand an Isabells Bett standen und das selig schlummernde kleine Mädchen mit den schlafroten Wangen betrachteten, das sein Kätzchen im Arm hielt, da wussten sie beide, was Glück war.

Nach einer schier endlosen Zeit voller Angst, Verzweiflung und Dunkelheit hatte nun ein neues Leben für drei Menschen begonnen, die alles teilen und glücklich miteinander sein wollten. Auf einem gemeinsamen Lebensweg, der ihnen eine Zukunft in Liebe verhieß.

Chefarzt Dr. Norden Staffel 9 – Arztroman

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