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Die Reise nach Tuscumbia
ОглавлениеSo angestrengt sie auch umherspähte, Annies kurzsichtige Augen konnten Mr. Anagnos’ freundliches, bärtiges Antlitz oder Mrs. Hopkins’ flatterndes Taschentuch inmitten der vielen verschwimmenden Gesichter, die sich da auf dem schneebedeckten Bostoner Bahnsteig befanden, nicht ausmachen; aber sie wusste, dass sie noch da waren und warten würden, bis der Zug abfuhr. Fest umklammerte sie die Armlehnen ihres roten Plüschsitzes und wehrte sich mit aller Gewalt gegen den schier unwiderstehlichen Drang aufzuspringen, durch den Wagen zu eilen, die Trittbretter hinunterzuspringen und zu rufen: «Wartet! Wartet doch! Ich will nicht nach Alabama! Bitte helft mir doch, etwas in Boston zu finden!»
Und dann ruckte der Zug an, und der erste Abschnitt von Annies langer Reise, die sie ihrem Schicksal entgegentrug, hatte begonnen. Plötzlich erschauerte sie trotz ihrer dicken grauen Wollkleidung. Alle Mädchen ihrer Gruppe sowie die gesamte Lehrerschaft hatten sich heute Morgen um sie gedrängt, hatten ihren Mut bewundert und das Abenteuer bestaunt, das vor ihr lag, ebenso wie das – wie Mr. Anagnos sagte – «großzügige Gehalt», das sie bekommen würde, ganze fünfundzwanzig Dollar im Monat! Und Annie hatte mitten unter ihnen gestanden, in ihren neuen grauen Kleidern, mit leuchtend roten Bändern an der grauen Haube, und hatte aufgeregt gelacht. Eine strahlende Vision schwebte vor ihr: Annie Sullivan, die tapfere, junge Kreuzfahrerin, die auszieht, um ein scheues, ängstliches kleines Mädchen aus dem Kerker seines tauben und blinden Daseins, aus seiner Unwissenheit zu befreien. Und dieses strahlende Bild hatte sie weiter vor Augen, während Mrs. Hopkins sie zum Fahrkartenschalter begleitete, um ihr beim Kauf der verwirrend großen Anzahl von Fahrscheinen nach Tuscumbia, Alabama, zu helfen, und Mr. Anagnos den geheimnisvollen Vorgang der Gepäckaufgabe überwachte.
Diese Vision dauerte an, bis sie ihren Platz eingenommen hatte und der Augenblick des Abschieds von den beiden Menschen gekommen war, die Annie die erste Freundlichkeit erwiesen hatten, die ihr in dieser Welt widerfahren war. Dann aber begann Mrs. Hopkins zu weinen, als sie das Mädchen umarmte, und Mr. Anagnos’ Stimme wurde plötzlich verdächtig heiser.
In diesem Moment erst kam ihr zu Bewusstsein, dass sie ja wegging! – über tausend Meilen weit weg von allem, was sie kannte – und dass sie darüber hinaus noch das kühne Versprechen gegeben hatte, etwas in Angriff zu nehmen, was bisher überhaupt nur ein- oder zweimal gelungen war: das innere Wesen eines Kindes zu erreichen, ihm die Welt zu erschließen, von der es durch seine Augen und Ohren keine Eindrücke empfangen konnte. Hätte ihr in diesem Augenblick die Stimme gehorcht, so hätte sie gefleht: «Lasst mich zurückkommen!», aber sie konnte kein Wort hervorbringen. Und Mrs. Hopkins und der Direktor waren verschwunden, noch ehe sie ihre Tränen zurückdrängen konnte. Jetzt blieb ihr nichts weiter übrig, als sich an dem steifen Plüsch festzuhalten und zuzusehen, wie die vertraute Stadt Boston an den Wagenfenstern vorbeiglitt.
Verschwunden war der Traum von einem glanzvollen Abenteuer, das sie in die Ferne lockte, verschwunden auch die hochfliegende Überzeugung, dass sie ihre wahre Aufgabe gefunden habe. An diese Überzeugung hatte sie sich geklammert seit jenem Augustnachmittag im letzten Sommer, an dem sie den Brief von Mr. Anagnos erhalten hatte. Der Überschwang allerdings, mit dem sie ausgerufen hatte: «Ich weiß, ich kann das tun!», war so rasch verschwunden, wie er gekommen war. Annies scharfer Verstand ließ sie durchaus klar sehen, dass ihre Vertrautheit und ihre Freundschaft mit Laura Bridgman, die ihr in vieler Hinsicht für ihre Aufgabe bei Kellers zugute kommen mochte, sie noch lange nicht dazu befähigten, ein Kind wie die kleine Helen Keller zu erziehen.
Schön und gut – sie konnte zwar Laura Bridgman in die Hand buchstabieren und ihre Fingersprache verstehen, wie aber musste man vorgehen bei einem Kind, das zunächst einmal in einer dunklen, lautlosen Welt gefangen war? Und doch hatte sie es nicht gewagt, diese Chance ungenützt verstreichen zu lassen. Annie dachte daran, wie sie in jener warmen Augustnacht wach gelegen und sich den Kopf zerbrochen hatte, auf welche Weise sie sich für diese Aufgabe vorbereiten könnte. Bis ihr plötzlich eingefallen war, wie ihre Lehrer voller Bewunderung von den erstaunlich genauen Berichten und Aufzeichnungen gesprochen hatten, die Dr. Samuel Howe und seine Assistenten über ihre Unterrichtserfahrungen bei den Schülern der Blindenschule, insbesondere bei Laura Bridgman, geführt hatten … Die Berichte! Das war der Schlüssel! Aus ihnen würde sie bestimmt erfahren, was sie wissen müsste.
Annie hatte Mr. Anagnos in einem begeisterten Brief geantwortet – gewiss würde sie die Stellung bei den Kellers gerne in Betracht ziehen, doch habe sie den Eindruck, für diese Aufgabe zurzeit noch nicht genügend qualifiziert zu sein. Ob der Vorstand des Perkins-Instituts ihr wohl gestattete zurückzukommen, um sich durch das Studium der Berichte über Laura Bridgmans Unterricht auf ihre Arbeit vorzubereiten?
Der Vorstand des Instituts war einverstanden. So kehrte Annie im September noch einmal in das altvertraute Haus von Mrs. Hopkins zurück. Alle waren über diese Neuigkeit begeistert. Die Lehrer freuten sich mit ihr und waren sehr entgegenkommend. Ergreifend und schmerzlich zugleich war es, Laura Bridgman zu sehen, die vor Freude geradezu bebte und Annie immer wieder umarmte und küsste.
«Du musst dem lieben kleinen Mädchen vieles beibringen», buchstabierte sie eifrig, «vor allem aber, gut und gehorsam zu sein!»
Die Mädchen ihrer Gruppe waren begeistert. Ein echtes Abenteuer war das, und ihre Annie die Heldin darin – nach Alabama zu reisen, so weit weg! Und so eine hervorragende Stellung!
Annie selbst widmete sich ausschließlich dem Studium der Berichte und Aufzeichnungen von Dr. Howe und der anderen Lehrer, die Laura unterrichtet hatten. Sie versuchte, sich ein Bild zu machen von der Laura, die man 1837 in das Perkins-Institut gebracht hatte, «ein schlankes, zartes, bewegliches Kind», das in Verwirrung geraten war durch den raschen Wechsel seiner Umgebung: Aus einem kleinen, gemütlichen Farmhaus in New Hampshire in das weitläufige, große Gebäude, in dem die Schule zunächst untergebracht war. Sie versuchte, sich den eifrigen und schmächtigen jungen Dr. Howe, den ersten Direktor, vorzustellen, wie er geduldig mit dem Kind gearbeitet hatte: Zunächst klebte er Schildchen mit erhaben geprägten Buchstaben (Laura hatte nie die Brailleschrift gelernt – d.h. die Blindenschrift, bestehend aus einem Zeichensystem von Punkten, die in dickes Papier geprägt werden und durch Abtasten gelesen werden können) auf einzelne Gegenstände, z.B. einen Schlüssel, einen Löffel, ein Buch. Dann tat er die verschiedenen Schildchen in eine Schachtel und gab ihr einen Schlüssel, einen Löffel, ein Buch in die Hand. Sie musste nun die verschiedenen Gegenstände und die entsprechenden Schildchen befühlen. Das dauerte viele Wochen, aber schließlich blitzte der Gedanke in ihr auf, dass die Buchstaben «k–e–y» «key» (Schlüssel) und «b–o–o–k» «book» (Buch) bedeuteten und dass dies auch für alles andere zutraf. Jedes Ding hatte seinen Namen. Endlich veranlasste Dr. Howe eine der Lehrerinnen, das Taubstummen-Alphabet zu lernen, das sie dann Laura beibrachte, indem sie dem Kind die Buchstaben in die Hand buchstabierte.
Das war nicht leicht – keiner dieser Lernschritte war leicht oder einfach –, aber unmöglich war es nicht. Es bedeutete schwere, harte Arbeit, aber Annie Sullivan scheute keine harte Arbeit.
Allein das Lesen der Berichte war für Annie Sullivan mit großer Mühe verbunden. Ein anderer hätte dieses Pensum vielleicht in einem Drittel der Zeit bewältigt. Annies Augen aber rächten sich, wenn sie ohne Pause so viel wie jemand mit normalen Augen las. Nach einem Tag konzentrierten Lesens schmerzten Augen und Kopf, und sie war erschöpft. Sie brauchte sechs Monate, um den Berichten alles das zu entnehmen, was sie zu benötigen glaubte. Während der Lesepausen, die sie einlegen musste, um ihre Augen zu schonen, versuchte sie, einen ungefähren Lehrplan für Helen zu entwerfen, und sammelte einiges Unterrichtsmaterial: drei Lesebücher mit erhabenen Buchstaben, eine Tafel in Brailleschrift, ein paar durchstochene Karten zum Sticken und einige Schachteln mit Holz- und Glasperlen.
Auch die kleineren Kinder der Gruppe wollten teilhaben an dem Abenteuer. «Wir könnten eine Puppe für Miss Annie kaufen, die sie Helen mitbringen kann!», schlug eines von ihnen vor.
«Und wir wollen Miss Laura bitten, Kleider für sie zu nähen!», fügte Lydia begeistert hinzu. Annie war fast zu Tränen gerührt, als die kleinen Mädchen – und Laura – sich um sie scharten und ihr voller Freude ihr Geschenk überreichten. Es war eine wirklich wunderschöne Puppe, erworben mit vielen einzelnen Pennies aus vielen kleinen Sparbüchsen, und sicher gab es keine Puppe mit einer großartigeren Garderobe! Denn Laura Bridgmans Handarbeiten waren Kunstwerke, und diese Puppenkleider hatte sie mit besonderer Liebe und Sorgfalt angefertigt.
«‹Puppe› ist bestimmt das erste Wort, das ich Helen vorbuchstabieren werde», hatte Annie ihnen versprochen.
Sie waren alle so gut zu ihr gewesen. Mr. Anagnos hatte ihr Geld für die Fahrkarte geliehen und ihr einen Granatring geschenkt, und die liebe Mrs. Hopkins hatte angeboten, ihre Kleider für sie zu richten und zu packen.
«Du brauchst dir wegen deiner Garderobe keine Sorgen zu machen, Liebes», hatte sie dem Mädchen versichert. «Ich habe das lavendelblaue Kleid, das ich selbst in deinem Alter trug, für dich geändert, du hast dein Festkleid von der Abschlussfeier – die genügen als Sonntagskleider im Sommer –, und ich habe dafür gesorgt, dass alles andere aus gutem, warmem, solidem Wollzeug ist!»
Welch eine Garderobe für ein Mädchen, das sich im Frühling auf die Reise in den warmen Süden begibt!
Schließlich hatte man, nach schier endlosen letzten Erledigungen, die Kellers von ihrer Ankunft benachrichtigt, und nun saß eine von Panik geschüttelte Annie Sullivan in dem Zug, der sie an diesem Montagmorgen, am 1. März 1887, unerbittlich von Boston forttrug.
Das grelle Licht der Sonne auf dem weiß gleißenden Schnee sowie die rasch wechselnde Szenerie blendeten Annie derart, dass ihre Augen heftig zu schmerzen begannen und sie sie schließen musste. Das Kinn in die Hand gestützt, gab sie sich den Anschein, zum Fenster hinauszublicken – eine Dame konnte nicht gut am frühen Morgen den Eindruck erwecken zu schlafen! Wahrscheinlich rührten die Schmerzen daher, dass ihre Augen seit der letzten Operation noch nicht ganz verheilt waren. Sie hatte in der letzten Zeit solche Beschwerden mit den Augen gehabt, dass Mr. Anagnos darauf bestanden hatte, sie müsse vor ihrer Abreise in den Süden noch Dr. Bradford konsultieren, und so war sie erst vor wenigen Tagen noch einmal operiert worden. Vielleicht hätte sie die Abreise noch verschieben sollen, aber es hatte sich nur um eine kleinere Operation gehandelt, und die Kellers hatten nun schon so lange und geduldig auf sie gewartet.
Wie gut sie alle zu ihr gewesen waren – die Lehrer, Mr. Anagnos, die liebe Mrs. Hopkins, Dr. Bradford, die Kellers; und sie saß doch auch endlich in dem Zug, der sie ihrem ersehnten Ziel – einer gesicherten Stellung – entgegentrug: Warum nur schwanden ihr mit jeder Umdrehung der Räder mehr ihr Selbstvertrauen, ihr Mut, ihr Ehrgeiz?
Der Montag war ein entsetzlicher Tag, und in der Nacht fiel auch noch so viel Schnee, dass der Zug am nächsten Morgen mit zwei Stunden Verspätung in Philadelphia ankam. Steif und müde von der langen Fahrt, konnte sie an nichts Gefallen finden. «Philadelphia sieht wie ein riesiger Friedhof aus», schrieb sie an Mrs. Hopkins. Sie musste dort umsteigen, und als sie schließlich in Baltimore ankam, schien die Sonne, und das Wetter war so mild, dass ihre warme Kleidung eine einzige Qual bedeutete.
Auch am Dienstag und Mittwoch war sie in einer jämmerlichen Verfassung.
«Der Mann, der uns diese Fahrkarte verkauft hat, sollte gehängt werden», beklagte sie sich in einem Brief an Mrs. Hopkins, «und ich wäre bereit, den Henker zu spielen. Ich musste viele Male umsteigen, in Lynchburg, Roanoke, Chattanooga und Knoxville.
Unsere erste Station war Lynchburg, ein schäbiger, schmutziger und abscheulicher Ort.»
Und was würde sie in Tuscumbia erwarten? Ob Helen Keller wohl ein hässliches Kind war? Annie verabscheute Hässlichkeit. Ob die Krankheit, durch die sie blind und taub geworden war, auch ihr Gehirn geschädigt hatte? Wie lange würde es dauern, bis das Kind überhaupt reagierte? Wie viel man ihm wohl beibringen konnte? Es waren keine freudigen Gedanken, die Annie Sullivan auf ihrer Reise bewegten. Schließlich verließ sie ihr Mut gänzlich, und sie weinte so verzweifelt, dass ein gutmütiger Schaffner sie besorgt fragte, ob «ihre Leute» gestorben seien, und sie mit Butterbrot und Pfefferminztee zu trösten suchte.
Es war am Mittwochabend um achtzehn Uhr dreißig, als diese trostlose Reise ein Ende fand und Annie mit steifen, verkrampften Gliedern und vor Müdigkeit zitternd auf dem kleinen ländlichen Bahnhof ausstieg. Das also war Tuscumbia, Alabama. Noch ehe ihre übermüdeten Augen irgendetwas erkennen konnten, trat ein junger Mann auf sie zu und nahm höflich den Hut ab.
«Miss Sullivan?» Die gedehnte Sprechweise des Südstaatlers klang fremd in ihren Ohren. «Ich bin James Keller. Geben Sie mir bitte Ihren Koffer. Meine Stiefmutter wartet im Wagen. Wenn Sie so gut sein wollen, hier entlangzukommen …»
Plötzlich schien sie keine Luft mehr zu bekommen, und mechanisch ging sie neben ihm her. Aber als sie der erstaunlich jungen Frau ansichtig wurde, die sich ihr gespannt entgegenneigte, «fiel ein großer Stein von meinem Herzen», bekannte Annie später, «so viel Herzensgüte und Vornehmheit strahlten von ihr aus».
Sollte Kate Keller befremdet oder enttäuscht gewesen sein beim Anblick des hilflos aussehenden, verschwitzten jungen Mädchens mit den verschwollenen Augen, so ließ sie es sich nicht anmerken und erwähnte es nie. Mit herzgewinnendem Lächeln und echter Wärme hieß sie Annie willkommen.
«Wir sind so glücklich, dass Sie endlich bei uns sind, Miss Sullivan! Während der letzten beiden Tage sind wir zu jedem Zug gekommen.»
Als Annie sich in die weichen Kissen zurücklehnte, ließ ihre Anspannung allmählich nach. Die Landstraße, die sie entlangfuhren, war mit blühenden Obstbäumen gesäumt, und über den Feldern lag der kräftige Geruch frisch gepflügter Erde. Nach der langen Reise in dem stickigen, schmutzigen Zug erschien Tuscumbia ihr wie der Himmel auf Erden – ein guter, ein wohltuender Ort, an dem sie ihre Lebensaufgabe beginnen konnte. Die Fahrt durch die Dämmerung des Frühlingsabends besänfigte ihre Nerven, aber als Mrs. Keller auf ein Gebäude zeigte, das am Ende einer langen, schmalen, von Hecken gesäumten Zufahrt nur undeutlich zu erkennen war und dabei sagte: «Miss Sullivan, das ist unser Haus», wurde sie von einer derartigen Aufregung ergriffen, dass ihr Körper sich wie eine zu straff angezogene Saite spannte. Am liebsten wäre sie aus dem Wagen gesprungen, um das gemächlich dahintrottende Pferd anzutreiben. Wie konnte Mrs. Keller nur ein solch langsames Tier aushalten?
Captain Arthur Keller stand bereits wartend im Hof, half ihr aus dem Wagen und drückte ihr herzlich die Hand. «Willkommen – willkommen!»
Es war sicher recht unhöflich, aber Annies Gedanken waren nur auf einen einzigen Menschen konzentriert. «Wo ist Helen?», fragte sie atemlos.
Captain Keller deutete auf die in der Abenddämmerung liegende Veranda. «Dort. Sie weiß schon den ganzen Tag, dass wir jemanden erwarten.»
Annie schritt auf die Veranda zu. Sie konnte ihr Zittern kaum noch beherrschen. Ihr Atem kam in kurzen Stößen. Am Fuß der Treppe hielt sie inne und wagte nicht aufzuschauen. Bitte, lass sie nicht hässlich sein!, betete sie leidenschaftlich. Oh, bitte, lass sie nicht hässlich oder schwachsinnig sein! Und dann blickte sie auf.
Das Kind, das in der erleuchteten Tür stand, hatte ein schmutziges Hängerkleidchen an und wirres braunes Haar. Man sah sofort, dass es blind war. Hässlich war die kleine Helen keineswegs, und obwohl ihrem Gesicht etwas fehlte – Beweglichkeit, Seele –, merkte Annie doch sofort, dass sie intelligent war. Annie atmete tief aus und setzte ihren Fuß auf die unterste Treppenstufe. Als das Kind die Vibration wahrnahm, stürzte es sofort auf sie zu und hätte Annie umgerissen, wenn Captain Keller sie nicht aufgefangen hätte. Eifrig forschende Hände befühlten Annies Gesicht und Kleid und fanden schließlich ihre Handtasche. Annie überließ sie ihr, gespannt, ob sie wohl begriff, was sie da hatte. Das war offensichtlich der Fall, denn sie versuchte, die Tasche zu öffnen. Als sie merkte, dass sie verschlossen war, untersuchte sie sie sorgfältig, um herauszufinden, ob es ein Schlüsselloch gab, und nachdem sie dieses entdeckt hatte, zupfte sie an Annies Ärmel und deutete mit der Hand das Umdrehen eines Schlüssels an. Vor Freude und Erleichterung lachte Annie laut auf. Nein, Helen Keller war gewiss nicht schwachsinnig.
«Sie muss sehr intelligent sein! Das war sehr schlau von ihr.»
«Glauben Sie das wirklich?» Mrs. Kellers Stimme klang wehmütig. Sie griff nach der Tasche und versuchte, sie dem kleinen Mädchen zu entwinden. Sofort lief das Gesicht des Kindes dunkelrot an, es stampfte zornig mit den Füßen und wand und krümmte sich. Annie griff vermittelnd ein, hielt Helen ihre Uhr hin und lenkte dadurch ihre Aufmerksamkeit ab. Der Sturm legte sich. Annie hatte ihre erste Eroberung gemacht.
Zusammen betraten sie das Haus, und Mrs. Keller führte Annie die Treppen hinauf in ihr Zimmer, in dem die Lampen schon brannten. Es erschien dem übermüdeten Mädchen, als habe sie endlich einen sicheren Zufluchtsort gefunden, der Geborgenheit verhieß. Kate Keller, die am Fenster stand und die Vorhänge zuzog, hielt plötzlich inne und warf Annie einen ergreifenden Blick zu.
«Ich hoffe, Sie werden bei uns glücklich sein, Miss Sullivan, viele Jahre lang.»
Helen zerrte an ihrem Rock und bedeutete ihr mit ungeduldigen, herrischen Gebärden, dass sie die Tasche geöffnet haben wollte. Annie schloss die Tasche auf, ließ das Kind darin herumwühlen, beobachtete es dabei genau und begriff, dass es hoffte, etwas zu essen zu finden, wahrscheinlich Süßigkeiten. Ihr Koffer in der Halle fiel ihr ein. Sie ging mit Helen nach unten, legte die eine Hand des Kindes auf den Koffer, die andere auf ihr eigenes Gesicht und machte mit dem Mund die Bewegung des Kauens. Ob das Kind das wohl verstehen würde? Ihrem entzückten Gesichtsausdruck nach tat Helen das sehr wohl. Sie rannte zu ihrer Mutter und machte einige rasche Zeichen. Annie beobachtete sie mit wachsender Erregung.
«Sie glaubt», übersetzte Mrs. Keller, gleichsam um Entschuldigung bittend, «dass Sie in Ihrem Koffer Süßigkeiten für sie haben.»
«Aber ja, das habe ich», rief Annie triumphierend aus. «Genau das versuchte ich ihr mitzuteilen! Und sie hat es verstanden! Sie hat es verstanden!»
Nun wusste sie plötzlich, dass sie an den rechten Ort gekommen war; dass sie und dieses Kind einander verstehen würden.
Annie Sullivan war bereit, der Welt entgegenzutreten.