Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Staffel 7 – Arztroman - Helen Perkins - Страница 8
ОглавлениеDr. Felicitas Norden, die Leiterin der Kinderabteilung, hatte es eilig. So eilig, dass sie sich kaum die Zeit nahm, mit der Mutter eines Patienten zu schwatzen, und den Kaffee ausschlug, den ihr Schwester Gitta anbot. Selbst für ihren Mann Daniel, den Chefarzt der Behnisch-Klinik, hatte sie nicht mehr als ein paar Minuten übrig.
»In einer halben Stunde will ich mich mit Anneka treffen«, erklärte sie ihm, als er in ihr Büro kam. »Sie hat mich nach der Visite angerufen und meinte, sie habe Lust auf einen Nachmittag mit ihrer Mutter.«
Daniel setzte sich und sah seiner Frau dabei zu, wie sie ihre Sachen zusammenpackte und den Computer herunterfuhr. Nachdenklich zog er die Stirn kraus. »Das kommt ziemlich plötzlich, findest du nicht auch? Müssen wir uns Sorgen machen?«
»Das hängt davon ab, in welche Richtung deine Gedanken gehen«, erwiderte Fee und konnte trotz ihres Lächelns nicht verbergen, dass sie sich seit Annekas Anruf mit der gleichen Frage beschäftigte. »Anneka war immer die Vernünftige von unseren Kindern gewesen. Daher denke ich nicht, dass sie ernsthafte Probleme hat. Allerdings haben wir sie in den letzten Wochen kaum zu sehen bekommen. Sie hat ja nur noch gearbeitet. Im Moment bin ich deshalb einfach nur froh, dass sie einen ihrer seltenen freien Nachmittage mit ihrer Mutter verbringen will. Wenn ich heute Abend nach Hause komme, kann ich dir erzählen, ob die Sehnsucht nach mir der Grund für ihren Anruf war oder ob mehr dahintersteckt.«
»Wenn ich dich um ein spontanes Treffen bitte, wird es immer an meiner Sehnsucht zu dir liegen.«
Fee lachte. Sie ging zu ihrem Mann, um ihm einen Kuss zu geben. »Den hast du dir jetzt verdient, mein Schatz.«
»Ich habe nur die Wahrheit gesagt, Feelein«, gab Daniel schmunzelnd zurück. Er stand auf, als Fee zum Schrank ging, um ihre Handtasche herauszuholen.
»Bestell unserer Großen liebe Grüße von ihrem alten Herrn.« Sein Ton war weich und zeugte von der Liebe, die er für seine Tochter empfand. »Sag ihr, ich würde mich auch sehr freuen, sie bald mal wieder in meine Arme zu schließen. Und sollte sie unsere Hilfe brauchen – egal bei was –, soll sie sich nicht scheuen … «
»Dan, mein Liebling, meinst du nicht, dass sie das weiß?«, unterbrach ihn Fee. »Ich denke, dass dies zu den wichtigsten Dingen gehört, die wir unseren Kindern mitgegeben haben. Sie sind selbstständig genug, um sich ihren Problemen zu stellen, aber auch so vernünftig, den Rat ihrer Eltern einzuholen, wenn sie allein nicht weiterkommen.«
»Du glaubst also, dass es darum geht? Um einen Rat?«
»Das oder doch die Sehnsucht nach ihrer Mutter.«
Instinktiv wusste Fee, dass Annekas Motiv eine Mischung aus beidem war: Sie hatte Sehnsucht nach ihrer Mutter, weil sie für ein Problem, mit dem sie sich herumschlug, einen Rat brauchte. Dieses Wissen verdankte Fee nicht nur ihrem Bauchgefühl oder den mütterlichen Instinkten. Vielmehr lag es an der innigen Vertrautheit, die sie mit ihren fünf Kindern verband. Obwohl die drei Großen längst das elterliche Heim verlassen hatten, war die enge Herzensverbindung zu ihnen nie abgerissen. Trotz der räumlichen Trennung vermeinte Fee noch immer zu spüren, ob ihre Kinder ein Kummer plagte oder sie große Sorgen heimsuchten. Natürlich waren sie stark und gefestigt genug, um mit allen Widrigkeiten des Lebens allein fertigzuwerden. Dennoch nahmen sie den Trost oder Zuspruch ihrer Eltern immer noch gern an.
Während der kurzen Fahrt zu dem kleinen Café in der Innenstadt war Fee mit ihren Gedanken bei Anneka. Sie hatte am Telefon fröhlich und vergnügt geklungen. Für Fees Geschmack eine Spur zu vergnügt, beinahe so, als wollte sie damit andere, nicht so schöne Gefühle überspielen. Und als Fee das Café betrat und Anneka an einem Fenstertisch im hinteren Teil des Raums entdeckte, wusste sie mit absoluter Sicherheit, dass ihr Töchterchen alles andere als fröhlich und vergnügt war. Sie sah erschöpft aus, unter ihren Augen waren dunkle Schatten zu sehen, und die helle Haut wirkte trotz der sommerlichen Bräune blass. Das lange, blonde Haar hatte sie nachlässig zu einem locker sitzenden Zopf zusammengebunden. Als sie aufsah und ihre Mutter entdeckte, lächelte sie. Dieses Lächeln verriet mehr, als Anneka bewusst war. Es drückte nicht nur die ehrliche Freude über das Wiedersehen mit ihrer Mutter aus, sondern auch Erleichterung und die Hoffnung, dass nun alles wieder gut würde.
Fee hielt ihre Tochter bei der Begrüßung länger als üblich in ihren Armen. Dass dies genau das war, was Anneka brauchte, merkte sie, als Anneka ihren Kopf anlehnte und ihrem Mund ein wehmütiger Seufzer entwich. Im selben Moment zuckte sie wie ertappt zurück und setzte sich schnell wieder auf ihren Platz. Sie war noch nicht so weit, um über das, was sie bedrückte, zu sprechen. Stattdessen fragte sie ihre Mutter nach den Geschwistern aus, wollte wissen, wie es in der Klinik lief, und stöhnte wegen der unerträglichen Julihitze.
Erst nach dem Essen sprach sie über das, was sie quälte.
»Danke, dass du kommen konntest, Mama. Ich weiß, dass mein Anruf ziemlich kurzfristig kam.«
»Und längst überfällig«, merkte Fee an, ohne vorwurfsvoll zu klingen.
»Hm, du weißt ja … mein Dienstplan …« Anneka atmete geräuschvoll aus, und Fee ahnte, dass die Zeit des lockeren Smalltalks vorüber war.
»Mein Dienstplan ändert sich eigentlich ständig«, sprach Anneka weiter. »Freie Tage wurden immer wieder ersatzlos gestrichen. Dann noch diese kurzen Dienstwechsel, zwischen denen mir noch nicht mal genügend Zeit zum Ausruhen oder Schlafen blieb.«
»Das geht schon seit Monaten so«, sagte Fee besorgt. »Mir scheint, als hättest du überhaupt kein Privatleben mehr.«
Anneka Norden widersprach nicht. Ihr kam es doch selbst so vor, als würde sie nur noch leben, um jeden Tag zur Arbeit zu gehen.
Fee langte über den Tisch und strich ihrer Tochter sanft über die Wange. »Du siehst müde aus, meine Kleine«, sagte sie behutsam. »Du weißt, dass das nicht ewig so weitergehen kann.«
»Das wird es auch nicht. Es ist vorbei.« Anneka sprach so leise, dass Fee Mühe hatte, sie zu verstehen. Als sie es dann tat, sah sie überrascht auf.
»Vorbei? Was meinst du damit?«
»Ich … ich habe heute meine Kündigung abgegeben. Ich habe einfach alles hingeschmissen«, berichtete Anneka stockend. Als ihre Mutter zu einer Erwiderung ansetzte, hob Anneka die Hand, um sie aufzuhalten. »Nicht, Mama, bitte … Lass mich erst aussprechen. Ich weiß doch selbst, wie verrückt sich das anhört.«
Annekas Stimme brach, und sie blinzelte schnell die Tränen fort, die ihr auf einmal in die Augen schossen. Fee setzte sich zu ihrer Tochter auf die Bank, um sie in ihre Arme zu nehmen. Sie sagte nichts, sondern wartete ruhig ab, bis Anneka weitersprach.
»Heute ist mein erster freier Tag, nachdem ich sechsundzwanzig Tage durchgearbeitet habe.« Unwillig wischte sich Anneka über die tränennasse Wange. »Sechsundzwanzig arbeitsreiche Tage, die kein Ende nahmen. Als ich gestern Abend meinen letzten Dienst beendete, hätte ich vor Freude weinen können. Ich kam heim und war einfach nur glücklich. Und dann fiel mir ein, dass mir nur ein einziger freier Tag vergönnt war, und plötzlich konnte ich mich gar nicht mehr darauf freuen. Ich musste immer nur daran denken, dass danach alles von vorn beginnen würde. Endlose Dienste und Überstunden, freie Tage, die immer wieder gestrichen werden, und ein Arbeitsklima, bei dem ich mich schon lange nicht mehr wohlfühle.«
Als Fee dazu nur wissend nickte und ihr sanft über die Haare strich, sprudelte alles aus Anneka heraus. Sie erzählte, wie frustriert, erschöpft und desillusioniert sie seit Monaten war und wie sehr sie darunter litt, dass sich ihre Freunde von ihr zurückzogen, weil sie keine Zeit für sie hatte und ständig Verabredungen absagte. Selbst ihre letzte Beziehung war daran zerbrochen.
»In den vergangenen Monaten hat sich so viel angestaut«, versuchte Anneka, ihre aufgewühlten Gefühle zu erklären. »Ich konnte gestern Abend nicht einschlafen, obwohl ich todmüde war. Mir ging immer wieder alles durch den Kopf, und ich konnte nicht aufhören zu grübeln. Irgendwann bin ich dann aufgestanden und habe meine Kündigung geschrieben. Das erschien mir so richtig. Ich wollte nicht mehr so weitermachen wie bisher. Als ich dann meine Unterschrift unter dieses Schreiben gesetzt hatte, war ich erleichtert. Es ging mir gleich viel besser, und ich konnte endlich einschlafen. Und heute früh …« Sie holte tief Luft. »Heute früh bin ich ins Wohnheim gefahren und habe meiner Chefin die Kündigung gegeben.«
In banger Erwartung sah Anneka auf. Die Meinung ihrer Mutter war ihr immer wichtig gewesen. Wie würde sie darauf reagieren? Würde sie ihr vorwerfen, zu schnell aufgegeben zu haben? Immerhin hatte sie einen sicheren Job einfach so weggeworfen.
»Sehr gut«, sagte Fee lächelnd.
»Sehr gut?« Anneka lehnte sich zurück und sah ihre Mutter verblüfft an. »Du meinst also nicht, dass meine Entscheidung unüberlegt und vorschnell war?«
»Unüberlegt und vorschnell?« Trotz Annekas trüber Stimmung entwich Fee ein leises Lachen. »Diese Attribute passen nun wirklich nicht zu dir, mein Liebling. Du warst schon als ganz kleines Mädchen sehr vernünftig und extrem ausdauernd. Dass du nun endlich einen Schlussstrich gezogen hast, zeigt mir, dass du an deine Grenzen gekommen bist. Du hast es wirklich lange genug probiert. Für meinen Geschmack viel zu lange.«
Als sie sich dafür einen skeptischen Blick ihrer Tochter einfing, fuhr Fee eindringlicher fort: »Es wäre nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis deine Gesundheit ernsthaften Schaden genommen hätte. Als Ärztin weiß ich genau, wovon ich rede. In der Klinik treffen wir immer wieder auf Patienten, die sich für ihre Arbeit aufopfern und schließlich bei uns in der Notaufnahme landen. Du hast das Richtige getan, Liebling. Bitte zweifle nicht daran, sondern freue dich auf all das Neue und Aufregende, das dich nun erwartet.«
»Was immer das auch sein mag«, schniefte Anneka leise.
»Das Richtige«, erwiderte Fee lächelnd. »Vertrau darauf. Die Arbeit in dem Wohnheim war einfach nicht das Passende für dich gewesen. Ergreif jetzt die Chance, noch einmal neu durchzustarten. Du bist jung, hast erst im letzten Jahr dein Studium abgeschlossen. Da kannst du noch gar nicht wissen, welcher Job am besten zu dir passt. Es kann dauern, bis du das Richtige für dich gefunden hast.«
»Ja, mag sein. Aber ich verstehe es trotzdem nicht. Mir hat es doch anfangs so viel Spaß gemacht. Ich hatte es wirklich als meine Bestimmung angesehen, Menschen mit geistigen Behinderungen zur Seite zu stehen.« Anneka seufzte auf. »Ich wollte für sie da sein und ihnen den Alltag im Wohnheim verschönern. Aber wie soll das funktionieren, wenn ich die Freude an meiner Arbeit verloren habe?«
»Das kann nicht funktionieren. Nur wer seine Arbeit liebt und mit Herzblut dabei ist, macht seinen Job gut. Und mit weniger wirst du dich nie zufriedengeben. Du hattest schon immer den Ehrgeiz gehabt, bei allem, was du tust, dein Bestes zu geben. Glaub mir, Liebes, die Kündigung war die richtige Entscheidung. Es gibt schon genug Menschen auf dieser Welt, die bis zur Selbstaufgabe ausharren, um dann völlig frustriert und todunglücklich in einer schweren Depression zu landen.«
Anneka nickte zwar, aber die Zweifel, die sich in ihr festgesetzt hatten, ließen sie noch nicht los. Für Fee war es ein Leichtes, das aus dem Gesicht ihrer Tochter herauszulesen.
»Versuch, dich auf die Dinge zu konzentrieren, die nun vor dir liegen, und verweile nicht zu lange in der Vergangenheit. Schmiede Pläne und denk in Ruhe darüber nach, wie es nun für dich weitergehen soll. Überstürze dabei nichts. Es wäre sicher keine gute Idee, wenn du dich unter Druck setzt und dadurch in die nächste unbefriedigende Situation hineinschlitterst.«
»Nach meinem Abschluss damals war ich einfach nur froh, so schnell eine Anstellung gefunden zu haben. Der Gedanke, dass die Arbeitsbedingungen so mies sein könnten, ist mir gar nicht gekommen. Das wird mir hoffentlich kein zweites Mal passieren.«
»Deshalb solltest du dir diesmal ruhig etwas Zeit lassen. Wir greifen dir gern auch finanziell unter die Arme, sodass du nichts überstürzen musst, nur weil du Angst hast, deine Miete nicht mehr zahlen zu können.«
»Danke, Mama, aber das wird nicht nötig sein. In den nächsten zwei Monaten bekomme ich mein volles Gehalt noch weitergezahlt. Immerhin haben sich bei mir fast dreihundert Überstunden angehäuft, und meinen vollen Urlaub werde ich auch noch bekommen. Außerdem habe ich mir genug zusammengespart, um eine Weile auszukommen. Ich habe also Zeit, mich umzusehen oder etwas Neues auszuprobieren.«
Fee hatte plötzlich eine Idee. »Hast du schon mal darüber nachgedacht, in einer Klinik als Sozialarbeiterin zu arbeiten?«
Anneka schüttelte den Kopf. »Nein. Das hört sich für mich nach sehr viel Schreibtischarbeit an. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir das gefallen würde. Mir würde die Arbeit mit Menschen fehlen.«
Um Fees Mund zuckte es belustigt auf. »In der Behnisch-Klinik haben wir im Moment drei Damen, die im Sozialen Dienst tätig sind. Glaub mir, an ihren Schreibtischen sind sie nicht oft anzutreffen. Aber vielleicht solltest du dir selbst ein Bild davon machen. Komm für eine Woche in die Behnisch-Klinik und sieh einfach, ob dir die Arbeit gefallen könnte.«
Auch wenn Anneka sich nicht viel davon versprach, war ihre Neugier nun geweckt. »Meinst du, das wäre möglich?«
»Ich spreche mit deinem Vater. Das letzte Wort in dieser Angelegenheit hat er. Aber ich denke nicht, dass er irgendwelche Einwände haben könnte. Ganz im Gegenteil. Er wird froh sein, dich in seiner Nähe zu wissen. Und sei es auch nur für eine kurze Zeit.«
*
Karin Giese, die Leiterin des Sozialdienstes der Behnisch-Klinik, rückte nervös ihre Brille zurecht. Sie war sich nicht sicher, was sie von dem, was ihr der Chefarzt gerade erzählt hatte, halten sollte.
»Ihre Tochter?«, fragte sie und räusperte sich, weil ihre Stimme auf einmal so piepsig klang. »Ihre Tochter will hier, bei mir, ein Praktikum machen?«
»Ja, Frau Giese, für eine Woche. Ich hoffe dabei sehr auf Ihre Unterstützung.« Daniel musterte die mollige Sechzigjährige mit der adretten Föhnfrisur. Er hatte nicht erwartet, mit seinem Anliegen einen Hurrikan an Begeisterungsstürmen hervorzurufen, aber dass die sonst so zuvorkommende und hilfsbereite Karin Giese so deutlich ihr Unbehagen zeigte, irritierte ihn nun doch. »Das ist ein persönlicher Gefallen, um den ich Sie bitte und den Sie natürlich auch ablehnen können. Falls es Ihnen also nicht recht sein sollte …«
»Doch!«, unterbrach ihn Karin hastig. Ganz egal, was sie wirklich davon hielt, auf gar keinen Fall wollte sie den Chefarzt brüskieren, indem sie ihm seinen Wunsch abschlug. Also würde sie in den sauren Apfel beißen und einfach so tun, als hätte sie nichts dagegen, dass ihr die Tochter des Chefs ständig auf die Finger sah – und vielleicht sogar an ihrem Stuhl sägte.
»Natürlich ist es mir recht, Dr. Norden. Es kam nur ein bisschen überraschend. Ich habe nichts dagegen, wenn mich Ihre Tochter eine Woche lang begleitet. Warum sollte ich auch? Da ist ja schließlich nichts dabei.«
Daniel stand lächelnd auf und reichte seiner Mitarbeiterin die Hand. »Vielen Dank, Frau Giese. Ich wusste doch, ich kann mich auf Sie verlassen. Es bedeutet mir sehr viel, dass meine Tochter ausgerechnet Ihnen über die Schulter sehen darf. Niemand versteht so viel vom Fach wie Sie.«
Daniels ehrlich gemeintes Kompliment tauchte Karins Wangen in einen dunklen Rotton und zauberte ein Lächeln, das aus einer Mischung aus Verlegenheit und Stolz bestand, in ihr rundes Gesicht.
»Mit der Verwaltung habe ich schon alles abgesprochen«, sagte Daniel, bereits an der Tür stehend. »Sie ist mit diesem Praktikum einverstanden, vor allem, weil es ein unentgeltliches ist. Der Klinik entstehen also keine Kosten. Meine Tochter möchte einfach nur einen kleinen Einblick in die Arbeit des Sozialdienstes bekommen. Wer weiß, vielleicht gefällt es ihr ja, und sie kann sich vorstellen, in ihre Fußstapfen zu treten, Frau Giese.«
»In meine? Hier in der Behnisch-Klinik?«, entschlüpfte es Karin entsetzt, bevor sie es verhindern konnte.
Plötzlich verstand Daniel, was in ihr vorging und warum sie so beunruhigt aussah. Karin Giese quälte der völlig abwegige Gedanke, dass sie gegen eine Jüngere ausgetauscht werden sollte. Sie bangte um ihren Job, obwohl es dafür überhaupt keinen Grund gab. Jeder Mitarbeiter der Behnisch-Klinik war froh, dass es diese fähige und sympathische Frau gab, die sich der Nöte und Ängste der Patienten annahm und alles tat, um ihnen das Leben zu erleichtern. Niemand würde Karin je ersetzen können, und Daniel sah dem Zeitpunkt ihres Ruhestands schon jetzt sorgenvoll entgegen.
»Nein, nicht in der Behnisch-Klinik.« Er zwinkerte ihr betont lässig zu. »Soviel ich weiß, gibt es hier keine freie Stelle. Wenn dieses kleine Praktikum Annekas Leidenschaft für den Sozialen Dienst wecken sollte, schaut sie sich vielleicht in einer anderen Klinik nach einer passenden Arbeitsstelle um.«
Daniel sah, dass Karin bei seinen Worten erleichtert aufatmete, und fuhr fort: »Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar, wenn Sie Anneka unter Ihre Fittiche nehmen würden. Zeigen Sie ihr bitte alles, was sie wissen muss und …« Er lächelte sie um Verständnis bittend an. »Und wenn’s geht, vergessen Sie einfach, dass sie meine Tochter ist. Behandeln Sie sie nicht anders oder zuvorkommender, nur weil ihr Nachname Norden ist. In der nächsten Woche ist Anneka nicht die Tochter des Chefarztes, sondern eine Praktikantin wie alle anderen, mit denen Sie es bisher zu tun hatten.«
Auch wenn Karin Giese ihm das zusicherte, glaubte Daniel nicht so recht daran, dass es ihr gelingen würde, seiner Bitte nachzukommen. Und nicht nur sie würde damit Schwierigkeiten haben.
Als Praktikantin im Sozialen Dienst wäre Anneka im ganzen Haus unterwegs. Sicher würde es Gerede geben, und wilde Spekulationen würden ihre Runde machen. Auf dem Weg in sein Büro überlegte Daniel, wie er dem vorbeugen könnte. Vielleicht sollte er auf der morgigen Dienstberatung das Thema ansprechen. Wenn seine Oberärzte Bescheid wüssten, könnten sie ihre Abteilungen auf Anneka vorbereiten und offen über den Grund ihres Hierseins sprechen.
Daniel dachte darüber nach, ob Annekas Anwesenheit zu viel Unruhe in die Klinik bringen würde, als er hinter sich eine vertraute Stimme hörte: »Du musst mit deinen Gedanken ja ziemlich weit weg sein, wenn du mich noch nicht mal siehst und einfach so an mir vorbeiläufst.«
Daniel stoppte und drehte sich um. Lächelnd begrüßte er seinen alten Freund Dr. Fred Steinbach, der als Rettungsarzt seinen Dienst versah.
»Tut mir leid, Fred. Ich war mit meinen Gedanken wirklich ganz woanders. Es ist schön, dich noch mal zu sehen, bevor du deinen Urlaub antrittst.«
»Ja, heute ist mein letzter Arbeitstag. Loni hat schon unsere Sachen gepackt, und gleich morgen nach dem Frühstück brechen wir auf. Ich kann es kaum noch abwarten und bin froh, dass es endlich losgeht. Ich glaube, so nötig wie diesmal hatte ich den Urlaub noch nie.«
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Daniel sofort besorgt nach. Es lag nicht nur an Freds Bemerkung, dass er beunruhigt war. In der letzten Zeit hatte Daniel öfter den Eindruck gehabt, dass Fred zu viel arbeitete und sich zu wenig schonte. Dieses Pensum hielt kein Körper ewig durch. Schon gar nicht, wenn er – so wie Freds – nicht mehr der jüngste war und sich mit diversen Zipperlein herumschlagen musste.
»Natürlich ist alles in Ordnung. Du machst dir mal wieder grundlos Sorgen. Nur dass ich urlaubsreif bin, heißt doch noch lange nicht, dass ich Probleme habe.«
»Wir werden alle nicht jünger, Fred. Es wäre fatal zu glauben, dass man so leistungsstark wie früher ist oder gar mit einem Zwanzigjährigen mithalten könnte.«
Fred runzelte die Stirn und schüttelte missmutig den Kopf. »Bei dir klingt es gerade so, als würde ich schon zum alten Eisen gehören. Seit ich meinen Sechzigsten gefeiert habe, erwartest du wohl, dass ich nur noch zu Hause im Schaukelstuhl sitze und meiner Loni beim Stricken zusehe.«
»Jetzt übertreibst du aber«, erwiderte Daniel grinsend. Er wollte seinen guten Freund nicht verletzen, aber das, was er gesagt hatte, war sein voller Ernst gewesen. Fred mutete sich zu viel zu, weil er nicht einsehen wollte, dass das Alter bei allen Menschen seinen Tribut forderte.
Natürlich wäre es übertrieben, Fred als alten Mann zu bezeichnen. Nichts an Fred wirkte betagt oder gar greisenhaft. Seine sechzig Jahre sah ihm niemand an. Das kurzgeschnittene, braune Haar, in dem es viele silberne Strähnen gab, war noch immer voll und dicht. In seinem alterslosen Gesicht tummelten sich nur ein paar harmlose Fältchen um die klaren, warmherzigen Augen. Sie ließen ihn nicht alt erscheinen, sondern bewiesen, dass er gern und häufig lachte und Freude an seinem Leben hatte.
Daniel mochte Fred und dessen Frau Leonie, die alle nur Loni nannten. Obwohl sie älter waren als er und Fee, hatten sich die beiden Paare schon immer bestens verstanden. Seit vielen Jahren waren sie nun befreundet und hatten in dieser Zeit einige Höhen und Tiefen zusammen gemeistert.
»Fahrt ihr wieder raus zu eurem Haus am See?«, fragte Daniel. Loni und Fred besaßen ein Ferienhaus im Bayerischen Wald. So oft es ihnen möglich war, verbrachten sie dort ihre freien Tage. Früher waren Fee und Daniel oft bei ihnen zu Gast gewesen.
»Natürlich fahren wir raus!« Fred kam sogleich ins Schwärmen. »Dieser Ort ist für uns die perfekte Idylle und das Richtige, um runterzukommen und den Stress loszulassen. Du weißt, dass wir nirgends lieber sind. Wenn wir morgen ankommen, beginnen drei wunderbare Wochen ohne Fernseher, Verkehrslärm und Handyempfang. Glaub mir, der Bayerwald ist der beste Ort, um zu entspannen und neue Kräfte zu tanken.« Fred sah seinen Freund abschätzend an. »Das würde dir auch gut bekommen. Du hast es selbst gesagt, wir werden alle nicht jünger.«
Daniel lachte nur über Freds kleinen Seitenhieb. »Touché, mein Lieber. Habe ich dich so schwer getroffen, dass du es mir nun mit gleicher Münze heimzahlen musst?«
Fred winkte lächelnd ab. »Natürlich nicht. Betrachte meine Bemerkung einfach als unglücklich formulierte Einladung an dich und Fee. Loni und ich haben uns gestern Abend darüber unterhalten. Wir fänden es wirklich schön, wenn wir mal wieder etwas Zeit mit unseren Freunden verbringen könnten.«
»Nun ja, vielleicht kommen wir euch tatsächlich mal für einen Tag besuchen …«
»Ein Tag?«, schnaubte Fred entrüstet. »Mach ein verlängertes Wochenende draus, dann werden wir uns einig. Bei der langen Anfahrt lohnt es sich nicht, nur für einen Tag vorbeizukommen. Diesen Stress wollt ihr euch ganz sicher nicht antun. Vier oder besser fünf Tage wären das Minimum.«
»Vier oder fünf Tage frei?« Daniel klang wehmutsvoll. »Das klingt verlockend, sogar äußerst verlockend, aber leider …«
»Aber leider?« Fred sah Daniel mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Was ist es diesmal? Keine Zeit? Andere Pläne? Eine Klinik, die ohne ihren Chefarzt im Chaos versinken würde?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte Daniel seufzend. »Aber im Moment ist es wirklich schlecht. Wir sind mitten in der Urlaubszeit. Franz Niedermayer hat mich sonst immer vertreten, aber der ist selbst im Urlaub. Außerdem wird er in wenigen Wochen ohnehin die Klinik verlassen, um an der Uni zu lehren.«
»Und du hast niemanden, der sich in deiner Abwesenheit um die Behnisch-Klinik kümmern könnte?«, fragte Fred ungläubig. »Noch nicht mal für ein paar Tage?«
»Im Moment sieht es wirklich schlecht aus.«
»Was wäre, wenn du plötzlich, von heute auf morgen, ausfallen würdest? Irgendjemand müsste dann doch auch für dich einspringen können.«
»Nun ja …« Nervös fuhr sich Daniel mit einer Hand durch die Haare. Es gefiel ihm gar nicht, dass er darauf keine gute Antwort hatte. Die Sache mit der Vertretung war ein heikler Punkt in seinem Leben. Er hatte es immer verschoben, sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen. Mit dem Ausscheiden von Franz Niedermayer rächte sich das jetzt. Außer Franz schien einfach niemand geeignet oder gewillt zu sein, diese schwere Aufgabe zu übernehmen. Nicht jeder fühlte sich dazu berufen, die Geschicke einer Klinik zu leiten. Und sei es auch nur für ein paar Tage.
»Irgendwie würde es im allergrößten Notfall schon weitergehen«, sagte Daniel schließlich. »Du weißt ja, letztendlich ist jeder ersetzbar.«
»Vielleicht wird’s mal Zeit, den Notfall zu proben. So kämst du zu deinem Urlaub und wüsstest zudem hinterher, ob es auch mal ohne dich geht.«
Daniel runzelte missbilligend die Stirn. »Die Behnisch-Klink als Versuchslabor?«
»Natürlich nicht«, seufzte Fred leicht genervt auf. »Warum sperrst du dich so gegen diese kurze Reise? Im letzten Monat warst du doch auch für ein paar Tage in Mannheim auf einem Kongress. Soviel ich weiß, hat die Klinik das unbeschadet überstanden. Mensch, Daniel, mein Freund! Du hast einen Urlaub genauso nötig wie ich. Es muss doch möglich sein, dem Klinikalltag wenigstens für kurze Zeit den Rücken zu kehren.«
»Ich weiß nicht so recht«, erwiderte Daniel, schien sich aber immer mehr mit der Idee, einen kleinen Kurzurlaub einzulegen, anzufreunden. »Wenn wenigstens der Handyempfang am See nicht so schlecht wäre. Ich würde mich wohler fühlen, wenn ich in dringenden Fällen telefonisch zu erreichen wäre. Fee sieht das sicher auch so.«
Leise lachend schüttelte Fred den Kopf. »Schieb jetzt bloß nicht Fee vor. Sie steht auf meiner Seite und freut sich über die Einladung.«
»Ihr habt schon darüber gesprochen? Hinter meinem Rücken?«, wollte Daniel verblüfft wissen.
»Ich hatte Fee vorhin getroffen. Als ich ihr vom Urlaub erzählte, hat sie mich so sehnsuchtsvoll angesehen, dass ich mich nicht zurückhalten konnte. Fee war begeistert und wollte heute Abend mit dir darüber reden. Ich bin ihr nur zuvorkommen.«
»Fee hat sehnsuchtsvoll ausgesehen?«
Fred unterdrückte ein Lächeln. Fee war schon immer Daniels Achillessehne gewesen. Sie bedeutete ihm alles, und sie war ihm wichtiger als die Behnisch-Klinik. Wenn Fee Sehnsucht nach dem Haus am See hatte, würde Daniel es ganz sicher irgendwie schaffen, mit ihr dorthin zu fahren.
Fred strich über Daniels Oberarm. »Sprecht das durch! Wir würden uns jedenfalls sehr freuen, euch zu sehen. Und nun muss ich los, um mit meiner Arbeit fertigzuwerden. Sonst endet mein letzter Tag doch noch mit Überstunden.«
*
Als sich Fred von ihm verabschiedet hatte, ging Daniel in sein Büro. Seine Assistentin, Katja Baumann, saß nicht an ihrem Platz, und Daniel vermutete, dass sie in der Cafeteria war, um ihre Mittagspause zu machen.
Glücklich stellte er fest, dass der Kaffee in der Thermoskanne frisch und heiß war. Genauso liebte er ihn. Und als er auf seinem Schreibtisch einen kleinen Teller mit Schokoladenkeksen entdeckte, lächelte er, und er vergaß die Begegnung mit Fred für einen winzigen Augenblick. Der verführerische Duft nach leckerem Mürbeteig und Zartbitterschokolade stieg ihm sofort in die Nase. Ihm zu widerstehen, gelang Daniel nur sehr selten.
Manchmal zog er seine Assistentin mit ihrer Schwäche für das süße Gebäck auf. Und dabei hatte sie ihn längst infiziert. Auch er war inzwischen der Meinung, dass zu einer guten Tasse Kaffee unbedingt Katjas Schokokekse gehörten.
Mit seiner vollen Kaffeetasse setzte er sich an seinen Schreibtisch und biss genussvoll von einem Keks ab. Während die Schokolade in seinem Mund dahinschmolz und seine Geschmacksknospen zum Jubeln brachte, langte er entschlossen nach einem Notizblock und einem Stift. Er würde hier so lange sitzen bleiben, bis er eine akzeptable Lösung gefunden hatte, um mit seiner Fee diesen kleinen Urlaub zu machen. Sie würden Freds Einladung annehmen und sich vier erholsame und friedvolle Tage gönnen. In dieser Zeit musste die Behnisch-Klinik eben auch mal ohne ihren Chefarzt und die Leiterin der Pädiatrie auskommen.
Freds Bemerkung, dass Fee Sehnsucht nach einer kleinen Auszeit verspürte, ließ ihn nicht mehr los. Ihm war bewusst, dass Fee ihre eigenen Wünsche oft zurückstellte, weil die Behnisch-Klinik und Daniels Posten als Chefarzt das von ihr verlangten. Und manchmal fragte er sich, ob er seiner Frau damit zu viel zumutete.
Daniel liebte seine Arbeit als Chefarzt der Behnisch-Klinik. Aber seine Frau liebte er mehr. Wenn er sich zwischen ihr und der Klinik entscheiden müsste, wüsste er sofort, wen er wählen würde. Zum Glück verlangte das niemand von ihm. Aber genauso wenig durfte er von den Menschen, die seinem Herzen am nächsten standen, verlangen, seinetwegen auf die Erfüllung ihrer eigenen Träume und Wünsche zu verzichten.
Mit zwei Fingern massierte er sich die Schläfe, um den Druck, der sich dort aufbaute, zu mindern. Wenn er doch nur wüsste, wem er die Klinikleitung für die Zeit seiner Abwesenheit anvertrauen sollte …
Er starrte auf seinen Notizblock, auf dem er die Namen der verfügbaren Oberärzte in einer viel zu kurzen Liste zusammengefasst hatte. Seine Optionen waren erschreckend gering.
Franz Niedermayer fiel aus. Ebenso Dr. Schulz, der Leiter der Intensivmedizin und Anästhesie, der auch im Urlaub war. Dr. Schön wäre eine Option, wenn er nicht ausgerechnet an diesem Wochenende zu einer großen Familienfeier fahren wollte. Auch der Leiter der Gynäkologie, Dr. Josef Schwebke, kam nicht infrage. Als dienstältester Oberarzt hatte er schon bei anderen Gelegenheiten deutlich klargemacht, dass er sich diesen Stress nicht mehr antun würde. Schweren Herzens strich Daniel seinen Namen durch und auch den von Nils Heinrich, dem Leiter der Radiologie. Die Bürde, ihn zu vertreten, konnte ihm Daniel unmöglich aufhalsen. Der sanftmütige Nils wäre mit dieser Aufgabe völlig überfordert und würde sich bei aufkommenden Problemen sofort in seiner heißgeliebten Radiologie verbarrikadieren. So blieb nur noch ein Name übrig … Dr. Erik Berger, der Leiter der Notaufnahme.
»Das geht auf gar keinen Fall«, sagte Daniel in den leeren Raum hinein. »Nicht er! Niemals!« Er hatte bereits den Stift angesetzt, um auch ihn durchzustreichen, als er zögerte.
Was sprach eigentlich gegen Berger? Nun gut, er war ein notorischer Querulant, Unruhestifter und Griesgram. Niemand kam mit ihm aus. Wahrscheinlich würde er in den paar Tagen die ganze Klinik aufmischen und sämtliche Pflegekräfte und Ärzte an den Rand der Verzweiflung treiben. Allerdings war er auch ein gewissenhafter und vorbildlicher Arzt, der sich dem Wohl seiner Patienten mit Leidenschaft und Herzblut verschrieb. Zudem besaß er ein hervorragendes fachliches Wissen, mit dem er jedes medizinische Problem meisterte. Wären da bloß nicht seine soziale Inkompetenz und sein einzigartiges Talent, alle anderen gegen sich aufzubringen.
Daniel ließ seinen Blick durch das Büro schweifen. Er ließ ihn einige Sekunden auf den Buchrücken der dicken Medizinwälzer in dem eleganten Bücherschrank aus Walnussholz verweilen und dann hinüber zu der kleinen Sitzecke mit dem Tischchen gleiten, auf dem ein bunter Strauß Sommerblumen stand. Durch die geschlossene Tür drangen Geräusche zu ihm, die ihm sagten, dass Katja Baumann an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt war. Daniel lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände in seinem Nacken. Wie oft hatte er hier schon gesessen und schwierige oder unliebsame Entscheidungen getroffen? Entscheidungen, die nicht immer jedem gefielen, aber die das Beste waren, was die Situation und die Umstände zuließen. Oft genug waren es Kompromisse, die aber stets ihren Zweck erfüllten und seinen Ansprüchen genügten. Und je länger Daniel über sein derzeitiges Problem nachdachte, umso sicherer wurde er, dass auch Erik Berger ein Kompromiss war, mit dem er leben konnte. Und seine Mitarbeiter hoffentlich auch.
Nur für einen kurzen Moment flammte der Gedanke auf, alles beim Alten zu lassen und auf die Reise zu verzichten, aber sofort schob er ihn entschlossen beiseite. Sie hatten sich diesen Urlaub verdient. Und sofern Berger mitspielte, würde sie nichts davon abhalten können, Loni und Fred in ihrem Häuschen am See zu besuchen.
Daniel griff nach dem Telefonhörer und wählte die Nummer der Notaufnahme, bevor er es sich anders überlegen konnte. Nur Minuten später klopfte es kurz und entschlossen an seiner Bürotür, und Dr. Erik Berger trat ein.
Der hochgewachsene, sportliche Arzt warf Daniel einen misstrauischen Blick zu, bevor er sich hinsetzte. Wenn Erik zum Chef zitiert wurde, verhieß es nur selten etwas Gutes. Und auch diesmal rechnete er damit, dass ihm Daniel Norden einen Rüffel verpassen würde, weil sich mal wieder jemand über ihn beschwert hatte. Doch das, was er jetzt hörte, überraschte ihn so sehr, dass er nur entsetzt die Augen aufreißen konnte und seinen Chef sprachlos anstarrte.
Als er endlich wieder in der Lage war zu sprechen, polterte er los: »Soll das ein schlechter Scherz sein? Das können Sie unmöglich ernst meinen! Wenn Sie glauben, dass ich diesen Blödsinn mitmache, haben Sie sich aber geschnitten! Für nichts auf der Welt würde ich Ihren Posten auch nur für eine Sekunde übernehmen wollen! Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen? Was haben Sie sich bloß dabei gedacht?«
»Ja, das frage ich mich auch gerade«, murmelte Daniel. Lauter werdend sagte er: »Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Herr Berger. Sie sind nicht meine erste Wahl. Warum das so ist, wissen Sie genauso gut wie ich. Aber leider gibt es keine Alternative. Sie sind der Einzige, der es machen könnte.«
»Was ist mit Schwebke oder Schulz? Oder Nils Heinrich? Nein, Heinrich eher nicht. Aber die anderen …«
»… kommen leider auch nicht infrage. Glauben Sie mir, ich bin alle Möglichkeiten durchgegangen. Sie sind für meine Frau und mich die einzige Chance, ein paar Tage aus München rauszukommen und auszuspannen.«
Erik hatte die Arme vor seiner Brust verschränkt, starrte Daniel mürrisch an und schwieg. Daniel wertete das als gutes Zeichen. Da Berger noch nicht aus dem Zimmer gestürmt war, dachte er zumindest über seinen Vorschlag nach.
»Hören Sie, Herr Berger. Ich weiß, ich verlange viel von Ihnen. Aber ich würde es nicht machen, wenn ich nicht wüsste, dass Sie es schaffen können. Sie gehören zu den fähigsten Medizinern des Landes und sind jedem noch so kniffligen Fall gewachsen. Und die Chefarzt-Aufgaben, die Sie übernehmen müssten, hielten sich in Grenzen. Wahrscheinlich werden Sie noch nicht mal merken, dass ich weg bin. Katja Baumann weiß bestens Bescheid. Sie kann den Ablauf hier eigenständig managen und Sie nur mit den Dingen belästigen, die unaufschiebbar sind. Telefonanrufe wird sie nur in Katastrophenfällen zu Ihnen durchstellen. Der Posteingang kann liegenbleiben, bis ich zurück bin. Ich würde außerdem die Verwaltung instruieren, Sie nicht mit banalen Angelegenheiten zu behelligen. Die OP-Aufsicht drücke ich Frau Rohde aufs Auge. Als Chirurgin weiß sie dort am besten Bescheid. Sie wird sich dann auch um das OP-Programm der folgenden Woche kümmern.«
»Hm, das haben Sie ja schon gut durchgeplant«, sagte Berger, und Daniel hätte vor Freude und Erleichterung fast aufgelacht. Bergers Widerstand begann ganz offensichtlich zu bröckeln.
»Herr Berger, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass Sie das hinbekommen, hätte ich Sie nicht gefragt. Ich bin mir sicher, dass es keine Probleme geben wird, sofern Sie … nun … äh … sofern Sie sich einfach ein wenig zurückzuhalten und nicht den Chef raushängen lassen.«
»Als ob ich darauf scharf wäre!«, empörte sich Berger. Er wedelte mit der Hand, als wollte er Fliegen verscheuchen. »Ich bin doch froh, wenn mich alle in Ruhe lassen und mir nicht auf die Nerven fallen. Wenn die mir aus dem Weg gehen, mache ich es auch.«
»Heißt das nun, Sie sind einverstanden?«, fragte Daniel hoffnungsvoll.
»Mir bleibt ja wohl nichts anderes übrig«, knurrte Erik. »Ich lass mir doch nicht nachsagen, dass ich Ihnen und Ihrer Frau den Urlaub verdorben habe. Von mir aus fahren Sie los und genießen Sie Ihr Glück. Ich komme hier schon zurecht.«
»Davon bin ich überzeugt, Herr Berger. Vielen Dank!«
»Ja, ja, schon gut. Aber kommen Sie hinterher bloß nicht auf die Idee, sich zu beschweren, wenn nicht alles nach Ihren Wünschen verlaufen ist.«
Daniel sah Erik nach, als dieser nach seiner Ansage aufstand und das Büro verließ. Eigentlich hätte er über den Ausgang des Gesprächs glücklich sein müssen. Berger hatte tatsächlich zugestimmt, die Vertretung zu übernehmen. Dem kleinen Urlaub stand jetzt nichts mehr im Wege. Daniel sollte sich darauf freuen, heute Abend Fee mit dieser Nachricht zu überraschen. Stattdessen saß er hier nun und dachte über Bergers Worte nach. Wie hart konnte es die Behnisch-Klinik im schlimmsten Fall treffen, sollte Erik Berger hier alles vermasseln? Bevor ihm dazu eine Antwort einfiel, die ihm nicht gefallen würde, verbat er sich weitere Gedankengänge in diese Richtung. Es waren nur vier Tage. Was konnte da schon groß geschehen?
*
Es war noch nicht mal Mittag, und Anneka Norden fühlte sich schon jetzt müde und frustriert. Heute war ihr erster Tag in der Behnisch-Klinik, und sie bezweifelte allmählich, dass dieses Praktikum eine gute Idee war.
Sie störten weniger die verstohlenen Blicke, die sich die Mitarbeiter zuwarfen, wenn sie ihr, der Tochter des Klinikchefs, begegneten. Vielmehr war die Arbeit hier so langweilig, einschläfernd und stupide, dass es ihr kaum noch gelang, sich auf das, was Karin Giese sagte, zu konzentrieren.
»So, für heute haben wir alle Reha-Anträge ausgefüllt. Wir müssen sie jetzt nur noch von den zuständigen Ärzten unterschreiben lassen, bevor wir sie dann an die jeweiligen Kostenträger verschicken«, erklärte Karin gerade eifrig.
»Aha«, erwiderte Anneka und versuchte, ein herzhaftes Gähnen zu unterdrücken. Seit drei Stunden hatten sie nichts anderes getan, als Reha-Anträge auszufüllen. Zuvor hatte sie mit Karin Giese einen Rundgang durch die Behnisch-Klinik gemacht, bei dem sie den Schwestern und Ärzten vorgestellt wurde. Mit Patienten war Anneka bisher gar nicht in Kontakt gekommen, und sie glaubte kaum noch, dass es je passieren wird.
Noch konnte sie nicht sehen, dass dieses kleine Praktikum irgendeinen Nutzen für sie haben sollte. Für sie war es unvorstellbar, ihr Leben lang diese stupide Arbeit zu machen, die anscheinend aus nichts anderem als dem endlosen Ausfüllen von Anträgen und Berichtsbögen bestand. Aufs Schmerzlichste vermisste sie ihre Arbeit im Wohnheim, und vor allem vermisste sie ihre Schützlinge und die meisten ihrer alten Kollegen. In ihrem früheren Job hatte man sie gebraucht und gefordert. Oft bis an ihre Grenze und manchmal auch darüber hinaus. Ihre Arbeit war hart gewesen, aber sie hatte sich nie so sinnlos angefühlt wie das, was sie hier tat. Ein Bürojob wie dieser war einfach nichts für sie. Sie brauchte den Kontakt zu Menschen, die Gespräche, ein herzliches Lächeln oder eine Umarmung, wenn die Worte fehlten.
Für Anneka stand fest: Im Sozialen Dienst einer Klinik würde sie nur versauern. Sie würde eingehen wie eine Pflanze, der das Licht und der Sauerstoff entzogen wurden. Innerlich konnte sie nur den Kopf schütteln, wenn sie sah, wie fleißig und unermüdlich Karin Giese einen Antrag nach dem anderen bearbeitete. Stand ihr denn gar nicht der Sinn nach etwas, was erfüllender war?
»Haben Sie mir zugehört, Frau Norden?«, fragte Karin freundlich. »Sie wirkten so abwesend.«
»Nein! Ja … Entschuldigung, kann sein, dass ich mit meinen Gedanken gerade ganz woanders war. Tut mir wirklich leid. Ich wollte nicht unhöflich sein.«
»Ach, schon gut. Ich weiß ja selbst, wie langweilig dieser ganze Papierkram sein kann. Er ist leider unerlässlich. Sie kennen das ja sicher aus ihrer früheren Tätigkeit.«
»Ja, auch wir haben immer über diese umfangreiche Dokumentation geschimpft, weil sie uns so viel Zeit für andere Dinge nahm.«
»Das verstehe ich. Mir geht es oft nicht anders. Manchmal sitze ich am Schreibtisch, fülle irgendeinen mehrseitigen und schrecklich umständlichen Antrag aus und habe das Gefühl, dass ich jetzt eigentlich bei den Patienten sein sollte, um ihnen zuzuhören und zu helfen.«
Plötzlich sah Anneka die ältere Kollegin mit anderen Augen. Sie hatte sich in ihr getäuscht. Karin Giese war gar keine kleingeistige Bürokratin, der der gemütliche Schreibtischplatz wichtiger war als ihre Patienten. Karin Giese machte einfach nur das, was nötig war.
»Und dann fällt mir ein, für wen ich das hier tue«, fuhr Karin fort, »Das mag zwar langweilig sein, aber nicht sinnlos. Ohne diese vielen Schreibarbeiten könnte den Patienten nicht geholfen werden. Sie würden nicht in die Rehaklinik können, um wieder fit zu werden, und sie würden keine Hilfsmittel erhalten oder einen Pflegegrad. Stimmt, die Arbeit hier am Schreibtisch ist eintönig und nicht besonders spektakulär. Das sehe ich genauso. Aber um mich geht es nicht, sondern nur um denjenigen, dem dadurch viel Gutes widerfährt.«
Anneka nickte stumm. Es gab nichts, was sie dazu sagen konnte. Sie hatte sich vorschnell über Dinge, die sie nicht verstand, ein Urteil gebildet. Und sie hatte Karins Arbeit die Anerkennung, die ihr unweigerlich zustand, verweigert. Mit dem festen Vorsatz, dieses Praktikum ernster zu nehmen, verfolgte Anneka von nun an aufmerksamer das Geschehen um sich herum. Diesen Respekt hatte sich Karin verdient, die auch die langweiligsten Arbeiten mit Freude und Hingabe erledigte, weil sie damit einem höheren Ziel diente.
Punkt zwölf schickte Karin den Computer in den Standby-Modus und erhob sich.
»Zeit für die Mittagspause in der Cafeteria«, sagte sie zu Anneka. »Dort treffen wir uns mit Maybrit Klein und Franka Hartwich.« Dabei zeigte sie auf die anderen Schreibtische im Raum. »Sie waren beide den ganzen Vormittag auf den Stationen unterwegs, haben Patientengespräche geführt und waren bei Fallbesprechungen oder Begutachtungen dabei.«
»Also keine Schreibtischarbeit für sie?«
»Nein, nicht heute Vormittag«, erwiderte Karin lachend. »Ich denke, Sie haben einen falschen Eindruck vom Sozialdienst eines Krankenhauses bekommen. Die meiste Zeit des Tages laufen wir im Haus umher. Wir verbringen zwar auch Zeit am Schreibtisch, aber nicht ausschließlich. Ich bin mir sicher, dass Sie am Ende der Woche unsere Arbeit hier nicht mehr so schrecklich finden werden.«
»Das mache ich doch gar nicht«, setzte Anneka verlegen zu einem schwachen Protest an.
Dafür erntete sie von Karin ein amüsiertes Lächeln. »Schon gut, Frau Norden. Es war nicht zu übersehen, wie sehr Sie in den letzten Stunden gelitten haben. Ich bin erstaunt, dass Sie nicht längst das Weite gesucht haben.«
»Ach, ich kann einiges aushalten.«
»Gut zu wissen, Frau Norden.«
»Anneka. Bitte sagen Sie doch Anneka zu mir. Frau Norden klingt so nach … nach …« Anneka überlegte, wie sie ihren Satz beenden sollte.
»… nach Ihrer Mutter?«, half Karin augenzwinkernd aus.
»Ja, das stimmt«, gluckste Anneka. Verwundert stellte sie fest, dass ihre schlechte Laune verschwunden war. Ihr gefiel es plötzlich, mit Karin Giese zusammen zu sein. Und möglicherweise war die Arbeit hier auch nicht so trocken und öde, wie sie anfangs angenommen hatte. Immerhin gefiel sie Karin, die davon überzeugt war, einen wertvollen Beitrag zu leisten.
»Kommen Sie, Anneka. Lassen Sie uns endlich essen gehen. Ich sterbe fast vor Hunger, außerdem wollen Sie bestimmt meine Kolleginnen kennenlernen. Ich bin mir sicher, Sie werden gut miteinander auskommen.«
Karin irrte sich nicht. Anneka verstand sich auf Anhieb mit den beiden Frauen. Die zurückhaltende, in sich ruhende Maybrit hatte genau wie Anneka einen Abschluss in Sozialarbeit, auch wenn sie ihren bereits vor zwanzig Jahren gemacht hatte.
Franka war die Lebhafteste in der kleinen Runde. Sie war nur ein wenig älter als Anneka und freute sich riesig, mit ihr zu plaudern. Sie erzählte Anneka, dass sie früher als Krankenschwester auf der Inneren war. Nach der Geburt ihres Sohnes konnte sie nicht mehr im Schichtdienst arbeiten. Kurzerhand absolvierte sie während der Elternzeit eine Fortbildung zur Pflegeberaterin und bekam prompt die freie Stelle im Sozialdienst der Behnisch-Klinik.
»Das ist genau das, was zu mir passt: eine abwechslungsreiche Arbeit, die sich prima mit meinem Familienleben vereinbaren lässt, geregelte Dienstzeiten und freie Wochenenden. Das will ich nie wieder missen.«
»Ja, daran kann man sich bestimmt schnell gewöhnen«, erwiderte Anneka unbestimmt. Noch wusste sie nicht, ob dieses beschaulich wirkende Arbeitsleben wirklich zu ihr passte. Sie mochte zwar einige ihrer Vorurteile abgelegt haben, doch an der nötigen Begeisterung oder Hingabe für den Sozialdienst mangelte es ihr immer noch. Allerdings war sie fest entschlossen, dem Ganzen hier eine faire Chance zu geben.
Nach der Mittagspause machte sie sich zusammen mit Karin auf den Weg in die Innere.
»Auf der Inneren, der orthopädischen Station und der Neurologie haben wir am meisten zu tun«, erklärte ihr Karin unterwegs. »Das liegt zum größten Teil daran, dass hier viele ältere Patienten liegen, bei denen wir dann prüfen müssen, ob sie daheim allein zurechtkommen werden.«
»Und wenn nicht?«
»Dann organisieren wir Hilfe für sie. Wir erstellen einen Versorgungsplan, in dem wir alles, was erforderlich ist, festhalten und umsetzen. Zum Beispiel beantragen wir einen Pflegegrad, einen Schwerbehindertenausweis oder Hilfsmittel. Außerdem holen wir einen Pflegedienst und die Angehörigen mit ins Boot. Manchmal müssen wir uns leider auch um eine Heimunterbringung kümmern, wenn ein Leben zu Hause gar nicht mehr möglich ist.«
»Sie organisieren also die weitere Versorgung der Patienten.«
»Genau. Es ist wichtig, dass wir so viel wie möglich erledigt bekommen, solange die Patienten noch in der Klinik sind. Schließlich soll alles reibungslos laufen, wenn sie wieder zu Hause sind.«
In den nächsten Stunden erlebte Anneka hautnah mit, was Karin damit meinte. Sie wurde Zeugin vieler Gespräche, die Karin mit den Ärzten und Schwestern führte oder mit den Patienten und ihren Angehörigen. Dieser Teil des Jobs gefiel Anneka besonders gut. Der Umgang mit Menschen hatte sie schon immer fasziniert. Für andere da zu sein, ihnen zuzuhören, sie zu trösten oder Lösungswege aufzuzeigen, war erfüllend und im höchsten Maße befriedigend. Und plötzlich kam ihr selbst der leidige, aber notwendige Papierkram gar nicht mehr so schrecklich vor.
*
Nach ihrem dritten Tag in der Behnisch-Klinik fühlte sich Anneka dort nicht mehr fremd. Mit ihren Kolleginnen kam sie bestens aus, und inzwischen schienen sich auch die anderen Mitarbeiter daran gewöhnt zu haben, die Tochter des Chefarztes auf den Stationen anzutreffen. Der leichte Argwohn, mit dem sie Anneka anfangs begegnet waren, hatte sich schnell gelegt, und Normalität war eingekehrt. Dass die hübsche Praktikantin des Sozialdienstes eine Norden war, interessierte kaum noch jemanden.
Karin hatte sie heute zum ersten Mal allein auf die Innere geschickt. Anneka ließ sich von den Schwestern die Namen der Neuzugänge geben und suchte sie in ihren Zimmern auf, um mit ihnen zu sprechen. Das Gespür, das nötig war, um herauszufinden, ob die Patienten ihre Hilfe benötigten, hatte sich schnell bei ihr eingestellt.
Auch wenn es Anneka an ihrem ersten Tag nicht für möglich gehalten hatte, gefiel ihr die ungewohnte Arbeit nun. Sie hatte Freude daran gefunden und genoss es zudem, jeden Tag pünktlich nach Hause zu kommen, um endlich wieder Zeit mit ihren Freunden zu verbringen. Heute wollte sie sich mit Rosa treffen, einer alten Schulfreundin, die vor einigen Wochen nach München zurückgekehrt war. Bisher hatten sie kaum Gelegenheit gehabt, sich länger als zehn Minuten zu sehen. Anneka seufzte. Es hatte immer an ihr gelegen, wenn sie wieder einmal ein Treffen kurzfristig absagen musste. An ihr und ihrem fürchterlichen Dienstplan, der sich ständig änderte und ein funktionierendes Privatleben unmöglich machte.
Doch bevor Anneka zu ihrer Verabredung gehen konnte, schaute sie bei ihrem Vater rein. Morgen brachen ihre Eltern zu ihrem Kurztrip auf. Da wollte sich Anneka wenigstens noch von ihnen verabschieden.
Als sie in das Chefarztbüro kam, freute sie sich, auch ihre Mutter dort zu sehen. Das ersparte ihr einen Weg, und sie würde es dadurch schaffen, früher bei Rosa anzukommen.
Ihre Eltern hatten sich bereits umgezogen und sahen aus, als wollten sie jeden Augenblick die Klinik verlassen.
»Anneka, wie schön, dich noch zu sehen«, rief Fee erfreut aus. »Wir hatten schon befürchtet, dass du Feierabend gemacht hast, ohne uns Lebwohl zu sagen.«
»Nein, ich bin extra gekommen, um euch eine gute Reise zu wünschen und ein paar wunderschöne und erholsame Tage.«
»Danke, Liebes«, erwiderte Fee weich. »Unsere gepackten Taschen stehen schon im Kofferraum. Sobald dein Vater so weit ist, kann es losgehen.«
»Ich warte nur noch auf Herrn Berger für eine letzte, kurze Übergabe.« Daniel Norden sah von seinen Unterlagen auf, die auf seinem Schreibtisch ausgebreitet waren. »Die meisten Sachen haben wir schon besprochen, sodass wir sicher bald weg sind.«
»Ich dachte, ihr wolltet erst morgen früh starten«, wunderte sich Anneka.
Fee nickte. »Ja, das war der ursprüngliche Plan gewesen: ein langes Wochenende von Donnerstag bis Sonntag. Aber Fred hat sich gestern noch mal gemeldet. Er meinte, es wäre schön, wenn wir schon heute ankämen. Wir könnten zusammen zu Abend essen und bereits morgen im Grünen aufwachen.«
»Hört sich nach einer guten Idee an.« Anneka sah stirnrunzelnd aus dem Fenster. »Ich hoffe nur, dass ihr es schafft, vor dem Gewitter anzukommen. Da scheint sich allerhand zusammenzubrauen.«
Fee folgte dem Blick ihrer Tochter nach draußen. Eine drückende Schwüle hatte sich heute über München gelegt, und der dunkelgraue Horizont kündigte bereits den nahenden Wetterumschwung an.
»Ja, das könnte wirklich heftig werden«, sagte sie. »So sehr ich den Regen und etwas Abkühlung herbeisehne, wäre ich ungern bei einem Gewitter unterwegs.«
Daniel sah auf seine Uhr und überlegte. »Das Unwetter soll uns wohl erst am späten Abend erreichen. Bis dahin dürften wir längst bei Loni und Fred sein. Bis Waldkirchen brauchen wir fast drei Stunden. Und anschließend noch eine gute halbe Stunde querfeldein bis zu der Hütte. Gegen acht sind wir sicher da, also rechtzeitig vor dem Gewitter.«
»Dann stört’s mich eh nicht mehr. Von mir aus kann es dann in der Nacht ordentlich regnen. Hauptsache, am nächsten Morgen scheint wieder die Sonne, damit wir uns dort den ganzen Tag über in der herrlichen Natur aufhalten können.«
»Mama, du hörst dich an, als ob du schon jetzt im Urlaubsmodus wärst. Völlig entspannt und in bester Stimmung. Hast du denn gar keine Bedenken, die Zwillis und Alex vier Tage lang sich selbst zu überlassen? Wer weiß, was sie in der Zwischenzeit alles anstellen.«
»Gar nichts werden sie anstellen, mein Liebling. Sie sind alt genug und wahrlich keine kleinen Kinder oder unvernünftige Teenager mehr. Bisher konnten wir uns immer auf sie verlassen. Für Dési und Janni ist es nicht das erste Mal, dass sie allein sind. Außerdem habe ich volles Vertrauen zu Alex. Er scheint seine Aufgabe als Ältester im Haus sehr ernst zu nehmen und wird sicher ein Auge auf sie haben.« Fee lächelte verschmitzt, als sie sagte: »Er wird auch dafür sorgen, dass wenigstens einmal am Tag eine ordentliche Mahlzeit auf den Tisch kommt, die auch unserem Janni schmeckt. Du weißt, dass er von Alexanders Kochkünsten mehr hält als von denen seiner Schwester.«
Alexander Norden wohnte erst seit einigen Wochen bei den Nordens. Er war der Sohn eines Cousins, der auf Gran Canaria lebte. Alex war nach München gekommen, um hier Medizin zu studieren. Solange er keine eigene Bleibe hatte, war er ein willkommener Hausgast für Fee und Daniel.
Es klopfte energisch an der Tür, und Dr. Erik Berger kam herein, ohne auf eine Aufforderung zu warten.
»Oh! Der ganze Clan ist versammelt!«, spöttelte er und sah in die Runde. »In diesem Haus stolpert man ja neuerdings ständig über jemanden aus der Familie Norden. Ich hoffe, ich störe ihr kleines Familientreffen nicht.«
»Nein, überhaupt nicht«, erwiderte Daniel ungerührt. »Sie werden schon sehnsüchtig erwartet.«
»Tut mir leid, wenn ich mich verspäte. Vielleicht sollte ich beim nächsten Mal einfach meinen Patienten sterben lassen, nur damit Sie rechtzeitig Ihren Urlaub genießen können.«
Fee griff sich ihre Handtasche, hakte sich bei ihrer Tochter unter und zog sie mit sich.
»Wir warten draußen«, sagte sie. Als sie an Berger vorbeikam, streichelte sie ihm kurz über den Oberarm und strahlte ihn an. »Bringen Sie beim nächsten Mal etwas bessere Laune mit, Herr Berger. Dann bekommen Sie vielleicht auch mal eine Urlaubskarte von uns.«
Zu Annekas großer Überraschung öffnete Berger den Mund und schloss ihn wieder, ohne mit einer heftigen Antwort zu kontern. Als sie mit ihrer Mutter im Vorzimmer stand und die Tür hinter sich geschlossen hatte, sagte sie: »Den hast du ja gut im Griff. Er sah aus, als hätte es ihm wirklich die Sprache verschlagen.«
»Berger bezwingst du am besten mit Herzlichkeit und Wärme. Das sind Dinge, mit denen er nicht gut umgehen kann, obwohl er sie genauso nötig hat wie du und ich.«
Als Anneka sie zweifelnd ansah, fuhr Fee fort: »Letztendlich ist er auch nur ein Mensch. Er wird es wahrscheinlich nie zugeben, aber auch er braucht ab und zu ein freundliches Wort und ein nettes Lächeln. Auch wenn ihn das ein wenig hilflos zurücklässt. Stimmt`s, Katja?« Fee sah zu Katja hinüber, die gerade dabei war, das saubere Kaffeegeschirr in den Schrank der kleinen Pantry zu räumen. »Du machst es doch auch immer so.«
»Ja, aber nur, weil ich es auch so meine.« Katja drohte scherzend in Fees Richtung. »Ich würde nie auf die Idee kommen, nette Worte als Waffe einzusetzen – so wie du.«
»Mach ich doch gar nicht«, lachte Fee. »Jedenfalls nicht oft, und wenn, dann nur bei ihm, weil ich ihn gern mal sprachlos erlebe. Lange hält das allerdings nicht an. Er findet schnell zu seiner Bissigkeit zurück, und dann ist es gut, wenn man nicht in seiner Nähe ist. Herr Berger ist nämlich alles anderes als zart besaitet.«
»Wenn du dich da mal nicht täuschst«, sagte Katja mehr für sich. Doch Fee hatte sie trotzdem gehört. Bevor sie deswegen nachhaken konnte, sagte Anneka sorgenvoll:
»Ich bin zwar nur noch zwei Tage hier, aber ich hoffe, dass es mir gelingt, Berger in dieser Zeit aus dem Weg zu gehen. Ich glaube nicht, dass ich mich ihm gegenüber behaupten könnte. Und deine Methode, Mama, liegt mir nun wirklich nicht. Jedenfalls nicht bei ihm.«
Katja hielt die Keksdose hoch. »Dann sollten Sie mal meine ausprobieren, Anneka. Wenn ich ihm meine Schokokekse anbiete, verfliegt seine miese Laune auf der Stelle. Ihnen kann er nie widerstehen. Mit einem Keks in der Hand schmilzt er dahin wie der Schokoladenüberzug.«
»Aha«, sagte Anneka trocken. »Wenn wir aneinandergeraten, brauche ich also nur eine Packung Kekse aus der Tasche zu ziehen.« Sie sah ihre Mutter bedeutungsvoll an. »Oder ich lächle ihn honigsüß an, flirte ein wenig mit ihm und tätschle seinen Arm.«
»Ich habe doch gar nicht …«, setzte Fee zu einem Protest an.
»Doch, Mama, das hast du. Du kannst ja Paps fragen, wenn du mir nicht glaubst. Der war darüber genauso entsetzt wie ich … oder Herr Berger.«
Katja prustete los, als sie sah, wie verlegen ihre sonst so taffe Freundin plötzlich war. »Also ich bleibe bei meinen Keksen«, lachte sie. »Meinem Hagen wäre das bestimmt auch lieber.«
Mit Hagen war Katja seit einigen Monaten fest zusammen. Sie liebten sich wie am ersten Tag, und Katja würde nichts machen, um Hagens Eifersucht zu nähren.
Fee runzelte die Stirn. War sie bei Herrn Berger vielleicht zu weit gegangen? Sie hatte ihn doch nur ein wenig aufziehen wollen. Mit Flirten hatte das überhaupt nichts zu tun gehabt. Und Daniel würde das sicher nicht anders sehen.
*
»Sag mal, Feelein, muss ich mir eigentlich Sorgen wegen dir und Berger machen?«, fragte Daniel nicht ganz ernst, als er das Auto durch den dichten Münchner Verkehr steuerte.
Fee seufzte theatralisch auf. »Ja, mein Schatz. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ich dem umwerfenden Charme Bergers erliegen würde. Ich überlege schon seit Wochen, wie ich dir das schonend beibringen könnte.«
Daniels sonores Lachen füllte den Innenraum des Wagens. »Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals die Worte Berger und Charme zusammen in einem Satz hören würde.«
Fee stimmte in sein Lachen ein. »Ja, damit habe ich es wohl etwas übertrieben. Und um deine Frage zu beantworten: Nein, du musst dir wegen eines anderen Mannes keine Sorgen machen. Und schon gar nicht wegen Erik Berger. Obwohl …« Sie überlegte kurz, dann sagte sie: »Obwohl ich zugeben muss, dass ich ihn mag.«
»Trotz oder wegen seines schlechten Benehmens?«
»Trotz! Eindeutig trotz seines schlechten Benehmens! Das mag ich an ihm nämlich überhaupt nicht, und damit stehe ich sicher nicht allein da. Aber mir gefällt an ihm, dass er so verlässlich ist. Unter seiner Bärbeißigkeit steckt ein integrer und loyaler Mann, der immer zur Stelle ist, wenn man ihn braucht.«
»Ja, das stimmt. Das hat er gerade wieder bewiesen. Ich weiß, wie sehr er es hasst, für vier Tage die Klinikleitung zu übernehmen. Es ist nicht so, dass er es nicht mag, nein, er hasst es tatsächlich abgrundtief. Und dennoch hat er es gemacht. Einfach, weil ich ihn darum gebeten habe und es kein anderer machen konnte. Mir fällt niemand in der Klinik ein, der seine persönlichen Wünsche und Bedürfnisse so weit zurücksteckt wie Berger.«
Fee nickte. »Er bekommt auf alle Fälle eine Urlaubskarte von uns. Die hat er sich wirklich verdient.«
Während der nächsten Stunde sprachen sie weiter über die Behnisch-Klinik oder ihre Patienten. Oft genug hatten sie sich vorgenommen, Privates und Dienstliches strikter voneinander zu trennen und in ihrer Freizeit keine Klinikgespräche zu führen. Doch trotz des guten Willens gelang das nicht oft, und schließlich hatten sie aufgegeben, es zu versuchen oder sich deswegen Vorwürfe zu machen. Die Behnisch-Klinik gehörte zu ihrem Leben dazu und konnte nicht einfach auf Knopfdruck ausgeblendet werden. Außerdem gefiel es ihnen, sich über ihre Arbeit, ihre Probleme oder Erfolge auszutauschen. Es machte ihnen Spaß und bereicherte ihr Zusammenleben. Warum also sollten sie darauf freiwillig verzichten?
Als sie auf die A 94 fuhren, sah Fee auf die Uhr. »Wir haben mehr als neunzig Minuten gebraucht, um aus München rauszukommen. Vielleicht sollte ich Fred eine Nachricht schicken, dass wir uns verspäten werden.«
»Du kannst es versuchen, aber es wird wohl nichts bringen. Du weißt, dass es dort keinen Handyempfang gibt. Als Fred gestern anrief, war er deswegen extra nach Waldkirchen gefahren.«
Fee tippte die Nachricht in ihr Handy und überlegte halblaut: »Ich verstehe das gar nicht. Bis Waldkirchen sind es vom See aus nur wenige Kilometer quer durch den Wald. Warum klappt es an der einen Stelle problemlos und an der anderen nie?«
»Das scheint niemand ganz genau erklären zu können«, erwiderte Daniel achselzuckend. »Ich hatte erst kürzlich ein längeres Gespräch darüber mit Fred. Vermutlich liegt es an der Umgebung. Der See und das Haus liegen in einer tiefen Senke, die von waldreichen Hügeln und Bergketten fast vollständig umschlossen wird. Kann sein, dass das die Funkstrahlen abfängt, umleitet oder verschluckt. Mir fehlt leider das technische Verständnis, aber ich bin mir sicher, dass da irgendetwas Unerklärliches mit dem Handynetz passiert.«
Als Fee zu lachen begann, rechtfertigte sich Daniel: »Das waren Freds Worte, nicht meine. Loni ging sogar noch einen Schritt weiter und behauptete, dass die dubiose Waldhexe ihre Finger im Spiel hat.«
»Ach ja, die Waldhexe«, kicherte Fee. »Von der hat sie uns schon früher eine Schauergeschichte nach der anderen aufgetischt. Ich halte ja mehr von wissenschaftlichen Erklärungen als von Sagen und Mythen. Immerhin sind wir nüchtern denkende Ärzte.«
»Ja, aber als Ärzte haben wir oft genug erlebt, dass sich nicht alles mit blanker Wissenschaft erklären lässt. Denk nur an die vielen kleinen und auch größere Wunder, die wir alle schon erlebt haben.«
»Natürlich gibt es solche medizinischen Wunder, die wir nicht verstehen. Aber böse Waldhexen, die eine Abneigung gegen Handystrahlen haben? Oder Gespenster, Trolle und gute Feen? Diese Wesen leben nur im Land der Fantasie und nicht in der realen Welt.«
»Das sehe ich auch so, mein Liebling. Die einzige gute Fee, die es wirklich gibt, sitzt hier direkt neben mir.«
»Danke, mein Schatz. Das hast du lieb gesagt. Es wäre allerdings gut, wenn deine persönliche Fee über Zauberkräfte verfügen würde, damit Fred unsere Nachricht erhält. Doch da das nicht der Fall ist, bleibt nur zu hoffen, dass es auch ohne Magie klappt. Ansonsten werden sich Loni und Fred bestimmt über unser Zuspätkommen wundern und sich womöglich Sorgen machen.«
»Vielleicht verspäten wir uns ja gar nicht«, sagte Daniel. »Den Zeitverlust holen wir jetzt auf der Autobahn bestimmt schnell wieder auf.«
Dass sein Optimismus verfrüht war, zeigte sich kurz darauf. Die Autobahn war nach einem schweren Unfall in beide Fahrtrichtungen gesperrt, und der Verkehr staute sich über viele Kilometer. Selbst Daniel glaubte nun nicht mehr daran, pünktlich bei den Freunden anzukommen.
*
Tatsächlich standen sie mehr als eine Stunde auf der Stelle, ohne auch nur einen Meter voranzukommen. Auch danach ging es nur schleppend weiter, sodass sie Waldkirchen erst gegen halb elf erreichten. Es war inzwischen stockfinster geworden, und das lag nicht nur an der späten Stunde, sondern an den tiefschwarzen Gewitterwolken, die sich bedrohlich zusammenballten und das sanfte Licht von Mond und Sternen verschluckten. Ein bizarres Wetterleuchten als Nachklang ferner Blitze ließ den Himmel immer wieder gespenstisch aufleuchten. Wind kam auf, und die Luft kühlte merklich ab.
Fee langte nach ihrer leichten Strickjacke, die auf dem Rücksitz lag, und zog sie über. Sie standen an einer Tankstelle, und Daniel war hineingegangen, um zu bezahlen. Fee hatte derweil die Pause genutzt, um kurz mit den Kindern zu telefonieren und ihnen zu sagen, dass sie endlich in Waldkirchen angekommen waren.
»Ich habe zu Hause angerufen«, berichtete Fee, als Daniel zurückkam und ins Auto stieg. »Sie hatten sich schon Gedanken gemacht, weil sie nichts von uns gehört haben.«
»Kein Wunder. Wir wollten hier schon vor drei Stunden eintreffen. Ehe wir bei Loni und Fred sind, wird es nach elf sein.«
»Ich hoffe, wir schaffen es noch vor dem Gewitter.«
Fee klang so besorgt, dass Daniel ihr einen verwunderten Blick zuwarf. »Seit wann hast du denn Angst vor Gewitter?«
»Seit mir klar geworden ist, dass wir dann vielleicht gerade mitten im Wald sind, umgeben von hohen Berghängen und wackligen Bäumen, die uns jederzeit aufs Wagendach krachen könnten. Oder uns im besten Fall nur den Weg versperren. Nichts davon klingt besonders verlockend.«
»Stimmt, Feelein. Also sollten wir uns lieber sputen.«
Daniel fuhr los. Eigentlich hatte er Fee von dem Gespräch mit dem Tankstellenbesitzer erzählen wollen. Unter normalen Umständen würde sie sich bestimmt amüsieren, wenn er die Warnung vor der bösen Waldhexe, die bei Gewitter verirrten Wanderern auflauerte, wiedergab. Doch Fee sah auch so schon recht besorgt aus, und Daniel ließ es deshalb bleiben. Jetzt war nicht der richtige Moment für alberne Ammenmärchen von bösen Geistern und finsteren Mächten, die in den Wäldern und Bergen lebten, um den Menschen das Leben schwer zu machen und ihnen Schaden zuzufügen.
Diese Geschichten begleiteten sie, seit sie das erste Mal zu Gast im Haus am See waren. Die Kinder waren damals noch klein gewesen. Fasziniert hatten sie diesen alten Märchen und Sagen gelauscht und sie abends in ihren Betten fantasievoll ausgeschmückt. Nicht selten übertrieben sie es dabei so sehr, dass sich das eine oder andere Kind des Nachts ins elterliche Bett schlich. Die nächtlichen Schatten machten ihnen plötzlich Angst, und sie suchten dann die beruhigende Nähe und den Schutz ihrer Eltern.
Daniel setzte den Blinker und bog von der Hauptstraße ab.
»Ich verstehe nicht, was mit dem Radio los ist. Ich bekomme keinen einzigen Sender eingestellt.« Fee versuchte es noch eine Weile erfolglos und gab dann schließlich auf. Mehr als ein lautes Rauschen konnte sie dem Autoradio nicht entlocken. Daniel bedauerte das. Ein wenig Musik hätte sie abgelenkt und die Gedanken an das nahe Gewitter verdrängt. In Momenten wie diesen ließ sich die Stille nur schwer ertragen.
In der nächsten Viertelstunde kam ihnen kein anderes Fahrzeug entgegen. Auch ferne Lichter, die auf eine Ortschaft oder ein abseits gelegenes Gehöft hinwiesen, waren nicht mehr auszumachen. Sie waren jetzt ganz allein.
Die schmale Landstraße wurde von dem dichten Wald auf der einen und einer weitflächigen Wiese auf der anderen Seite flankiert. Zumindest glaubte Daniel das. Sehen konnte er nicht mehr als die wenigen Meter vor sich im Kegel der Scheinwerfer. So blieb ihm nur zu hoffen, dass ihn die Erinnerungen an vergangene Fahrten nicht trogen und er den Weg zu den Freunden fand.
»Stopp!«, rief Fee plötzlich laut.
Daniel zuckte zusammen und bremste so scharf ab, dass Fee sich mit einer Hand am Armaturenbrett abstützen musste, um nicht nach vorn geschleudert zu werden.
»Entschuldige, Dan«, sagte sie. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Aber ich glaube, du bist gerade an dem kleinen Waldweg, den wir nehmen müssen, vorbeigefahren.«
»Bist du sicher?«
Fee verzog bedauernd den Mund. »Leider nicht. Draußen ist es total finster. Richtig sehen konnte ich den Weg nicht. Es war eher so ein Gefühl …«
Suchend sah sich Daniel um, ohne dass er irgendetwas erkennen konnte.
»Uns wird wohl nichts anderes übrigbleiben, als zurückzusetzen und nachzusehen«, entschied er schließlich.
Er versuchte erst gar nicht zu wenden. Die Straße war dafür viel zu schmal. Über den befestigten Straßenrand hinauszufahren, traute er sich nicht. Was ihn dahinter erwartete, konnte er nicht sehen. Vielleicht war es nur flaches, befahrbares Grasland, vielleicht aber auch ein Graben, in den der Wagen unweigerlich rutschen würde.
Langsam fuhr er rückwärts, bis er an die Stelle kam, von der ein enger Pfad in den dichten Wald führte. Er zögerte, als er in die Finsternis, die vor ihm lag, hineinsah. Es war, als würde ihm eine Stimme in seinem Kopf davon abraten weiterzufahren.
»Glaubst du, das ist der falsche Weg?«, fragte Fee, die sich wunderte, warum Daniel keine Anstalten machte, den Wagen in den Wald zu lenken.
»Nein … nein, es ist nur …« Daniel brach ab, legte den Gang ein und startete. »Schon gut«, sagte er dann, »lass es uns einfach hinter uns bringen.«
Falls sie Daniels Worte irritierten, ließ Fee es sich nicht anmerken. Ganz still saß sie auf dem Beifahrersitz und starrte angestrengt in die undurchdringliche Dunkelheit des dichten Waldes. Es herrschte absolute Finsternis, die das Scheinwerferlicht nur kurz verscheuchte. Die Schwärze um sie herum hatte etwas Bedrohliches und ließ Fee erschauern.
In den Baumwipfeln tobte sich der stürmische Wind aus. Noch widerstanden sie ihm heldenhaft, aber es war sicher nur eine Frage der Zeit, bis sie sich seiner zerstörerischen Kraft beugen mussten.
Dann begann der Regen. Anfangs nur mit wenigen, dicken Tropfen, die laut gegen die Windschutzscheibe klatschten. Schnell wurde es so schlimm, dass die Scheibenwischer die Wasserfluten nicht mehr bewältigen konnten.
»Wollen wir lieber rechts ranfahren?«, fragte Fee kleinlaut.
»wohin? Wir haben nur diesen schmalen Weg.«
»Ja … Natürlich.« Fee versuchte, die Anspannung mit einem tiefen Atemzug loszuwerden. Der Waldweg war so schmal, dass er kaum für ein Fahrzeug mit normaler Breite langte. Wer hier vom Weg fuhr, landete mitten im Wald oder kollidierte mit einem Baum.
»Ich habe keine Ahnung, wie wir bei dieser schlechten Sicht die Abzweigung zu Freds Haus erkennen sollen«, presste Daniel hervor. Er hatte das Tempo so weit gedrosselt, dass sie inzwischen nur noch in Schrittgeschwindigkeit vorankamen.
»Ich halte schon immer Ausschau nach diesem großen Felsen, bei dem wir abbiegen müssen. Aber bei dieser Sicht …«
In diesem Moment blitzte es gleißend hell über ihnen auf. Für eine Sekunde tauchte der gesuchte Felsen wenige Meter entfernt aus der Finsternis auf.
»Der Blitz kam zur rechten Zeit«, stieß Daniel schreckensbleich, aber erleichtert aus. »Wir hätten den Felsen sonst sicher übersehen.«
Das Gewitter war jetzt direkt über ihnen und hatte seinen Höhepunkt erreicht. Lautstarkes Donnergrollen tönte durch den Wald bis zu den nahen Berghängen, an denen sich die Schallwellen unter ohrenbetäubendem Getöse brachen und ihre Echos zurückschleuderten. Ein Blitz folgte dem anderen, bis sie ohne Pause ineinander übergingen. Sie belebten den Wald mit einem gespenstisch anmutenden Licht und brachten zwischen den Baumstämmen Schatten zum Vorschein, die dort nicht hingehörten. Fee wandte hastig den Blick ab. Sie konnte von sich behaupten, kein ängstlicher Mensch zu sein. Für gewöhnlich ließ sie sich nicht so schnell einschüchtern. Doch beim Anblick dieser Schattenwesen raste ihr Herz. Vergeblich versuchte sie, ihre Augen auf etwas Unverfängliches zu lenken. Doch fast zwanghaft glitten sie immer wieder zurück und hielten Ausschau nach dem, was hinter den dicken Baumstämmen zu lauern schien.
Daniel erging es kaum anders. Dieses gewaltige Gewitter zerrte an seine Nerven. Besonders beunruhigte ihn der Sturm, der durch den Wald fegte und nach morschen Ästen oder altersschwachen Bäumen Ausschau hielt, um ihnen den Garaus zu machen. Sollte er damit erfolgreich sein, könnte diese Reise ein schlimmes Ende nehmen. Schon jetzt tobten Unmengen an Blättern und kleineren Zweigen durch den Regen und verfingen sich in den Scheibenwischern, sodass die Fahrt einem Blindflug ähnelte. Doch das war nichts im Vergleich zu der Gefahr, die von herabstürzenden Ästen ausging. Sollte das Auto von ihnen getroffen werden …
»Dan!«, schrie Fee grell auf.
Fast sofort brachte Daniel den Wagen zum Stehen. Erst dann sah er ihn: den kolossalen Hirsch, der mitten auf dem Waldweg stand. Vom Licht der Scheinwerfer geblendet, verharrte er unbeweglich auf der Stelle.
Daniel stieß geräuschvoll die Luft aus und sah zu Fee hinüber, die kreideweiß neben ihm saß.
»Es ist alles in Ordnung, Feelein«, sagte er sanft.
»In Ordnung?«, fragte Fee fassungslos. »Findest du das hier wirklich in Ordnung? Bin ich die Einzige, die Angst hat, von einem entwurzelten Baum erschlagen zu werden?«
»Fee, Liebling …«, begann Daniel, beruhigend auf sie einzusprechen. Doch Fee ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Und was ist mit dem da? Findest du den auch in Ordnung?« Fee nickte zum Hirsch rüber, der die beiden Fremden, die sich bei diesem Unwetter in sein Revier getraut hatten, nicht aus den Augen ließ. Völlig ruhig stand er da, bis er sich wieder in Bewegung setzte und zwischen den Bäumen verschwand.
Daniel drückte kurz Fees Hand, um ihr Mut zu machen. »Den Rest schaffen wir jetzt auch noch. Wir sind bald da, Liebling. Halte noch ein bisschen durch.«
Er startete den Wagen. Fast zeitgleich brach unter lautem Getöse ein zentnerschwerer Ast von einer knorrigen Fichte ab und schlug unweit von ihnen auf den Weg.
Daniel hörte, wie Fee neben ihm keuchte.
»Wenn der Hirsch nicht gewesen wäre …«, brachte sie mühsam heraus. Fee musste nicht weitersprechen. Daniel wusste auch so, was sie meinte. Dieser Ast wäre wohl auf das Autodach gestürzt, hätte der Hirsch nicht ihre Weiterfahrt verhindert. Er hatte sie einige Sekunden aufgehalten und ihnen so vielleicht das Leben gerettet.
»Wir sollten umkehren, Dan«, flüsterte Fee. »Wir sollten auf der Stelle umkehren.«
Daniel schüttelte den Kopf. »Fee, das geht nicht. Ich kann hier nicht wenden. Außerdem sind wir fast da. Die Strecke bis zur Hütte ist bedeutend kürzer als der Weg zurück.«
»Aber … aber … « Fee streckte den Arm aus und zeigte auf das sperrige Hindernis vor ihnen. »Wir kommen nicht daran vorbei.«
Ihr Arm zitterte heftig, und Daniel griff schnell danach und hielt ihn fest. »Darum kümmere ich mich, Feelein. Bitte mach dir deswegen keine Sorgen. Ich werde den Ast ein Stück zur Seite ziehen, sodass wir daran vorbeifahren können.«
»Du steigst auf gar keinen Fall hier aus!« Fees Stimme klang unnatürlich schrill und verriet, dass sie noch immer unter Schock stand. »Hier könnte jeden Augenblick der nächste Ast runterkrachen. Oder ein ganzer Baum. Du kannst unmöglich da rausgehen!«
»Aber wir können weder umkehren noch hier im Auto sitzenbleiben und auf besseres Wetter hoffen«, erklärte ihr Daniel so geduldig, als spräche er mit einem Kind. Er legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie zu sich heran, bis ihr Kopf an seiner Brust ruhte. Sanft streichelte er ihr über den Rücken.
»Mir passiert schon nichts, Feelein«, sagte er so ruhig, als würde dort draußen kein Unwetter toben. »Das Gewitter ist schon fast abgezogen. Sieh nur, es blitzt nur noch ganz selten. So wie es aussieht, meinen es das Schicksal und die Geister des Waldes gut mit uns. Denk nur mal an den Hirsch, der zur rechten Zeit erschien.«
Fee konnte hören, dass er lächelte. Sie löste sich aus seinen Armen und sah ihn vorwurfsvoll an. »Wie kannst du in so einem Moment auch noch Witze machen? Dieser Ast hätte uns um ein Haar erschlagen!«
»Hat er aber nicht. Und nun lass uns endlich zu der Hütte fahren, damit wir unseren sauer verdienten Urlaub beginnen können. Es wird alles gut ausgehen, Feelein. Versprochen!«
Fee nickte, auch wenn sie alles andere als glücklich aussah. »Loni und Fred sind bestimmt schon krank vor Sorge um uns.«
»Noch ein Grund, von hier fortzukommen.«
Langsam fuhr Daniel weiter. Direkt vor dem Ast stoppte er. Er nahm die Taschenlampe aus dem Handschuhfach. Als er aussteigen wollte, hielt ihn Fee auf. Eindringlich sah sie ihn an.
»Du kommst heil zu mir zurück. Hast du verstanden? Vergiss nicht, du hast es mir versprochen!«
Daniel beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie. Dann lächelte er ihr ein letztes Mal zu und stieg aus. Der Starkregen hatte den festen Waldboden in eine rutschige Schlammmasse verwandelt. Noch immer regnete es so heftig, dass Daniel innerhalb weniger Augenblicke bis auf die Haut durchnässt war.
Mit der Taschenlampe leuchtete er das Ungetüm ab, das ihnen den Weg zu einer heißen Dusche und trockener Kleidung versperrte. Ohne weiter nachzudenken, legte er die Lampe auf dem Boden ab und machte sich ans Werk.
Fee hatte recht. Hätte dieser Koloss das Auto getroffen, wäre die Sache nicht gut ausgegangen. Er war riesig und so schwer, dass Daniel ihn nur unter größter Anstrengung bewegen konnte. Zu wenig, wie er ärgerlich feststellte. Noch würde der Wagen nicht vorbeikommen.
»Warte, ich fass mit an.«
Daniel fuhr zusammen, als Fee neben ihm auftauchte. »Was machst du hier? Setz dich wieder ins Auto. Du wirst doch ganz nass.«
»Das bin ich schon längst. Genau wie du.« Fee griff nach den nadelbesetzten Zweigen. Zusammen schafften sie es nun, den Ast fortzuzerren. Dann fassten sie sich an den Händen und liefen zum Auto zurück.
»Wir haben es geschafft«, sagte Fee atemlos, als sie wieder auf ihrem Platz saß. »Wir haben es tatsächlich geschafft.«
»Dank deiner Hilfe.« Liebevoll strich Daniel ihr die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Mir wäre es allerdings lieber gewesen, du hättest hier auf mich gewartet. Ich hätte das auch allein geschafft.«
»Klar, mein Held. Aber so ging es schneller.« Sie gab ihm einen Kuss. »Und jetzt will ich endlich zu Loni und Fred. Ich muss mich umziehen und bin fast am Verhungern. Außerdem haben wir uns nach dieser Horrorfahrt ein paar unbeschwerte Urlaubstage mehr als verdient. Ich will sofort damit beginnen!«
Daniel lachte. Er war froh, dass es Fee wieder besser ging und ihr unermüdlicher Optimismus zurückgekehrt war. Tatsächlich schien nun das Ärgste ausgestanden zu sein. Der Sturm hatte nachgelassen, die sintflutartigen Regengüsse waren einem friedlichen Landregen gewichen. Schon morgen würden nur noch einige große Pfützen und abgebrochene Äste an den Gewittersturm dieser Nacht erinnern.
»Da ist es!«, rief Fee aufgeregt, als die Umrisse des Häuschens in der Dunkelheit auftauchten. »Ich bin so froh, dass diese Fahrt ein Ende hat. Ich fing schon an zu halluzinieren und habe hinter jedem Baumstamm garstige Hexen und andere finstere Gestalten gesehen. Und dann dieser Hirsch, der plötzlich auf dem Weg stand. Ich bin gespannt, was Fred und Loni zu unserer abenteuerlichen Fahrt sagen werden.«
»Wahrscheinlich sind sie nur froh, dass wir es endlich geschafft haben.«
*
Jetzt, mitten in der Nacht, war von dem besonderen Charme des Blockbohlenhauses nicht viel zu sehen. Erst als sie näherkamen, konnten Daniel und Fee einige vertraute Einzelheiten erkennen: die Holzsprossen an den Fensterscheiben, die bepflanzten Blumenkästen, die große Terrasse, die das gesamte Haus einfasste. Das Ferienhaus der Steinbachs lag versteckt am Rand einer kleinen Waldlichtung, deren anderes Ende an einem kristallklaren Bergsee mündete. Von der Terrasse führte ein gepflasterter Weg zu einem Bootssteg, an dem Freds Ruderboot lag. Mit ihm fuhr Fred täglich zum Angeln hinaus. Nur selten fing er etwas, obwohl das Wasser tief und fischreich war. Fred störte das nicht. Ihm war es ohnehin wichtiger, die Ruhe auf dem See zu genießen und einfach mal abzuschalten. Und genau darauf freute sich auch Daniel, als er das Auto neben Freds Passat abstellte.
»Warum ist das Haus so dunkel?« Fee stieg aus und sah an den Fenstern entlang. »Sie werden doch sicher nicht ins Bett gegangen sein.«
»Kann ich mir nicht vorstellen.« Auch Daniel war stutzig geworden. Es war zwar weit nach elf, aber Loni und Fred blieben in ihrem Urlaub lange auf. Vor allem, wenn sie Besuch erwarteten.
Fee und Daniel beeilten sich, auf die überdachte Terrasse zu kommen. Auch wenn sie bereits durchnässt waren, hatten sie keine Lust, sich weiter dem Regen auszusetzen.
»Hallo!«, rief Daniel und klopfte an die Tür. Im Haus blieb es still. Nichts rührte sich. Als Daniel die Klinke runter drückte, sprang die Tür auf.
»Sie schließen nie ab«, sagte Fee so leise neben ihm, als befürchtete sie, jemanden aufzuwecken.
»Fred! Loni!«, dröhnte jetzt Daniels Stimme durch das stille Haus.
Er tastete nach dem Lichtschalter, der neben der Tür angebracht war. Kurz darauf wurde es hell.
»Hallo! Niemand zu Hause?«, rief nun auch Fee. Als keine Antwort kam, zog sie ihre verschmutzten, nassen Schuhe aus und ging zur Treppe, die ins Dachgeschoss führte. Hier waren das Schlafzimmer, ein Bad und das kleine, gemütliche Gästezimmer untergebracht.
Fee klopfte vorsichtig an die Schlafzimmertür. Vielleicht waren sie ja doch schon zu Bett gegangen. Es war mehr als unwahrscheinlich, aber durchaus möglich. Als sich nichts rührte, öffnete Fee die Tür und sah kopfschüttelnd auf das unbenutzte Bett. Das Zimmer war leer, Loni und Fred waren nicht da. Vorsichtshalber schaute sie auch noch in die beiden anderen Räume und ging dann wieder zu Daniel runter.
»Oben ist niemand.«
»Hier unten sind sie auch nicht. Ich verstehe das nicht. Wo können sie nur sein? Weggefahren sind sie nicht. Ihr Auto steht ja draußen.«
Fee holte ihr Handy aus der Tasche. Sie warf nur einen kurzen Blick darauf und stellte dann achselzuckend fest: »Kein Empfang. Wir brauchen also gar nicht erst versuchen, sie anzurufen.«
»Vielleicht sind sie mit Bekannten unterwegs«, spekulierte Daniel nun. »Sind sie nicht mit den Reimanns aus Waldkirchen befreundet? Sie haben auch früher so manchen Abend zusammen verbracht.«
»Ja, das wäre eine Erklärung«, überlegte Fee. »Die Reimanns haben sie vielleicht mit ihrem Wagen abgeholt und konnten sie wegen des schlimmen Gewitters noch nicht zurückbringen.« Das klang so logisch, dass Fee sofort erleichtert aufatmete. In ihrem Kopf hatten sich schon einige Schreckensszenarien abgespielt. Mit dem Gedanken an die Reimanns wurde sie sie los. Wenigstens so lange, bis Daniel diese Möglichkeit wieder verwarf.
»Nein, Fee, das glaube ich nicht. Loni und Fred hatten mit uns schon vor Stunden gerechnet. Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass sie dann mit Freunden unterwegs sind.«
Er durchquerte den großen Wohnbereich, ging zur offenen Küche hinüber und sah sich dort um. »Wir waren zum Abendessen eingeplant. Doch es stehen keine Töpfe auf dem Herd oder benutztes Geschirr in der Spüle. Loni und Fred müssen schon länger fort sein.«
»Das hört sich nicht gut an. So langsam bekomme ich ein ziemlich mieses Gefühl.«
»Ich auch, Feelein«, gestand Daniel. »Aber solange wir nicht wissen, was los ist, bringt es nichts, sich aufzuregen.«
»Es sieht aber so aus, als wäre es das Einzige, was wir machen können«, erwiderte Fee geknickt. Sie war müde, ihr war kalt, und die Sorge um die Freunde erdrückte sie fast. So hatte sie sich ihren Urlaub nicht vorgestellt.
Daniel kam zu ihr zurück und drückte sie kurz an sich. »Ich werde einmal ums Haus herumgehen. Vielleicht fällt mir irgendetwas auf. Wenn ich wiederkomme, bringe ich unsere Taschen aus dem Wagen mit. Wir müssen so schnell wie möglich aus den nassen Sachen raus, bevor wir uns noch eine Erkältung einfangen. Nach einer heißen Dusche wird es uns sicher besser gehen. Dann überlegen wir in Ruhe, was wir machen.«
Fee nickte stumm und sah zu, wie Daniel das Haus verließ. Dann ging sie nach oben, zog sich aus und stellte sich unter die Dusche. Als das warme Wasser über ihren Körper lief, verschwand die Kälte schnell. Doch die Sorgen blieben und wurden noch größer, als sie Daniel im Gästezimmer traf.
»Ich habe draußen alles abgesucht«, berichtete er, während sie sich anzog. »Es gibt keinen Hinweis darauf, wo die beiden sein könnten.«
»Die Fahrräder!«, fiel Fee plötzlich ein. »Vielleicht sind sie …« Fee stoppte, als Daniel bei ihren Worten den Kopf schüttelte.
»Nach den Fahrrädern habe ich gesehen. Sie stehen beide im Schuppen.«
Daniel ging ins Bad, und Fee schaute sich in Lonis Küche nach etwas Essbarem um. Im Kühlschrank stand ein großer Topf Chili, den Loni sicher für heute Abend vorbereitet hatte. Fee wärmte zwei Portionen für sich und Daniel auf und kochte heißen Tee.
Lonis Chili war köstlich wie immer, aber sie konnten es nicht genießen. Schweigend aßen sie. Nur das stete Heulen des Windes, der sich an der Hauswand rieb, durchbrach die Stille.
Nach dem Essen setzten sie sich auf die Couch. Daniel hatte ein paar Holzscheite in den kleinen Kaminofen geworfen. Schnell breitete sich eine wohlige Wärme aus.
Fee lag in Daniels Armen. Er hatte eine Decke über sie ausgebreitet und streichelte gedankenversunken über ihren Arm. Das Licht hatten sie ausgemacht. Ihnen reichte der sanfte Schein des Kaminfeuers.
»Vielleicht sind sie jetzt da draußen und brauchen unsere Hilfe«, brach Fee das Schweigen.
»Sobald es hell ist, werden wir nach ihnen suchen. Jetzt können wir nichts für sie zu tun.«
»Wenn wenigstens das Telefon funktionieren würde. Wir könnten dann die Polizei rufen.«
»Ja, allerdings glaube ich kaum, dass die Polizei noch in der Nacht einen Suchtrupp losschickt. Wahrscheinlich würden sie auch bis morgen warten.«
Fee wusste, dass Daniel recht hatte. Doch das machte es ihr nicht leichter, mit der Ungewissheit klarzukommen oder die Untätigkeit zu ertragen.
Als Fee Stunden später wach wurde, war das Feuer im Ofen erloschen. Im Haus war es dunkel. Der Wind hatte sich gelegt, und es regnete nicht mehr. Es war still, auch von draußen drangen keine Geräusche herein. Bis auf Daniels gleichmäßige Atemgeräusche, die ihr sagten, dass er schlief, war nichts zu hören. Und doch war Fee der festen Überzeugung, dass sie irgendein Lärm geweckt hatte. Sie lauschte noch eine Weile in die Finsternis hinein, dann fielen ihr die Augen wieder zu. Plötzlich war sie hellwach. Da war es wieder! Ein kratzendes Geräusch, das von draußen durch die dicken Bohlen ins Hausinnere drang. Vor Schreck hielt sie die Luft an. Die Dunkelheit machte ihr auf einmal Angst, und sie wünschte sich, sie hätten das Licht angelassen.
»Dan!«, flüsterte sie tonlos. »Dan! Wach auf!«
Daniel schlief weiter, aber das seltsame Kratzen erstarb. Bevor Fee erleichtert aufatmen konnte, hörte sie eilige Schritte auf der Terrasse.
»Dan! Dan! Wach auf!«, rief sie nun laut und rüttelte an seinem Arm.
Daniel schnellte hoch. »Was ist?«
»Hör doch! Irgendjemand läuft ums Haus!«
Daniel horchte kurz, aber draußen rührte sich nichts mehr.
»Vielleicht sind Loni und Fred endlich gekommen«, nuschelte er schlaftrunken.
»Dann würden sie wohl kaum an der Hauswand kratzen«, zischte Fee nervös.
»Wieso sollten sie an der Hauswand kratzen?«, fragte Daniel verwirrt zurück. »Warum kommen sie nicht rein?«
Fee antwortete nicht. Entsetzt sah sie ihn an. Dan hatte recht! Loni und Fred wären hereingekommen. So wie jeder reinkommen konnte, der es darauf anlegte. Die Haustür war unverschlossen! Sie stand für alle offen!
Fee sprang auf, rannte zur Tür und schob mit zitternden Händen den Riegel vor. Jetzt wurde auch Daniel munter. So hatte er seine ruhige, besonnene Frau noch nie erlebt.
Aufs Höchste alarmiert fragte er: »Fee, was soll das? Was ist los mit dir?«
»Dan, da draußen ist jemand! Warum hörst du mir denn nicht zu?« Ängstlich sah sie zum Fenster hinüber. Dann lief sie zu ihrer Handtasche, die auf einem Sessel lag, zerrte ihr Handy heraus und schaltete es hastig an. »Kein Empfang! Warum gibt es hier kein Netz? Was ist denn bloß los?« Ihre Stimme überschlug sich fast vor Panik.
»Fee, Liebling, es ist alles in Ordnung.« Daniel eilte zu ihr und zog sie in eine Umarmung. »Da ist niemand. Wahrscheinlich hast du schlecht geträumt. Kein Wunder, bei all der Aufregung. Und dann noch dieses Gerede über Hexen und Geister. Du solltest unbedingt …«
Ein lautes Poltern ließ ihn verstummen. Draußen musste etwas zu Bruch gegangen sein. Fee spürte, wie Daniel erstarrte, als nun auch noch hastige Schritte zu hören waren. Es klang, als würden gleich mehrere Personen über die Terrasse laufen. Kurz darauf kehrte wieder Stille ein.
»Glaubst du mir jetzt?«, flüsterte Fee, die Augen fest auf das dunkle Fenster geheftet, in der bangen Erwartung, dass sich dort gleich ihr schlimmster Albtraum offenbaren würde.
Daniel nickte und ging zum Fenster, um hinauszusehen.
»Es ist zu finster, um etwas zu erkennen«, sagte er leise. »Ich werde rausgehen und schauen, was da los ist.«
»Untersteh dich!«, rief Fee sofort aufgebracht. »Wer weiß, wer sich da rumtreibt und in welche Gefahr du dich da begibst! Reicht es denn nicht, dass Loni und Fred verschwunden sind? Soll uns das Gleiche passieren? Wer immer da draußen ist, führt nichts Gutes im Schilde.«
»Das weißt du doch gar nicht. Vielleicht ist jemand in Not und braucht unsere Hilfe.«
»Dann hätte er hier angeklopft und höflich um Hilfe gebeten, statt da draußen zu randalieren!«
»Fee, bitte beruhige dich doch. Ich bin mir sicher, dass es eine ganz harmlose Erklärung für alles gibt. Du musst wirklich keine Angst haben.«
»Ach ja? Woher willst du das wissen? Wir sind hier allein in einer gottverlassenen Gegend ohne Telefon! Im Notfall können wir noch nicht mal Hilfe rufen. Niemand von uns geht heute Nacht vor die Tür. Wir bleiben hier drin, bis es draußen hell wird.«
Fee hatte ihre Hände in die Seiten gestemmt und sah ihn kämpferisch an. Es war ihr ernst mit dem, was sie sagte. Daniel kannte sie gut genug, um zu wissen, dass er nichts machen konnte, um sie umzustimmen. Unter normalen Umständen hätte er sich vielleicht trotzdem auf eine Diskussion eingelassen, um ihr seinen Standpunkt mit logischen und vernünftigen Argumenten klarzumachen. Doch hier lagen keine normalen Umstände vor. Fee war völlig außer sich, beinahe panisch. Sie hatte große Angst, die sich nur verschlimmern würde, sollte er jetzt auch noch das Haus verlassen.
Daniel wollte nicht, dass sich Fee aufregte oder ängstigte. Er liebte sie und sah seine größte Erfüllung darin, sie glücklich zu machen. Er war bereit, alles zu tun, damit sie fröhlich, unbeschwert und angstfrei war. Und wenn er dafür auf den nächtlichen Kontrollgang verzichten musste, würde er es eben tun.
»Also gut«, sagte er ruhig. »Wir machen es so, wie du es sagst. Wir bleiben heute Nacht beide im Haus. In zwei Stunden geht die Sonne auf. Bis dahin warten wir einfach ab. Einverstanden, mein Liebling?«
Fee nickte erleichtert. Als Daniel die Hand nach ihr ausstreckte, ging sie zu ihm und ließ sich von ihm in die Arme nehmen.
»Feelein, uns wird nichts passieren. Das würde ich doch nie zulassen. Und nun vertrau darauf, dass auch diese Nacht vorübergehen wird.«
»Hoffentlich bald«, wisperte sie.
Daniel hauchte einen sanften Kuss auf ihre Lippen. »He, mein Liebling. Ich bin doch auch noch da«, sagte er betont forsch. »Traust du mir etwa nicht zu, auf uns aufzupassen?«
Fee gab dazu nur einen langen Seufzer von sich, der hoffnungsvoller klang, als ihr bewusst war. Wenn Daniel bei ihr war, fühlte sich Fee immer wunderbar behütet. Sie brauchte keinen Ritter in glänzender Rüstung, der in die Welt hinauszog, um gegen den Drachen zu kämpfen. Es reichte ihr, wenn ihr Ritter sie in seinen Armen hielt und sie nicht verließ.
*
Die restliche Nacht verlief ruhig und ereignislos. Wer immer sich da draußen rumgetrieben hatte, war verschwunden.
Fee und Daniel lagen eng aneinandergeschmiegt auf der Couch. Daniel hatte zuvor die Vorhänge zugezogen und eine Lampe angeschaltet. Er ahnte, dass das Fee helfen würde, mit ihren Ängsten fertigzuwerden. Anfangs hatte er noch versucht, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, um sie etwas abzulenken. Doch dafür waren beide viel zu müde gewesen. So hatten sie nur schweigend darauf gewartet, dass sich die Dunkelheit der Nacht endlich auflösen würde. Und als die Dämmerung dann kam, schliefen beide völlig erschöpft ein.
Der Tag war längst angebrochen, als sie wieder wach wurden. Die wenigen Stunden Schlaf und die Aufregungen der vergangenen Nacht hatten ihre Spuren hinterlassen. Sie fühlten sich übernächtigt und angeschlagen. Doch zum Ausruhen fehlten ihnen die Ruhe und die Zeit.
»Vielleicht machst du uns erst mal einen Kaffee«, schlug Daniel vor. »Inzwischen schaue ich draußen nach dem Rechten.«
»Du gehst da nicht allein raus!«
»Liebling, bitte, du musst jetzt keine Angst mehr haben.«
»Habe ich nicht!«, behauptete Fee leicht verstimmt. »Ich will einfach nur mitkommen, um selbst zu sehen, was da heute Nacht los war.«
»Aha«, sagte Daniel nur und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, als sie ein Messer aus dem Messerblock zog und nach dem Nudelholz griff.
»Nur für alle Fälle«, sagte sie verlegen.
»Bitte leg das Messer weg. Du wirst noch damit hinfallen und dich verletzen. Außerdem wäre es in deinen Händen ohnehin völlig nutzlos. Oder glaubst du wirklich, du wärst fähig, es zu benutzen?«
Fee verzog den Mund und legte das Messer auf dem Küchenschrank ab. Natürlich hatte Daniel mit allem, was er gesagt hatte, recht. Und dass ihr Verhalten überzogen und albern war, wusste sie auch. Aber noch saß ihr der Schreck der letzten Nacht in den Gliedern, und ihr war es bisher nicht gelungen, ihn abzuschütteln. Deshalb trennte sie sich auch nicht von dem Nudelholz, das sie mit eisernem Griff umfasste.
»Also dann!«, sagte sie tapfer. »Stellen wir uns den nächtlichen Geistern!«
Als sie den Türriegel entfernen wollte, schob Daniel sie sacht beiseite. »Mir wäre es lieber, wenn du mir den Vortritt überlassen würdest, Liebling.«
Ehe Fee protestieren konnte, hatte Daniel schon das Haus verlassen. Er stand auf der Terrasse und sah sich aufmerksam um. Auf der Wiese lagen zahlreiche Äste und Zweige, die der Sturm dem Wald entrissen hatte. Neben der Tür lag ein Terrassenstuhl völlig verdreht auf der Seite. Wahrscheinlich war das der Grund für das nächtliche Poltern gewesen. Daniel ging die Terrasse entlang und entdeckte Lonis Blumenkübel. Irgendjemand hatte sehr viel Mühe aufgewandt, um alle Petunien und Geranien mitsamt der Blumenerde herauszuholen und großflächig auf den Holzdielen zu verteilen.
Daniel lächelte, als er die vielen kleinen Spuren in der Erde sah.
»Waschbären!«, rief Fee neben ihm entgeistert aus.
»Ja, es scheint eine ganze Familie gewesen zu sein.«
»Puh!« Fee hockte sich hin und atmete tief durch. »Heißt das etwa, dass sich hier eine Waschbärensippe ausgetobt hat, während ich vor Angst fast gestorben werden?« Fee schüttelte fassungslos den Kopf. »Ich verdanke meine Panikattacke also wirklich ein paar süßen Fellknäuel, die sich über Lonis Petunien hergemacht haben.«
Daniel lachte. »Süße Fellknäuel? Das werden Loni und Fred wohl ganz anders sehen. Apropos Loni und Fred …« Daniel wurde wieder ernst. »Dieses Rätsel konnten wir noch nicht lösen. Ich mache mir deswegen von Minute zu Minute mehr Sorgen.«
»Das geht mir genauso, Dan. Wir müssen unbedingt etwas unternehmen. Wenn die beiden die Nacht wirklich bei Freunden verbracht hätten, wären sie inzwischen längst wieder hier. Schließlich wissen sie, dass wir hier sind und auf sie warten.«
Daniel sah zum Waldrand auf der anderen Seite der Lichtung. »Vielleicht haben sie gestern einen kleinen Spaziergang gemacht. Sie lieben es, durch die Wälder zu streifen. Irgendetwas muss dann passiert sein, sodass sie es nicht zurückgeschafft haben. Womöglich gab es einen Unfall. Wir sollten nach ihnen suchen, Fee.«
»Ja, natürlich. Obwohl es vielleicht besser wäre, die Polizei zu informieren.«
»Dazu müssten wir aber erst mit dem Auto nach Waldkirchen fahren. In der Zwischenzeit könnte viel geschehen. Ich packe mir einen Rucksack und suche sie. Du nimmst den Wagen …«
»Nein!«, unterbrach ihn Fee sofort. »Wir bleiben zusammen! Wenn du in den Wald gehst, komme ich mit. Ich hätte nicht eine ruhige Minute, wenn wir uns trennen würden. Ich lasse dich nicht allein.«
Daniel überlegte schnell. An Fees entschlossenem Gesichtsausdruck konnte er erkennen, dass sie es ernst meinte. Sie würde ihn nicht allein gehen lassen.
»In Ordnung!«, sagte er. »Einigen wir uns darauf, dass wir eine Stunde für die Suche aufwenden. Haben wir sie bis dahin nicht gefunden, kehren wir um und fahren zusammen nach Waldkirchen, um Hilfe zu holen.«
Fee eilte ins Haus und kochte Tee. Aus Lonis Küchenschrank nahm sie eine Thermoskanne, in die sie ihn anschließend einfüllte. Zusammen mit den Müsliriegeln, die sie entdeckt hatte, würde er ihnen oder ihren Freunden sicher gute Dienste leisten.
Sie verstaute die Sachen in ihren Rucksack, legte noch eine Decke und warme Socken mit rein. Sogar ihr Handy musste mit, obwohl sie wusste, wie sinnlos das war. Um das medizinische Equipment würde sich Daniel kümmern. Seine Arzttasche lag für Notfälle immer im Wagen bereit. Fee zweifelte nicht daran, dass er sie in seinem großen Tourenrucksack verstauen würde, um sie in seiner Nähe zu haben. Dass er sie brauchen würde, ahnten beide.
Ein wenig unheimlich war es für Fee schon, als sie gemeinsam mit Daniel den Wald betrat. Die Ausflüge in den Wald hatte sie früher heiß und innig geliebt. Doch heute beschlich sie ein mulmiges Gefühl, wenn ihr einfiel, welche Gefahren und Geheimnisse er womöglich barg. Noch immer überfiel sie ein leichter Hauch von Panik, sobald sie an ihre gestrige Fahrt durch den Gewittersturm zurückdachte.
Sie hatten beschlossen, in Sichtweite des Sees zu bleiben und nicht zu tief in das Dickicht vordringen. Das verringerte zwar die Chance, die Freunde zu finden, garantierte ihnen aber, zum Haus zurückzufinden und sich nicht zu verirren.
»Fred! Loni!«, riefen Fee und Daniel abwechselnd in kurzen Abständen, während sie mühsam voranschritten. Es schien, als hätte sich der Sturm hier besonders heftig ausgetobt. Immer wieder mussten sie über abgebrochene Äste klettern oder ihnen ausweichen. Die Stunde, die sie sich für die Suche gegeben hatten, war verstrichen, aber noch mochte niemand von ihnen aufgeben und zurückgehen.
Daniel blieb stehen, um sich umzusehen. Die Bäume standen hier nicht mehr so dicht und gaben den Blick auf eine Felsformation frei, die sich unweit von ihnen durch den Wald schlängelte.
»Was würdest du bei einem Gewitter im Wald machen?«, fragte er mehr sich selbst als Fee.
»Ich würde mir einen halbwegs sicheren Unterstand suchen«, erwiderte Fee ein wenig atemlos.
Daniel nickte und zeigte auf die Felsüberhänge, unter denen es erstaunlich trocken aussah. »So etwas vielleicht?«, fragte er und setzte sich sofort in Bewegung. Das war der letzte Versuch, die Freunde zu finden, nahm er sich vor. Sollten sie hier keinen Erfolg haben, würden sie ihre Suche abbrechen und der Polizei die Arbeit überlassen.
»Loni! Fred!«, rief Fee hinter ihm, und tatsächlich hörten sie eine schwache Antwort.
Sofort rannte Fee an ihm vorbei auf das felsige Gestein zu. Gut geschützt, in einer nach außen weit geöffneten Höhle fanden sie die Vermissten. Während Fred auf dem Boden lag und sich kaum rührte, saß Loni aufrecht und winkte ihnen aufgeregt zu. »Hier! Wir sind hier! Gott sei Dank! Ihr habt uns gefunden!«
Beide sahen mitgenommen aus, aber im Moment waren Fee und Daniel nur froh, dass sie am Leben waren.
»Was ist passiert? Seid ihr verletzt?«, fragte Daniel sofort.
»Ja, aber bitte kümmert euch zuerst um Fred«, sagte Loni schnell. »Ich glaube, er hat einen Herzinfarkt.«
»Blödsinn! Mir geht’s längst wieder besser. Aber Loni hat sich den Fuß gebrochen.«
Fred klang so schwach, dass Daniel rasch an seine Seite eilte und seinen Rucksack auspackte. Inzwischen blieb Fee bei Loni und sah sich ihren Fuß an.
»Er scheint wirklich gebrochen zu sein. Ich werde das Sprunggelenk mit einer Schiene ruhigstellen. Wenn du möchtest, gebe ich dir vorher ein Schmerzmittel.«
Loni schüttelte den Kopf. »Nein, Fee. Fred braucht deine Hilfe, nicht ich.«
Fee sah kurz zu Daniel, der gerade Fred abhorchte. »Daniel wird das allein schaffen. Falls nicht, wird er es mir sicher sagen. Erzähl jetzt bitte erst mal, was passiert ist. Wir haben uns große Sorgen um euch gemacht, als wir gestern Abend ankamen und ihr wart nicht da.«
»Wir wollten noch einen kleinen Spaziergang machen, bevor das Unwetter losgeht. Ich war etwas ungeschickt und bin unterwegs gestolpert. Die Schmerzen waren so heftig, dass ich keinen Schritt weitergehen konnte. Fred hat mich dann Huckepack genommen.«
Loni Steinbach schob sich die dunklen Ponyfransen aus der Stirn. Sie war eine kleine, fast zierliche Frau, die kaum einen Zentner wog. Trotzdem durfte es nicht leicht gewesen sein, sie durch den Wald zu tragen; jedenfalls nicht bei diesem unebenen Gelände und der brütenden Hitze des gestrigen Tages.
»Wir sind nicht weit gekommen. Fred hatte den ganzen Tag schon Kreislaufprobleme gehabt. Kein Wunder, bei diesem schwülwarmen Wetter. Die Anstrengung, mich durch den Wald zu schleppen, hat ihm dann den Rest gegeben.« Loni schniefte leise, als sie weitersprach: »Er ist zusammengebrochen und war ein paar Sekunden bewusstlos. Als er wieder zu sich kam, hat er über Schmerzen in der Brust und im linken Arm geklagt. Ich wusste sofort, dass es ein Herzinfarkt ist.«
»Ach, Loni!«, mischte sich Fred mit dünner Stimme ein. »Das kannst du doch gar nicht wissen. Die Sache ist bestimmt ganz harmlos. Eine kleine Kreislaufschwäche, mehr nicht. Vergiss nicht, wer der Arzt in der Familie ist.«
»Du solltest nicht so viel reden, Fred«, mahnte Daniel leise. »Außerdem wäre es gut, wenn du das, was deine Loni sagt, ernst nehmen würdest.«
»Ich habe also wirklich einen Infarkt?«
»Das können wir mit absoluter Gewissheit erst in der Klinik sagen. Aber als Rettungsarzt weißt du, dass alle Symptome darauf hindeuten.« Daniel sah zu Loni rüber. »Ich müsst beide so schnell wie möglich ins Krankenhaus. Wir brauchen hier den Rettungsdienst.«
Automatisch, ohne groß nachzudenken, holte Fee ihr Handy aus dem Rucksack.
»Das kannst du gleich wieder einstecken«, sagte Loni niedergeschlagen. »Hier gib es kein Netz.«
»Doch …« Fee sah verwundert aufs Display. »Fünf Balken! Volle Netzstärke!«
*
Mit dem Hubschrauber wurden Loni und Fred nach Passau ins Krankenhaus gebracht. Daniel war sich sicher, dass die beiden dort gut aufgehoben waren und die Hilfe bekamen, die sie brauchten. Er würde deshalb erst später mit Fee nachfahren, um nach zu ihnen zu sehen.
Vorher wollten sie sich ausruhen und etwas essen. Fee wärmte nach ihrer Rückkehr das restliche Chili auf, während Daniel das Chaos, das die Waschbären angerichtet hatten, beseitigte. Sie aßen auf der Terrasse, ganz vertieft in den wundervollen Anblick des Sees mit den imposanten Bergketten im Hintergrund.
»Ich kann es immer noch nicht fassen, dass das Telefon funktioniert hat«, sagte Fee.
»Ich auch nicht. Wie sieht es jetzt aus? Haben wir immer noch Empfang?«
Fee warf nur einen kurzen Blick aufs Telefon und schüttelte dann den Kopf. »Nein, alles wieder tot. Wir hatten nur die Möglichkeit für diesen einzigen rettenden Anruf.«
»Schon ziemlich merkwürdig. Aber egal. Freuen wir uns einfach, dass wir so viel Glück hatten.«
Nach dem Essen waren sie zum See hinuntergegangen, auf dessen Wasser glitzernde Sonnenstrahlen tanzten. Daniel stand hinter Fee und hatte seine Arme um ihre Taille geschlungen.
Er küsste zärtlich ihren Nacken. »Ist es nicht wunderschön hier? Von dieser friedlichen Idylle kann ich nicht genug bekommen.«
»Friedliche Idylle?«, fragte Fee lächelnd. »Dieser Begriff kam mir letzte Nacht nicht in den Sinn.«
»Ich weiß, Liebes, und es tut mir leid, dass es so schlimm für dich war.«
»Ich war richtig hysterisch, und das auch noch völlig grundlos. Jetzt, bei Tageslicht, ist mir das ziemlich peinlich.«
»Du warst nicht hysterisch, sondern hattest panische Angst. Und das sollte dir nicht peinlich sein. Wahrscheinlich hätten alle bei dem, was wir in der letzten Nacht erlebt haben, die Nerven verloren.«
»Alle außer dir, mein Schatz.«
Daniel schmunzelte. »Tja, entweder bin ich wirklich so ein mutiger, furchtloser Held oder ich habe meine Angst gut verbergen können.«
Fee lachte verhalten. »Nein, du bist ein Held, und ich der große Angsthase. Ich hoffe sehr, dass du das für dich behältst und niemandem davon erzählst.«
»Du bist alles andere als ein Angsthase. Und nun lass uns die Geschichte einfach vergessen.« Er nickte mit dem Kopf zum See hinüber. »Genießen wir einfach noch für ein paar Minuten diesen zauberhaften Ausblick, bevor wir uns auf den Weg nach Passau machen.«
Im Passauer Krankenhaus gab es eine Cafeteria mit einem kleinen Shop. Hier wartete Fee auf Daniel, der sich nach ihren Freunden erkundigen wollte.
»Loni bekommt gerade ihre Orthese angepasst, und Fred ist noch beim Herzkatheter«, berichtete er, als er zu ihr kam. »Es geht beiden gut, und in einer halben Stunde können wir zu Ihnen.«
»Sehr schön, dann warten wir hier so lange. Dan, du musst unbedingt den Apfelkuchen probieren. Er schmeckt einfach himmlisch.«
»Du hast dich also nicht gelangweilt, sondern schon mal die Kuchenauslage durchprobiert.« Erst jetzt fiel Daniel auf, womit sich seine Frau außerdem die Wartezeit vertrieben hatte. »Du hast Postkarten geschrieben.«
»Urlaubsgrüße«, korrigierte ihn Fee und hielt die bunte Kartenvielfalt hoch. »Berger bekommt auch eine.«
Daniel lachte. »Hältst du das für eine gute Idee? Reicht es denn nicht, dass der gute, alte Fred einen Infarkt erlitten hat? Soll Erik Berger nun auch noch dran glauben?«
»Ich bin mir sicher, dass Berger keinen bekommen wird. Vielmehr denke ich, dass er sich über die Karte freut, auch wenn er das nie zugeben wird.«
Daniel stimmte ihr zu. Im Moment interessierte er sich aber weniger für Bergers Gefühle, sondern mehr für den Gesundheitszustand seiner Freunde. Überhaupt hatte er seit dem Beginn des Urlaubs erstaunlich wenig an München oder die Behnisch-Klinik gedacht. Das war eine neue Erfahrung für ihn. Normalerweise brauchte er immer lange, bis es ihm gelang abzuschalten. Für gewöhnlich begleiteten ihn die Gedanken an die Klinik und an das, was dort während seiner Abwesenheit geschah, fast ununterbrochen. Dass es diesmal anders war, lag sicher daran, dass ihm seit seiner Abreise aus München kaum die Zeit geblieben war, an etwas anderes zu denken als an den gegenwärtigen Moment.
Fee und Daniel staunten nicht schlecht, als sie bei ihren Freunden ankamen. Irgendwie hatte es Fred doch tatsächlich geschafft, ein gemeinsames Krankenzimmer mit seiner Loni zu bekommen.
»Immerhin sind wir im Urlaub«, erklärte er, als sich Daniel darüber amüsierte. »Und den werde ich ganz bestimmt nicht ohne meine Frau verbringen.«
»Ich bin froh, dass wir zusammen sind«, sagte Loni mit feucht schimmernden Augen. »Ich hatte so große Angst, dich zu verlieren, Fredi.«
»Schon gut, Kleines. Nun haben wir es doch geschafft. Mein Infarkt ist nur ein harmloser Mini-Infarkt, den wir schnell vergessen werden.«
»Fred, du weißt am besten, dass es so etwas wie einen harmlosen Mini-Infarkt nicht gibt«, mahnte Daniel ernst.
»Ja, ja«, seufzte Fred. »Das hat mir der Kardiologe während der Katheteruntersuchung auch gesagt. Ich soll meinen ganzen Lebensstil ändern, meine Ernährung umstellen, mich mehr bewegen und Stress vermeiden. Als ob das in meinem Beruf so einfach wäre.«
»Was ist schon einfach?«, fragte Loni und langte nach seiner Hand, um sie zu drücken. »Wir haben die Chance, noch viele schöne gemeinsame Jahre zu verbringen. Wenn wir dafür etwas ruhigerleben müssen, werden wir das halt machen. Das bekommen wir schon hin, Fredi.«
»Recht so, Loni.« Daniel war zufrieden. In Loni hatte er eine Verbündete gefunden, die in Zukunft gut auf seinen Freund achtgeben würde.
»Die Nacht dort im Wald muss schrecklich für euch gewesen sein«, sagte Fee. »Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie sehr ihr euch geängstigt habt.«
»Erstaunlicherweise konnten wir es gut ertragen. Nicht wahr, Loni? Wir hatten rechtzeitig einen trockenen Unterstand gefunden, und nachdem das Gewitter abgezogen war, sind wir sogar eingeschlafen. Große Angst hatte ich nicht gehabt. Du etwa, Loni?«
»Um dich habe ich mich schon gesorgt, Fredi. Aber ansonsten …« Loni schüttelte den Kopf. »Ich fühlte mich trotz allem gut behütet.«
»Du hattest also keine Sorge, dass euch die böse Waldhexe holen kommt?«, scherzte Daniel.
»Böse Waldhexe! So ein Quatsch!« Loni schnaubte leicht entrüstet auf. »Das haben sich die Leute früher ausgedacht, um unartige Kinder zu ängstigen. In Wahrheit hat die Waldhexe immer nur weiße, gute Magie angewandt. Noch heute steht sie Menschen bei, die in ihrem Wald in Not geraten sind.«
Daniel und Fee sahen sich mit offenen Mündern an. »Du glaubst daran?«, fragte Fee erstaunt.
»Manchmal schon«, sagte Loni gelassen. »Es passieren doch immer wieder Dinge, die wir uns nicht erklären können. Schon in früheren Zeiten haben die Leute es dann gern für Hexenwerk und Zauberei gehalten.« Loni zuckte die Achseln. »Ich denke, das sollte jeder mit sich selbst ausmachen.«
Daniel runzelte die Stirn. »Wenn wir an die letzten Stunden zurückdenken, fallen uns einige unerklärliche Dinge ein. Stimmt’s, Fee?«
»Ja, zum Beispiel das Handynetz, das plötzlich da war, als wir es am dringendsten brauchten. Und dann noch die Sache mit dem Hirsch.«
Fee und Daniel erzählten von ihrer dramatischen Fahrt durch den Gewittersturm. Nach wie vor war Fee der Meinung, dass der schwere Ast das Auto getroffen hätte, wenn der Hirsch nicht gewesen wäre.
Als Loni das nur mit einem wissenden Lächeln quittierte, sagte Daniel schnell: »Mir ist es ziemlich egal, ob alles nur ein Zufall war oder ob die gute Tat einer Hexe dahintersteckt. Ich bin einfach nur froh, dass wir es alle einigermaßen glimpflich überstanden haben und ihr bald wieder auf dem Posten seid.«
»Oh!«, rief Fee. »Da fällt mir ein, eure Petunien haben die Nacht leider nicht überlebt. Es gibt also doch Opfer zu beklagen.«
»Diese verflixten Waschbären!«, empörte sich Fred augenblicklich. »Nun haben sie es also doch geschafft!«
Loni lachte glockenhell. »Seit einigen Nächten besucht uns eine Waschbärensippe. Aus irgendeinem seltsamen Grund haben sie es auf unsere Blumenkübel abgesehen. Bisher konnten wir sie immer vor dem Waschbärenangriff retten, indem wir sie abends einfach in den Schuppen stellten. In der letzten Nacht blieben sie leider draußen, und die Waschbären haben das natürlich gleich ausgenutzt. Nun ja, es gibt wahrlich Schlimmeres. Ich hoffe nur, dass euch diese kleine Bande nicht wachgehalten hat. Sie können schon einen ordentlichen Radau machen. Als sie das erste Mal bei uns einfielen und randalierten, bekamen wir einen riesigen Schrecken. Wir hatten sogar an Einbrecher gedacht.«
»Ach, so schlimm war das gar nicht«, behauptete Daniel sofort und grinste Fee verschwörerisch an. »Wir haben kaum etwas von ihnen mitbekommen.«
Fee war das Ganze immer noch sehr peinlich. Deshalb beeilte sie sich, das Thema zu wechseln: »Wisst ihr schon, wie lange ihr hierbleiben müsst?«
»Sicher ein oder zwei Wochen«, entgegnete Fred. »Lonis Sprunggelenk muss genagelt werden. Mit dem Eingriff müssen sie aber warten, bis die Schwellung abgeklungen ist. Und mich wollen sie hier gründlich durchchecken. Schade, unseren Urlaub haben wir uns anders vorgestellt.«
»Wenigstens könnt ihr noch ein paar schöne Tage am See verbringen«, sagte Loni zu Fee und Daniel.
»Ohne euch? Ich weiß nicht so recht.« Fee war unschlüssig, ob sie nicht besser nach Hause fahren sollten. Sie waren hergekommen, um Zeit mit den Freunden zu verbringen. Es schien ihr nicht richtig, den Urlaub fortzusetzen, während Loni und Fred in der Klinik bleiben mussten.
»Bitte, tut uns den Gefallen. Bleibt noch!«, bat Loni eindringlich. »Genießt euren Urlaub! Ihr habt euch doch so darauf gefreut. Außerdem ist der Kühlschrank voller Lebensmittel. Sie würden verderben, wenn ihr jetzt abreist.«
»Was meinst du Fee? Bleiben wir?«, fragte Daniel.
An seinem Blick erkannte Fee, wie sehr ihm dieser Gedanke gefiel. Und auch Fee erwärmte sich schnell dafür. Sie könnten mit dem Boot rausfahren, lange Spaziergänge machen, abends bei einem Glas Wein auf der Terrasse sitzen und sich küssen, wann immer ihnen danach war. Deshalb konnte ihre Antwort nur ein Ja sein.
Lächelnd sagte sie: »Wir müssen unbedingt noch bleiben. Vielleicht gelingt uns ja ein Foto von der Waschbärenfamilie. Schließlich haben wir sie in der letzten Nacht verpasst.«
*
Dr. Erik Berger saß am Schreibtisch des Chefarztes und sah auf die Postmappe, die ihn Katja Baumann bringen musste. Sie war viel dünner, als er erwartet hatte. Kopfschüttelnd sah er auf die wenigen Schreiben, die nichts anderes als Werbebotschaften eifriger Lieferanten waren. Gab es denn keine wichtigen Briefe mehr?
»Frau Baumann!«, dröhnte sein lauter Bass durch das Büro.
Fast im selben Moment kam Katja herein. »Ja, Dr. Berger? Was gibt es denn diesmal?«
»Was soll das hier?«, fragte er grantig und ließ die Postmappe auf den Tisch fallen. »Wollen Sie mir wirklich erzählen, dass das der gesamte Posteingang ist?«
»Das habe ich nie behauptet, Herr Berger. Sie haben darauf bestanden, dass ich Ihnen die Post bringe, und das habe ich getan. Da ich von Dr. Norden, meinem eigentlichen Chef, die Anweisung erhielt, Sie nicht mit der Post zu belästigen, habe ich eine Vorauswahl getroffen und Ihnen nur das gebracht, was ich für richtig hielt.«
»Was Sie für richtig hielten?«, brauste Erik auf. »Wie kommen Sie auf die Idee, dass Sie das Recht besitzen, so etwas entscheiden zu dürfen? Glauben Sie wirklich, dass Sie so viel Kompetenz besitzen zu wissen, was ich sehen muss und was nicht?«
Völlig unbeeindruckt nickte Katja. »Ja, das glaube ich tatsächlich.«
Als Erik Berger ihr einen vernichtenden Blick zuwarf und mit seiner nächsten Schimpftirade beginnen wollte, fragte Katja lächelnd: »Soll ich Ihnen einen Kaffee bringen und ein paar von meinen Schokoladenkeksen?«
»Hören Sie gefälligst auf, mich mit Ihren lächerlichen Keksen bestechen zu wollen!«
»Das ist kein Bestechungsversuch. Eine Bestechung setzt nämlich voraus, dass ich mir damit einen Vorteil erschleichen will. Ich wüsste wirklich nicht, was das in Ihrem Fall für ein Vorteil sein sollte.«
Erik kniff die Augen zusammen und musterte die Assistentin des Chefs. Ob er wollte oder nicht, er konnte sie gut leiden. Die Kleine besaß Mumm und hatte nie mit ihrer Meinung hinterm Berg gehalten, wenn sie aneinandergeraten waren. »Sie sind ganz schön vorlaut und neunmalklug«, sagte er jetzt und klang schon viel versöhnlicher.
Katja nahm das zum Anlass, um noch einmal über den Posteingang zu sprechen. »Vergessen Sie diese blöde Post doch einfach. Dr. Norden wird sich am Montag darum kümmern. Seien Sie froh, dass Sie sich damit nicht belasten müssen.«
»Womit ich mich belasten möchte oder nicht, geht Sie überhaupt nichts an«, grummelte er. »Und nun bringen Sie mir endlich einen Kaffee. Sie scheinen ja sonst nichts zu tun zu haben.«
Katja rollte mit den Augen und war schon fast aus der Tür raus, als Bergers Stimme sie aufhielt: »Und kommen Sie ja nicht auf die Idee, diese dämlichen Schokokekse zu vergessen.«
Erik nahm die Vertretung des Chefarztes sehr ernst. Ihm war egal, dass alle Welt zu denken schien, dass er den Chefarzt nur pro forma vertrat. Er hielt nichts von halben Sachen. Wenn er sich einer Angelegenheit verschrieben hatte, wurde sie nach bestem Wissen und Gewissen zu Ende gebracht. Deshalb machte er regelmäßige Rundgänge durch die Behnisch-Klinik, kontrollierte die Arbeit seiner Ärzte und mischte sich überall ein. Dass er sich damit unbeliebt machte, störte ihn überhaupt nicht. Er hatte nicht vor, einen Beliebtheitswettbewerb zu gewinnen. Er wollte nur die Klinikabläufe optimieren und alles am Laufen halten, bis der Chefarzt am Montag zurückkam.
Erik atmete auf, als ihn sein nächster Rundgang in die Notaufnahme führte. Hier war er zu Hause. Es gab keinen Ort, an dem er sich wohler fühlte als in der Aufnahme der Behnisch-Klinik.
»Wie sieht’s aus?«, erkundigte er sich bei Dr. Jakob Janssen. »Irgendwelche Fälle, von denen ich wissen sollte?« Noch während er fragte, setzte er sich vor den Computer und sah die Behandlungsberichte durch.
»Nein, nichts Besonderes, seit Sie das letzte Mal hier waren«, erwiderte der junge Assistenzarzt locker. »Nur ein gebrochenes Handgelenk, das zur Reposition in die Chirurgie verlegt wurde, eine Schnittwunde, der ich eine bildschöne Naht verpasst habe, und ein alter Mann mit Demenz.«
»Warum ist er hier?«
»Er war einer Nachbarin aufgefallen, weil er leicht verwirrt durch die Gegend lief. Anstatt ihn nach Hause zu bringen, hat sie den Rettungswagen gerufen, der ihn dann hergebracht hat.«
»Und was haben Sie nun mit ihm vor?«
»Äh … Nichts«, sagte Jakob und zuckte die Achseln. »Ich schicke ihn wieder nach Hause. Gegen Demenz können wir hier nichts machen. Reine Zeitverschwendung, wenn Sie mich fragen.«
»Sie halten es also für reine Zeitverschwendung, sich um einen älteren Herrn zu kümmern, der im akuten Delir eingeliefert wurde?«, fragte Erik gefährlich leise.
Jeder, der den Leiter der Aufnahme kannte, wusste, was dieser Tonfall zu bedeuten hatte. Und deshalb zog Jakob sofort den Kopf ein.
»Natürlich nicht. So meinte ich es doch gar nicht«, stammelte er sichtlich nervös. »Aber … äh … Nun, er hat doch Demenz …«
»Ist die Demenzdiagnose gesichert? Wer hat sie gestellt? Haben Sie mit dem Hausarzt des Patienten gesprochen? Oder mit den Angehörigen? Dem Neurologen?«
»Nein … Nein … Aber der Notarzt meinte, er hätte wohl eine Demenz. Es deutet ja auch alles darauf hin: das Alter, die Verwirrtheit …«
»Wenn Sie jetzt behaupten, dass Ihnen das reicht, um die Diagnose Demenz zu stellen, schicke ich Sie zum Nachsitzen auf die Uni zurück!«, bellte Erik nun ungehalten. »Haben Sie mal aufs Thermometer gesehen? Wir haben draußen mehr als dreißig Grad im Schatten. Wenn bei diesen Temperaturen ein verwirrter Senior eingeliefert wird, sollten Sie ihm etwas zu trinken geben und keine voreilige Demenzdiagnose stellen! In welchem Behandlungsraum liegt er?«
»In der Drei. Es tut mir leid, aber …«
Erik hörte das Gestammel seines Assistenzarztes nicht mehr. Er war bereits aus dem Zimmer gestürzt. Bis er in der Drei ankam, hatte er sich wieder so weit im Griff, dass er seinen Patienten ruhig begrüßen konnte. Dann unterhielt er sich mit dem Mann, stellte ein paar Fragen und untersuchte ihn. Dabei ignorierte er Jakob Janssen, der die ganze Zeit betreten danebenstand.
»Herr Stüwe, haben Sie heute schon etwas getrunken?«, wollte Erik wissen, nachdem er seine Untersuchung beendet hatte.
»Ich weiß nicht … Vielleicht … «
»Es ist heute sehr heiß. Da muss man mehr trinken als sonst. Deshalb werden wir Ihnen jetzt einen Tropf anlegen und etwas Flüssigkeit geben. Danach werden Sie sich bestimmt besser fühlen und können dann auch bald wieder entlassen werden. In Ordnung?«
»Wenn Sie meinen, Herr Doktor.«
Zu Schwester Anna, die gerade den Raum betrat, sagte Erik: »Fünfhundert Milliliter Ringerlösung in die Vene und die gleiche Menge an Tee oder Wasser per oral. Der Mann ist dehydriert.«
Von der Riesenstandpauke, die sich Jakob Janssen im Dienstzimmer seines Chefs anhören musste, bekam Herbert Stüwe nichts mit. Er freute sich über die nette Schwester, die ihm einen Tropf anlegte, reichlich Tee einflößte und – da war er sich sicher – sogar ein wenig mit ihm flirtete. Ihm ging es wieder bestens, und er konnte überhaupt nicht verstehen, was mit ihm los gewesen war.
Immer noch sauer auf Jakob Janssen, verließ Berger die Notaufnahme. Wieder einmal fühlte er sich in seiner Meinung bestätigt, dass es das Beste war, sich selbst um alles zu kümmern. Es gab niemanden, auf den er sich verlassen konnte. Schon gar nicht auf Janssen, der mit seinen Diagnosen oft zu voreilig war und nichts ernst nahm.
Katja Baumanns Schreibtisch war verwaist, und Erik war froh darüber. Wahrscheinlich hätte sie sonst seine miese Laune abbekommen. Hinterher hätte er sich deswegen nur schlecht gefühlt und sich womöglich bei ihr entschuldigt.
Er überlegte gerade, ob er die Gelegenheit nutzen sollte, um heimlich in ihrem Schreibtisch nach der unterschlagenen Post zu suchen, als die Tür aufgerissen wurde und Dr. Christina Rohde hereingeplatzt kam.
Erik brauchte erst gar nicht in das wütende Gesicht der Chirurgin zu sehen, um zu wissen, dass ihr Auftauchen nur Ärger bedeuten konnte. Christina Rohde bedeutete nämlich immer Ärger. Mit niemandem legte er sich häufiger an als mit ihr.
»Sie … Sie … Wie können Sie es wagen!«, griff sie ihn völlig außer sich an. »Es ist eine bodenlose Frechheit, was Sie sich diesmal erlaubt haben! Was fällt Ihnen ein, den OP-Plan für die nächste Woche umzustellen?«
Je mehr sich Christina aufregte, umso ruhiger wurde Erik. Er ließ sie sich erst mal austoben, bis ihr die Luft und der Text ausgingen, und sagte dann gelassen: »Ich bin hier momentan der Chefarzt. Ich denke, ich habe das Recht, den OP-Plan umzustellen, wenn Ihrer der blanke Schwachsinn ist.«
»Der blanke Schwachsinn?« Christina schnappte fassungslos nach Luft. »Der Plan ist kein Schwachsinn! Zumindest war er es nicht, bis Sie daran herumgepfuscht haben! Sie haben doch überhaupt keine Ahnung! Sie sind ja noch nicht mal Chirurg und stehen nie im OP! Was meinen Sie wohl, warum Dr. Norden mir die Verantwortung für den OP gegeben hat und nicht Ihnen?«
»Das interessiert mich nicht. Solange ich hier der Chefarzt bin …«
»Verdammt, Berger, Sie sind nicht der Chefarzt!«, brüllte ihn Christina nun an. »Sie sind nur seine Vertretung für ein verlängertes Wochenende! Warum führen Sie sich nur so auf?«
Erik setzte zu einer passenden Erwiderung an, als sein Blick auf Katja Baumann fiel, die inzwischen zurückgekehrt war und die Szene mit ihren sanften, rehbraunen Augen schockiert beobachtete. Aus irgendeinem Grund störte es ihn, dass sie Zeugin dieser unschönen Auseinandersetzung wurde.
Christina Rohde hingegen war froh, dass es diesem ungehobelten und arroganten Mann endlich mal die Sprache verschlagen hatte. »Nur damit Sie’s wissen, Herr Berger. Ihre dilettantischen Änderungen mache ich alle wieder rückgängig. In der nächsten Woche wird nach meinem Plan operiert und nicht nach Ihrem!«
Christina Rohde stürmte aus dem Raum, und Berger sah ihr achselzuckend nach. Dann sagte er zu Katja: »Was schauen Sie mich denn so entsetzt an? Es ist ganz bestimmt nicht meine Schuld, dass diese Frau total durchgeknallt ist.«
*
Als Erik später in die Notaufnahme zurückkam, um nach Herbert Stüwe zu sehen, erfuhr er, dass Jakob ihn bereits entlassen hatte.
»Es ging ihm doch wieder gut«, verteidigte sich der Assistenzarzt, als Erik deswegen ausrastete. »Er war nach der Flüssigkeitszufuhr klar bei Verstand. Außerdem haben Sie doch selbst gesagt, dass er keine Demenz hat.«
»Ich habe lediglich gesagt, dass Sie vorschnell auf Demenz geschlossen haben, nur weil der Mann durcheinander war. Und dass die Verwirrtheit mit einem akuten Flüssigkeitsmangel zusammenhängt. Haben Sie auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht, warum Ihr Patient zu wenig getrunken hat? Was, wenn mehr dahintersteckt? Vielleicht hat er ja eine beginnende Demenz und dadurch Probleme, allein klarzukommen! Sie hätten das erst mal abklären müssen, bevor Sie diesen Mann sich selbst überlassen! Noch so ein Ding, Janssen, und ich feuere Sie!«
»Sie können mich nicht entlassen!«, regte sich Jakob sofort auf. »Dazu besitzen Sie gar nicht das Recht.«
»Herr Janssen!«, sagte Erik betont ruhig. »Haben Sie immer noch nicht gelernt, wann es besser ist, die Klappe zu halten? Mit jedem Wort, das Sie von sich geben, bringen Sie mich mehr gegen sich auf. Glauben Sie mir, das wollen Sie jetzt ganz bestimmt nicht.«
Als Erik die Notaufnahme verließ, musste er ständig an Herbert Stüwe denken. Erik Berger war ein guter und vor allem ein gewissenhafter Arzt, dem das Wohl seiner Patienten wirklich am Herzen lag. Nur für sie stand er Tag für Tag auf, arbeitete bis zum Umfallen, legte sich mit anderen an und versuchte, immer sein Bestes zu geben. Das Gefühl, dass er heute versagt hatte, ließ ihn nicht mehr los. Dass Herbert Stüwe entlassen wurde, lastete er vor allem sich selbst an. Er hätte da sein müssen. Es war ein Fehler gewesen, die Notaufnahme zu verlassen, nur um in die unleidliche Rolle des Chefarztes zu schlüpfen. Diesen Fehler musste er wieder in Ordnung bringen.
»Und was soll ich jetzt machen?«, fragte Karin Giese irritiert, als Erik Berger seinen Bericht beendet hatte.
»Na, was wohl? Kümmern Sie sich um den Mann! Das ist doch das, was der Sozialdienst hier im Haus macht. Er kümmert sich um die Patienten!«
»Ja, aber nur um die sozialrechtliche Seite, Herr Berger«, stellte Karin richtig. »Und das ausschließlich bei unseren stationären Patienten. Der Mann, von dem Sie mir erzählt haben, wurde gar nicht erst stationär aufgenommen. Er fällt also nicht in die Zuständigkeit des Sozialdienstes.«
»Sie wollen den Mann also wirklich sich selbst überlassen, nur weil er nicht in Ihre Zuständigkeit fällt?«, schnauzte Berger jetzt.
»Was erwarten Sie denn? Dass ich hier alles stehen und liegen lasse und Herrn Stüwe zu Hause besuche?«
»Warum nicht?«
»Weil ich dann meine eigentliche Arbeit vernachlässigen würde! Und das werde ich ganz sicher nicht machen!«
»Ich könnte es machen«, sagte Anneka plötzlich, die dem Gespräch stumm gefolgt war. Sofort richteten sich zwei Augenpaare auf sie. »Ich mache doch nur ein Praktikum und habe keine festen Aufgaben. Mich würde hier niemand vermissen. Außerdem hört es sich für mich wirklich wichtig an, dass jemand nach dem Mann sieht.«
»Prima!«, rief Erik aus, bevor Karin Giese dieses Angebot ablehnen konnte. Er drückte Anneka ein Blatt Papier in die Hand. »Hier steht alles drauf, was Sie wissen müssen. Name, Anschrift und so weiter. Und denken Sie daran, dass Sie mir anschließend Bericht erstatten. Ich will genau wissen, was da los ist.«
Als Berger wieder fort war, fragte Anneka: »Habe ich einen Fehler gemacht, Frau Giese? Ich hoffe, Sie sind jetzt nicht sauer auf mich. Ich wollte Ihnen nicht dazwischenfunken.«
»Schon gut, Anneka. Ich bin sogar erleichtert, dass Sie sich dazu bereit erklärt haben. Fahren Sie hin und schauen Sie nach dem Rechten. Danach kehrt hier hoffentlich wieder Ruhe ein.«
Anneka hatte keine Mühe, die angegebene Adresse zu finden. Herbert Stüwe bewohnte ein kleines Häuschen in einem ruhigen Vorort. Der Vorgarten hatte früher bestimmt sehr schön ausgesehen. Doch heute wucherten zwischen den noch sichtbaren Staudenpflanzen kniehohes Unkraut, das die wenigen blühenden Pflanzen unter sich begrub.
Anneka musste einige Male klingeln, bevor die Tür geöffnet wurde.
»Ja?«, fragte Herbert und lächelte sie freundlich an.
»Guten Tag, Herr Stüwe. Mein Name ist Anneka Norden. Ich komme aus der Behnisch-Klinik.«
»Die Behnisch-Klinik … Ja, natürlich. Bitte, kommen Sie doch rein.«
Anneka folgte ihm ins Haus. Es beunruhigte sie, dass sie so schnell eingelassen wurde. Menschen, die es nicht gut mit dem alten Mann meinten, hätten sicher leichtes Spiel mit ihm, wenn er zu allen so vertrauensselig war. Der Zustand im Inneren des Hauses beunruhigte sie zusätzlich. Wie im Garten wirkte auch hier alles unordentlich und verwahrlost. Überall lagen Zeitungsstapel und Kartons im Weg. Auf dem großen Küchentisch und in der Spüle türmte sich schmutziges Geschirr. Es roch unangenehm nach Müll und Schmutz.
»Bitte nehmen Sie Platz! Das ist aber schön, dass Sie mich besuchen. In der Behnisch-Klinik waren alle so freundlich zu mir. Aber nun setzen Sie sich doch. Möchten Sie einen Kaffee haben?«
»Nein, vielen Dank, Herr Stüwe.« Anneka sah sich um und räumte dann kurzentschlossen einen Stuhl frei, um sich hinzusetzen. »Dr. Berger hat mich gebeten, nach Ihnen zu sehen. Er möchte wissen, ob es Ihnen gutgeht und ob Sie vielleicht noch Hilfe benötigen.«
»Ach was, ich brauche doch keine Hilfe. Mir geht es ausgezeichnet. Dr. Berger meinte, ich soll darauf achten, ausreichend zu trinken. Manchmal vergesse ich das wohl.«
Es klingelte, und Herbert schlurfte zur Haustür, um sie zu öffnen. Zusammen mit Ilse Lehner, einer rüstigen, älteren Frau in den Siebzigern, kam er zu Anneka zurück. Anneka sprang auf und stellte sich der Dame vor, die sie misstrauisch musterte. Nachdem sie erfuhr, wer Anneka war, wurde sie zugänglicher.
»Ich wohne nebenan und achte ein wenig auf Herbert«, erzählte sie Anneka. »Als ich Sie hier reingehen sah, wollte ich mal schauen, ob auch alles mit rechten Dingen zugeht. Sie wissen ja sicher selbst, wie viele Ganoven es gibt, die nur die Gutmütigkeit der anderen ausnutzen wollen.«
»Das war sehr umsichtig von Ihnen«, stimmte ihr Anneka zu. »Ich nehme an, dass Sie es auch waren, die heute den Rettungsdienst für Herrn Stüwe gerufen hat.«
»Ja, er lief völlig verwirrt durch die Gegend und hat mich gar nicht mehr erkannt.«
»Ach, Ilse, so schlimm war das doch gar nicht.« Herbert, der bis jetzt schweigend zugehört hatte, war der Gesprächsverlauf unangenehm. »Ich hatte nur zu wenig getrunken. Das kann doch mal passieren. Nun ist ja alles wieder gut. Was soll denn das hübsche Fräulein von mir denken, wenn du solche Sachen von mir erzählst?«
»Machen Sie sich meinetwegen keine Gedanken, Herr Stüwe«, sagte Anneka schnell. »Dass Sie das Trinken vergessen haben, muss Ihnen nicht peinlich sein. Wir vergessen doch alle mal etwas. Aber vielleicht wäre es gut, wenn Sie in Zukunft ein wenig Unterstützung bekommen, damit das nicht noch mal passiert.«
»Bisher kam ich immer sehr gut allein klar.«
»Natürlich, Herr Stüwe.« Anneka wusste, es würde nicht einfach werden, den freundlichen und etwas eigensinnigen Mann zu überzeugen. Doch sie hatte nicht vor, so schnell aufzugeben. Herbert Stüwe hatte Probleme, auch wenn er das nicht einsehen mochte.
Ein großer, geöffneter Pappkarton, der zu ihren Füßen auf dem schmutzigen Küchenboden stand, erregte ihre Aufmerksamkeit.
»Sind das Ihre Medikamente, Herr Stüwe? Darf ich Sie mir mal ansehen?«
»Natürlich, nur zu! Sie kommen ja aus der Klinik. Da müssen Sie dann ja wohl nach meinen Tabletten schauen.«
In dem Karton lagen zahlreiche Medikamentenpackungen, von denen viele schon abgelaufen waren oder nicht auf dem Medikamentenplan standen. Anneka konnte sich gut vorstellen, dass Herbert damit völlig überfordert war und seine Tabletten nicht immer korrekt einnahm.
»O je, o je«, sagte Ilse Lehner kopfschüttelnd. »Das ist ja ein heilloses Durcheinander. Um meine Medikamente kümmert sich ja immer ein Pflegedienst. Ich bin mir sicher, dass das dem Herbert auch nicht schaden könnte.«
»Das sehe ich auch so.« Anneka brauchte eine Viertelstunde, bis sie Herbert überzeugt hatte. Von nun an sollte ihm ein Pflegedienst bei den Tabletten helfen.
Da Anneka noch genügend Zeit hatte und es auf ihrem Weg lag, fuhr sie gleich zu dem Pflegedienst, den ihr Herberts Nachbarin empfohlen hatte. Hier wurde sie bereits erwartet.
»Frau Lehner hat Sie schon angekündigt. Ich bin Raik Simon, der Pflegedienstleiter.«
Anneka stellte sich ebenfalls vor und setzte sich. Sie schätzte Raik Simon auf Mitte oder Ende zwanzig und war beeindruckt, dass er es in seinem Alter schon zum Pflegedienstleiter gebracht hatte und die Verantwortung für ein großes Team und viele Patienten trug.
»Norden?«, fragte er sie jetzt und musterte sie neugierig. »Sind Sie mit dem Chefarzt der Behnisch-Klinik verwandt?«
»Er ist mein Vater. Kennen Sie ihn?«
»Nicht persönlich. Meine Mutter arbeitete dort früher als Schwester. Sie hat ihn immer in den höchsten Tönen gelobt.«
»Da bin ich sehr beruhigt«, erwiderte Anneka schmunzelnd. Dann holte sie ihre Notizen aus der Tasche. »Aber eigentlich bin ich hier, um über Herrn Stüwe zu sprechen. Er braucht nämlich dringend Hilfe.«
Ausführlich berichtete Anneka von dem, was sie über Herbert wusste. Als sie sich eine Stunde später von Raik verabschieden wollte, war sie sich sicher, dass Herbert Stüwe bei diesem Pflegedienst gut aufgehoben war. »Ich bin so erleichtert, dass Sie sich seiner annehmen werden.«
»Wir machen hier nur unseren Job, so wie Sie auch Ihren erledigen.«
»Eigentlich ist das gar nicht mein Job«, gestand Anneka. »Ich mache nur ein einwöchiges Praktikum in der Behnisch-Klink. Morgen ist mein letzter Tag.« Ehe Anneka wusste, wie ihr geschah, saß sie wieder auf ihrem Platz, hielt eine Tasse Kaffee in den Händen und erzählte ihre Lebensgeschichte einem völlig Fremden. Es war nur so, dass ihr Raik Simon gar nicht so fremd vorkam. Sich mit ihm zu unterhalten, fühlte sich einfach gut an; beinahe so, als würde sie sich einem guten Freund anvertrauen. Er hörte ihr aufmerksam zu, nickte an den richtigen Stellen oder stellte Fragen, wenn ihm etwas unklar war.
»Hast du Angst, dass deine Kündigung ein Fehler war?«, wollte er von ihr wissen.
»Nein! Ja … Manchmal. Immer dann, wenn mir bewusst wird, dass ich noch keinen Plan habe, wie es nun weitergehen soll. Kannst du das verstehen?«
Raik nickte. »Natürlich. Wahrscheinlich brauchen wir alle das Gefühl von Sicherheit in unserem Leben. Veränderungen können manchmal Angst machen. Du kannst stolz auf dich sein, Anneka. Du bist gesprungen, ohne Netz und doppelten Boden. Das war ausgesprochen mutig.«
»Oder ausgesprochen leichtsinnig. In wenigen Wochen, wenn mein Urlaub zu Ende ist, bin ich offiziell arbeitslos, sollte ich bis dahin nichts Neues gefunden haben.«
»Weißt du denn schon, was du willst? Möchtest du wieder in einem Wohnheim arbeiten? Vielleicht könntest du ja auch in der Behnisch-Klinik …«
»O nein! Auf gar keinen Fall!«, fiel ihm Anneka schnell ins Wort. »So toll, wie es da auch ist, könnte ich dort unmöglich auf Dauer arbeiten. Ich möchte nämlich nicht ständig an meinen Eltern gemessen werden. Dabei kann ich nur verlieren.«
Raik lachte. »Das glaube ich nicht. Deine Eltern mögen ja genial sein, aber du stehst ihnen in nichts nach. Ich würde mich eindeutig für dich entscheiden.«
Er hatte seine Worte in einen scherzhaften Ton verpackt, aber an seinen warmen, braunen Augen erkannte Anneka den tieferen Sinn dahinter. Die Stimmung zwischen ihnen hatte sich auf einmal verändert. Doch ehe Anneka weiter darüber nachdenken konnte, stand Raik auf und blätterte seine Ablage durch.
»Irgendwo hier muss ich es doch haben«, murmelte er, bevor er triumphierend ein Schreiben aus dem Stapel zog.
»Da ist sie ja! Diese Mail habe ich in der letzten Woche erhalten. Ich wollte sie schon löschen, da sie für uns nicht relevant ist. Doch aus irgendeinem merkwürdigen Gefühl heraus tat ich es erst, nachdem ich sie ausgedruckt hatte.«
»Irgendein merkwürdiges Gefühl?«, echote Anneka.
»Nenn es, wie du willst.« Er reichte das Blatt an Anneka weiter und sagte: »Das ist eine Stellenausschreibung von einem Servicezentrum. Sie suchen eine Sozial- und Pflegeberaterin. Vielleicht wäre das ja etwas für dich.«
»Ja … Ja, das hört sich gut an.« Fasziniert sah Anneka auf das Blatt in ihren Händen. Das wäre genau das, was ihr gefallen könnte. »Ich werde mich da auf alle Fälle bewerben. Vielen Dank, Raik. Wenn das klappt, bin ich dir was schuldig.«
»Schon gut. Ich habe doch nichts getan.«
Anneka stand lächelnd auf und griff nach ihrer Tasche. »O doch, das hast du. Ich durfte dir mein Herz ausschütten, und du hast mir geduldig zugehört. Außerdem hast du in der letzten Woche auf dieses merkwürdige Gefühl gehört und diese Mail ausgedruckt. Das ist viel mehr als nichts.«
Als sie ihn zum Abschied die Hand reichte, war es so, als würde sie einem guten Freund Adieu sagen.
»Vielleicht meldest du dich ja mal und berichtest, ob es mit der Stelle geklappt hat«, sagte Raik so sanft, dass es Anneka warm ums Herz wurde.
Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Nein, nicht vielleicht. Ich melde mich ganz bestimmt bei dir.«
*
Es war Montag, ein ganz normaler Arbeitstag für Fee und Daniel. Der erste Arbeitstag nach einem wundervollen kleinen Urlaub. Dieses lange Wochenende würde für immer in Fees Gedächtnis haften bleiben. Und das nicht nur wegen des Dramas mit Unwetter, nächtlichen Ängsten und der Suche nach den Freunden. Es waren vielmehr die schönen, romantischen Stunden zu zweit, die unvergesslich blieben und an die Fee sehnsüchtig zurückdachte, obwohl sie längst ganz tief im Klinikalltag steckte.
Kurz vorm Mittag verließ sie die Kinderabteilung und ging zu Daniel, der sich bemühte, die dicke Postmappe abzuarbeiten. Fee kam um seinen Schreibtisch herum, schlang ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn ausgiebig.
»Darauf habe ich mich gefreut, seit wir uns heute früh getrennt haben.« Daniel strich zärtlich mit seinen Fingern über Fees Gesicht.
»Bedeutet das etwa, dass dir meine Küsse am Wochenende nicht gereicht haben?«, neckte ihn Fee.
»Deine Küsse werden mir nie reichen, Feelein.« Als müsste er dafür den Beweis antreten, küsste er sie erneut mit der richtigen Mischung aus Leidenschaft und Zärtlichkeit –, so, wie Fee es liebte. Sie wurde seiner Küsse nie überdrüssig, trotzdem war sie es, die sich nun aus der Umarmung löste.
»Ich wollte dich fragen, ob du mit mir in die Cafeteria kommst. Anneka wird in einer Viertelstunde da sein. Sie meinte, sie habe aufregende Neuigkeiten.«
»Gute Neuigkeiten?«
»So hörte es sich am Telefon jedenfalls an. Wie sieht’s aus? Kommst du mit?«
Daniel schüttelte bedauernd den Kopf und wies auf den vollen Schreibtisch vor sich. »Ich habe einiges abzuarbeiten. Es ist unfassbar, wie viel sich hier in den paar Tagen angesammelt hat.«
»Ich nehme an, damit meinst du nicht nur den Papierkram. In der Pädiatrie erzählen sie sich, dass Berger hier für allerhand Aufruhr gesorgt hat.«
Daniel verzog den Mund. »Christina Rohde hat sich hier schon über ihn beschwert. Kaum hatte ich sie besänftigt, tauchte Herr Schön von der Inneren auf. Auch er war ziemlich sauer, weil sich Berger unmöglich aufgeführt haben soll. Katja hat noch zwei weitere Termine für den Nachmittag eingetragen. Da soll es auch um Erik Berger gehen. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, ausgerechnet ihm die Vertretung aufzubürden. Er sieht das übrigens auch so. Das Erste, was er mir heute an den Kopf geknallt hat, war, dass er mich nie wieder vertreten wird. Ich solle es bloß nicht wagen, ihn noch einmal deswegen anzusprechen.« Daniel lächelte jetzt. »Allerdings hat er sich auch lobend über Anneka geäußert. Entgegen seiner Erwartung hätte sie ihre Arbeit ganz gut gemacht und sogar im ausreichenden Maße Eigeninitiative gezeigt.«
»Für seine Verhältnisse mag das ja ein Riesenlob sein, aber in einer Beurteilung würde sich diese Formulierung bestimmt nicht gut machen«, lachte Fee vergnügt auf. Dann wurde sie ernster. »Wenn du mit Berger nicht mehr rechnen kannst, solltest du dich endlich intensiver mit dem Thema Vertretung befassen, Dan. Ich plane nämlich noch viele romantische Liebesurlaube mit dir, und das geht nur, wenn du hier jemanden hast, auf den du dich verlassen kannst.«
Daniel lächelte. »Das klingt, als hätte es dir in dem Häuschen am See sehr gefallen.«
»Ja«, erwiderte Fee voller Liebe. »Es war perfekt. Und das verdanke ich nur meiner charmanten Begleitung.«
Als Fee ihre Tochter in der Cafeteria entdeckte, fiel ihr sofort auf, wie zufrieden und gelöst sie aussah. Es war kaum zu glauben, dass seit ihrer letzten Verabredung auf einen Kaffee erst zwei Wochen vergangen waren. Damals hatte Anneka traurig und müde gewirkt. Davon war heute nichts mehr zu sehen. Sie strahlte förmlich mit der Sonne um die Wette, und Fee konnte es kaum erwarten, den Grund dafür zu erfahren.
»Du willst dich also als Sozialberaterin in einem Servicezentrum der Stadt bewerben?«, fragte sie interessiert, als Anneka von der Stellenausschreibung erzählte. Sie hatte keine Zweifel, dass das gut zu ihrer Tochter passen würde. So konnte sie hilfsbedürftigen Menschen helfen und ihre Fähigkeiten bestens einbringen. Dass dieser Job auch geregelte Arbeitszeiten bedeutete, gefiel Fee zusätzlich.
»Das habe ich schon«, erzählte Anneka stolz weiter. »Ich habe sofort am Freitag meine Bewerbung persönlich abgegeben. Die Leiterin hat mich gleich in ihr Büro geholt, wo wir fast zwei Stunden zusammensaßen und über alles Mögliche sprachen. Heute Morgen hat sie mich angerufen, um mir zu sagen, dass ich die Stelle bekomme.«
»Toll!«, rief Fee begeistert aus. Sie sprang von ihrem Stuhl auf und zog Anneka in ihre Arme. »Ich freue mich so für dich, Liebes. Ich bin mir sicher, dass es dir dort gefallen wird.«
»Ja, das denke ich auch.« Anneka lächelte glücklich. »So wie es aussieht, scheint in einigen Bereichen meines Lebens das Glück einzukehren.«
»In einigen Bereichen?«, fragte Fee neugierig. »Möchtest du mir vielleicht noch mehr erzählen?«
»Nun ja … Dafür ist es eigentlich noch zu früh«, druckste Anneka ein wenig herum. Doch dann erzählte sie lächelnd von Raik. »Er ist nett, sieht toll aus und kann wunderbar zuhören. Er war mir sofort sympathisch. Und außerdem war es sein Vorschlag gewesen, dass ich mich für die Beraterstelle bewerben soll. Deshalb rief ich ihn vorhin auch sofort an, um ihm zu sagen, dass es mit dem Job geklappt hat.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause und sagte dann grinsend: »Wir wollen uns am Samstag treffen, um das gebührend zu feiern.«
Fee freute sich mit ihrem Kind. In den nächsten Minuten sprachen sie über die neuen Dinge, die auf Anneka zukamen, und natürlich auch über Raik, der eine reale Chance besaß, die neue Liebe in Annekas Leben zu werden. Erst später kam Anneka auf den Urlaub ihrer Eltern zu sprechen.
»So hattet ihr euch eure freien Tage sicher nicht vorgestellt«, sagte sie. »Ihr wolltet doch eine schöne Zeit mit euren Freunden verbringen.«
»Das werden wir nachholen. Wir sind einfach nur erleichtert, dass die Sache glücklich ausgegangen ist. Loni und Fred müssen zwar noch ein paar Tage in der Klinik bleiben, aber sie werden sich vollständig erholen. Und dein Vater und ich hatten trotzdem noch ein paar wunderschöne Tage nur für uns.«
»Ach ja?« Anneka sah ihre Mutter ungläubig an. »War euch denn gar nicht langweilig? Mitten im Wald in einem einsam gelegenen Häuschen? Ich stelle mir das ziemlich öde vor. Mir würden wahrscheinlich Action und Aufregung fehlen.«
»Action und Aufregung?« Fee schüttelte sich. »Du kannst mir glauben, davon hatten wir mehr als genug. Unser Bedarf daran ist für die nächsten Jahre gedeckt. Ruhe, Stille und Einsamkeit waren genau das, was wir gebraucht haben.«
»Dann hat es euch dort also gut gefallen?«
Auf Fees Gesicht erschien ein verzückter Ausdruck. »O ja, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr. Es war eine wundervolle Zeit.«
Nur Fee wusste, dass das nicht an der Ruhe und Stille lag, sondern an dem Mann, mit dem sie sie teilen durfte.