Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Staffel 7 – Arztroman - Helen Perkins - Страница 6

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Das leise und stete Trommeln von Regentropfen an der Fensterscheibe weckte Anita. Es regnet, war ihr erster Gedanke an diesem frühen Morgen. Der zweite galt Oliver. Sie wusste, dass er schon aufgestanden war. Sie konnte die Leere auf der anderen Bettseite spüren. Trotzdem tastete sie sie schlaftrunken ab. Ein verhaltenes Lachen ließ sie innehalten und die Augen aufreißen.

»Du bist noch hier«, sagte sie strahlend und schüttelte ihre Müdigkeit ab.

»Ja, aber leider nicht mehr lange. Ich muss zur Arbeit.« Oliver stand im Türrahmen und sah mit einem liebevollen Lächeln zu ihr hinüber. Als Anita eine Hand nach ihm ausstreckte, ließ er sich nicht lange bitten. Zärtlich küsste er seine Verlobte. »Versuch, wieder einzuschlafen, Liebling. Es wird heute den ganzen Tag regnen. Wenn ich du wäre, würde ich ihn einfach verschlafen.«

»Geht doch nicht. Ich habe heute extra Urlaub genommen, um alles zu schaffen, was ich mir vorgenommen habe: erst zum Zahnarzt, dann zur Bank und dann …« Sie seufzte traurig auf. »Und dann zum Vermieter, um meine Kündigung abzugeben.«

»Wir waren uns doch einig, Liebling …«

»Ja, ja, ich weiß«, sagte Anita schnell. »Ich mache es ja. Heute gebe ich meine Kündigung wirklich ab. Es wäre ja echt blöd, zwei Wohnungen zu haben. Aber trotzdem … Es … Es wird mir unheimlich schwerfallen, sie aufzugeben.« Anita spürte, wie sich ihre Emotionen den Weg an die Oberfläche bahnten, und senkte schnell den Kopf, damit Oliver davon nichts mitbekam. Doch er kannte sie zu gut, um nicht zu wissen, was in ihr vorging.

Seine Stimme wurde weich, als er sagte: »Wenn deine Wohnung nur etwas größer wäre als ein Schuhkarton, könnten wir auch hier leben. Aber so …« Oliver griff nach einer blonden Haarsträhne, die ihr ins Gesicht gefallen war, und ließ sie durch seine Finger gleiten. »Ich möchte richtig mit dir zusammen sein, Liebling. So wie es jetzt ist, kann es doch nicht bleiben. Warum packst du nicht endlich deine Sachen und ziehst bei mir ein?«

»Solange ich die Wohnung noch habe und dafür Miete zahle, möchte ich sie auch nutzen.« Sie sah ihn um Verständnis bittend an. »Wir haben noch ein ganz langes gemeinsames Leben vor uns. Lass mir doch die paar Wochen, um mich allmählich von meiner Wohnung zu verabschieden.«

Oliver legte den Kopf schief. »Mein Liebling, ich fürchte, du bist hoffnungslos in deine Wohnung verliebt. Du hängst an ihr, als wäre sie deine beste Freundin. Stimmt’s?«

»Nun, ich mag sie schon sehr«, räumte Anita ein.

»Mehr als mich?«

»Nein! Natürlich nicht! Ich liebe dich! Das weißt du doch!« Entrüstet sah sie ihren Verlobten an. Dass er so etwas auch nur in Erwägung ziehen konnte! Er musste doch wissen, wie tief ihre Gefühle für ihn waren.

»Beweis es«, drängte Oliver. »Gib sie endlich auf! Ich habe keine Lust mehr, ab und zu bei dir zu Gast zu sein, obwohl wir in meiner Wohnung ständig zusammen sein könnten.«

Anita nickte zwar zustimmend, aber auch sichtlich betrübt. Ihre Wohnung war wirklich winzig und bestand nur aus einem Zimmer, das ihr als Wohn- und Schlafraum diente. Es gab ein enges Duschbad und eine so kleine Küche, dass sie diese Bezeichnung kaum verdiente. Seit Oliver ihr vor einigen Wochen einen Heiratsantrag gemacht hatte, sprachen sie davon zusammenzuziehen. Künftig wollten sie in Olivers Wohnung leben. Sie war nicht nur größer und schöner, sondern lag auch so zentral, dass beide nur sehr kurze Wege zu ihren Arbeitsstätten hatten. Anita hatte die Kündigung ihres Mietvertrags längst geschrieben, aber immer noch nicht abgegeben. Sehr zu Olivers Leidwesen, der schon ernsthaft begann, sich deswegen Sorgen zu machen. Befürchtete Anita etwa, ihre Freiheit aufzugeben? Wollte sie ihn gar nicht heiraten?

»Ich verspreche dir feierlich, dass ich heute diese dumme Kündigung abgeben werde«, sagte Anita nun, und augenblicklich schwanden Olivers Sorgen.

»Was hältst du davon, wenn wir zum Abendessen ausgehen?«, fragte er zufrieden. »Lass uns die Kündigung feiern! Vielleicht kannst du dich dann endlich auf unser gemeinsames Leben freuen.«

»Ich freue mich doch darauf!«, beteuerte Anita. »Ich liebe dich und kann mir nichts Schöneres vorstellen, als den Rest meines Lebens mit dir zu verbringen. Ich bin doch nur ein bisschen wehmütig. Da kommt wohl meine sentimentale Ader durch.« Sie schlang ihre Arme um seinen Nacken und zog Oliver für einen Kuss zu sich hinunter. »Ich liebe meine Wohnung, aber dich liebe ich mehr«, hauchte sie leise an seinem Mund, bevor sie ihn erneut küsste.

Dieser Kuss machte es Oliver schwer, seine Verlobte zu verlassen, und er kostete ihn aus, bis er sich schließlich beeilen musste, um nicht zu spät zu kommen.

Auch für Anita wurde es nun Zeit aufzustehen, wenn sie ihre Termine schaffen wollte. Als sie später das Haus verließ, schimpfte sie leise. Der Regen hatte zugenommen, und auf dem Gehweg hatten sich schon große Pfützen gebildet. Anita ärgerte sich, ihre wunderschönen neuen Schuhe diesem ungemütlichen Wetter auszusetzen. Das weiche Leder war zu empfindlich, um den Regen unbeschadet zu überstehen. Außerdem waren die Absätze recht hoch und für regennasse Pflastersteine denkbar ungeeignet. Es waren die idealen Pumps für einen typischen Sommertag. Ein Sommertag, der trocken und warm war und nicht so verregnet wie der heutige. Obwohl es bis zu ihrem Zahnarzt nicht weit war und sie diese Strecke üblicherweise zu Fuß ging, verleitete sie der Regen dazu, ihr Auto zu nehmen.

Nach einer Stunde verließ sie die Praxis wieder. Es regnete nicht mehr, und Anitas Stimmung hob sich merklich. Das Einkaufscenter, in der sich die Bankfiliale befand, lag in der Nähe, und der kleine Spaziergang dorthin gefiel ihr. Natürlich waren die vielen Pfützen immer noch ein großes Ärgernis – für sie und für ihre Schuhe. Aber wenigstens blieb es von oben trocken.

Sie passierte die große Drehtür, die ins Center führte, und kam sofort auf den regennassen Marmorfliesen ins Straucheln. Hier war es so rutschig, dass es ihr nur mit viel Mühe und Glück gelang, das Gleichgewicht zu halten und nicht zu stürzen. Mit äußerster Vorsicht setzte sie ihren Gang fort und entspannte sich erst, als sie die Bank betrat und ihre Schuhe in dem weichen Teppichboden versanken.

Vor dem einzigen besetzten Schalter hatte sich eine lange Schlange gebildet. Mit einem tiefen Seufzer stellte sie sich an. Äußerlich duldsam und gelassen wartete sie ab, bis sie an die Reihe kam. Dass sie immer unruhiger wurde, je länger es dauerte, sah ihr niemand an.

Es war fast Mittag, als Anita endlich ihre Geschäfte erledigt hatte. In zwanzig Minuten wollte sie bei ihrem Vermieter sein. Um dort noch einigermaßen pünktlich anzukommen, musste sie sich nun sputen. Den Termin zu verschieben, das kam für sie nicht infrage. Sie hatte Oliver versprochen, heute ihre Kündigung abzugeben. Mit großen, eiligen Schritten verließ sie die Bank. Den feuchten Boden, der sie in der Passage erwartete, hatte sie längst vergessen. Erst als sie ausrutschte und rücklings stürzte, fiel er ihr wieder ein. Leider zu spät. Sie spürte einen heftigen Schmerz, als ihr Kopf auf dem Boden aufschlug, bevor alles um sie herum schwarz wurde.

Wieder riss sie ein gleichmäßiges Trommeln aus dem Schlaf. Und wieder schoss ihr ein, dass es regnen musste. Sie dachte an große, schwere Regentropfen, die beharrlich an ihre Fensterscheibe schlugen. Viel zu laut, wie sie befand. So laut, dass ihr Schädel davon zu dröhnen begann und sie erkannte, dass das nicht am Regen liegen konnte. Es brauchte eine ganze Weile, bis sie verstand, dass sich das hämmernde Stakkato nur in ihrem Kopf abspielte und rhythmisch aufwallende Schmerzen auslöste. Stöhnend schlug sie die Augen auf, nur um vor Schreck sofort zu erstarren. Das laute Klopfen verstummte. Sogar ihre Kopfschmerzen gerieten in Vergessenheit, angesichts dessen, was sie jetzt sah. Fassungslos blickte sie sich um. Wo kamen die vielen Menschen her? Warum schauten sie sie an, als wäre sie ein Insekt unter dem Mikroskop? Wo war sie überhaupt? Wieso lag sie nicht in ihrem Bett, sondern auf einem kalten, harten Boden?

Mühsam richtete sie sich auf und hielt mit einer Hand ihren Kopf fest, der zu zerspringen drohte.

»Vielleicht sollten Sie besser liegen bleiben, bis der Rettungswagen hier ist«, sagte eine fremde Frau freundlich.

Der Mann, der daneben stand, musterte Anita mitfühlend. »Sie haben sich ordentlich den Kopf gestoßen, als Sie hingefallen sind. Wie geht es Ihnen?«

Anita musste einen Moment die Augen schließen, weil sich plötzlich alles um sie drehte. »Nicht so gut. Mir ist schwindlig, und mein Kopf tut höllisch weh.«

Ganz langsam legte sie sich wieder ein. Es war ihr egal, dass sie nun erneut auf den schmutzigen Fliesen lag. Ihr ging es so schlecht, dass sie meinte, diesen Zustand nicht länger aushalten zu können. Wo sie war oder warum sie hier lag, interessierte sie nicht mehr. Sie wollte nur noch, dass alles ein Ende hatte und sie wieder zu Hause war. Sie wollte zu Oliver. Sie wollte ihn bei sich haben, damit er sie beschützen konnte.

Ohne es zu merken, dämmerte sie wieder weg. Als sie das nächste Mal die Augen aufschlug, teilte sich gerade die Menschenmenge, um zwei Männer vom Rettungsdienst durchzulassen. Sie stellten sich ihr als Dr. Steinbach und Jens Wiener vor. Doch Sekunden später hatte sie diese Namen bereits vergessen. Als sie nach ihrem gefragt wurde, brauchte sie eine Weile, um sich an ihn erinnern zu können.

»Ich heiße … Anita … Weber. Ich heiße Anita Weber.«

Auch die nächsten Fragen bereiteten ihr große Mühe. Auf Anhieb wusste sie weder ihre Anschrift noch ihr Geburtsjahr oder den Wochentag. Sie musste lange überlegen, bis ihr die Antworten dazu einfielen. Doch zu dem, was mit ihr geschehen war, konnte sie überhaupt nichts sagen. Es war vollkommen aus ihrem Gedächtnis verschwunden. Sie war froh, dass es genügend Zeugen gab, die den Sturz beobachtet hatten und nun davon berichten konnten. In Anitas Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander, in dem nichts mehr an seinem angestammten Platz war.

Nachdem Jens Wiener, der Rettungssanitäter, den Blutdruck gemessen hatte, holte Dr. Fred Steinbach eine kleine Taschenlampe heraus. Anita musste ihre Augen schließen, sie wieder öffnen und anschließend dem hellen Licht der Lampe folgen.

»Vielen Dank, Frau Weber.« Fred Steinbach steckte die Lampe wieder ein. »Fürs Erste sind wir hier fertig.«

»Dann kann ich also endlich nach Hause?«, fragte Anita matt. Auf ihrer hellen Leinenhose waren unschöne Schmutzflecken zu sehen, ihr war kalt, sie fühlte sich erschöpft und müde. Sie wollte nur noch fort von hier. Fort von der dichten Menschentraube, von der sie sich belagert und beobachtet fühlte.

»Sie können nicht nach Hause«, erwiderte der nette Arzt ruhig. »Wir bringen Sie in die Klinik, damit Sie dort gründlich untersucht werden.«

»In die Klinik?« Anita rieb sich die Schläfen, weil die Schmerzen wieder zunahmen. »Aber … aber ich bin doch nicht krank. Ich bin nur hingefallen.«

»Sie haben sich bei dem Sturz am Kopf verletzt.«

Anita tastete mit einer Hand über ihren Hinterkopf und zuckte zurück, als sie die schmerzhafte Stelle erwischte. »Es ist nur eine harmlose Beule.«

»Mag sein. Auch eine Gehirnerschütterung wäre denkbar. Immerhin waren Sie mehrere Minuten bewusstlos. Dazu kommen noch der Schwindel und die Übelkeit, von der Sie uns berichtet haben. Es muss abgeklärt werden, ob nicht eine ernsthaftere Verletzung dahintersteckt.«

Nicht nur die Worte des Rettungsarztes überzeugten Anita. Auch das große Bedürfnis, den neugierigen Blicken der Passanten zu entkommen, ließ sie zustimmen. Doch sobald sie im Rettungswagen lag, kehrten die Zweifel zurück.

»Vielleicht könnten Sie mich ja auch einfach zu Hause absetzen? Mir geht’s doch schon viel besser. Außerdem habe ich nachher einen sehr wichtigen Termin, zu dem ich auf gar keinen Fall zu spät kommen darf.«

Anita machte Anstalten, sich aufzurichten, und Fred drückte sie sanft auf die Trage zurück. »Was ist das denn für ein wichtiger Termin? Was haben Sie vor?«

»Ich …« Anita brach ab und überlegte so angestrengt, dass der Kopfschmerz stärker wurde. Warum fiel ihr nicht ein, wohin sie so dringend wollte? »Um zwölf«, stieß sie schließlich hervor. »Mein Termin ist um zwölf. Dann muss ich unbedingt zu …« Plötzlich traten ihr die Tränen in die Augen, und sie schluchzte leise auf. »Was ist denn nur los mit mir? Warum kann ich mich nicht daran erinnern? Der Termin ist doch so wichtig!«

»Frau Weber, bitte regen Sie sich nicht auf. Versuchen Sie, ganz ruhig zu bleiben und darauf zu vertrauen, dass Sie in der Klinik Hilfe bekommen werden.«

»Aber das ist doch nicht normal, dass ich mich nicht mehr richtig erinnern kann! Ich weiß noch nicht mal, warum ich in diesem Einkaufscenter war oder wie ich dorthin gekommen bin.« Anita hatte nun heftig zu weinen begonnen. Sie hatte Angst, fürchterliche Angst, und sie wusste nicht, warum das so war. Sie wusste nur, dass hier irgendetwas schrecklich schieflief und dass sie gerade die Kontrolle über ihr Leben verlor.

Fred versuchte, sie zu beruhigen. Diese Aufregung war nicht gut für seine verwirrte Patientin. »Gedächtnislücken sind bei einem Schädelhirntrauma völlig normal und kein Grund, sich unnötig Sorgen zu machen. Mit etwas Ruhe wird es Ihnen bald wieder besser gehen.«

»Also kann ich doch nach Hause?«, fragte Anita schluchzend. »Wenn ich mich ausruhen soll, muss ich doch jetzt nach Hause, nicht wahr?«

»Bald«, sprach er besänftigend auf sie ein, als wäre sie ein Kleinkind. »Bald können Sie nach Hause, Frau Weber. Wir machen nur noch einen kleinen Abstecher in die Behnisch-Klinik für eine kurze Untersuchung. In Ordnung?«

Anita nickte zögernd und signalisierte damit ihr Einverständnis.

»Können wir jemanden für Sie benachrichtigen? Haben Sie Familie?«

»Ja … Ich glaube schon.« Sie schloss die Augen, weil ihr die Dunkelheit beim Nachdenken half. »Ich habe einen Verlobten. Sein Name ist … Oliver.« Anita lächelte den Arzt glücklich an. Sie war verlobt! Oliver war ihr Verlobter, und sie liebten sich. Er würde ihr beistehen. Nun gab es nichts mehr, was ihr Angst machte!

*

In der Notaufnahme der Behnisch-Klinik war es heute ruhiger als sonst. Dr. Martin Ganschow, der hier als Assistenzarzt arbeitete, wusste, dass sich das schnell ändern konnte. Von einer Sekunde auf die andere konnte sich ein entspannter Dienst zu einem wahren Albtraum wandeln, in dem sich plötzlich Schwerkranke und Unfallopfer die Klinke in die Hand gaben. Das störte ihn nicht. Er liebte es, wenn es anspruchsvoll zuging und er zeigen konnte, was in ihm steckte.

Nach seinem Medizinstudium hatte Martin direkt an der Behnisch-Klinik angefangen. Er war jetzt im vierten Jahr hier, und manchmal fiel es ihm schwer, dieses große Glück wirklich fassen zu können. Für ihn fühlte sich dieser Job wie ein Sechser im Lotto an. Die Klinik besaß einen ausgezeichneten Ruf und war dafür bekannt, gerade Berufsanfängern einen guten Start zu ermöglichen und sie in ihrer weiteren Ausbildung zu unterstützen und zu fördern. So besaß Martin inzwischen nicht nur seinen Doktortitel, sondern war auch mitten in der Facharztausbildung. Dass das nicht in allen Kliniken so unproblematisch vonstattenging und die Qualifizierung oft unter dem hohen Arbeitspensum und den vielen Diensten leiden musste, wusste er. Umso dankbarer war er für die große Chance, die ihm hier geboten wurde.

Martin liebte seine Arbeit und das ganze Team der Notaufnahme –, selbst Dr. Erik Berger, den Abteilungsleiter. Anfangs war es für ihn nicht leicht gewesen, mit der grantigen und unwirschen Art seines Chefs klarzukommen. Er musste ihn erst näher kennenlernen, um zu erkennen, dass Berger nicht nur der beste Notfallmediziner Münchens war, sondern auch ein hervorragender Mentor, dem das Wohlergehen seiner Schützlinge am Herzen lag und der alles tat, damit sie bei ihm die bestmögliche Ausbildung erhielten. Natürlich würde Erik Berger das niemals zugeben. Er kommandierte seine Assistenzärzte herum, verlangte ihnen alles ab, prüfte ihr Wissen ständig auf Herz und Nieren und behandelte sie, als wären sie nur dafür da, um ihm oder den Patienten gefällig zu sein. Und trotzdem verehrten sie ihn. Sie wussten, er stand zu ihnen und tat alles, damit aus ihnen hervorragende Fachärzte wurden.

Als Anita Weber in der Notaufnahme ankam, war Dr. Berger nicht da. Zusammen mit den anderen Abteilungsleitern und Oberärzten der Behnisch-Klinik war er in einem Meeting bei Dr. Daniel Norden. Selbstverständlich könnte Martin jederzeit Unterstützung anfordern, falls es nötig sein sollte. Dr. Berger wäre in wenigen Minuten bei ihm. Aber in diesem Fall war das nicht erforderlich. Die junge Frau, die die Rettungswache angekündigt hatte, war in einer Einkaufspassage ausgerutscht und sollte hier durchgecheckt werden. Für den jungen Arzt stellte das keine große Herausforderung dar. Damit würde er auch gut allein fertig werden.

»Ist sie noch nicht da?« Dr. Jakob Janssen schaute zu ihm rein. »Ich habe gerade gehört, dass die Rettungswache einen Neuzugang angekündigt hat.«

Jakob war für Martin nicht nur ein Kollege. Die beiden hatten im selben Jahr ihren Abschluss gemacht und dann gemeinsam in der Behnisch-Klinik angefangen. Seitdem verband sie eine enge Freundschaft, obwohl sie sich nicht nur äußerlich voneinander unterschieden. Der dunkelblonde Martin war der besonnene, ruhige Typ, während Jakob als forsch und ungestüm galt und für jeden Spaß zu haben war.

Jakob grinste. »Wie sieht’s aus? Brauchst du dabei meine Hilfe?«

»Glaub ich nicht. Was ist los? Langweilst du dich?«

»Mein Patient ist gerade in der Radiologie. Eine schnöde Sprunggelenksfraktur. Dein Fall klingt viel interessanter. Wir können ja tauschen.«

»Du weißt, dass uns das eine Menge Ärger einbringen würde. Wenn Berger wieder hier ist, wird er sich ganz genau die Patientenakten ansehen. Stellt er fest, dass du die Behandlung eines Patienten an mich abgegeben hast, weil er dir nicht spannend genug war, springt er aus dem Anzug.«

Jakob verzog das Gesicht. »Ja, stimmt. Aber es spricht ja wohl nichts dagegen, wenn ich dir ein wenig über die Schulter schaue, während ich auf die Befunde aus der Radiologie warte.« Er setzte sich auf den Drehstuhl, verschränkte die Hände hinterm Kopf und lehnte sich entspannt zurück. »Ist das nicht ein tolles Gefühl, endlich mal Herr der Aufnahme zu sein, ohne dass uns der Chef ständig im Nacken sitzt?«

Sofort warf Martin einen hektischen Blick zur Tür. »Pass aus, was du sagst. Immer wenn du so eine Bemerkung machst, steht Berger plötzlich hinter dir und macht dich zur Schnecke. Ich wäre dann sehr ungern in deiner Nähe.«

Jakob winkte lässig ab. Demonstrativ legte er seine Füße auf einem kleinen Rollcontainer ab und setzte zu einer seiner lockeren Bemerkungen an, als die Tür aufgerissen wurde. Sofort sprang er wie ertappt auf und sah Schwester Anna schreckensbleich an. Martin gelang es nur mühsam, nicht lauthals loszulachen.

Leicht irritiert blickte Anna von ihm zu Jakob Janssen. »Habe ich Sie bei irgendetwas gestört?«

»Nein, Schwester Anna«, griente Martin. »Sie kommen gerade richtig.«

Mit einem leichten Stirnrunzeln und nicht restlos überzeugt, zuckte Anna die Schultern. »Ich wollte nur Bescheid sagen, dass der Rettungswagen da ist. Falls Sie also nichts Besseres zu tun haben …«

»Natürlich nicht.« Auch Martin war nun aufgesprungen. Zusammen mit Anna eilte er hinaus. Die Flachserei mit dem Freund war vergessen, jetzt zählte für ihn nur der neue Fall. Noch wusste er nicht, was ihn erwarten würde. Wahrscheinlich war die angekündigte Sturzverletzung so harmlos, wie er vermutete. Eine kleine Beule, ein paar blaue Flecken, die kaum der Rede wert waren und in wenigen Tagen verschwanden. Aber auch das extreme Gegenteil wäre möglich. Manchmal konnte ein kleiner Unfall dramatische Folgen haben und sogar ein Menschenleben beenden.

Glücklicherweise deutete auf den ersten Blick nichts darauf hin, dass Martins neuer Patientin dieses schwere Schicksal drohte. Sie war bei Bewusstsein und erwiderte Martins Begrüßung mit klaren Worten.

»Wir bringen Ihnen Frau Weber mit Verdacht auf Commotio cerebri«, sagte Fred Steinbach. »Sie ist gestürzt und auf den Hinterkopf gefallen. Laut Aussagen von Zeugen war sie ungefähr drei Minuten bewusstlos. Als wir eintrafen, war sie wach, aber leicht desorientiert zu Raum, Zeit, Situation und Person. Sie hat Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit und eine retrograde Amnesie. Keine Pupillendifferenz, keine Spasmen, keine Paresen. Alle Vitalwerte sind im Normbereich. Sie erreicht vierzehn Punkte auf der Glasgow Skala.«

Martin nickte. So wie es aussah, lag der Rettungsarzt mit seiner vorläufigen Diagnose richtig: Anita Weber hatte sich bei dem Sturz eine Commotio cerebri, also ein leichtes Schädelhirntrauma, zugezogen. »Frau Weber, wir werden Sie hier gründlich untersuchen, aber momentan besteht kein Grund zur Sorge. Wahrscheinlich haben Sie nur eine Gehirnerschütterung, die sich mit viel Ruhe gut behandeln lässt.«

»Dann kann ich jetzt wieder nach Hause?«, fragte Anita ängstlich. »Ich muss nicht hierbleiben?«

»Das kann ich Ihnen erst sagen, wenn wir alle Untersuchungen abgeschlossen haben. Wir werden zuerst eine Computertomografie machen, um uns Ihren Kopf ein wenig genauer anzusehen.«

Jens Wiener, der Rettungssanitäter, meldete sich zu Wort: »Frau Weber, Ihr Verlobter weiß Bescheid. Ich habe ihn vorhin von Ihrem Handy aus angerufen. Er kommt so schnell wie möglich her.«

»Danke! Vielen Dank! Das ist sehr nett von Ihnen.«

Für die Männer vom Rettungswagen war es nun an der Zeit, sich zu verabschieden und zu ihrem nächsten Einsatz aufzubrechen. Auch Jakob Janssen musste gehen. Sein Patient war aus der Radiologie zurück und brauchte eine Gipsschiene.

Martin Ganschow untersuchte Anita gründlich, bevor er sie zusammen mit Anna in die Radiologie brachte. Hier wurden sie bereits von Dr. Nils Heinrich, dem leitenden Radiologen, erwartet.

»Ist Ihr Meeting mit dem Chefarzt schon vorbei?«, wunderte sich Martin.

»I wo! Die tagen immer noch. Aber ich hatte einen wunderbaren Grund, um mich davonzumachen.« Zufrieden rieb sich der schwergewichtige Oberarzt die Hände und strahlte Anita glücklich an. »Und das verdanke ich nur Ihnen. Sie haben mir heute wirklich den Tag versüßt. Es gibt doch nichts Schöneres, als sich ein ramponiertes Hirn im Computertomograph anzusehen.«

Entsetzt riss Anita die Augen auf, und Martin griff schnell ein: »Das war nur ein Scherz, Frau Weber.« Er sah den Oberarzt fast beschwörend an, als er sagte: »Nicht wahr, Dr. Heinrich?«

»Klar!«, erwiderte Heinrich laut lachend. »Aber wer weiß! Wer kann schon sagen, was wir gleich zu sehen bekommen? So ein Gehirn ist immer wieder für eine Überraschung gut. Besonders, wenn es mit voller Wucht auf den Boden geknallt ist. Also, junge Dame, vielleicht habe ich ja Glück, und Sie liefern mir heute einen besonders interessanten Fall.«

»Ich hoffe nicht«, murmelte Anita bedrückt.

Schwester Anna strich ihr aufmunternd über den Arm. Als Nils Heinrich immer noch lachend in den Nebenraum ging, um alles für die Untersuchung vorzubereiten, sagte sie zu Anita: »Bitte nehmen Sie das, was Dr. Heinrich sagt, nicht zu wörtlich. Er ist wirklich ein genialer Röntgenarzt, aber mit seinem schrägen Humor stößt er die Menschen immer wieder vor den Kopf, ohne es zu bemerken. Ich bin mir sicher, dass Sie sich keine Sorgen zu machen brauchen.«

Anita nickte nur stumm. Sie sollte sich keine Sorgen machen? Sie machte sich Sorgen, seit sie auf diesem kalten Steinboden zu sich kam. Noch immer hatte sie Gedächtnislücken. Ihr Kopf tat höllisch weh, und ihr war so schwindelig, dass ihr allein davon schon schlecht wurde. Ob das normale Symptome bei einer Gehirnerschütterung waren? Oder steckte etwa mehr dahinter?

*

Zusammen mit Nils Heinrich und Jakob Janssen saß Martin vor dem Computerbildschirm und betrachtete die ersten Aufnahmen, als sich hinter ihnen die Tür öffnete. Erik Berger und Dr. Daniel Norden, der Chefarzt der Behnisch-Klinik, kamen herein. Als Martin aufstehen wollte, winkte Daniel ab.

»Bleiben Sie ruhig sitzen, Herr Ganschow. Wir sind nur vorbeigekommen, um nach Ihrer neuen Patientin zu sehen. Es scheint ja ein sehr wichtiger Fall zu sein, wenn Herr Heinrich deswegen unser Meeting verlässt.«

Nils Heinrich kicherte. »Ist das ein Kontrollbesuch, Chef? Wollen Sie prüfen, ob ich den neuen Fall nur als Vorwand genommen habe?«

Daniel lächelte zu dieser Bemerkung nur und gesellte sich dann zu Erik Berger, der sich bereits hochkonzentriert die CT-Bilder ansah.

»Also, meine Herren, was halten Sie davon?« Berger sah seine jungen Assistenzärzte an. »Haben wir hier einen Befund?«

Daniel hatte Mühe, ein Schmunzeln zu unterdrücken, als er sah, wie die beiden Angesprochenen nervös zu ihrem Mentor aufblickten.

Jakob Janssen fing sich als Erster und reagierte gelassener als sein Freund. Er trat näher an den Bildschirm heran und schüttelte den Kopf. »Nein, ohne Befund. Es gibt keinen Hinweis auf intrakranielle Blutungen. Die Patientin hat ein Schädelhirntrauma ersten Grades, eine Commotio cerebri.«

»Ihre Therapievorschläge?«, wollte Berger von Janssen wissen.

»Symptomatische Behandlung, Bettruhe, stationäre Beobachtung für zwölf bis vierundzwanzig Stunden.«

»Aha«, sagte Berger nur dazu. »Und Sie, Herr Ganschow, teilen Sie die Meinung Ihres Kollegen?«

»Äh … Nun …« Martin brach ab und studierte noch einmal mit zusammengekniffenen Augen die Stelle auf der Aufnahme, die ihn vorhin schon beunruhigt hatte. Sollte er seinen Verdacht aussprechen? Womöglich lag er damit ja falsch und blamierte sich nur? Aber andererseits könnte es für die Patientin schlimme Folgen haben, sollte doch etwas dran sein und er hatte es aus Feigheit ignoriert. Er nahm einen Stift und umkreiste einen kleinen Bereich des Gehirns, der nur einen winzigen Hauch heller war als seine Umgebung und auf den ersten Blick kaum auffiel.

»Es wäre möglich, dass es hier eine subdurale Blutung gibt«, sagte er schließlich zaghaft.

»Ich sehe nichts«, entfuhr es Jakob.

»Ruhe, Herr Janssen«, schnauzte Berger sofort. »Sie hatten Ihre Chance. Nun ist Herr Ganschow dran.«

Martin räusperte sich, um seiner Stimme mehr Kraft zu geben. »Es ist wirklich kaum zu sehen und könnte ganz harmlos sein und nichts bedeuten. Aber zusammen mit dem klinischen Befund schließe ich auf eine frische subdurale Blutung. Das frische Blut hat die gleiche Dichte wie das Hirngewebe und lässt sich beim CT schwer darstellen.« Er warf Jakob einen bedauernden Blick zu, als er sagte: »Deshalb kann es sehr leicht übersehen werden.«

Daniel lächelte und nickte Martin anerkennend zu. Noch wusste Martin nicht, ob er dies einer richtigen Diagnose zu verdanken hatte oder nur dem Mut, einen so gewagten Verdacht zu äußern. Noch ehe er darauf eine Antwort finden konnte, klopfte ihm Nils Heinrich mit seiner Bärenpranke so kräftig auf den Rücken, dass Martin leise aufächzte.

»Prima!«, dröhnte Heinrichs tiefer Bass durch den Raum. »Ich kann dem nichts hinzufügen. Eine subdurale Blutung lautet auch mein Befund.«

»Gut gemacht, Herr Ganschow!« In Bergers wenigen Worten schwang unverkennbar Stolz und Anerkennung hervor. »Wenn Sie so weitermachen, wird aus Ihnen mal ein ganz brauchbarer Notfallmediziner.«

»Oder Radiologe«, gluckste Nils Heinrich. »Bei Ihren scharfen Augen könnte ich Sie auch gut in meiner Abteilung brauchen und …« Er verstummte sofort, als er den wütenden Blick Bergers auffing.

»Was soll das hier werden? Werben Sie mir etwa meine Mitarbeiter ab?«

Nils Heinrich zog sofort den Kopf ein und entschied, dass es besser wäre, den Mund zu halten. Obwohl er dem Leiter der Notaufnahme um eine Kopflänge und mehr als sechzig Pfund voraus war, fühlte er sich ihm unterlegen – zumindest verbal. Gegen Bergers Bärbeißigkeit hatte der gutmütige Nils Heinrich keine Chance. Hier konnte er nur verlieren.

»Es wird Zeit, dass wir uns um unsere Patientin kümmern«, sagte Daniel, bevor ein ernsthafter Streit entstehen konnte. »Herr Berger, informieren Sie bitte den OP darüber, dass wir Frau Weber in zehn Minuten hochbringen werden. Frau Rohde soll mir bei dem Eingriff assistieren. Ich spreche inzwischen mit Frau Weber und erkläre ihr alles.«

Gerade ein Eingriff am Gehirn rief bei den meisten Menschen große Ängste hervor. Ein ausführliches und einfühlsames Gespräch, in dem alles verständlich erklärt wurde, konnte da manchmal wahre Wunder bewirken und den Patienten viele Sorgen nehmen. Wenn auch nicht alle.

»Eine Blutung im Gehirn?«, wisperte Anita entsetzt.

Daniel ergriff ihre Hand, als er sah, wie sehr Anita das eben Gehörte mitnahm. »Die Blutung ist in Ihrem Schädel, aber zum Glück nicht innerhalb des Gehirns, sondern zwischen zwei Hirnhäuten, die das Gehirn außen umschließen und es so schützen. Dort hat sich bei Ihnen ein Hämatom, also ein Bluterguss, gebildet. Die Blutung war nur geringfügig und ist inzwischen völlig zum Erliegen gekommen. Probleme bereitet jetzt nur noch das Hämatom, das auf Ihr Hirn drückt und so für Sie lebensgefährlich werden könnte. Mit einem kleinen Eingriff, den wir in örtlicher Betäubung durchführen, kann Ihnen schnell geholfen werden. Dabei entfernen wir das Hämatom, und Ihre Beschwerden werden rasch verschwinden.«

Daniel merkte, wie Anita zunehmend ruhiger wurde, je länger er mit ihr redete. Und als es schließlich Zeit wurde, in den OP aufzubrechen, gelang Anita sogar ein kleines Lächeln, das ihre Zuversicht ausdrückte.

Daniel war mit sich zufrieden, besonders nachdem er die Operation erfolgreich beendet hatte. »Sie wird sich bald erholen«, sagte er hinterher zu Christina Rohde, die an der Behnisch-Klinik als Chirurgin arbeitete.

»Das denke ich auch. Das Hämatom war kleinflächig und hat keine nennenswerten Schäden anrichten können. Es war gut, dass es so früh erkannt wurde.«

»Ja, da hat unser junger Assistenzarzt ganze Arbeit geleistet. So mancher Arzt mit langjähriger Erfahrung hätte diese Blutung wahrscheinlich übersehen.«

Bevor Daniel an diesem Tag Feierabend machte, führte ihn sein letzter Gang auf die Intensivstation, wo sich Anita Weber von der Operation erholte. Er wollte noch einmal nach ihr sehen. Erst dann würde sich das gute Gefühl, alles in seiner Macht Stehende getan zu haben, bei ihm einstellen, und erst dann konnte er beruhigt nach Hause fahren.

Martin Ganschow schien es ähnlich zu ergehen. Daniel traf ihn am Bett von Anita an, der es sehr gut ging und die ihren Operateur lächelnd begrüßte.

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Dr. Norden«, sagte sie. »Sie haben mir das Leben gerettet.«

Daniel lachte leise. »Daran waren sehr viele Menschen beteiligt.« Er zeigte auf den jungen Arzt an seiner Seite und fuhr augenzwinkernd fort: »Aber Dr. Ganschow war derjenige gewesen, der zur richtigen Zeit die richtige Diagnose gestellt hat. Also wenn Sie unbedingt jemandem danken müssen, dann bitte ihm.«

Daniel hatte das gesagt, um die besonders umsichtige und sorgfältige Arbeit Martins zu würdigen. Er wusste, dass das Wissen, einem kranken Menschen geholfen zu haben, der schönste Lohn war, den ein Arzt für seine Arbeit bekommen konnte.

In Anitas Fall hatte alles zusammengepasst: Die Diagnose war richtig gewesen, die Operation gut gelungen und die Patientin auf dem besten Weg, die Klinik als vollkommen geheilt verlassen zu können. Alles lief so, wie es sich ein Arzt von seinem Arbeitstag erhoffte.

Für Martin Ganschow traf das ganz sicher zu. Als er nach Hause fuhr, hatte er ein Lächeln im Gesicht und eine fröhliche Melodie in seinem Kopf, die er gar nicht mehr loswurde. Der heutige Tag war ein voller Erfolg gewesen und würde ewig in seiner Erinnerung bleiben. In solchen Momenten wusste Martin, warum er Arzt geworden war. Dieses Hochgefühl, das er seit Stunden spürte, war erfüllend und berauschend. Vergessen waren die Jahre mühsamen Lernens. Vergessen waren die vielen Prüfungen und Klausuren. Und vergessen waren die anstrengenden, schlaflosen Bereitschaftsdienste. Auch die Erinnerungen an die Patienten, bei denen die ärztliche Kunst versagt hatte, wogen nun nicht mehr so schwer. Heute hatte er einen großen Anteil daran gehabt, dass einer jungen Frau viel Leid oder gar der Tod erspart geblieben war. Das allein reichte, um ihn glücklich zu machen. Natürlich taten ihm auch das Lob von Erik Berger und die Anerkennung des Chefarztes unglaublich gut. Aber er betrachtete sie nur als zusätzliche Boni. Das, worauf es ihm wirklich ankam, waren immer seine Patienten.

Bestens gelaunt schloss Martin die Wohnungstür auf und ging sogleich in die Küche. Seine Freundin Nina, die als Zahnärztin arbeitete, würde nicht vor sieben nach Hause kommen. Dienstags hatte die Praxis, in der sie angestellt war, lange geöffnet. An diesen Tagen war Martin mit Kochen dran, und ausnahmsweise störte es ihn heute überhaupt nicht. Nichts konnte seiner guten Stimmung Abbruch tun. Er war einfach nur rundum zufrieden und überglücklich.

Das fiel auch Nina sofort auf, als sie nach Hause kam. Er hatte ihr Kommen nicht gehört und werkelte weiter am Herd, während sie in der Tür stehenblieb und ihm mit einem belustigten Lächeln zusah. Sie wünschte, sie könnte diesen Moment mit einer Kamera festhalten: Martin, der Mann, den sie liebte, tänzelte am Herd, sang vergnügt irgendeinen alten Gassenhauer und rührte dabei die Nudelsoße um.

»Was ist denn mit dir heute los?«, fragte sie ihn schmunzelnd, als er sich plötzlich zu ihr umdrehte. »Ich dachte, du kannst den Küchendienst nicht leiden.«

»Heute liebe ich ihn«, erwiderte er strahlend. Mit wenigen Schritten war er bei ihr und zog sie schwungvoll in seine Arme, um sie herzhaft zu küssen. »Aber dich liebe ich viel mehr.«

»Das möchte ja wohl sein«, lachte Nina. »Und nun erzähl endlich, was los ist. Ich sehe es dir doch an, dass etwas passiert ist. Etwas sehr Gutes, wie ich vermute.«

Martin nickte eifrig und eilte dann zum Herd zurück. Während er sich weiter um die Soße kümmerte, berichtete er ihr überschwänglich von seinem großen Erfolg in der Radiologie. »Sicher hätten auch die anderen diese kaum sichtbare Blutung auf dem CT-Bild entdeckt. Trotzdem bin ich irrsinnig stolz darauf, dass ich sie nicht übersehen habe.«

»Dazu hast du allen Grund. Immerhin hat dich sogar Berger im Beisein des Chefarztes gelobt.«

Martin nickte und verzog dann bedauernd den Mund. »Für Jakob war das Ganze natürlich weniger schön. Nachdem er zum Schluss kam, dass das CT unauffällig sei, haue ich meinen Befund raus und lasse ihn damit ziemlich alt aussehen.«

Nina setzte den Löffel ab, mit dem sie gerade von der Soße gekostet hatte. »Ich denke nicht, dass er deswegen sauer auf dich ist. Das würde nicht zu ihm passen. Wahrscheinlich versteht er es eher als Ansporn, beim nächsten Mal etwas genauer hinzusehen. Außerdem, was hättest du denn sonst machen sollen? Einfach deinen Mund halten, obwohl du es besser gewusst hast?«

»Natürlich nicht.« Wie immer hatte seine pragmatische Nina recht. Er hatte nichts falsch gemacht. Und sollte er sich noch einmal in der gleichen Situation befinden, würde er sich nicht anders verhalten.

Seit zwei Jahren waren sie ein Paar und so verliebt wie am ersten Tag. Nein, noch mehr. Martin war sich sicher, dass ihre Liebe ständig wuchs, obwohl das doch eigentlich gar nicht möglich war. Konnte sich diese Liebe wirklich noch steigern? Sie war bereits so stark, dass ihm manchmal die Luft wegblieb, wenn er an Nina denken musste. An ihr liebliches Gesicht mit den kleinen Sommersprossen auf ihrer geraden Nase, den vollen Lippen, die er so gern küsste, und den dunkelbraunen Augen, die so gar nicht zu dem sonnengelben Haar zu passen schienen.

»Was ist los?«, fragte sie sanft. »Woran denkst du gerade? Du siehst ganz entrückt aus.«

»Ich denke daran, wie sehr ich dich liebe«, erwiderte er und zog sie zu einem weiteren, intensiveren Kuss an sich heran, während er mit der freien Hand den Herd ausschaltete.

*

Anita hatte in der ersten Nacht nach ihrer Operation gut geschlafen. Alle Werte waren unauffällig, ihr ging es blendend, und sie hatte keine Schmerzen. Nichts sprach dagegen, dass sie die Intensivstation nach der morgendlichen Visite verließ, um ein Einzelzimmer in der Chirurgie zu beziehen.

Hier wartete bereits Oliver auf sie. Er war so glücklich, sie endlich wiederzusehen, dass er sie am liebsten sofort in seine Arme gerissen hätte. Doch er wollte warten, bis sie allein waren. Noch waren die Schwestern damit beschäftigt, die Infusion anzuschließen, das Kopfkissen aufzuschütteln, die Bettdecke gerade zu rücken und Anitas Sachen in den Schrank zu hängen. Währenddessen stand Oliver daneben und betrachtete mit wehem Herzen seine Liebste. Anita sah mitgenommen aus, und ihre schönen Augen wirkten in dem blassen Gesicht übernatürlich groß. Ein Pflasterverband bedeckte einen Teil des Kopfes. Für Oliver das sichere Zeichen, wie ernst es um seine Verlobte gestanden hatte.

Als die Schwestern endlich gingen, eilte er zu ihr. Er setzte sich auf die Bettkante und küsste sie zärtlich.

»Ich hatte so große Angst um dich«, sagte er und streichelte ihre Hände. »Als ich gestern ankam, warst du bereits im OP. Anschließend hat Frau Dr. Rohde mit mir gesprochen. Sie meinte, dass du dich schnell wieder erholen wirst, weil die Blutung gleich erkannt wurde.«

Anita musste erst nachdenken, bevor ihr wieder einfiel, was Dr. Norden nach der OP gesagt hatte. »Ja, da war so ein junger Arzt in der Notaufnahme, der sie rechtzeitig gesehen hat. Ich hatte wirklich großes Glück, dass ich ausgerechnet hier gelandet bin. Die Schwestern und Ärzte in der Aufnahme haben sich rührend um mich gekümmert Ich bin ihnen zu großem Dank verpflichtet.« Anita überlegte sofort, wie sie ihre Dankbarkeit ausdrücken könnte. »Würdest du mir einen Gefallen tun?«

»Jeden«, sagte Oliver liebevoll. »Was soll ich machen?«

»Könntest du einen Präsentkorb besorgen und ihn in der Notaufnahme abgeben? Ich möchte damit nicht bis nach meiner Entlassung warten. Wahrscheinlich wissen sie dann gar nicht mehr, wer ich bin.« Anita war klar, dass täglich sehr viele Patienten die Aufnahme durchliefen. Da konnte nicht jeder in Erinnerung bleiben.

»Natürlich, mein Liebling. Ich erledige das. Mach dir deswegen keine Gedanken.«

»Danke, das ist lieb von dir. Ich würde es ja selbst machen, aber schau mich an …« Anita sah ihn traurig an. »Im Moment kann ich leider gar nichts machen. Ich mag gar nicht daran denken, was jetzt alles liegenbleiben wird.«

»He! Du wirst dir doch jetzt nicht deswegen den Kopf zerbrechen! Im Moment zählt nur, dass du wieder richtig gesund wirst. Alles andere ist unwichtig.«

»Nun ja, es ist nur …« Anita wirkte zerknirscht. »Ich habe es noch nicht mal geschafft, die Kündigung abzugeben. Sie liegt immer noch in meiner Handtasche. Und dabei hatte ich es dir doch fest versprochen.«

Oliver schüttelte ungläubig den Kopf. »Glaubst du ernsthaft, dass das eine Rolle für mich spielt? Anita, mein Liebling, für mich zählt doch nur, dass es dir gut geht und du bald wieder zu Hause bist. Und dieses Kündigungsschreiben können wir auch mit der Post verschicken. Ich verstehe nicht, warum du es unbedingt persönlich abgeben willst.«

»Das habe ich dir doch schon erklärt«, seufzte Anita. »Herr Kutschke ist nicht irgendein Vermieter für mich. Ich habe die Wohnung damals nur bekommen, weil er ein guter Bekannter meiner Eltern ist. Da gehört es sich einfach, dass ich ihm in einem persönlichen Gespräch erkläre, warum ich die Wohnung jetzt aufgeben möchte. Alles andere käme mir so … so herzlos vor.«

»Natürlich, mein Liebling.« Oliver wusste sofort, was Anita meinte. Nichts war ihr mehr zuwider, als andere Menschen vor den Kopf zu stoßen. Ständig hatte sie die Befürchtung, jemanden mit ihrem Verhalten zu kränken. Einen vernünftigen Grund gab es dafür nicht. Anita war eine Seele von Mensch und hegte gegen niemanden einen Groll. Sie war freundlich und nett zu jedermann. Und Oliver liebte sie deswegen umso mehr. »Mach es so, wie du es für richtig hältst. Auf ein paar Tage mehr oder weniger kommt es wirklich nicht an.«

Oliver küsste sie diesmal besonders sanft und zärtlich. Ihm war erst jetzt so richtig bewusst geworden, wie vergänglich das Leben war und wie schnell und unbarmherzig das Schicksal zuschlagen konnte. Er dachte an den gestrigen Morgen zurück. Sie hatten sich mit einem Kuss voneinander verabschiedet, ohne zu ahnen, dass es an diesem Tag fast zu einer Katastrophe kommen würde. Um ein Haar hätte Anita ihr Leben verloren und Oliver das, was ihm das Liebste war. Dieser Gedanke schmerzte so heftig, dass es ihm kaum gelang, seinen aufgewühlten Zustand vor Anita zu verbergen.

Anita berührte vorsichtig die Stelle an ihrem Kopf, an der sich der Verband befand. »Ich hatte schon befürchtet, sie würden mir den Schädel kahl rasieren. Zum Glück sind es nur wenige Zentimeter. Wenn die anderen Haare darüber liegen, wird es wohl kaum auffallen.«

Leise lachend entgegnete Oliver: »Selbst mit einer Glatze wärst du für mich die schönste Frau der Welt.«

Die Tür öffnete sich, und Daniel Norden kam herein. Lächelnd sagte er zu Olivers letzten Worten: »Da haben Sie vollkommen recht. Die Frau unseres Herzens wird für uns immer die Schönste sein.«

Dafür fing er sich von Anita einen skeptischen Blick ein. »Wenn Sie meinen, Dr. Norden. Aber ich bin trotzdem sehr froh, dass mir die meisten Haare geblieben sind.«

Daniel nahm sich einen Stuhl und setzte sich zu den beiden. »Das verdanken Sie den modernen OP-Methoden, aber auch dem Umstand, dass die Blutung frühzeitig erkannt wurde. So hatte sich nur ein kleines Hämatom gebildet, und wir brauchten kein großes Loch in die Schädeldecke zu bohren, um es auszuräumen. Sie werden sich sehr schnell erholen, Frau Weber. Schon heute Nachmittag werden Sie in Begleitung einer Physiotherapeutin ein paar Runden auf dem Stationsflur drehen können. Sie müssen sich zwar noch schonen und unbedingt Stress vermeiden, aber ausschließliche Bettruhe wird dann nicht mehr nötig sein.«

»Und wie geht es nun weiter?«, wollte Oliver von Daniel Norden wissen. »Wann kann meine Verlobte entlassen werden?«

»Ein paar Tage werden Sie noch auf sie verzichten müssen, Herr Friedmann. Wir wollen doch kein Risiko eingehen. Gerade in der ersten Zeit besteht die Gefahr einer Nachblutung. Hier, in der Klinik, können wir sie schnell erkennen und angemessen darauf reagieren. Je mehr Zeit vergeht, umso kleiner wird das Risiko. Deshalb werden Sie sich beide noch ein paar Tage gedulden müssen, bevor wir an eine Entlassung denken können.«

Die Worte des Arztes beunruhigten Oliver. »Und dann? Ist es dann sicher, dass nichts mehr passieren kann?«

»Sicher ist leider nichts im Leben. Die Gefahr späterer Komplikationen kann niemand völlig ausschließen. Aber wir können sie durch entsprechende Maßnahmen auf ein Minimum beschränken. Eine Nachsorge mit Kontrolluntersuchungen bei einem Neurologen wird unerlässlich sein. Am Entlassungstag bekommen Sie von uns eine Überweisung zum Neurologen. Er wird in regelmäßigen Abständen Hirnscans durchführen und den Hirndruck kontrollieren.«

»Klingt ja nicht so gut.« Bedrückt sah Anita zwischen Daniel und ihrem Verlobten hin und her. »Ich dachte, ich wäre nach meiner Entlassung wieder völlig gesund.«

»Das sind Sie auch. Diese Kontrollen sind eine reine Vorsichtsmaßnahme, aber deswegen nicht minder wichtig. Wenn Sie sie gewissenhaft wahrnehmen, spricht nichts dagegen, dass Sie ansonsten ein ganz normales Leben führen können.« Er lächelte sie zuversichtlich an und hoffte, ihr damit etwas von ihrer Angst nehmen zu können. Denn dass sie welche hatte, war für Daniel offensichtlich. Er besaß genug Menschenkenntnis, um sie zu erkennen, auch wenn Anita sich kaum etwas anmerken ließ. Sie schien ihm keine Frau zu sein, die ihr Innerstes nach außen kehrte und frei über alles sprach. Sie war recht zurückhaltend und wirkte auf eine sehr liebenswürdige Art fast ein wenig scheu.

Als erfahrener Mediziner wusste Daniel, dass Ängste nicht nur lästig waren und Lebensfreude stahlen. Sie verursachten auch Stress für den Körper, der dann nicht genügend Kraft für den Heilungsprozess aufbringen konnte. Außerdem unterdrückte Stress die Immunabwehr und schüttete zudem Hormone aus, die auf Dauer viel Schaden anrichten konnten.

Das Einzige, was in diesem Fall helfen konnte, war eine umfassende Aufklärung, bei der keine Fragen offenblieben und die Anitas Ängste abbauten.

»Es war nur eine sehr geringe Blutung in einem kleinen, begrenzten Areal. Sie hatten nur leichte Symptome und waren bei Bewusstsein, als Sie hier eingeliefert wurden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Ihnen dieser kleine Unfall nie wieder Probleme machen wird und er bald in Vergessenheit gerät, ist sehr groß. Auch wenn es sich für Sie im Moment nicht so anfühlen mag, haben Sie sehr, sehr großes Glück gehabt. Freuen Sie sich einfach darüber und verderben Sie sich den Tag nicht mit Ängsten, die völlig haltlos sind. Wenn Sie Ihren Nachsorgeterminen beim Neurologen immer nachkommen, werden Sie mit keinen nennenswerten Komplikationen rechnen müssen.«

Nach Daniels beruhigenden Worten lächelte Anita endlich wieder. »Danke, Dr. Norden. Ich weiß gar nicht, wie ich das wiedergutmachen kann, was Sie und Ihre Mitarbeiter hier für mich geleistet haben. Wenn Sie nicht gewesen wären …«

»Darüber denken Sie jetzt am besten gar nicht mehr nach. Wir haben hier nur unsere Arbeit gemacht. Ihre Gesundheit ist uns Dank genug.«

*

Anita fühlte sich schnell wieder so fit wie vor ihrem Sturz. Sie zeigte keine Symptome mehr, die Befunde waren alle im Normbereich, und die kleine Wunde verheilte rasch, sodass ein Verband bald überflüssig war.

»Morgen geht’s nach Hause«, sagte Dr. Christina Rohde zu ihr bei der täglichen Untersuchung. »Heute Nachmittag machen wir das letzte CT. Wenn da keine Auffälligkeiten sind, steht Ihrer Entlassung nichts mehr im Wege.«

»Toll! Ich kann es gar nicht erwarten, endlich wieder heimzukommen.«

»Sagen Sie bloß, Ihnen gefällt es nicht bei uns«, scherzte Christina. Dann überreichte sie Anita den Überweisungsschein für den Neurologen. »Dr. Förster hat seine Praxis unweit Ihrer Wohnung. Ich habe heute mit ihm telefoniert und alles Wichtige abgesprochen. Ende der nächsten Woche stellen Sie sich bitte bei ihm vor. Den genauen Termin habe ich Ihnen hier aufgeschrieben. Mir bleibt jetzt nicht mehr, als Ihnen alles Gute zu wünschen!«

»Vielen Dank, Frau Dr. Rohde. Ich habe mich hier sehr wohlgefühlt und werde die Behnisch-Klinik bestimmt ein wenig vermissen.«

»Ja, ja«, seufzte Christina auf. »Das sagen sie alle, und dann verlassen sie uns und haben uns im Nu vergessen.«

Anita lachte laut auf. »Ich ganz bestimmt nicht!«

Das meinte sie ernst. Wie könnte sie je vergessen, dass sie hier um ihr Leben gebangt hatte? Dass sie befürchtet hatte, diese Blutung in ihrem Kopf könnte sie für immer zeichnen und sie krank und gebrechlich zurücklassen? Nein, da war sie sich ganz sicher, an diese dramatische Zeit würde sie immer zurückdenken müssen.

Und doch dachte sie schon in den ersten Tagen daheim kaum noch an die Klinik oder an ihren Unfall zurück. Das Leben war viel zu schön, um es sich mit unliebsamen Erinnerungen zu verleiden. Es ging ihr blendend. Sie war glücklich und genoss es, sich ein wenig von Oliver verwöhnen zu lassen. Doch dann änderte sich das. Allmählich, sodass es weder ihr noch Oliver auffiel.

Es begann mit leichten Stimmungsschwankungen, die Anita anfangs gut im Griff hatte und nicht rausließ. Sie schob sie auf die ständige Unruhe, die sie spürte und die sie rastlos werden ließ. Ihre Tage waren leer und unausgefüllt. Sie saß untätig zu Hause rum und tat nicht mehr, als darauf zu warten, dass Oliver von der Arbeit kam, um sie zu umsorgen.

Nach einer Woche beschloss Anita, dass sich das ändern musste. Sie war nicht mehr krank, für Olivers übertriebene Fürsorge gab es keinen Grund. Am frühen Nachmittag wagte sie sich zum ersten Mal wieder allein vor die Tür, um einzukaufen. Der Supermarkt war gleich um die Ecke, und der kurze Weg dahin tat ihr ungemein gut. Sie hatte das Gefühl, dass endlich etwas Normalität in ihr Leben zurückkehrte.

Als Oliver am Abend zu ihr kam, war der Tisch schon gedeckt, der Auflauf wartete im Backofen, und Anita bereitete schnell noch einen frischen Salat zu.

Oliver blieb in der Küchentür stehen. »Was tust du denn da?«

Anita ignorierte seinen entsetzten Gesichtsausdruck und lachte leise. »Wonach sieht’s denn aus?« Sie nahm die Salatschüssel hoch, um sie ins Wohnzimmer zu tragen. Als sie neben Oliver stand, gab sie ihm einen Kuss. »Heute habe ich mal gekocht. Du hast in den letzten Tagen genug für mich getan, mein Schatz.«

Oliver nahm ihr die Schüssel aus den Händen. Er klang verstimmt, als er sagte: »Hast du vergessen, was die Ärzte gesagt haben? Kein Stress, keine Aufregung! Du sollst dich schonen.«

»Ich habe mich genug geschont.« Anita wurde plötzlich sauer. Sie hatte sich so viel Mühe mit dem Abendessen gegeben, und Oliver würdigte das mit keinem Wort. »Hör endlich auf, mich wie eine Schwerkranke zu behandeln. Ich bin gesund!«

»Ja, und das soll auch so bleiben.« Oliver sprach nun versöhnlicher weiter: »Liebling, ich möchte nie wieder solche Ängste um dich ausstehen müssen. Kannst du das denn nicht verstehen? Ich liebe dich. Als du in der Klinik warst, hatte ich …« Er brach ab, um den Schmerz herunterzuschlucken, den er in seiner Kehle spürte und der in seinen Augen brannte. »Ich hatte schreckliche Angst, dich zu verlieren.« Er ging zu ihr und nahm sie in seine Arme. »Bitte, lass es einfach zu, dass ich mich um dich kümmere. Wenigstens so lange, bis die Ärzte Entwarnung geben und du wieder arbeiten kannst. Bis dahin ist es meine Aufgabe, mich um den Haushalt zu kümmern. Und deine Aufgabe ist es, auf deine Gesundheit zu achten und dich nicht anzustrengen. Einverstanden?«

Anita nickte, aber einverstanden war sie damit nicht. Sie kam sich bevormundet vor, beinahe so, als würde er ihr keine eigenen Entscheidungen mehr zutrauen. Würde das eigentlich von nun an immer so sein? Würde Oliver ihr jetzt immer sagen, was sie zu tun oder zu lassen hatte? Ihr Ärger wuchs, je länger sie darüber nachdachte. Dabei ignorierte sie die kleine mahnende Stimme in ihrem Kopf, die ihr sagte, dass sie sich gerade in etwas hineinsteigerte, das jeder Vernunft entbehrte. Oliver liebte sie, er wollte doch nur für sie da sein und sie beschützen. Dass sie ihre Eigenständigkeit und ihren eigenen Willen aufgab, verlangte er gar nicht von ihr. Doch warum sperrte sich alles in ihr, das einzusehen?

In den nächsten Tagen wuchs Anitas Anspannung. Es kam immer häufiger zu kleinen Auseinandersetzungen zwischen ihr und Oliver. Von einer harmonischen, liebevollen Atmosphäre konnte keine Rede mehr sein. Anita hielt es kaum noch aus. Sie wollte endlich ihr normales Leben zurückhaben und nicht länger eingesperrt zu Hause abwarten, bis Oliver abends von der Arbeit kam. Und wenn er dann schließlich da war, wurde es nur schlimmer statt besser. Ohne ihn war sie einsam, mit ihm war sie ungenießbar und schlecht gelaunt.

Ihr fiel die Decke auf den Kopf. Obwohl sie ihre Wohnung heiß und innig liebte, hielt sie es kaum noch dort aus. Vor allem dann nicht, wenn Oliver bei ihr war. Hier war alles so klein und beengt, dass sie sich nicht aus dem Weg gehen konnten. Manchmal hatte sie das Gefühl, er nähme ihr die Luft zum Atmen. Er schien überall zu sein und gab ihr keine Rückzugsmöglichkeit. Jeden Morgen, wenn er zur Arbeit ging, atmete sie deshalb erleichtert auf. In den Stunden, die er nicht bei ihr war, verspürte sie das kurze Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit. Aber sobald er zurückkam, schwand ihre gute Stimmung dahin, und sie wünschte sich nur noch, er würde endlich wieder gehen. Anfangs hatten sie diese Gedanken erschreckt. Sie liebten sich doch und wollten bald für immer zusammenleben! Was war denn bloß los mit ihr? Aber irgendwann dachte sie nicht mehr darüber nach. Und irgendwann machte sie sich nicht mehr die Mühe, ihre schlechte Laune vor Oliver zu verbergen.

»Musst du wirklich jeden Tag hier sein?«, fauchte sie ihn eines Abends an, als sie seine Anwesenheit nicht mehr ertrug.

»Wie bitte?«, fragte Oliver schockiert nach.

»Du bist jeden Tag hier! Und jede Nacht!«, maulte Anita. »Das haben wir früher doch auch nicht so gemacht.«

»Früher warst du gesund. Da war das auch nicht nötig.« Wenn Oliver nicht so gekränkt gewesen wäre, hätte er es sicher etwas diplomatischer und einfühlsamer formuliert. Doch auch an ihm waren die letzten Tage nicht spurlos vorübergegangen. Er hatte Anitas Unzufriedenheit ständig gespürt. Die Zeiten, in denen sie sich über sein Kommen gefreut hatte, schienen lange her zu sein.

»Ich habe nie von dir verlangt, dass du dich hier für mich aufopferst«, erwiderte Anita heftig. »Oder dass du in jeder freien Minute wie ein Wachhund um mich herumschleichst.«

»Vielleicht solltest du mir dann endlich sagen, was du von mir erwartest! Was willst du, Anita?«

»Ich will … ich will …« Anita sprang auf und tigerte in dem kleinen Zimmer umher. Mit den Fingern rieb sie über ihre Schläfen, um den Druck zu mindern, der sich dort aufgebaut hatte. »Ich will, dass du mich endlich mal in Ruhe lässt. Du … du erdrückst mich. Mir wird das einfach alles zu viel!« Sie war zu sehr mit dem Schmerz, der sich jetzt in ihrem Schädel ausbreitete, beschäftigt, um zu bemerken, wie er angesichts ihrer harten Worte erstarb.

»Willst du, dass ich gehe?«, fragte er tonlos.

»Ja!«, erwiderte sie so schnell, dass er zusammenzuckte. Etwas weicher fügte sie hinzu: »Bitte … Ich brauche einfach mal ein wenig Ruhe und Zeit für mich. Wir können ja morgen mal telefonieren …«

Anita sah an dem Ausdruck in seinen Augen, wie sehr sie ihn verletzt hatte. Doch sie hatte nicht vor, jetzt einen Rückzieher zu machen und ihre Worte zurückzunehmen. Sie wollte nur noch, dass er endlich ging. Als hätte Oliver diesen stummen Wunsch verstanden, drehte er sich um und ließ sie stehen. Nur Sekunden später schlug die Wohnungstür zu, und Anita lachte erleichtert auf. Es fiel ihr noch nicht mal auf, wie falsch es war, sich so über sein Weggehen zu freuen. Sie hätte traurig sein müssen, vielleicht auch entsetzt über diesen ersten größeren Streit. Doch das konnte sie nicht. In ihrem Kopf gab es nur Platz für einen Gedanken: Er war endlich fort!

Ein leichtes, zufriedenes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie sich wieder hinsetzte, um die Stille in ihrer Wohnung willkommen zu heißen. Wenn jetzt auch noch diese lästigen Kopfschmerzen verschwinden würden, wäre sie rundum glücklich.

*

Das hartnäckige Klingeln ihres Telefons weckte sie am nächsten Morgen. Im Halbschlaf tastete sie danach und sah dann verwirrt aufs Display, als sie Olivers Namen las. Warum rief er sie an? Erst jetzt fiel ihr der Streit vom Vorabend ein. Oliver war gegangen und hatte sie allein gelassen.

Ohne den Anruf entgegenzunehmen, schloss Anita ihre Augen wieder. Es tat so gut, allein zu sein. Sie wartete darauf, dass sie sich für diesen Gedanken schämte. Als das nicht passierte, lächelte sie. Und als das Telefon endlich verstummte, war ihr Glück vollkommen. Zumindest bis ihr Handy mit einem knappen Signalton eine eingegangene Textnachricht anzeigte. Sie musste nicht erst nachsehen, um zu wissen, dass sie von Oliver war. Kurz war sie versucht, diese zu ignorieren und einfach wieder einzuschlafen. Doch sie befürchtete, dass er dann hier auftauchen würde.

Sie richtete sich auf und stöhnte leise, als sich die Kopfschmerzen plötzlich zurückmeldeten. Mit einer Hand massierte sie ihre Stirn, mit der anderen öffnete sie Olivers Nachricht: Dieser dumme Streit tut mir unendlich leid. Bitte lass ihn uns vergessen. Du weißt doch, dass ich dich liebe.

»Klar, weiß ich das«, murmelte sie grimmig. Noch während sie überlegte, ob sie aufstehen oder sich wieder hinlegen sollte, kam die nächste Nachricht von Oliver: Bitte, Liebling, melde dich kurz bei mir. Ich mache mir Sorgen, wenn du nicht ans Telefon gehst.

Anita lachte hart auf. »Kontrollfreak!« Dann schrieb sie zurück: Mir geht’s gut.

Das musste reichen, damit er endlich Ruhe gab. Sie drückte auf Senden und schämte sich augenblicklich für diese lieblose Nachricht. Oliver war der Mann, den sie liebte. Warum war sie bloß so gemein zu ihm? Was stimmte denn nicht mit ihr? Oliver tat alles für sie, und sie stieß ihn zurück. Sie war doch früher nicht so herzlos gewesen. Früher … Plötzlich fiel es Anita schwer, sich an frühere Zeiten zu erinnern. Alles war so verschwommen, dass es ihr nicht gelang, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie gab schließlich auf und schob es auf ihre Kopfschmerzen, die inzwischen kaum noch zu ertragen waren.

Als sie aufstand, um ins Bad zu gehen, wurde ihr so schwindelig, dass sie sich gleich wieder setzen musste. Alles drehte sich, und ihr wurde entsetzlich übel. In dem Moment, als sie sicher war, sich übergeben zu müssen, hörte der Spuk so plötzlich auf, wie er gekommen war. Bis auf diese bohrenden Kopfschmerzen ging es ihr wieder gut.

Trotzdem wartete sie noch einige Minuten, bis sie einen erneuten Versuch unternahm, ins Bad zu kommen. Unsicher, mit wackligen Beinen und sich an Möbeln und Wänden festhaltend, legte sie die kurze Strecke zurück. Aus dem kleinen Medizinschränkchen neben der Tür nahm sie die Packung mit den Schmerztabletten heraus. Ihre Hände zitterten heftig, und es dauerte eine Weile, bis sie zwei Tabletten herauslösen konnte. Hastig schluckte sie sie hinunter und spülte mit Wasser nach. Dann machte sie sich langsam und sehr vorsichtig auf den Rückweg. Sie hatte sich kaum hingelegt, als sie auch schon eingeschlafen war.

Zwei Stunden später wurde sie wieder wach. Ihr ging es hervorragend. Ihre kleine Unpässlichkeit hatte sie längst vergessen. Beschwingt stand sie auf, duschte und machte sich anschließend einen starken Kaffee, um die leichte Müdigkeit, die sich hartnäckig hielt, zu vertreiben. Auf ihrem Telefon war inzwischen eine weitere Nachricht von Oliver eingetroffen: Bitte denk an deinen Arzttermin. Ich liebe dich!

Arzttermin? Welcher Arzttermin? Anita musste lange überlegen, bis ihr der Termin beim Neurologen einfiel. Der Überweisungsschein hing an der Pinnwand. Anita kniff die Augen zusammen, als sie ihn abnahm. Die Buchstaben verschwammen und tanzten auf und ab. Nur mit großer Anstrengung gelang es ihr schließlich, Datum und Uhrzeit abzulesen. Kurz machte sie sich Gedanken über ihre schlechte Sehkraft. Brauchte sie etwa eine Brille? Ihre Mutter trug seit einigen Jahren eine Lesebrille. Vielleicht war es bei ihr nun auch so weit. Doch dann lachte sie darüber. Für Altersweitsicht war sie nun wirklich noch viel zu jung. Niemand trug mit fünfundzwanzig eine Lesebrille! Das war der letzte Gedanke, den sie diesem Thema widmete, denn schon wieder kam eine Nachricht von Oliver: Sehen wir uns heute Abend?

Nein, heute nicht, ich brauche mal eine Pause, gaben ihre Finger wie von selbst in die Tastatur ein. Doch bevor sie die Zeilen absenden konnte, kämpfte sie gegen ihre Skrupel an. Sie wusste, wie sehr sie Oliver damit treffen würde. Warum wollte sie ihm das trotzdem antun? Sie liebten sich doch. Unschlüssig kaute Anita an ihrer Unterlippe. Liebte sie ihn wirklich noch? Vielleicht waren sie nur noch aus Gewohnheit zusammen? Eine Gewohnheit, die ihr nicht mehr gefiel. Die Vorstellung, ihn am Abend wiederzusehen, stieß sie ab. Sie wollte ihn nicht um sich haben. Sie wollte allein und frei sein. Mit Oliver war sie das nicht. Sie schickte ihre Nachricht ab und stellte das Handy dann aus.

Kurz darauf brach sie zu ihrem Termin auf.

Ihr Auto stand auf dem Parkplatz hinter ihrem Wohnblock. Sie hatte bereits die Wagenschlüssel in der Hand, als ihr einfiel, dass ihr Frau Dr. Rohde das Autofahren vorerst verboten hatte. Für einen kurzen Moment war Anita versucht, sich darüber hinwegzusetzen. Was sollte schon passieren? Ihr ging es gut, und das Fahren hatte sie bestimmt nicht verlernt, nur weil sie sich am Kopf gestoßen hatte. Außerdem hasste sie es, dass alle Welt sie bevormunden wollte. Doch nach kurzem Hin und Her siegte die Vorsicht, und Anita entschied, den Bus zu nehmen.

Er hielt direkt vor der Behnisch-Klinik. Während Anita die weitläufige Lobby durchquerte, zog sie den Überweisungsschein aus ihrer Tasche, um an der Information nach dem Weg zu fragen. Abrupt stoppte sie plötzlich. Was machte sie hier überhaupt? Warum war sie in die Behnisch-Klinik gefahren? Der Termin war nicht hier, sondern bei dem Neurologen, der seine Praxis in der Nähe ihrer Wohnung hatte!

Wie hatte sie sich nur so irren können? Jetzt hatte sie ihren Termin beim Neurologen verpasst. Nicht, dass das besonders schlimm wäre. Ihr ging es blendend, sie war kerngesund. Diese lästigen Arztbesuche waren also gar nicht nötig. Den Ärzten ging es doch eh nur darum, recht viel Geld aus ihren Patienten herauszuholen. Ärgerlich stopfte sie den Überweisungsschein wieder in ihre Handtasche. Sie würde jetzt nicht mehr darüber nachdenken, sondern die freie Zeit nutzen, um diesen herrlichen Sommertag zu genießen.

»Frau Weber?«

Anita drehte sich zu dem jungen Arzt um, der sie angesprochen hatte. »Dr. Ganschow«, sagte sie strahlend. »Es ist schön, Sie wiederzusehen.«

»Ich freue mich auch. Ihnen scheint es sehr gut zu gehen.«

»Ja, und das verdanke ich nur Ihnen«, erwiderte Anita.

Martin Ganschow wehrte Anitas Worte lachend ab. »Ganz sicher nicht, Frau Weber. An Ihrer Behandlung war ein großes Team beteiligt gewesen. Und mein Anteil daran war verschwindend gering.«

»Sie sind zu bescheiden. Dr. Norden hat mir gesagt, dass Sie es waren, der die kleine unscheinbare Blutung entdeckt hat. Wenn Sie sie nicht gesehen hätten …«

»… hätte es jemand anderes getan.« Natürlich schmeichelte es Martins Ego ein bisschen, dass seine ehemalige Patientin so große Stücke auf ihn hielt. Aber er war zu ehrlich, um ihre Anerkennung widerspruchslos für sich zu beanspruchen. »Mehrere Ärzte, auch Dr. Norden, hatten sich ihre CT-Aufnahmen angesehen. Ich war nur der Erste gewesen, der den Befund laut aussprach. Und damit allein wären Sie nicht gesund geworden. Durch die OP und die anschließende Versorgung auf Station wurden Sie wiederhergestellt. Daran war ich überhaupt nicht beteiligt. Mich für Ihren Lebensretter zu halten, das wäre also völlig unangemessen.«

»Wenn Sie das sagen.« Anita machte keinen Hehl daraus, dass sie ihm nicht ein Wort glaubte. Sie war der festen Überzeugung, dass dieser faszinierende Arzt nicht nur umwerfend aussah, sondern auch beispiellos großherzig, klug, selbstlos und viel zu bescheiden war. Ihre Stimme klang einschmeichelnd, als sie sagte: »Ich weiß, dass ich für immer in Ihrer Schuld stehen werde. Bitte sagen Sie mir, wie ich Ihnen meine Dankbarkeit beweisen kann. Für den Mann, der mein Leben gerettet hat, würde ich alles tun. Wirklich alles.«

Martin lachte, weil er ihre Worte für einen Scherz hielt. »Sie haben einen tollen Präsentkorb in die Aufnahme geschickt. Meinen Sie nicht, dass das reicht?«

»Meinen Sie nicht, dass ein Menschenleben mehr wert ist?«

»Äh … Natürlich«, antwortete Martin nun leicht verunsichert. »Ein Menschenleben lässt sich durch nichts aufwiegen. Deshalb ist es auch selbstverständlich zu helfen, wenn man es kann. Egal, ob in der Aufnahme, im OP oder auf Station.«

»Für mich hat sich in der Aufnahme mein Schicksal erfüllt. Sie waren da und haben sich um mich gekümmert. Wie könnte ich das je vergessen?«

Allmählich wurde Martin dieses Gespräch, das immer auf das Gleiche hinauslief, sehr unangenehm. Diese Lebensretter-Rolle, die ihm hier angedichtet wurde, wollte er nicht. Genauso wenig wie ihre Dankbarkeit, die sie immer wieder aufs Neue beteuerte. Langsam drängte sich in ihm der Verdacht auf, dass das ungesunde Ausmaße annahm.

Um endlich das Thema zu wechseln, fragte er: »Was machen Sie eigentlich hier? Wurden Sie nicht längst entlassen?«

»Ja, aber ich hatte hier in der Nähe zu tun und wollte einfach mal reinschauen«, erwiderte Anita und glaubte selbst daran.

»Sie hatten also Sehnsucht nach der Behnisch-Klinik?«, fragte Martin augenzwinkernd.

»Vielleicht«, gab Anita mit einem koketten Lächeln zurück. »Obwohl es weniger die Klinik ist, nach der ich mich sehne.« Dieser nette Arzt flirtete mit ihr, und Anita gefiel das. Doch leider verschwand nun sein nettes Lächeln. Er wirkte plötzlich distanziert und machte Anstalten, seinen Weg fortzusetzen und sie hier stehenzulassen. Enttäuschung machte sich in ihr breit. Sie hatten sich doch gerade erst wiedergefunden …

»Ich muss jetzt leider wieder zurück an die Arbeit, Frau Weber. Es hat mich gefreut, Sie wiederzusehen, und es ist schön, dass Sie sich so gut erholt haben. Vielleicht laufen wir uns ja mal wieder über den Weg.«

Anitas Enttäuschung löste sich in Luft auf. Er wollte sie wiedersehen. Für ihn war sie nicht nur irgendeine Patientin von vielen. Er hatte sie hier sofort wiedererkannt und sogar noch ihren Namen gewusst. Das reichte ihr als Beweis. Zwischen ihnen gab es eine besondere Verbindung. Das Schicksal hatte sie zusammengeführt, und dem konnte er sich genauso wenig entziehen wie sie.

Mit einem süßen Lächeln reichte sie ihm zum Abschied die Hand. »Da bin ich mir ganz sicher, Dr. Ganschow. Das Schicksal meint es gut mit uns.«

*

Die kurze und sehr seltsame Begegnung mit Anita Weber beschäftigte Martin noch eine ganze Weile. Diese Blicke, mit denen sie ihn ansah, waren ihm unangenehm gewesen. Auch ihr Gerede vom Schicksal ließ ihn nicht unberührt. Je länger er nachdachte, umso sicherer war er sich, dass das nichts mit normaler Dankbarkeit zu tun hatte. Doch möglicherweise irrte er sich, und er machte sich völlig unnötig Gedanken deswegen. Es war schwer, objektiv zu bleiben, wenn es persönlich wurde. Vielleicht half es, mit jemanden, der einen anderen Blickwinkel auf die Sache hatte, zu sprechen.

Am nächsten Tag erzählte er Jakob Janssen davon. Sie waren auf dem Rückweg aus dem OP, wo Dr. Norden gerade eine komplizierte Operation an der Wirbelsäule durchgeführt hatte. Sein Angebot, dabei zusehen zu dürfen, hatten sie natürlich sofort angenommen. Besonders für Jakob gab es nichts Schöneres, als im OP zu sein. Sein größter Wunsch war es, in die Chirurgie zu wechseln und jeden Tag ein Skalpell halten zu dürfen. Die Zeit, die er in der Notaufnahme verbrachte, war nur ein notwendiger Teil seiner Facharztausbildung. Seine eigentliche Berufung sah er in der Chirurgie.

»Was genau stört dich denn daran, dass sie dich nun für ihren Retter hält?«, fragte Jakob seinen Freund, als der ihn von Anitas Dankesbekundungen erzählt hatte.

»Die Tatsache, dass das nicht stimmt«, gab Martin leicht gereizt zurück. »Ich will keine Lorbeeren einstreichen, die mir nicht zustehen. Außerdem …« Er überlegte kurz, ob er aussprechen sollte, was ihn besonders beunruhigte. Wahrscheinlich war Jakob doch nicht der richtige Gesprächspartner dafür. Er würde wohl nur lachen oder eine seiner flapsigen Bemerkungen dazu machen. Aber es gab niemanden, mit dem er sonst darüber reden konnte.

»Außerdem sah es fast so aus, als sehe sie in mir nicht nur einen Arzt. Ich mag mich täuschen, aber es schien fast so, als hätte sie ein persönliches Interesse an mir.«

»Persönliches Interesse?«, fragte Jakob irritiert nach. Dann dämmerte es ihm. »Wie kommst du darauf? Ihr seid euch doch zufällig in der Lobby begegnet. Wenn du sie nicht angesprochen hättest, wäre es zu diesem Treffen wahrscheinlich gar nicht gekommen. Sie hat dir ja nicht aufgelauert oder so. Also, warum machst du dir ihretwegen so viel Stress?«

»Keine Ahnung.« Martin fuhr sich mit einer Hand durch die blonden Haare. Aus dem Mund seines Freundes hörte sich die Geschichte wirklich so an, als würde er Gespenster sehen und maßlos übertreiben. »Ich hatte nur so ein komisches Gefühl bei der Sache.«

»Ein komisches Gefühl?« Jakob lachte spöttisch auf und klopfte seinem Freund gutmütig auf dem Rücken. »Sag mir bloß nicht, dass dich deine Glaskugel vor Anita Weber gewarnt hat.«

»Schon gut, vergiss es einfach.« Für Martin war dies der richtige Moment, um das Thema zu beenden. Jakob nahm seine Bedenken nicht ernst. Doch als sie in den Pausenraum der Notaufnahme kamen, änderte Jakob seine Meinung.

»Was ist denn hier los?« Verblüfft sah er sich um. Einige Tische waren zu einer langen Tafel zusammengeschoben worden. Auf ihnen standen volle Schüsseln, Platten und Teller, von denen ein köstlicher Duft ausging. Jakob lief sofort das Wasser im Mund zusammen, und sein leerer Magen machte mit einem lauten Knurren auf sich aufmerksam.

»Haben wir irgendein Jubiläum verpasst?«, fragte er erstaunt. »Ein runder Geburtstag? Hochzeit? Kindstaufe?«

Schwester Jana stand an dem improvisierten Buffet und füllte ihren Teller. Sie drehte sich zu den beiden Ärzten um. »Nichts davon. Hier wollte jemand seine übergroße Dankbarkeit ausdrücken.« Sie zwinkerte Martin zu. »Immerhin hat der brillante Dr. Ganschow einer jungen Frau das Leben gerettet.«

Martin wusste sofort, von wem die Rede war. »Anita Weber.«

»Stimmt«, erwiderte Anna. Sie saß bereits auf ihrem Platz, mit einem übervollen Teller vor sich. »Vor einer Stunde ist sie hier aufgekreuzt, mit drei Leuten einer Catering-Firma im Schlepptau. Sie haben alles reingetragen und aufgebaut. Frau Weber war sehr traurig, weil sie Sie nicht angetroffen hat. Als sie hörte, dass Sie im OP seien, hat sie ein bisschen rumgezickt und ist dann wieder gegangen.« Sie lächelte Martin an und sagte mit zuckersüßer Stimme: »Wir sollen Sie aber ganz herzlich grüßen.«

Sie lachte, und Inga stimmte fröhlich mit ein. »Scheint, als hätten Sie einen Fan, Herr Ganschow.«

Martin schluckte. Ihm war nicht nach Scherzen zumute. Anita übertrieb es mit ihrer Dankbarkeit.

Auch Jakob schien das nun einzusehen. Er wirkte jetzt nicht mehr so unbekümmert wie vorhin. »Vielleicht täuscht dich dein Gefühl doch nicht«, raunte er Martin leise zu. Dann fragte er die Schwestern: »Was hat Berger eigentlich dazu gesagt? Der ist doch bestimmt ausgeflippt, als die ganze Mannschaft hier anrückte.«

»O ja.« Anna nickte eifrig. »Sie haben hier wirklich etwas verpasst. Glauben Sie mir, die Auseinandersetzung zwischen unserem Chef und Frau Weber hatte es in sich. Bis zum Schluss war nicht klargewesen, wer als Sieger hervorgehen würde. Schließlich hat sich Herr Berger geschlagen gegeben und das Buffet geduldet.«

»Ja, aber nur weil ich Hunger hatte und es schade gewesen wäre, die ganzen Sachen auf den Müll zu kippen.« Unbemerkt von den anderen war Erik Berger hereingekommen. Er nahm sich einen Teller und bediente sich am Buffet, während er weitersprach: »Sagen Sie mal, Herr Ganschow, wie kommt Frau Weber eigentlich auf die Idee, dass Sie der beste Arzt der Welt wären und alle anderen nur laienhafte Stümper und Quacksalber, die noch viel von Ihnen lernen könnten?«

Anna verschluckte sich fast an einer Gurkenscheibe, als sie ihr Lachen unterdrückte.

Für Martin gab es keinen Grund zum Lachen. Die Situation war an Peinlichkeit kaum zu überbieten. »Das hat sie gesagt?«, fragte er mit hochrotem Kopf.

»Das und noch mehr. Ich würde die Dinge, die sie mir an den Kopf geworfen hat, gern wiederholen, aber dann bekomme ich mit Schwester Inga Ärger.« Inga war dafür bekannt, dass sie keine Schimpfwörter oder unflätige Bemerkungen duldete.

»Es tut mir sehr leid … Ich hatte keine Ahnung …«, stammelte Martin unbeholfen. »Bitte glauben Sie mir, dass ich mit dieser Sache nichts zu tun habe … oder mit dem, was Frau Weber gesagt hat.«

»Ich glaube Ihnen«, sagte Berger ungerührt. »Wenn ich es nicht täte, würden Sie mich hier nicht so friedvoll sehen.« Berger setzte sich neben Anna und goss sich ein Glas Wasser ein. »Ich erwarte, dass Sie mit Frau Weber sprechen und ihr klarmachen, dass ich so eine Aktion nicht noch einmal dulden werde. Sollte sie sich hier wieder blicken lassen, rufe ich den Sicherheitsdienst und lasse sie rauswerfen. Haben wir uns verstanden?«

»Ja … Ja, aber ich würde nur sehr ungern mit Frau Weber reden.«

»Und trotzdem werden Sie es machen, wenn Sie sich nicht mit mir anlegen wollen. Mir ist es nämlich schei …«

»Dr. Berger!«, rief Inga sofort streng in den Raum.

Berger warf ihr einen ärgerlichen Blick zu und fuhr dann gemäßigter fort: »Mir ist es nämlich … völlig egal, was Sie wollen, Herr Ganschow. Solange ich hier der Chef bin, zählt vor allem, was ich will. Und ich will diesen ganzen Zirkus hier nicht! Diese Anita Weber hat das nur Ihretwegen gemacht. Warum, spielt für mich keine Rolle. Wahrscheinlich haben Sie ihr irgendeinen Grund dafür geliefert, ob bewusst oder unbewusst interessiert mich nicht. Sie haben die Sache begonnen und Sie werden sie auch beenden. So einfach ist das. Und jetzt will ich in Ruhe essen. Schließlich habe ich mir das nach diesem Theater redlich verdient.«

Martin nickte stumm. Er stand eine Weile unschlüssig herum und sah den anderen dabei zu, wie sie sich über das Buffet hermachten. Ihm war der Appetit gründlich vergangen. Er ging ins Dienstzimmer und suchte Anitas Telefonnummer heraus. Er würde diese Aussprache nicht hinauszögern, sondern Anita sofort anrufen. Doch sie nahm nicht ab, und Martin blieb nichts anderes übrig, als ihr eine Nachricht zu hinterlassen und um ihren Rückruf zu bitten.

*

Die Zeit bis zum Feierabend verging für Martin diesmal sehr schleppend. Obwohl er es liebte, in der Notaufnahme zu arbeiten, konnte er es heute kaum erwarten, die Klinik zu verlassen. Während er sich umzog, grübelte er über die vertrackte Situation nach. Anita hatte sich nicht zurückgemeldet, und er hatte keine Ahnung, was er jetzt tun sollte. Er sehnte sich plötzlich nach Nina. Seine kluge, vernünftige Nina wüsste eine Antwort. Sie behielt immer einen kühlen Kopf, selbst wenn um sie herum die Welt zusammenbrach. Sie war die Gelassenere, die alles im Griff hatte und jede Situation beherrschte, während er hilflos nach einer Lösung suchte.

Am späten Nachmittag waren die Männer vom Catering zurückgekehrt, um aufzuräumen. Anna und Inga hatten zuvor die Reste in den Kühlschrank gestellt, sodass das Mittagessen für die nächsten Tage gesichert war. Bei diesem Gedanken verzog Martin unwillig das Gesicht. Er würde also jedes Mal, wenn er den Kühlschrank öffnete, an Anita Weber denken müssen und daran, dass er die Sache mit ihr klären musste. Glücklicherweise fuhr Erik Berger morgen früh nach Hannover zu einem Kongress der Notfallmediziner. Martin blieb dadurch mehr als eine Woche Zeit, um die Angelegenheit aus der Welt zu schaffen.

Diese kleine Gnadenfrist ließ ihn wieder Mut fassen. Irgendwie würde er das schon hinbekommen. Und vielleicht würde sie sich auch gar nicht mehr blicken lassen. Immerhin war sie mit Berger aneinandergeraten. Es gab nur wenige, die so lebensmüde waren, eine erneute Konfrontation mit ihm zu suchen. Martin begann gerade, Hoffnung zu schöpfen, als ihm Anita auf dem Parkplatz begegnete.

»Ich habe Ihre Nachricht erhalten und bin sofort gekommen«, begrüßte sie ihn mit einem glücklichen Lächeln.

»Frau Weber, das wäre nicht nötig gewesen. Ich hatte doch nur um Ihren Rückruf gebeten.«

Anita winkte ab. »Ach, so von Angesicht zu Angesicht ist es doch viel schöner, nicht wahr?«

»Äh … Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich Ihnen da zustimmen kann. Frau Weber, ich …«, begann Martin stockend.

»Frau Weber, Frau Weber.« Anita lachte affektiert auf. »Das kann ja niemand mehr hören!« Sie rückte näher heran und lächelte ihn liebevoll an. »Martin, es wird Zeit, diese Förmlichkeiten zu lassen. Ich heiße Anita.«

Martin schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber das geht auf gar keinen Fall.« Er sah sich um und entdeckte eine freie Bank. »So kann es nicht weitergehen. Lassen Sie uns dort drüben Platz nehmen. Wir müssen unbedingt reden.«

Die Bank stand etwas abseits unter einer alten Kastanie, die genügend Schutz vor der noch warmen Abendsonne bot.

»Ach, es ist wunderschön hier«, schwärmte Anita, als sie saßen. »Ich bin so froh, dass wir endlich einmal ungestört sind.« Sie sah ihn nun offen an, ihre Hände hielt sie ineinander verschlungen vor ihrer Brust. »Du weißt ja gar nicht, wie sehr ich mich nach diesem Moment gesehnt habe.«

»Ich glaube, hier liegt ein großes Missverständnis vor, Frau Weber.«

»Anita«, korrigierte sie ihn lachend.

»Also gut, Anita. Ich habe keine Ahnung, was das hier soll oder was Sie von mir erwarten. Dieses Buffet heute Mittag …«

»Hat es dir gefallen?«, unterbrach sie ihn aufgeregt. »Das habe ich nur für dich gemacht.«

»Dafür gab es keinen Grund. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich kaum etwas geleistet habe. Sie waren keine dreißig Minuten in der Aufnahme und sind dann gleich in den OP gekommen. Die eigentliche Arbeit haben Dr. Norden und Dr. Rohde gemacht. Und alle anderen, die daran beteiligt waren. Schwestern, Pfleger, die Radiologie, das Labor …«

»Papperlapapp.« Anita winkte ab. »Gib dir keine Mühe, Martin. Für mich wirst du immer der große Held bleiben. Du bist der Mann, der mich gerettet hat, in dessen Händen mein Leben lag.« Als sie nach seinen Händen greifen wollten, zog Martin sie schnell zurück.

»Das stimmt aber nicht«, sagte er nun eindringlich. »Ich habe Sie nicht gerettet. Sie müssen endlich aufhören, sich das einzureden.«

»Und du sollst endlich aufhören, dich dagegen zu wehren«, jammerte Anita nun. »Warum kannst du dich nicht so sehen, wie ich es tue: als begnadeten Mediziner und als Mann, den das Schicksal für mich bestimmt hat.«

»Wie bitte? Wovon reden Sie da bloß?«

Anita seufzte auf. Warum verstand er nicht, was sie meinte? Sie hatte es doch sofort gewusst. »Ich rede von uns. Glaubst du wirklich, dass wir unsere Begegnung nur einem Zufall zu verdanken haben? Es war Schicksal, Martin. Das Schicksal hat uns zusammengeführt, und von nun an gehören wir für immer zusammen. Nichts kann uns mehr trennen.«

Das blanke Entsetzen ließ Martin aufspringen. »Das stimmt nicht!«, herrschte er sie an. »Wir gehören nicht zusammen. Für mich sind Sie nur eine ehemalige Patientin! Mehr nicht!«

»Wie kannst du nur so herzlos sein!« Anita begann zu weinen, und augenblicklich bereute Martin seine harten Worte. »Ich gestehe dir meine Liebe, und du stößt mich einfach weg! Du trampelst einfach so auf meinen Gefühlen herum und brichst mir mein Herz!«

»Bitte, Anita, beruhigen Sie sich doch. Ich wollte Ihnen nicht wehtun. Aber Sie müssen verstehen, dass es zwischen uns keine private Beziehung geben wird. Ich war nur für eine ganz kurze Zeit Ihr Arzt gewesen. Mehr nicht.«

Als sie sich leise schniefend die Tränen trocknete, sprach er weiter versöhnlich auf sie ein: »Ich habe Ihnen nicht das Herz gebrochen. Das besitzt doch längst Ihr Verlobter. Und auch meins ist schon lange vergeben. Bitte, Sie müssen unbedingt einsehen, dass aus uns kein Paar werden kann.«

Anita hielt weiter den Kopf gesenkt, nickte jetzt aber leicht. Sofort atmete Martin auf. So dramatisch, wie es am Anfang ausgesehen hatte, war die Angelegenheit zum Glück doch nicht. Anita war einsichtig und würde nun endlich wieder vernünftig sein. Nun war es an der Zeit, sich der Aufgabe zu widmen, die ihn Erik Berger aufgetragen hatte.

»Ich weiß, Sie wollten nur nett sein und Ihre Dankbarkeit zeigen«, sagte er warm. »Dieses große Buffet heute war aber keine gute Idee gewesen. Mein Chef war deswegen ziemlich sauer. Ich soll Ihnen ausrichten, dass Sie sich in Zukunft von der Aufnahme fernhalten sollen. Wenn nicht …« Martin verzog bedauernd den Mund, als Anita mit großen, traurigen Augen zu ihm aufsah. Sie saß zusammengesunken auf der Bank und tat ihm auf einmal schrecklich leid. Nur widerwillig sprach er auch den Rest aus: »Wenn nicht, wird Dr. Berger den Sicherheitsdienst rufen und Sie rauswerfen lassen.«

Er ließ ihr Zeit, das Gehörte zu verarbeiten. Als sie nach einer ganzen Weile noch immer nicht reagierte, fragte er nach: »Haben Sie mich verstanden? Sie können nicht mehr in die Aufnahme kommen. Es wird Zeit, dass Sie mit Ihrem Leben so weitermachen wie vor dem Unfall. Lassen Sie die Behnisch-Klinik endlich hinter sich und freuen Sie sich daran, dass Sie wieder gesund sind.«

Anita stand auf und sah ihn noch einmal todtraurig an. Dann drehte sie sich um und ging einfach fort. Martin sah ihr nach und machte sich prompt Gedanken. War er zu hart zu ihr gewesen? Würde sie mit seinen deutlichen Worten klarkommen?

Als er zu Hause ankam, beschäftigten ihn diese Fragen immer noch. Ohne dass er es aussprechen musste, sah Nina ihm sofort an, dass etwas nicht stimmte.

»Setz dich und leg die Füße hoch«, sagte sie nach dem Begrüßungskuss. »Und dann erzählst du mir, was los ist.«

Sie holte ihm etwas zu trinken und nahm neben ihm Platz, während er begann, von seiner ehemaligen Patientin zu berichten.

»Und nun müsstest du eigentlich froh sein, dass die Sache vorbei ist. Doch das kannst du nicht, weil du ihretwegen beunruhigt bist, stimmt`s?«, fasste sie im Anschluss seinen Gemütszustand zusammen.

»Ja, du hast es auf den Punkt gebracht. Ich überlege die ganze Zeit, ob ich mal bei ihr anrufen sollte, um zu fragen, wie es ihr geht. Aber damit befeuere ich das Ganze vielleicht und mache ihr nur unnötig Hoffnung.«

»Was ist mit Ihrem Verlobten?«

»Du meinst, ich soll mit ihm reden? Das geht nicht. Erstens würde ich dann gegen die ärztliche Schweigepflicht verstoßen, und zweitens kann ich ihm ja schlecht erzählen, dass mir seine Verlobte nachstellt.«

»Wenn du es so formulierst, klingt das wirklich nach einer sehr schlechten Idee. Warte doch einfach ab, mein Schatz. So wie es aussieht, wirst du ohnehin nichts anderes machen können.« Sie stutzte. »Es sei denn, du befürchtest, sie würde sich etwas antun …«

»Wegen ihres angeblich gebrochenen Herzens?« Martin schüttelte den Kopf. »Nein. Nein, das glaube ich nicht«, sagte er dann aus tiefster Überzeugung. »Dafür gibt es keinen Grund. Sie hatte sich nur in etwas verrannt. Mehr war da nicht. Eine kleine Schwärmerei, die ein wenig ausuferte. Ich sollte einfach darauf vertrauen, dass ich zu ihr durchgedrungen bin und sie nun Ruhe gibt und wieder vernünftig wird.«

Martin gelang es tatsächlich, daran zu glauben. Und deshalb verschwendete er bald keinen Gedanken mehr an Anita, sondern genoss einen wunderschönen Sommerabend mit seiner Freundin. Wenn er auch nur geahnt hätte, wie es wirklich in Anita aussah, wäre es mit seiner Gelassenheit sicher schnell vorbeigewesen.

*

Anita war nach dem Gespräch mit Martin sofort nach Hause gefahren. In ihrem Auto sah niemand die Tränen, die ihr unaufhörlich über das Gesicht liefen. Sie war froh, nicht den Bus genommen zu haben, in dem sie jetzt wahrscheinlich alle Leute mitleidig anstarren würden. Nein, hier in ihrem Wagen war sie allein und unbeobachtet und konnte ihren Gefühlen freien Lauf lassen.

Daran, dass sie eigentlich noch kein Auto fahren sollte, hatte sie nicht gedacht, als sie aufgebrochen war. Sie hatte es schlicht vergessen, wie so vieles in der letzten Zeit. Sie vergaß, ihre Medikamente zu nehmen oder sich um einen neuen Arzttermin zu kümmern. Genauso vergaß sie, sich bei ihren Eltern zu melden oder auf Olivers zahlreiche Anrufe zu reagieren. Und glücklicherweise vergaß sie auch bald den Grund für ihre Traurigkeit, und die Tränen versiegten, bevor sie daheim ankam. Als sie den Motor abstellte, lächelte sie schon wieder. Sie freute sich auf den nächsten Tag, an dem sie ihre große Liebe wiedersehen würde: Dr. Martin Ganschow.

Sie griff nach ihrer Handtasche und holte die Kopfschmerztabletten raus. In den letzten Minuten hatte dieser Druck in ihrem Schädel an Intensität zugenommen und ließ sich nur noch schwer ertragen. Anita schluckte gleich zwei Tabletten. Sie waren stark genug, um ihr rasch Linderung zu verschaffen. Als sie die Tablettenpackung zurücklegen wollte, fiel ihr ein verschlossener Briefumschlag in ihrer Tasche auf. Sie hatte keine Ahnung, wie der dort hingekommen war. Verwundert riss sie ihn auf. Das Lesen bereitete ihr etwas Mühe, aber nach einiger Zeit konnte sie den Inhalt des Schreibens entziffern. Es war die Kündigung ihres Mietvertrags mit ihrer Unterschrift darunter. Fassungslos starrte sie auf das Blatt in ihren Händen. Was sollte dieser Blödsinn? Das hat sie niemals geschrieben! Warum sollte sie sich von ihrer wunderschönen kleinen Wohnung, die sie so sehr liebte, trennen? Sie war ihr Zufluchtsort, ihr Zuhause. Nirgends fühlte sie sich so wohl wie dort. Warum sollte sie so dumm sein, sie aufzugeben? Sie lächelte, als sie die Kündigung zerriss und die Überreste in ihrer Handtasche verstaute.

In ihrer Wohnung wartete Oliver auf sie. Sofort schwand Anitas gute Stimmung. »Was machst du denn hier?«

»Was ich hier mache?« Oliver sprang auf und ging ihr entgegen. Als Anita abwehrend die Hände hochnahm, blieb er sofort stehen. »Ich wollte nach dir sehen. Du gehst nicht ans Telefon und antwortest nicht auf meine Nachrichten. Ich mache mir Sorgen um dich.«

»Dafür gibt es keinen Grund«, erwiderte Anita kühl. »Mir geht es super.«

Sie legte ihre Handtasche ab und ging in die Küche. Oliver folgte ihr. Er konnte ihre Unruhe und Gereiztheit spüren, wusste aber nicht, wie er damit umgehen sollte.

»Warst du mit deinem Auto unterwegs?«, fragte er schließlich, weil ihn das noch mehr beunruhigte. »Darfst du denn schon wieder fahren? Die Ärztin in der Klinik meinte doch, dass das erst mal nicht möglich sei.«

»Musst du mich denn ständig kontrollieren?«, fauchte sie ihn an. »Ich bin eine erwachsene Frau und kann allein entscheiden, was gut für mich ist!«

»Ja, natürlich. Bitte reg dich deswegen nicht gleich so auf. Allerdings solltest du schon auf deine Ärzte hören. Sie wissen sicher am besten, was gut für dich ist.«

»Meine Ärzte haben ihr Okay gegeben. Wahrscheinlich haben sie mehr Vertrauen in meine Fähigkeiten als du.«

»Das ist doch Blödsinn, Liebling!«

»Blödsinn?«, zischte sie ihn nun wütend an. »Ich gebe also Blödsinn von mir?«

»Verdammt, Anita.« Mit Olivers Geduld war es plötzlich vorbei. »Hör endlich auf, mir jedes Wort im Mund umzudrehen und dich wie eine Fünfjährige zu benehmen. Erklär mir bitte, was mit dir los ist! Du benimmst dich sonderbar, fast so, als würdest du …« Oliver schluckte. Seine Verärgerung war vorbei und hatte einer zunehmenden Verunsicherung und Angst Platz gemacht. Eine Angst, die ihn seit Tagen beschäftigte und über die er endlich mit ihr reden musste. Doch sollte er wirklich aussprechen, was ihm auf der Seele brannte? Oder machte er es damit noch schlimmer? Vielleicht brachte er einen Stein ins Rollen, der sich nicht mehr stoppen ließ.

Anita lehnte mit ihrem Rücken am Küchenschrank, nippte an ihrem Glas und schien darauf zu warten, dass er endlich redete.

Oliver schluckte die Angst hinunter und sprach aus, was ihn nicht mehr zur Ruhe kommen ließ: »Es ist fast so, als würdest du mich nicht mehr lieben.«

In Anitas schönem Gesicht war keine Regung zu erkennen. Hatte sie ihm überhaupt zugehört? »Bitte, Liebling, rede mit mir. Bitte sag mir, dass zwischen uns noch alles in Ordnung ist. Sag, dass du mich noch liebst und wir das gemeinsam durchstehen werden.«

Endlich kam Bewegung in Anita. Sie stieß sich vom Schrank ab und kam auf ihn zu. In Olivers Herzen begann sich Hoffnung auszubreiten. Sie liebte ihn noch! Gleich würden sie sich in den Armen liegen, und alles wäre so wie früher. Doch es kam ganz anders.

»Es tut mir leid.« Anitas Stimme klang dabei so frostig, dass er ihr nicht glaubte. Er sah auf die Hand, die sie ihm entgegenstreckte und in der der Verlobungsring lag. Der Ring, den er ihr erst vor sechs Wochen an den Finger gesteckt hatte. Vor sechs Wochen war die Welt eine andere gewesen. Vor sechs Wochen hatte sie ihn noch geliebt.

»Bitte, Anita, Liebes … Bitte tu das nicht«, flüsterte er schwach. »Wir lieben uns doch.«

»Nein, ich liebe dich nicht.« Sie zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich habe ich es nie getan.« Sie runzelte die Stirn, als würde sie erst nachdenken müssen. »Ich verstehe nicht, warum wir überhaupt je zusammengekommen sind.«

»Aber wie kannst du so etwas sagen?« Fassungslos sah er sie an. »Wir sind zusammen, weil wir uns ineinander verliebt haben. Das kannst du doch jetzt nicht einfach so mit Füßen treten, als wäre es nichts mehr wert. Du hast mir gesagt, dass du mich liebst! Wir wollten zusammenziehen, im nächsten Jahr heiraten … Das kannst du doch nicht alles wegwerfen! Du kannst unsere Liebe nicht wegwerfen!«

Anita lachte hart auf. »Unsere Liebe?«, fragte sie höhnisch. »Unsere Liebe war ein einziger großer Fehler. Ein Fehler, den ich jetzt korrigieren werde.« Sie knallte den Ring auf den Tisch, weil er ihn ihr immer noch nicht abnahm.

»Ein Fehler? Unsere Liebe war … Unsere Liebe ist echt!«

»Nein, das war sie nie! Was wahre Liebe ist, habe ich erst jetzt erfahren. Wahre Liebe ist das, was ich für Martin empfinde!«

»Martin …« Oliver war sich sicher, dass sein Herzschlag für ein paar Sekunden aussetzte und die Welt zum Stillstand kam, als er begriff, was ihm Anita gerade gestand. Es gab einen anderen Mann in ihrem Leben. Einen Mann, den sie mehr liebte und für den sie ihn nun verließ.

»Du hast einen anderen?«, musste er dennoch fragen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Eigentlich wollte er nur noch hier raus. Er wollte alles hinter sich lassen und ihr abweisendes Gesicht, ihre kühlen Augen, ihren Mund, der sich zu einem geringschätzigen Lächeln verzogen hatte, so schnell wie möglich vergessen und für immer aus seinem Gedächtnis verbannen.

»Ich habe meinen Seelenverwandten gefunden. Er ist meine einzige große Liebe. Es gibt nichts, dass uns trennen könnte. Wir lieben uns.«

Oliver nickte. Es war also wirklich wahr. Es war vorbei. Ihre Liebe zu ihm war erloschen. Er fühlte sich um Jahre gealtert, als er mit gesenktem Kopf aus der Wohnung schlich. Für ihn war gerade das Wertvollste, was er besessen hatte, in tausend kleine Scherben zersprungen. Er hatte Anitas Liebe verloren.

Nur kurz flammte ein Hoffnungsfunke auf, als sie ihn im Treppenhaus zurückrief. Doch er erlosch, kaum, dass sie zu sprechen begann: »Ich möchte, dass du in den nächsten Tagen deine Sachen abholst. Den Wohnungsschlüssel kannst du dann in den Briefkasten werfen.«

Ohne darauf zu antworten, drehte er sich um und setzte seinen Gang fort. In Anitas Leben gab es keinen Platz mehr für ihn. Sie hatte ihn ersetzt.

*

Am nächsten Tag wartete eine Überraschung auf Martin in der Notaufnahme. Auf seinem Schreibtisch stand eine Vase mit einem riesengroßen Strauß tiefroter Rosen.

»Es ist vielleicht etwas ungewöhnlich, dass ein Mann rote Rosen geschenkt bekommt, aber die Bedeutung ist sicher die gleiche«, grinste Schwester Anna neben ihm.

Martin starrte auf den Blumenstrauß und bekam vor Schreck kein Wort heraus. Er war sich doch so sicher gewesen, dass er zu Anita durchgedrungen war und dass sie ihn von nun an in Ruhe lassen würde. »Vielleicht sind sie ja gar nicht von ihr«, murmelte er vor sich hin.

»Von Nina?« Anna musterte ihn neugierig.

Martin schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Warum sollte mir Nina rote Rosen herschicken? Ich befürchte eher, dass sie von Anita Weber sind.«

»Das ist doch die Frau, die uns erst gestern mit dem Buffet überrascht hat.« Da Martin immer noch wie angewurzelt im Türrahmen stand, schob sich Anna an ihm vorbei und ging zum Schreibtisch hinüber. »Der Bote vom Blumenladen hat nicht gesagt, von wem sie sind. Vielleicht finden wir ja hier irgendeinen Hinweis darauf.« Und tatsächlich holte sie nur wenig später einen kleinen rosafarbenen Briefumschlag zwischen den üppigen Blüten hervor. Mit spitzen Fingern reichte sie ihn an Martin weiter. »Wie geschmackvoll«, sagte sie ironisch und betrachtete die vielen albernen Herzchen, die den Umschlag zierten.

»In ewiger Liebe, deine Anita«, las Martin die wenigen Worte vor.

»Ewige Liebe … O je, der Fall scheint wirklich sehr ernst zu sein.« Anna meinte es als Scherz, doch selbst ihr fiel auf, dass sie dafür viel zu besorgt klang.

Martin wiegelte ab, um sie, aber auch sich zu beruhigen. »Wahrscheinlich hat sie die Blumen bereits gestern, also bevor ich mit ihr gesprochen habe, in Auftrag gegeben.«

»Ja, wäre möglich.« Anna blieb skeptisch. Anita Weber schrieb von ewiger Liebe. Die würde sich bestimmt nicht so schnell in Luft auflösen.

Am Nachmittag wurden erneut rote Rosen abgegeben. Martin hatte sich von diesem Schrecken noch nicht erholt, als ein riesiger Präsentkorb dazukam.

»Tut mir leid«, sagte Martin zu dem jungen Mann vom Lieferdienst. »Nehmen Sie ihn wieder mit. Sie können das hier nicht abgeben.«

»Äh … Doch. Name und Adresse stimmen. Ich bin hier richtig.«

»Nein! Ja … aber ich will das nicht. Und ich darf solche Präsente auch gar nicht annehmen!«

»Dann schmeißen Sie sie eben weg oder verschenken Sie sie. Mir doch egal, was Sie damit anstellen. Ich mache hier nur meinen Job.« Der Mann schnappte sich den Lieferschein, auf dem Martin unterschrieben hatte, und verschwand.

Martin stand da und wusste nicht mehr weiter. Was sollte er mit den Blumen und dem Präsentkorb anfangen? Und warum ließ Anita ihn nicht endlich in Ruhe?

In seinem Kopf drehte sich alles um Anita. Er wurde das dumme Gefühl nicht los, dass das erst die Spitze des Eisbergs war und Anita ihm noch großen Kummer bereiten würde. Leider wusste er nicht, was er dagegen tun sollte. Allein kam er hier nicht weiter. Aber sollte er deswegen zum Chef laufen? Oder vielleicht Frau Dr. Rohde um Rat bitten? Solange Berger auf der Konferenz war, hatte sie hier das Sagen. Martin mochte sie. Sie war nett, kompetent und hatte für die jungen Assistenzärzte immer ein offenes Ohr. Ganz anders als Dr. Berger, der oft ausflippte, wenn es nicht so lief, wie er es wollte.

Gerade hatte er sich dazu durchgerungen, zu ihr zu gehen, als ein schwerer Verkehrsunfall hereinkam. Für das Problem, das er mit Anita hatte, blieb nun keine Zeit mehr. Jetzt galt es, sich zu konzentrieren und sein Bestes zu geben, damit ein Menschenleben gerettet werden konnte. Der Mann hatte innere Blutungen und musste stabilisiert werden, um in den OP gebracht zu werden. Christina Rohde, die nicht nur ausgebildete Notfallmedizinerin war, sondern auch Fachärztin für Chirurgie, ließ es sich nicht nehmen, diesen Mann selbst zu operieren. In den nächsten Stunden würde sie für nichts anderes Zeit und Muße haben, sodass Martin das Gespräch mit ihr auf den kommenden Tag verschieben musste.

Zum Glück lenkte ihn die anfallende Arbeit für den Rest des Dienstes ab. Als es Zeit wurde, nach Hause zu fahren, konnte er sich sogar einreden, dass Anita nun Ruhe geben würde. Trotzdem sah er sich nach ihr um, als er aus der Klinik trat. Er war längst nicht so unbekümmert und gelöst, wie er dachte. Immer wieder prüfte er die Umgebung. Doch von Anita war nichts zu sehen. Weder vor der Klinik, noch auf dem Parkplatz oder auf der Bank unter der Kastanie. Anita war nicht da.

Auf der Fahrt nach Hause entspannte er sich. Er hatte das Radio angemacht. Laut und ziemlich schräg sang er einen sehr bekannten Song mit. Er lächelte, als er daran dachte, dass ihn Nina wegen seines mangelnden Gesangstalents immer aufzog. Sie selbst war seit Kindertagen Mitglied in einem Chor und ertrug seine furchtbaren Sangeskünste nur unter großem Protest.

Nina hatte heute wieder länger in der Praxis zu tun, sodass Martin mit Kochen dran war. Er überlegte gerade, mit was er ihr eine Freude machen könnte, als er sich dabei erwischte, wie er ständig unbewusst in den Rückspiegel sah und nach Anita Ausschau hielt. Bevor er sich darüber ärgern konnte, bemerkte er den kleinen roten Flitzer, der hinter ihm fuhr. Hatte er den nicht schon gesehen, als er von der Klinik losgefahren war? Er schüttelte den Kopf, um diesen aberwitzigen Gedanken loszuwerden. Fehlte noch, dass er wegen Anita paranoide Züge entwickelte und sich einbildete, verfolgt zu werden!

Obwohl er sich sagte, dass er sich irrational verhielt, schaute er von nun an ständig in den Spiegel, um das andere Auto zu beobachten. Es war ein Opel mit Münchner Kennzeichen. Das war allerdings das Einzige, was er erkennen konnte. Die Sonne stand schon recht tief und schien in die Windschutzscheibe des Opels, sodass er von dem Fahrer – oder der Fahrerin – nur schemenhafte Umrisse wahrnehmen konnte.

An der nächsten Kreuzung bog Martin rechts ab. Ein kurzer Blick in den Spiegel zeigte ihm, dass der andere Wagen ihm weiter folgte. Noch weigerte sich Martin, deswegen in Panik zu geraten. Sie hatten eben zufällig den gleichen Weg, es gab keinen plausiblen Grund, sich verrückt zu machen. Doch als der rote Opel ihm auch an der nächsten und übernächsten Kreuzung folgte, wurde er zunehmend unruhiger. Und je näher er seinem Zuhause kam, umso besorgter wurde er. Wenn es nun doch Anita war? Was sollte er dann machen? Wie sollte er sich verhalten?

Er setzte den Blinker, um in die Nebenstraße zu fahren, in der sich seine Wohnung befand. Ein erleichtertes Lachen löste sich aus seiner Kehle, als er sah, dass der andere Wagen auf der Hauptstraße blieb und weiterfuhr, seinem eigentlichen Ziel entgegen. Und während Martin seinen Wagen abstellte und über die Straße zu seinem Wohnhaus ging, musste er noch immer über seinen kleinen Anflug von Verfolgungswahn schmunzeln.

*

»Wenn du die Sache nicht bald in den Griff bekommst, rammt dich Berger am Montag ungespitzt in den Boden.« Jakob Janssen sah sich kopfschüttelnd im Pausenraum der Aufnahme um. In den letzten Tagen waren noch mehr Rosen und Präsentkörbe dazugekommen, die nun überall herumstanden und sämtliche Ablageflächen belegten. »O Mann, du steckst in ernsthaften Schwierigkeiten.«

»Konnten Sie noch mal mit ihr sprechen?«, fragte Anna, die die vielen Blumen auch nicht mehr witzig fand.

»Nein, ich erreiche sie nicht. An ihr Telefon geht sie nicht, und sie ist hier auch nie wieder aufgetaucht.« Kurz dachte Martin an den Tag zurück, als er angenommen hatte, von einem kleinen roten Auto verfolgt zu werden. Dann deutete er auf das Blumenmeer. »Wenn dieses ganze Zeug nicht wäre, könnte man glauben, sie hätte es aufgegeben.«

Dass dem nicht so war, sollte sich schnell herausstellen.

Seit Tagen hatte die Sommerhitze München fest im Griff. Heute war es besonders heiß. Als die Cafeteria für alle Mitarbeiter der Aufnahme Eisbecher vorbeibrachte, freuten sie sich über die kulinarische Abkühlung.

»Super«, sagte Jakob und griff sofort zu. »Wer ist denn auf diese grandiose Idee gekommen?«, fragte er Helge Karberg, der in der Cafeteria der Behnisch-Klinik arbeitete.

»Der Auftrag kam vorhin telefonisch bei uns rein«, antwortete Helge und dachte kurz nach. »Ich glaube, es war eine Frau Weber.«

Alle Augen richtete sich auf Martin, der seinen Eisbecher sofort aufs Tablett zurückstellte. Auch Anna schien kurz darüber nachzudenken, auf ihren Eisgenuss zu verzichten, entschied sich dann aber dagegen. Als sie wieder unter sich waren, stellte sie lakonisch fest: »Mit der ewigen Liebe ist es wohl doch noch nicht vorbei.«

»Ewige Liebe?« Dr. Christina Rohde war hereingekommen. Ihr Blick fiel auf die Eisbecherparade auf den Tisch. »Bitte sagen Sie mir, dass einer davon mir gehört!«, flehte sie so mitleiderregend, dass Jakob Janssen ihr lachend einen Becher in die Hand drückte. Erst nachdem sie den ersten Löffel Eis in ihren Mund geschoben hatte, kam sie auf ihre ursprüngliche Frage zurück. »Was hat es denn nun mit der ewigen Liebe auf sich? Läuten hier womöglich bald die Hochzeitsglocken?« Dabei sah sie abwechselnd zu Schwester Inga und Martin Ganschow. Beide, so wusste sie, befanden sich in einer Beziehung. Ingas Freund, den Feuerwehrmann Markus Never, kannte sie sogar persönlich.

»Keine Hochzeit, nur eine etwas aufdringliche Patientin, die sich in Dr. Ganschow verguckt hat«, erwiderte Inga.

»Ach ja?« Christina lachte den jungen Arzt amüsiert an, der überraschend still und ernst war. »Sieht so aus, als finden Sie das gar nicht gut.«

»Nein«, entgegnete Martin kopfschüttelnd. »Ganz und gar nicht. Frau Weber übertreibt es nämlich damit. Schauen Sie sich doch um. Das ist alles von ihr. Erst gab es einen kleinen Präsentkorb als ganz normales Dankeschön an die Aufnahme. Dann folgte ein großes Mittagsbuffet, bevor der Tick mit den roten Rosen, Präsenten und kleinen Liebesbotschaften begann. Und nun auch noch die Eisbecher.«

»Das Eis ist von ihr?« Christina schob sich den nächsten Löffel in den Mund. Dann stutzte sie. »Moment mal … Sagten Sie gerade Frau Weber? Anita Weber, das subdurale Hämatom?«

»Ja, genau die meine ich«, erwiderte Martin mit einem gequälten Seufzer.

»Ist Frau Weber nicht verlobt? Ich erinnere mich an ihren Verlobten. Ein sehr netter, junger Mann, der sie täglich auf der Station besucht hat. Und nun steigt sie auf einmal Ihnen nach? Das ist ziemlich merkwürdig.«

»Warum, Frau Rohde?«, lachte Jakob. »Halten Sie unseren Herrn Ganschow für eine so schlechte Wahl?«

Anna und Inga lachten leise mit, nur Martin war nicht nach Witzen zumute, und auch Christina Rohde konnte dem nichts Komisches abgewinnen.

»Darum geht es nicht, Herr Kollege. Ich wundere mich, dass Frau Weber überhaupt so ein Verhalten an den Tag legt. Auf mich hat sie einen eher introvertierten und zurückhaltenden Eindruck gemacht, wovon jetzt wohl keine Rede mehr sein kann.« Sie sah sich in der Runde um. »Finden Sie das denn gar nicht seltsam? Kommt niemand von Ihnen auf die Idee, dass mehr dahinterstecken könnte als eine harmlose Vernarrtheit? Und das, obwohl Sie wissen, dass sie eine Kopfverletzung hatte, bei der es im Nachhinein zu Komplikationen kommen könnte?«

Bei Christinas ernsten Worten war allen das Lachen vergangen. Betreten sahen sie sich an. Jakob fand zuerst die Sprache wieder. »So gut kannten wir sie ja nicht. Also, ich meine, niemand von uns weiß, wie sie früher war. Hier, in der Aufnahme, war sie nur sehr kurz gewesen, bevor sie dann ja in den OP kam. Wie sollten wir sie da einschätzen können? Es wäre ja durchaus möglich, dass sie schon immer so durchgeknallt war.«

»Möglich? Sie sagen es! Solange Sie sich nicht sicher sein können, müssen Sie nämlich alle Möglichkeiten in Betracht ziehen und nicht nur die, die Ihnen genehm sind.« Christina stelle ihren halbleeren Eisbecher auf dem Tisch ab. Ihr war der Appetit vergangen, und sie hätte noch nicht mal sagen können, warum. Es gab keinen Grund, sich über die beiden Assistenzärzte zu ärgern. Sie waren jung und besaßen nicht genügend Erfahrung, um von sich aus solch waghalsige oder abenteuerliche Vermutungen anzustellen, wie sie es tat.

»Herr Ganschow, ich möchte, dass Sie gleich zum Chef gehen. Erzählen Sie ihm alles. Herr Norden wird wissen, was zu tun ist.«

»Sie glauben also wirklich, dass bei Frau Weber Komplikationen aufgetreten sind, die zu ihrem seltsamen Verhalten geführt haben?«, fragte Anna betroffen nach.

»Wie ich schon sagte, ich ziehe immer alle Möglichkeiten in Betracht, solange ich keine sichere Diagnose habe. Und Dr. Norden wird es genauso machen. Er kennt den Neurologen, an den wir Frau Weber überwiesen haben, persönlich und wird sich bestimmt mit ihm in Verbindung setzen, um das abzuklären. Dr. Förster überwacht Frau Weber engmaschig und würde eine Nachblutung oder ein Ansteigen des Hirndrucks sicher bemerken. Er kann uns sagen, ob wir uns Gedanken um ihre Gesundheit machen müssen. Und selbst wenn das nicht der Fall sein sollte, ist es gut, wenn der Chef endlich erfährt, was hier los ist. Sie hätten sich schon längst an ihn wenden müssen, Herr Ganschow.«

Daniel Norden sah das nicht anders. Es gelang ihm nicht, seine Verärgerung zurückzuhalten, als Martin Ganschow mit seiner Beichte fertig war. »Seit fünf Tagen geht das nun schon so, und Sie kommen erst heute zu mir? Herr Ganschow, ich muss Ihnen wohl nicht erst sagen, dass ich von Ihnen etwas mehr Weitsicht erwartet hätte.«

»Es tut mir leid, Dr. Norden. Ich weiß, ich habe einen Fehler gemacht.« Hilflos sah er seinen Chefarzt an. »Ich könnte es mir nie verzeihen, sollte es für Frau Webers Verhalten wirklich medizinische Gründe geben. Warum bin ich nicht von allein darauf gekommen?«

»Noch ist gar nicht erwiesen, dass es so ist. Und niemand erwartet von Ihnen, dass Sie auf so etwas kommen, ohne entsprechende Diagnostik. Aber ich erwarte von jedem meiner Mitarbeiter, dass er zu mir kommt, wenn etwas aus dem Ruder läuft. Und als diese Geschenkorgien losgingen, ist etwas gewaltig aus dem Ruder gelaufen. Ich habe nichts dagegen, wenn Patienten ihre Dankbarkeit mit einer Tüte Kaffee zeigen wollen. Aber es sollte alles im Rahmen bleiben und mit unseren ethischen und moralischen Werten im Einklang stehen. Sie hätten zu mir kommen müssen oder zu Frau Rohde, schon vor Tagen.« Daniel seufzte auf. Er hatte Mitleid mit dem jungen Mann, der nun ziemlich geknickt vor ihm saß und sogar an seinen Fähigkeiten als Mediziner zu zweifeln begann. »Sie sind ein talentierter junger Arzt, den eine glänzende Laufbahn erwartet. Doch Sie müssen lernen zu erkennen, wann Sie mit einer Situation überfordert sind. Sie dürfen nicht davor zurückschrecken, um Hilfe zu bitten. Niemand verlangt von Ihnen, dass Sie mit allem allein klarkommen.«

»Es tut mir wirklich schrecklich leid, Dr. Norden.«

»Schon gut. Lernen Sie einfach daraus und machen Sie es beim nächsten Mal besser. Ich werde jetzt Herrn Förster anrufen und mir anhören, was er zu unserer Patientin zu sagen hat.«

Leider hatte Daniel kein Glück. In der Praxis des Neurologen sprang nur die Mailbox an, und Daniel konnte nichts anderes machen, als eine Nachricht zu hinterlassen.

Als Martin Ganschow gegangen war, nahm er sich wieder die Postmappe vor, die ihm seine Assistentin auf den Tisch gelegt hatte. Doch Daniel schaffte es nicht, sich darauf zu konzentrieren. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab und beschäftigten sich mit Anita Weber. Schließlich schlug er die Mappe zu und rief auf seinem Computer Anitas Krankenakte auf. Hier fand er auch die letzten Aufnahmen der Computertomografie, die an ihrem Entlassungstag gemacht wurden. Äußerst sorgfältig und gründlich ging er sie mehrfach durch und kam immer wieder zu demselben Schluss: Hier gab es keinerlei Auffälligkeiten. Anita Weber wurde als geheilt entlassen.

Obwohl er nun Gewissheit hatte, dass sich die Behnisch-Klinik nichts vorwerfen musste, stellte sich die erhoffte Erleichterung nicht ein. Es gab keine Garantie dafür, dass Anita immer noch gesund war. Vielleicht war es in den Tagen danach zu einer erneuten Blutung gekommen. Vielleicht war das Gehirn angeschwollen und der Hirndruck stieg dadurch an. Vielleicht … Daniel stoppte sich. Er musste aufhören, alle möglichen Szenarien durchzuspielen. Das regte ihn nur auf und brachte keine brauchbaren Ergebnisse. Ein Gespräch mit Theo Förster war das Einzige, das ihm wirklich weiterhelfen konnte. Ihm, aber vor allem Anita Weber, denn bei ihr könnte es um Leben und Tod gehen.

Bis zum Feierabend hatte Daniel noch keinen Rückruf von Theo Förster erhalten. Er hatte es selbst noch ein paar Mal probiert und schließlich aufgegeben. So wie es aussah, würde er heute keine Antworten mehr bekommen. Akzeptieren konnte er das allerdings nicht.

»Du siehst aus, als hättest du dich mal wieder an einem Problem festgebissen«, neckte ihn Fee, als sie später zusammen die Behnisch-Klinik verließen. Felicitas Norden, die als leitende Kinderärztin arbeitete, kannte ihren Mann so gut, dass sie immer ganz genau wusste, was in ihm vorging.

»Mir geht ein Fall nicht aus dem Kopf.«

»Ein neuer Patient?«

»Nein, eine ehemalige Patientin.« Auf den Weg zum Parkplatz erzählte Daniel ihr von Anita Weber. »Seit Herr Ganschow bei mir war, muss ich ständig an sie denken.«

»Du machst dir Sorgen um sie?«

»Ja. Womöglich ohne Grund. Aber solange ich das nicht sicher weiß, werde ich diese innere Unruhe nicht los.«

Fee sah ihn ungläubig an. »Und jetzt willst du einfach so nach Hause fahren? Glaubst du wirklich, du kämst da zur Ruhe?«

Am Wagen blieb Daniel stehen und sah seine Frau nur an. Fee verstand sofort. Sie nickte wissend. »Du hattest gar nicht vor, nach Hause zu fahren.«

»Nein, Feelein. Ich habe mir vorhin die Adresse von Anita Weber rausgesucht. Ihre Wohnung befindet sich fast auf unserem Heimweg. Ich dachte mir, wir könnten schnell mal bei ihr reinschauen. Vielleicht mache ich mir ja ihretwegen ganz umsonst Gedanken. Aber dann kann ich das Thema endlich abhaken und mich auf unseren freien Abend freuen. Doch so …«

»So würdest du dich wahrscheinlich ununterbrochen damit beschäftigen und dich und uns alle verrückt machen.« Fee lächelte ihn an und stieg ins Auto. »Nun komm schon!«, rief sie ihm zu, als er keine Anstalten machte, ihr zu folgen. »Wir haben eine Mission zu erfüllen!«

Daniel lachte leise, als er sich auf den Fahrersitz setzte. Bevor er den Motor startete, beugte er sich zu seiner Frau rüber, um sie zärtlich zu küssen und ihr so für ihr Verständnis zu danken. Dann fuhren sie zu Anita Weber.

*

Anita lebte in einem mehrstöckigen Wohnhaus mit grünen, gepflegten Außenanlagen und einem großzügigen Parkplatz, auf dem Daniel den Wagen abstellen konnte.

Fee studierte die Namen auf dem Klingelschild. »Hier ist sie – Anita Weber.« In dem Moment, als sie den Klingelknopf drücken wollte, wurde die Haustür von innen geöffnet. Daniel kannte den jungen Mann, der schwer bepackt das Haus verlassen wollte.

»Herr Friedmann?«

Oliver Friedmann sah überrascht über den Rand des großen Kartons auf das Paar, das vor ihm stand.

»Dr. Norden! Was für ein Zufall!«

»Eigentlich ist es kein Zufall, Herr Friedmann. Wir sind gekommen, um uns nach Ihrer Verlobten zu erkundigen.«

»Ex-Verlobte«, stieß Oliver bitter hervor. Er stellte den Karton ab und strich sich dem Riemen der schweren Reisetasche von der Schulter. Als er sich wieder aufrichtete und Daniel ansah, waren seine Augen voller Schmerz. »Sie kommen umsonst. Anita ist nicht zu Hause. Und ich bin nur hier, weil ich meine restlichen Sachen aus ihrer Wohnung geholt habe. Sobald ich meinen Wohnungsschlüssel in ihren Briefkasten geworfen habe, ist dieses Kapitel endgültig abgeschlossen.«

»Es tut mir sehr leid, dass Sie sich getrennt haben.«

»Mir auch«, sagte Fee. Sie hielt Oliver die Hand hin. »Da mein Mann es versäumt hat, mich vorstellen, muss ich es wohl selbst tun. Ich bin Felicitas Norden und arbeite ebenfalls an der Behnisch-Klinik. Allerdings bin ich dort für die kleinen Patienten zuständig.«

»Und was wollen Sie nun von Anita?« Er sah von Fee zu Daniel. »Ich weiß, es geht mich nichts an. Immerhin sind Anita und ich …« Er musste erst schlucken, bevor er weitersprechen konnte. »Immerhin sind wir nicht mehr zusammen. Aber ich finde es schon ein wenig seltsam, dass Sie bei ihr einen Hausbesuch machen wollen. Schließlich ist sie ja gar nicht mehr Ihre Patientin. Sie hat doch jetzt diesen Neurologen, diesen Dr. Förster.«

Daniel war sich unsicher, was er machen sollte. Wären Oliver und Anita noch ein Paar, hätte er auf Grund der Dringlichkeit die ärztliche Schweigepflicht außer Acht gelassen. Aber so? Er konnte unmöglich Anitas ehemaligem Verlobten erzählen, was in den letzten Tagen vorgefallen war oder warum ihn das so belastete.

»Herr Friedmann, uns wäre es lieber, wenn wir Ihnen erst mal ein paar Fragen stellen dürften. Es würde uns sehr helfen, die Situation besser einzuschätzen.«

Oliver zuckte lässig die Achseln. »Natürlich. Wenn ich Ihnen … oder Anita irgendwie helfen kann, werde ich das gern machen. Aber ich glaube nicht, dass ich Ihnen viel sagen kann. In der letzten Zeit verhielt sich Anita mir gegenüber ziemlich verschlossen. Ganz anders als sonst.«

»Anders als sonst?«, fragte Fee sofort nach. Sie war nicht nur Kinderärztin, sondern auch Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Mit der menschlichen Psyche kannte sie sich also bestens aus. »Können Sie das vielleicht ein wenig näher beschreiben? Was hat sich geändert? Anitas Gewohnheiten? Ihr Verhalten? Gab es Wesensveränderungen?«

»Alles! Es hat sich einfach alles geändert. Sie war verschlossen und abweisend geworden. Ich hatte den Eindruck, als würde es ihr schwerfallen, meine Anwesenheit zu ertragen. Wir haben nur noch gestritten. Es war einfach schrecklich. So kannte ich sie gar nicht.« Oliver schniefte leise, als er bedrückt weitersprach: »Wir haben uns doch so sehr geliebt und wollten endlich zusammenziehen. Es gab sogar schon einen Termin für unsere Hochzeit im nächsten Jahr. Und dann … Dann löst sie plötzlich die Verlobung.« Olivers Gesichtszüge verhärteten sich. »Das war nicht mehr meine Anita. Dieser andere Mann hat sie verändert. Er übt einen ganz schlechten Einfluss auf sie aus. Anders kann ich mir das nicht erklären.«

»Ein anderer Mann?«, fragte Daniel. »Was wissen Sie von ihm?«

»Nichts, tut mir leid. Ich bin ihm nie begegnet. Anita sprach von ihm.« Sein Blick verfinsterte sich. »Sie sagte, er sei ihre wahre Liebe. Dieser Martin scheint ihr gehörig den Kopf verdreht zu haben.«

»Martin? Martin Ganschow?«

Daniel Norden hatte so bestürzt geklungen, dass Oliver sofort alarmiert aufsah. »Ich kenne seinen Nachnamen nicht. Aber Sie scheinen mehr über diesen Kerl zu wissen. Was ist mit ihm? Geht von ihm etwa eine Gefahr für Anita aus?«

»Nein, Herr Friedmann.« Fee seufzte bekümmert auf. »Es ist nicht Herr Ganschow, um den wir uns sorgen müssen. Wir sind hier, weil wir wegen Anita beunruhigt sind. Wir fürchten, dass sie schwere gesundheitliche Probleme hat.«

»Was ist mit ihr? Bitte, sagen Sie mir endlich, was mit Anita los ist! Ihr darf nichts geschehen!« Dieser heftige Gefühlsausbruch Olivers zeigte, dass seine Liebe noch längst nicht erloschen war.

»Eigentlich verbietet uns die ärztliche Schweigepflicht, mit Ihnen darüber zu reden. Aber in diesem Fall dürfen wir eine Ausnahme machen. Immerhin steht das Leben eines Menschen auf dem Spiel.« Daniel wollte gerade erklären, was er damit meinte, als sein Telefon klingelte. »Es ist Theo Förster«, sagte er zu Fee.

»Geh ran! Ich erzähle Herrn Friedmann alles.«

Und während Daniel ein paar Schritte zur Seite ging, um ungestört mit dem Neurologen sprechen zu können, hörte Oliver fassungslos zu, was Fee Norden ihm zu sagen hatte.

»Aber das kann nicht sein! Anita würde nie jemanden belästigen!« Er schüttelte den Kopf. »Bitte, Sie verstehen das nicht! Anita ist dazu gar nicht fähig. Sie ist sehr zurückhaltend, beinahe schüchtern. Anita will es immer allen recht machen und möchte niemanden verletzen. Sie bezeichnet sich ja selbst manchmal als harmoniesüchtig.«

»War sie auch noch so, als sie aus der Klinik kam?«, fragte Fee behutsam nach.

»Anfangs schon, aber dann war sie auf einmal so … so kalt und distanziert. Da war keine Liebe mehr …«

»Anitas Krankheit war vielleicht nur stärker als die Liebe. Dagegen hatte sie keine Chance.«

»Ich fühle mich so schuldig. Ich habe mich über Anitas Verhalten geärgert und hätte sie stattdessen ins nächste Krankenhaus bringen müssen.«

»Herr Friedmann, noch ist alles nur ein Verdacht. Es spricht einiges dafür, dass Anitas Kopfverletzung zu dieser Wesensänderung geführt hat. Aber noch wissen wir das nicht mit Bestimmtheit. Warten wir ab, was uns ihr Arzt dazu sagen kann. Möglicherweise sind unsere Befürchtungen völlig haltlos.«

»Das würde dann allerdings bedeuten, dass mich Anita tatsächlich nicht mehr liebt.« Oliver sah Fee traurig an und atmete ein paar Mal tief durch. »Mir wäre das sogar lieber. Ich liebe Anita, und das wird sicher immer so bleiben. Von ihr verlassen zu werden, hat mich tief erschüttert und verletzt. Aber die Vorstellung, dass sie krank ist und ihr etwas Schreckliches geschehen könnte, ist weitaus schlimmer. Bitte, Frau Dr. Norden, Anita darf nichts geschehen!«

Olivers Worte berührten Fee. Dieser junge Mann liebte Anita wahrhaftig. Ihr Wohlergehen war ihm wichtiger als sein eigenes. Konnte es einen schöneren Beweis für wahre und aufrichtige Liebe geben?

»Wir werden alles in unser Macht Stehende tun, damit Anita nichts geschieht«, versprach Fee. Doch als Daniel zu ihnen zurückkehrte und sie in sein ernstes Gesicht sah, bekam ihre eigene Zuversicht einen deutlichen Dämpfer. Oliver Friedmann erging es nicht anders. Auch er wusste, dass das, was Daniel Norden erfahren hatte, nichts Gutes war.

»Wir haben ein großes Problem«, sagte Daniel in die erwartungsvolle Stille hinein und sah dabei Oliver an. »Ich habe gerade von Dr. Förster erfahren, dass er Ihre Verlobte nie kennengelernt hat. Zu dem Termin, den wir ihr bei der Entlassung mitgegeben haben, ist sie nicht erschienen.«

»Aber … das kann nicht sein …« Oliver lief unruhig auf und ab, während er sich den Kopf zerbrach. »Sie hat mir doch gesagt, dass sie beim Arzt gewesen sei. Es wäre alles in Ordnung und sie dürfe sogar wieder Auto fahren.«

»Sie ist mit ihrem Auto unterwegs?« Daniel wurde nun noch nervöser.

»Ja, sie fährt einen kleinen roten Corsa.«

»Haben Sie das Kennzeichen? Gut, schreiben Sie es bitte auf. Ich werde mich mit der Polizei in Verbindung setzen. Ich befürchte, dass sich Ihre Verlobte in großer Gefahr befindet. Und wahrscheinlich nicht nur sie, wenn sie in ihrem Zustand Auto fährt.«

*

Hier konnten sie nichts mehr ausrichten, und Fee und Daniel verabschiedeten sich von Oliver. Er würde in Anitas Wohnung bleiben, für den Fall, dass sie dort auftauchte.

»Bitte rufen Sie mich dann sofort an, Herr Friedmann. Sie haben meine Handynummer und können mich darüber immer erreichen. Tag und Nacht. Ich werde mich dann darum kümmern, dass Ihre Verlobte untersucht wird.«

»Können wir noch mehr machen?«, fragte Fee, als Oliver ins Haus gegangen war.

»Ich wüsste nicht, was. Die Polizei weiß Bescheid, ebenso die Klinik. Ich werde nachher noch Herrn Ganschow anrufen, falls sie doch noch bei ihm auftauchen sollte. In den letzten Tagen hat sie ihn ja nur noch aus der Ferne angehimmelt und sich nicht mehr blicken lassen.«

»Eigentlich schade. Mir wäre es lieber, wir wüssten, wo sie ist, und könnten ihr endlich helfen.« Fee blinzelte gegen die untergehende Sonne an und strich sich ihre blonden Haare aus dem Gesicht. Sie waren am Wagen angekommen und wollten nun endlich nach Hause fahren. Ein junger Mann, der nur wenige Meter von ihnen entfernt aus seinem Auto stieg, kam ihr sonderbar vertraut vor.

»Ist das nicht …«

»Herr Ganschow«, sagte Daniel so laut, dass sich Martin erschrocken zu ihm umdrehte. »Was machen Sie denn hier?«

»Äh … ich …«, stotterte Martin, während er näher kam. Es war ihm sichtlich unangenehm, ausgerechnet hier auf den Klinikchef und seine Frau zu treffen. »Mir ließ die Sache mit Frau Weber keine Ruhe, Dr. Norden«, sagte er kleinlaut.

»Und da wollten Sie sie zu Hause besuchen?«, fragte Daniel warmherzig. Er freute sich über das Pflichtgefühl des jungen Arztes. Er kannte genügend Ärzte, die nur Dienst nach Vorschrift machten und in ihrer Freizeit keinen Gedanken an ihre Patienten verschwendeten. »Leider werden Sie hier keinen Erfolg haben, Herr Ganschow. Frau Weber ist nicht in ihrer Wohnung. Wir haben gerade mit ihrem ehemaligen Verlobten gesprochen. Er hat keine Ahnung, wo sie ist.«

»Ehemaliger Verlobter?«, fragte Martin. »Heißt das, die beiden sind nicht mehr zusammen?«

»Sie hat sich von ihm getrennt, weil es einen anderen Mann in ihrem Leben gibt.«

Schockiert riss Martin die Augen auf. Er wusste sofort, wen sein Chef damit meinte.

»Leider wird es noch schlimmer«, sagte Daniel und berichtete von seinem Gespräch mit Dr. Förster. »Ich hätte Sie ohnehin noch angerufen, Herr Ganschow. Halten Sie bitte die Augen nach Frau Weber auf. Gut möglich, dass sie wieder Ihre Nähe suchen wird. Also falls Ihnen ein roter Opel Corsa auffällt …«

»Ein roter Opel?«, echote Martin bestürzt. »Ich habe einen gesehen, vor ein paar Tagen … Er fuhr eine Zeitlang hinter mir her, aber dann war er verschwunden. Vielleicht war sie es ja.«

»Vielleicht auch nicht. Es bringt leider nichts zu spekulieren.« Daniel sah, dass Martin Ganschow ein wenig Aufmunterung nötig hatte. »Im Moment ist alles, was wir vermuten, reine Spekulation. Noch weiß niemand mit Sicherheit, ob unsere Befürchtungen wahr sind und Frau Weber tatsächlich in Gefahr ist.« Als Martin nur stumm nickte, fuhr Daniel fort: »Noch eins, Herr Ganschow: Bitte reden Sie sich nicht ein, dass Sie an irgendetwas die Schuld tragen.«

»Aber wenn ich früher bemerkt hätte …«

»Da gab es für Sie nichts zu bemerken«, unterbrach ihn Daniel. »Sie kannten Frau Weber nicht gut genug, um das veränderte Verhalten zu erkennen. Frau Rohde hatte es da leichter als Sie. Immerhin war sie die behandelnde Ärztin von Frau Weber und hatte sie dadurch gut kennenlernen können. Frau Rohde ist zwar eine brillante Chirurgin, aber kann genau so wenig hellsehen wie Sie. Hätte sie Frau Weber nicht so gut gekannt, wäre ihr womöglich auch nichts aufgefallen, zumindest nicht ohne weitere Anhaltspunkte. Und nun hören Sie bitte auf, Trübsal zu blasen. Ganz egal, wie die Sache auch ausgehen mag, Sie tragen nicht die Verantwortung dafür.«

Daniel Nordens Worte schafften es, Martin wenigstens für kurze Zeit aufzumuntern. Dann kehrten die Schuldgefühle so heftig zurück, dass er rechts ranfahren musste, um sich zu sammeln. Nach einigen Minuten ging es ihm etwas besser. Doch bevor er seine Fahrt fortsetzte, schickte er Nina eine kurze Nachricht, in der er ihr mitteilte, dass er erst spät nach Hause kommen würde.

In den nächsten Stunden fuhr er rastlos durch München, immer Ausschau haltend nach einem roten Opel Corsa, der sich in seiner Nähe aufhielt. Zwischendurch legte er einen kurzen Stopp an einer Tankstelle ein, holte sich einen Kaffee und ein Sandwich, an dessen Geschmack er sich später nicht erinnern konnte. Seine ganze Aufmerksamkeit galt den anderen Autos, die er ständig nach einem roten Kleinwagen absuchte.

Es war nach Mitternacht, als er endlich aufgab und nach Hause fuhr. Nina schlief bereits. Auf dem Küchentisch fand er einen kurzen, liebevollen Gruß von ihr und im Kühlschrank die Reste vom Abendessen.

In dieser Nacht schlief er schlecht. Wirre Träume, in denen Anita die Hauptrolle spielte, verfolgten ihn. Als sein Wecker schließlich klingelte, fühlte er sich erschöpft wie selten zuvor in seinem Leben.

»Das war gestern ein langer Tag für dich«, sagte Nina mitfühlend und gab ihm einen Kuss.

»Du bist ja schon angezogen«, gab Martin müde zurück.

»Ich muss heute früher anfangen. Eine Wurzelresektion um sieben.« Nina lachte, als Martin sofort das Gesicht verzog. »Nicht bei dir, du Angsthase!« Sie gab ihm noch einen Kuss und zog ihm dann einfach die Bettdecke weg. »Komm, steh auf, sonst musst du dich wieder so abhetzen. Eigentlich stünde dir ja zu, heute etwas später anzufangen. Immerhin hast du die halbe Nacht durchgearbeitet.«

Martin hatte bereits den Mund geöffnet, um sie aufzuklären und ihr von seiner nächtlichen Irrfahrt durch München zu erzählen. Doch dann ließ er es bleiben und verschob es auf den Abend. Nina hatte keine Zeit. Außerdem hielt er es für keine gute Idee, sie jetzt mit seinen Problemen zu belasten. Als sie ihm zum Abschied einen Luftkuss zuwarf und kurz darauf die Tür ins Schloss fiel, stand er auf. Er ging zum Fenster hinüber, um ihr zuzuwinken, falls sie noch einmal hochsehen sollte.

Doch es war nicht Nina, die er jetzt erblickte. Auf der anderen Straßenseite stand ein roter Opel Corsa, und hinter dem Lenkrad saß eindeutig eine Frau. Eine blonde Frau! Anita Weber! Schlagartig verflog Martins Müdigkeit. Hastig zog er die Jeans über seine Schlafshorts, griff sich beim Vorbeilaufen die Schlüssel und stürmte barfuß aus der Wohnung. Die vier Treppen bis ins Erdgeschoss nahmen heute kein Ende, obwohl Martin meinte, sie noch nie so schnell hinuntergelaufen zu sein. Völlig atemlos stürzte er auf die Straße und hätte am liebsten frustriert aufgebrüllt: Anita war fort.

*

Nina war in Gedanken schon in ihrer Mittagspause. Sie wusch sich die Hände und zupfte sich dann vor dem Spiegel ihren Pony zurecht, als Karen, eine Zahnarzthelferin, hereinsah. »Könnten Sie noch eine Schmerzpatientin übernehmen? Sie sieht wirklich ziemlich leidend aus.«

»Klar, ich nehme sie. Wer ist es denn?«

»Es ist eine neue Patientin. Frau Weber war noch nie bei uns.«

»Bringen Sie sie in die Eins. Ich bin gleich da.«

Nina schob sich schnell ein Plätzchen in den Mund und nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Das würde reichen müssen, bis sie die Zeit für eine ausgiebigere Mahlzeit fand. Ihre neue Patientin, die bestimmt unter unerträglichen Schmerzen litt, ging jetzt vor.

Karen hatte nicht übertrieben. Frau Weber saß bereits auf dem Zahnarztstuhl und sah tatsächlich schlimm aus. Sie war außergewöhnlich blass, und unter ihren Augen waren dunkle Schatten, die auf eine schlaflose Nacht hinwiesen. Nina hoffte, ihr schnell etwas Linderung zu verschaffen, obwohl sie das unbestimmte Gefühl hatte, dass die Probleme der Frau nicht mit ihren Zähnen zusammenhingen.

»Guten Tag, Frau Weber. Wie ich höre, plagen Sie arge Zahnschmerzen.«

»Zahnschmerzen?«, zischte ihre neue Patientin aufgebracht. »Mir tut mein ganzer Kopf weh! Was sind Sie denn für eine Ärztin, wenn Sie das nicht erkennen können?«

Nina erschrak angesichts dieser derben Worte. Doch ihr gelang es trotzdem, höflich zu bleiben und ruhig zu antworten: »Nun, da Sie in eine Zahnarztpraxis gekommen sind, habe ich natürlich annehmen müssen, dass Sie Probleme mit Ihren Zähnen haben. Für Kopfschmerzen sind wir hier nicht zuständig.«

»Hören Sie auf, sich rausreden zu wollen!« Anita Weber wurde so laut, dass sich Nina und Karen alarmiert ansahen. »Ich verlange, dass Sie mir helfen! Ich habe Kopfschmerzen! Ich habe höllische … höllische Kopfschmerzen!« Anita begann, lautstark zu weinen und hielt sich mit beiden Händen den Kopf fest. »Ich halte das nicht mehr aus! Ich halte das nicht mehr aus!«

Auch wenn sich Ninas Fachgebiet auf Zähne und Kiefer beschränkte, erkannte sie, dass die junge Frau auf ärztliche Hilfe angewiesen war. Hilfe, die sie ihr nicht geben konnte. »Frau Weber, ich denke, es ist das Beste, wenn wir einen Arzt für Sie rufen.«

»Einen Arzt?« Anita blinzelte unter ihrem Tränenschleier hervor. »Mein Liebster ist Arzt.«

»Ihr Liebster?«, fragte Nina zurück.

»Ja, Dr. Martin Ganschow.« Anita kniff die Augen zusammen und fixierte Nina mit einem Blick, der ihr Angst machte. »Tun Sie doch nicht so, als würden Sie ihn nicht kennen!«

»Entschuldigung, hier muss ein Missverständnis vorliegen. Martin Ganschow ist mit mir zusammen und ganz bestimmt nicht ihr Liebster.«

»Weil Sie es nicht zulassen!«, brüllte Anita nun. »Sie lassen ihn nicht gehen! Wir lieben uns! Geben Sie ihn endlich frei!«

Nina merkte, wie sich Karen an ihre Seite stellte, um ihr beizustehen. Sie hatten beide zeitgleich erkannt, dass Anita Weber eine kranke, verwirrte Frau war, bei der mit allem zu rechnen war. Aber Nina sah auch, dass Anita dringend medizinische Hilfe brauchte.

»Frau Weber, bitte versuchen Sie, sich etwas zu beruhigen. Ihren Kopfschmerzen wird diese Aufregung nicht so gut bekommen.« Besänftigend sprach Nina auf sie ein: »Wir unterhalten uns ein anderes Mal über Martin. In Ordnung? Wir werden bestimmt eine gute Lösung finden. Aber das eilt jetzt nicht. Viel wichtiger sind jetzt Ihre Kopfschmerzen. Die wollen Sie doch bestimmt ganz schnell loswerden.«

Anita war bei Ninas sanften Worten ruhiger geworden. Als sie nickte, wurde Nina mutiger. »Schwester Karen ruft jetzt beim Rettungsdienst an, damit ein Arzt herkommt und Sie von den Schmerzen befreit.«

Den Moment, in dem Anitas Stimmung wieder umschlug, konnte Nina in deren Augen erkennen. »Sie wollen mich umbringen«, flüsterte Anita voller Angst. »Sie wollen Martin ganz für sich allein haben.« Anita rutschte aus dem Stuhl, ängstlich darauf bedacht, so viel Abstand wie möglich zwischen ihr und der Zahnärztin zu lassen.

»Nein, Frau Weber!«, rief Nina schnell. »Ich will Ihnen nur helfen! Bitte warten Sie doch!«

Doch Anita hörte ihr nicht mehr zu. In voller Panik stürmte sie aus der Praxis, rannte den Bürgersteig entlang, bis sie bei ihrem Auto ankam, das sie am Straßenrand abgestellt hatte. Hier legte sie weinend den Kopf auf das Lenkrad, bis die Schmerzen in ihrem Schädel so schlimm wurden, dass sie das Bewusstsein verlor.

Nina brauchte ein paar Sekunden, um sich von dem Schrecken zu erholen. Dann rief sie Karen zu, dass sie den Rettungsdienst rufen soll. Sie griff nach ihrem Handy und rannte nach draußen. Vor dem Haus blieb sie stehen und sah die belebte Straße entlang. Von Anita Weber war nichts mehr zu sehen. Trotzdem gab sie nicht auf. Suchend eilten ihre Augen weiter über die vorbeieilenden Passanten hinweg, während sie Martins Nummer wählte. Mit ganz viel Glück war er gerade in der Mittagspause und konnte ihren Anruf entgegennehmen.

»Hallo, Nina, wie schön …«

»Martin!«, stoppte sie ihn aufgeregt. »Kennst du eine Frau Weber?«

Nur eine Sekunde herrschte Ruhe am anderen Ende, dann sprudelte es aus Martin heraus: »Ja, natürlich! Ich hatte dir von ihr erzählt. Weißt du, wo sie ist? Sie braucht dringend Hilfe …«

Nina unterbrach ihn wieder und berichtete kurz von Anitas Besuch in der Praxis. »Ihr geht es richtig schlecht, Martin. Ich fürchte, sie wird nicht mehr lange durchhalten.«

»Ich komme sofort. Sie ist bestimmt noch in der Nähe. Siehst du dort irgendwo in der Nähe einen roten Corsa?«

Nina sah die Straße entlang. Und tatsächlich entdeckte sie knapp fünfzig Meter entfernt einen kleinen roten Wagen in einer Parklücke. Eilig ging sie darauf zu. »Hier steht ein rotes Auto, aber ich kann nicht erkennen, um welche Marke es sich handelt. Warte … Ich kann sie sehen! Sie sitzt im Wagen!«

Anita fühlte sich merkwürdig benommen, als sie wieder zu sich kam. Sie hatte keine Ahnung, warum sie in ihrem Auto saß. Durfte sie überhaupt schon wieder fahren? Sie wusste es nicht, und je länger sie darüber nachdachte, umso heftiger wurden diese fürchterlichen Schmerzen in ihrem Schädel. Ganz langsam hob sie den Kopf. Mit jeder Bewegung – und war sie noch so behutsam – ging es ihr schlechter. Ihr war übel, und vor ihren Augen flimmerte es. Sie konnte nur noch verschwommen sehen, als würde sie hinter einer dicken Milchglasscheibe sitzen. Als sie nach draußen blickte, bemerkte sie eine Frau, die auf sie zukam. Anita kannte sie, zumindest glaubte sie das. Wenn sie sich nur erinnern könnte! Plötzlich bekam sie schreckliche Angst. Von dieser Frau ging eine Gefahr aus. Anita war sich sicher, dass sie sterben würde, sollte es dieser Fremden gelingen, zu ihr zu kommen. Sie musste unbedingt von hier verschwinden!

Ihre Hände zitterten so heftig, dass es ihr kaum gelang, den Motor zu starten. Als sie sah, dass die Frau wild zu gestikulieren begann und auf sie zulief, trat Anita das Gaspedal voll durch. Sie wollte einfach nur weg!

Nina sah den Wagen auf sich zurasen. Sie hatte gehofft, Anita am Wegfahren hindern zu können. Doch nun hoffte sie nur noch, ihr rechtzeitig auszuweichen. Mit einem beherzten Sprung zur Seite gelang es ihr knapp. Sie schlug auf dem Bürgersteig auf und sah, wie Anita an ihr vorbeiraste und einige Meter entfernt gegen einen Laternenmast prallte. Nina spürte keine Schmerzen, als sie aufsprang und zu Anita lief. Obwohl sie selbst unter Schock stand, wusste sie, dass sie helfen musste.

Anita war bewusstlos, doch sie atmete, und Nina fühlte einen schwachen, langsamen Puls. Um sie herum hatte sich eine Menschentraube gebildet.

»Hat schon jemand einen Rettungswagen gerufen?«, fragte sie. Doch in diesem Augenblick hörte sie die Sirenen. Ihr fiel ein, dass sie das wohl Karen zu verdanken hatte. Sie erzählte den Rettungskräften, was sie wusste, und trat dann zur Seite, damit die Männer ihre Arbeit machen konnten.

Plötzlich hörte Nina ihren Namen. Als sie sich umdrehte, entdeckte sie Martin, der sich einen Weg zu ihr bahnte, dicht gefolgt von Dr. Norden. Kurz darauf fand sie sich in Martins Armen wieder.

*

»Weißt du endlich mehr?« Nina saß auf der Untersuchungsliege und sah Martin gespannt entgegen. Nach der Versorgung ihrer leichten Blessuren hatte sie ihn losgeschickt, um etwas über Anitas Zustand in Erfahrung zu bringen. »Nun sag schon, wie geht es ihr?«

Martin wirkte so betroffen, dass Nina sofort mit dem Schlimmsten rechnete. »Sie haben sie in den OP gebracht. Es ist noch nicht sicher, ob sie … ob sie es schafft. Es geht ihr sehr schlecht.« Er setzte sich zu Nina auf die Liege und legte einen Arm um sie. »Die Aufnahmen vom CT waren eindeutig«, berichtete er dann weiter. »Es musste irgendwann, nach Anitas Entlassung, zu einer kleinen Nachblutung gekommen sein.«

»Ich verstehe das nicht. Warum ist das niemanden aufgefallen? Weder Anita noch ihr Verlobter haben das bemerkt? So eine Blutung läuft doch nicht symptomlos ab.«

»Anita wird sicher etwas gemerkt haben. Vielleicht hatte sie Kopfschmerzen. Auch Sehstörungen wären möglich. Aber sie hat Oliver nichts davon gesagt, und selbst war sie nicht mehr in der Lage, diese Beschwerden ihrer alten Kopfverletzung zuzuordnen. Dr. Norden vermutet, dass ihre psychischen Probleme bereits sehr früh begannen, noch vor den anderen Beschwerden. Wäre sie bei Dr. Förster gewesen, hätte er es sicher erkannt, und ihr wäre schnell geholfen worden. Und nun … nun wird sie vielleicht sterben, nur weil niemand bemerkt hat, wie schlecht es ihr in Wahrheit ging.«

»Es tut mir so leid, Martin.«

»Nein, mir tut es leid. Ich habe echt Mist gebaut.«

»Ich dachte, Dr. Norden hätte dir ausgeredet, dass du für Anitas Zustand verantwortlich bist.«

»Ja, das hat er. Aber es wird wohl noch dauern, bis ich es wirklich glauben kann.« Er nahm ihre bandagierte Hand hoch und hauchte einen zärtlichen Kuss darauf. »Ich muss mich vor allem bei dir entschuldigen. Wenn ich dir alles von Anita erzählt hätte, wärst du auf sie vorbereitet gewesen. Du hättest sofort gewusst, wer sie ist, hättest schneller Hilfe anfordern können und wärst nicht selbst in Gefahr geraten.«

»Oder ich hätte es irgendwie verhindert, dass sie die Praxis verlässt und sich in ihr Auto setzt.« Nina seufzte leise auf. »Hätte, hätte … Glaub mir, mein Liebling, ich zermartere mir genau wie du den Kopf und stelle mir immer wieder diese sinnlosen Fragen, was ich hätte anders machen können. Und dann sage ich mir, dass niemand für das, was geschehen ist, die Verantwortung trägt. Weder du noch ich.« Sie strich ihm mit einer zärtlichen Geste das Haar aus der Stirn und küsste ihn dann. »Wir lieben uns und sind zusammen. Gemeinsam können wir alles schaffen. Und Anita wird es auch schaffen. Ganz bestimmt.«

Danach sah es allerdings nicht aus. Anita lag seit fünf langen Tagen im Koma und machte keine Anstalten, daraus zu erwachen. Oliver wich in dieser Zeit nicht von ihrem Bett. Während Martin Ganschow seine Nina hatte, die ihm half, seine Schuldgefühle in Zaum zu halten, musste Oliver Friedmann ganz allein damit klarkommen.

Sein Herz zog sich jedes Mal schmerzhaft zusammen, wenn er in ihr bleiches Gesicht blickte. Er hielt ihre Hand und sprach mit ihr. Er erzählte ihr, wie sehr er sie liebte und dass er sehnsüchtig darauf wartete, dass sie zu ihm zurückkehrte.

Mit Tränen in den Augen sah er auf, als Daniel Norden an das Bett trat. »Wird sie jemals wieder aufwachen?«

Daniel brachte es nicht über sich, diesem verzweifelten Mann zu sagen, dass die Chancen mit jedem Tag, der verstrich, geringer wurden.

»Ihre Verlobte ist sehr weit weg und reagiert noch nicht auf Ansprache oder andere Reize. Aber das kann sich schnell ändern. Es wäre möglich, dass sie ihre Augen aufschlägt, wenn wir am wenigsten damit rechnen. Vielleicht braucht sie einfach noch ein bisschen Zeit.«

Oliver nickte zwar, aber Daniel sah ihm an, dass er aus seinen Worten keine Hoffnung schöpfen konnte. Er setzte sich neben Oliver. »In solchen Fällen ist es immer gut, sich auf das Positive und die Erfolge zu konzentrieren. Mögen sie noch so klein erscheinen«, sagte er warm. Als ihn Oliver erwartungsvoll ansah, zählte er auf: »Die Operation ist ohne Komplikationen verlaufen. Wir konnten sie schon am nächsten Tag vom Beatmungsgerät nehmen, ihr Blutdruck ist stabil, ihr Herz und alle anderen Organe arbeiten einwandfrei.«

»Auch ihr Gehirn?«, fragte Oliver so leise, dass Daniel ihn kaum verstehen konnte.

»Das EEG ist unauffällig, und die neurologischen Testungen sehen gut aus. Ansonsten können wir zum Zustand des Gehirns nicht viel sagen. Trotz modernster Technik, wie MRT und CT, ist es das Organ, das uns die meisten Rätsel aufgibt, selbst im gesunden Zustand. Jedoch dürfen wir bei ihm auch am ehesten mit Wundern rechnen.«

Daniel lächelte Oliver aufmunternd an, doch der beachtete ihn gar nicht. Seine Augen waren starr auf Anitas Hand gerichtet, die er noch immer in seiner hielt. »Sie hat sich bewegt«, flüsterte er. »Sie hat sich gerade bewegt.«

Daniel hatte erst Zweifel. Manchmal konnte ein Wunsch so stark sein, dass einem die eigenen Augen einen Streich spielten und Dinge sehen ließen, die es nicht gab. Doch manche Wünsche erfüllen sich. Denn nun sah es auch Daniel: Anita Weber bewegte ihre Hand und schlug kurz darauf die Augen auf.

»Oliver«, hauchte sie mit schwacher Stimme.

»Ich bin hier, mein Liebling. Ich bin hier.« Oliver weinte und lachte gleichzeitig. Noch konnte er nicht begreifen, dass die Zeit des Bangens endlich vorbei war. Aufgelöst sah er Daniel an. »Bitte, Dr. Norden! Sehen Sie doch! Sie ist wach! Anita ist wach!«

»Ich sehe es, Herr Friedmann. Ich sehe dieses Wunder«, erwiderte Daniel leise lachend. Er war aufgesprungen und an das Kopfende des Bettes geeilt. Es fiel ihm nicht leicht, die eigene Rührung aus seiner Stimme herauszuhalten. »Hallo, Frau Weber. Es ist schön, dass Sie wieder unter uns weilen.«

Anita erholte sich erstaunlich schnell. Die Blutung war gestoppt, die Schwellung im Gehirn hatte sich zurückgebildet. Sie hatte keine Kopfschmerzen mehr und keine Probleme mit ihrer Sehkraft. Alles war so, wie es sein sollte. Fast alles. Denn an das, was in den letzten Tagen geschehen war, hatte sie keine Erinnerung mehr. Sie wusste nichts von ihrer angeblichen Liebe zu Dr. Ganschow, ihrem Streit mit Oliver und dem Besuch in Ninas Praxis. Und wenn es nach Oliver ginge, würde sich daran nichts ändern.

»Es ist doch gut, so wie es ist«, sagte er zu Fee und Daniel. »Warum sollen wir sie mit Dingen belasten, die keine Rolle mehr spielen? Wir würden sie damit nur unnötig aufregen. Wenn niemand mehr davon spricht, ist es doch fast so, als wäre es nie geschehen.«

»Aber eben nur fast, Herr Friedmann.« Daniel war überhaupt nicht begeistert von dem, was Oliver vorschlug. »Ich meine, sie hat das Recht, auch von dem Teil ihres Lebens zu erfahren, an den sie sich nicht mehr erinnern kann.«

»Nur weil sie sich nicht bewusst daran erinnern kann, sind diese Ereignisse dennoch irgendwo in ihrem Kopf abgespeichert«, gab auch Fee zu bedenken. »Es besteht die Gefahr, dass die Erinnerung unbewusst immer wieder durchkommt. Vielleicht in Form von Albträumen oder Flashbacks.«

»Flashbacks?«, fragte Oliver nach.

Fee nickte. »Das bedeutet, dass ganz plötzlich Fetzen einer Erinnerung oder auch einer Gefühlsregung auftauchen. Anita würde diese Erfahrung dann noch einmal erleben, ohne dass sie in der Lage wäre, sie als Erinnerung zu erkennen. Stellen Sie sich nur vor, wie verwirrend und beunruhigend das sein muss.«

»Ich verstehe«, sagte Oliver bedrückt. »Dann werden wir es also tun. Wir werden es ihr erzählen.«

Fee legte ihre Hand auf Olivers und drückte sie leicht. »Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie schwer das für Sie ist. Aber es gibt keinen anderen Weg. Sie lieben sie doch. Deshalb sollte zwischen ihnen absolute Offenheit herrschen. Sie können es ihr nicht ein Leben lang verheimlichen.«

»Ich weiß, es ihr nur so …« Oliver holte tief Luft. »Im Moment ist alles so, wie es vorher war. Sie liebt mich, und für sie gibt es nur mich. Was ist, wenn sie sich dann wieder an ihre Liebe zu Dr. Ganschow erinnert? Ich würde sie ein zweites Mal verlieren.«

Fee konnte ihn da beruhigen. »Diese angebliche Liebe zu Dr. Ganschow wird nicht wieder hochkommen, weil sie nie existiert hat. Diese Gefühle waren nicht echt. Sie entsprangen nur einer Wahnvorstellung. Doch das, was Anita für Sie empfindet, ist wahrhaftig und wird bleiben.«

Fee sollte recht behalten. Behutsam, mit Fees Unterstützung als Psychiaterin, wurde Anita von Daniel Norden und Oliver über die vergangenen Ereignisse aufgeklärt. Äußerlich ruhig hörte Anita ihnen bis zum Schluss zu. Erst dann kamen die Tränen. »Es tut mir so leid. Es tut mir so entsetzlich leid«, sagte sie und sah dabei nur Oliver an.

Er küsste ihre Hand, die er die ganze Zeit über festgehalten hatte. »Pst, nicht weinen, mein Liebling. Nun ist doch alles gut. Wir lieben uns und sind zusammen. Nur das zählt.«

Fee und Daniel zogen sich zurück, um die beiden Liebenden allein zu lassen. Sie wussten, sie wurden nun nicht mehr gebraucht. Als sie draußen auf dem Flur standen, fragte Daniel: »Was meinst du, Feelein, werden sie es hinbekommen?«

»Ja, Dan. Du hast sie doch eben gesehen. Ich bin davon überzeugt, dass das, was geschehen ist, sie noch enger zusammenschweißen wird.«

Daniel nahm sie in seine Arme und störte sich nicht an den amüsierten Blicken der Schwestern und Pfleger. »Ja, das denke ich auch. Bei uns wäre es ja nicht anders.« Er küsste sie sanft auf die Nasenspitze. »Allerdings würde es bei uns nie so weit kommen wie bei den beiden.«

»Weil wir als Ärzte unfehlbar sind?«, spöttelte Fee grinsend.

Daniel küsste sie gleich noch mal. »Nein, weil ich dir eh nicht glauben würde, solltest du je behaupten, dass du mich nicht mehr liebst.«

Fee lachte. »Du denkst also, ich bin dir hoffnungslos verfallen, sodass selbst ein Schlag auf dem Kopf daran nichts ändern könnte.«

»Etwa nicht?«, fragte Daniel in gespielter Entrüstung.

»Keine Angst, mein Schatz. Wie könnte ich je vergessen, wie sehr ich dich liebe?«

Fees Frage war nicht ernst gemeint. Als Ärztin wusste sie natürlich, dass eine Verletzung des Gehirns vieles ändern konnte. Für Anita war es jedoch sehr schwer, das zu begreifen. Während Fee und Daniel wieder ihrer Arbeit nachgingen, kämpfte sie noch immer mit dem, was sie gerade erfahren hatte.

»Aber ich liebe dich doch so sehr«, sagte sie wieder in tiefer Verzweiflung. »Wie konnte ich dir nur so etwas antun?«

»Liebling, du weißt doch, was die Ärzte gesagt haben. Du konntest nichts dafür.«

Anita schüttelte den Kopf, als hätte sie ihn gar nicht gehört. »Wie konnte ich auch nur eine Sekunde lang annehmen, dass ich dich nicht mehr lieben würde? In meinem Herzen gibt es keinen Platz für einen anderen Mann. Da bist immer nur du. Bitte, verzeih mir …«

»Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen musst.« Er küsste zärtlich ihre Lippen. Er war erleichtert, dass Anitas Liebe zu diesem Arzt verschwunden blieb, obwohl sie nun alles wusste. Doch es gab noch mehr, was ihn quälte und worüber er mit ihr reden musste.

»Eigentlich bin ich derjenige, der hier Abbitte leisten muss«, sagte er sehr ernst. »Wenn ich besser auf dich aufgepasst hätte, wäre das nie passiert.« Er griff in seine Jackentasche und holte Anitas Verlobungsring heraus. »Und ich hätte den hier nie an mich nehmen dürfen.«

»Ich hatte mich schon gefragt, wo er geblieben ist«, sagte Anita leise.

»Bitte, Anita, mein Liebling, nimm den Ring zurück und werde meine Frau. Lass uns neu beginnen und all das Schreckliche der letzten Tage einfach vergessen.«

Lächelnd hielt sie ihm ihre Hand hin, damit Oliver den Ring anstecken konnte. Als er sich zu ihr hinunter beugte, um sie zu küssen, sagte sie zärtlich: »Das habe ich doch schon längst. Ich erinnere mich nur an dich.«

Chefarzt Dr. Norden Staffel 7 – Arztroman

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