Читать книгу Das Mädchen, der Köter und ich - Хелена Эберг - Страница 4
Peinliche Gesellschaft
ОглавлениеViktor war auf dem Weg zum Bus, er trug seine alte Fußballtasche über der Schulter und balancierte auf der weißen Straßenmarkierung wie ein Seiltänzer. Ingela hatte sich angeboten, ihn in die Stadt zu fahren, sie hatte tief durchgeatmet und schnell gesprochen, damit es spontan klingen würde, aber er wusste, wie es laufen würde, sobald er in ihr Auto eingeschlossen war, da würde sie die ganze Zeit quatschen und ihn Sachen fragen, aber er wollte nicht über Gott und die Welt reden, jedenfalls nicht mit ihr. Er genoss es, »Nein danke« zu sagen. Nur das, sonst nichts.
Übrigens fragte sich Viktor, was sie in der Stadt zu tun hätte. Sie würde bestimmt nur eine Runde drehen, dachte er, sie war sonst immer beim Vater zu Hause, sobald er selbst nicht daheim war. Der Vater war nie allein, nur Viktors Mutter war allein. Deshalb würde er jetzt zu ihr fahren.
Als er bei den Zebrastreifen angekommen war, vergrößerte sich der Abstand zwischen den Streifen. Er hielt an und nahm Anlauf: Er durfte nicht auf dem Asphalt landen, das bedeutete Unglück. Wenn er den weißen Streifen traf, würde etwas Schönes passieren. Er streckte sich, wackelte, schaffte es aber. Ein Glück! Er atmete tief aus und lief auf den Querstreifen über die Straße.
Er setzte sich in das Bushäuschen und wühlte in seiner Tasche. Er hatte ein paar abgegriffene Comics, den neuen Hobbykatalog und eine Tüte Fantasialand dabei, die er im Vorratsschrank gefunden hatte. Zahnbürste und Schlafanzug hatte er schon bei seiner Mutter.
Er nahm sich ein paar Weingummis, er war wund im Mund von dem heißen Kakao, es brannte, dass ihm Tränen in die Augen stiegen, und er spuckte die Weingummis auf den Gehsteig.
Durch einen schmalen Spalt in der Holzwand sah er die Autos, die aus der Kurve beim alten Coop-Laden kamen: Zuerst ein roter Volvo 780, dann dauerte es eine Weile, bis drei weiße Saabs nacheinander kamen, das musste etwas bedeuten. Er schaute nach dem nächsten Auto, sah aber nur, dass jemand angeradelt kam, jemand in einer roten Jacke und mit langem, dunklem Haar. Sie trug eine neue rote Jacke aus weichem Velour.
Viktor spürte wieder die Schmetterlinge im Bauch. Er stand auf und machte die Tasche zu. Sie radelte direkt auf ihn zu, machte vor dem Bushäuschen eine Vollbremsung und warf den Kopf zurück, sodass die Haare auf den Rücken fielen. Sie hatte ein Mountainbike, genauso eins, wie er es sich selbst wünschte: ein schwarzes. Sie war schnell gefahren und außer Atem. Sie lehnte sich über den Lenker und lächelte ihn an.
»Hallo«, sagte sie, »ich hab dich vom Coop-Laden aus gesehen.«
»Na und?«, sagte Viktor und versuchte, heimlich einen Blick aufs Fabrikat des Fahrrads zu werfen.
»Hast du das Ferkel nicht dabei?«, fragte sie und lächelte übers ganze Gesicht.
»Das Ferkel?«, fragte Viktor. »Du meinst den Hund, ja, ich meine, nein ...«
»Ach nein«, sagte Marika und trat mit dem Fuß nach einem Stein, der mit einem Knall den Papierkorb traf.
Da kam der grüne Linienbus. Viktor holte seine Busfahrkarte heraus, warf die Tasche über die Schulter und stieg ein. Marika blieb einen Augenblick still stehen, dann kettete sie schnell ihr Fahrrad an den Papierkorb, und gerade als der Bus losfahren wollte, sprang sie durch die halb geschlossenen Türen hinein und leerte eine Hand voll Münzen vor dem Fahrer aus. Er zählte das Geld, Marika blinzelte ihn bittend an, und er stempelte widerwillig eine Fahrkarte ab, obwohl eine Krone fehlte. Sie wankte, als der Bus losfuhr und von der Haltestelle auf die Straße hinausbog. Mit einem Plumps nahm sie auf dem Sitz neben Viktor Platz.
»Ich habe es mir anders überlegt«, sagte sie.
»Ach so ...«, sagte Viktor und spürte einen Kloß im Hals.
»Das macht dir doch nichts aus, oder?«
»Nee ...«, sagte Viktor.
Er hielt die Knie fest aneinander gepresst und drückte sich an die Wand.
»Es ist so ...«, fing Marika an und rückte etwas näher an ihn heran.
Viktor traute sich kaum zu atmen und zog die Luft durch die Nase, damit es weniger auffiel. Er versuchte die Gedanken unter Kontrolle zu halten und schaute durch die Fensterscheibe hinaus. Sie fuhren an der Schule vorbei – ja, das, was einmal die Schule gewesen war – jetzt war da ein Flohmarkt – und sie fuhren an Jonas’ Haus vorbei. Sie hatten das Haus mit wärmedämmenden Platten verkleidet und im Garten stand ein rot angestrichener, gusseiserner Gartenzwerg. Den hatte Jonas’ Vater für fünfzehn Kronen bei einer Versteigerung erworben. Eigentlich hätte er mindestens dreihundert gekostet. Jonas’ Vater machte gern gute Geschäfte.
Die Häuser lichteten sich, und als sie auf die Gerade zwischen den Feldern hinauskamen, fingen schwere Regentropfen an, gegen die Scheiben zu prasseln, sie zitterten im Fahrtwind und wurden nach hinten gepresst.
Viktor sagte nichts. Er lehnte den Kopf gegen das kühle Glas. Er versuchte, nicht daran zu denken, aber er spürte, dass Marika dicht neben ihm saß, er spürte ihr Bein an seinem Bein.
»Es ist so ... ich wollte nur sagen ... ach, was soll’s«, fing sie an.
»Was ist los?«, fragte Viktor und folgte einem Wassertropfen mit dem Finger.
»Ach nein, es ist nichts«, sagte Marika und wickelte ihre Haare um den Finger.
»Doch, sag schon«, sagte Viktor, obwohl er es eigentlich nicht wollte, denn er ahnte, was ihr auf der Zunge lag.
»Na ja«, sagte sie, »es ist nur so ... ich finde dich total goldig.«
Viktor bemühte sich, unberührt zu wirken. Goldig, er sollte goldig sein? Das Blut brodelte in ihm, es kribbelte und pulsierte, er wurde rot wie ein Krebs und ihm war, als würde sein Körper ein eigenes Leben leben. Wenn seine Backen nicht so rot gewesen wären, hätte er Marika angesehen. Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen und drückte die Stirn gegen das kalte Fenster. Sein Atem beschlug die Scheibe. Marika beugte sich über ihn und zeichnete ein V mit einem Herzen rundherum. Viktor wischte es weg. Aber blitzschnell.
Auf dem Gehsteig an der Haltestelle waren so viele Menschen, dass Viktor voll in eine Wasserlache trat, ohne es zu bemerken. Der Himmel war grau, die Hauswände waren fleckig nach dem Regen und die Wimpel am Marktplatz hingen schlaff herab. Vor dem Rathaus waren ein paar Jungs dabei, die Lautsprecheranlage für ein Blasorchester aufzubauen, und über der Freilichtbühne hing eine grüne, durchnässte Plane.
Sie liefen zwischen den Marktbuden durch, Marika bahnte ihnen den Weg. Viktor folgte ihr, balancierte auf den Pflasterfugen. Eine Frau, die einen dicken Norwegerpulli, einen gelben Südwester und dicke Winterstiefel trug, faltete gerade die nasse Plastikplane zusammen, die das Gemüse vor Nässe geschützt hatte. Marika drängte sich weiter und blieb vor einer Bude mit glänzendem Schmuck auf schwarzen Samtkissen stehen.
Der Mann in der Bude hatte buschige Augenbrauen, die in der Mitte zusammengewachsen waren und die ganze Nasenwurzel bedeckten. Im Mundwinkel hing ein Zigarettenstummel. Marika fingerte an den Schmuckstücken herum und fand einen Totenschädel aus Zinn, groß wie ein Daumennagel. Er verlangte sechzig Kronen dafür, aber sie fing sofort an zu handeln, und bald war er damit einverstanden, ihn für fünfunddreißig zu verkaufen. Aber Marika hatte ja kein Geld. Sie zog Viktor mit sich und sie gingen weiter. Der Verkäufer fluchte ihnen hinterher und sie bogen schnell hinter den Buden mit Teppichen und Trainingsoveralls ab.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Marika.
»Ich muss zu meiner Alten«, sagte Viktor und balancierte auf einem Fahrradständer.
»Jetzt?«
»Ja, warum?«, fragte Viktor und ließ die Tasche auf den Boden fallen.
»Musst du jetzt schon abdüsen?«, fragte Marika genervt. Sie beugte den Kopf nach vorne und richtete sich mit einem Ruck auf, sodass die Haare wie ein wilder Federbusch flatterten. »Scheiße, jetzt komme ich nicht mal nach Hause. Ich hab kein Geld mehr.«
»Nicht mal für den Bus?«
»Nein«, sagte Marika und stülpte demonstrativ ihre roten Jackentaschen nach außen. Ein einsames Fünfzigörestück fiel heraus und schlug auf dem Asphalt auf. Sie hob es auf und hielt es ihm mit einer resignierten Geste vor die Nase.
»Scheiße! Damit komme ich wohl nicht gerade weit!«
Viktor fiel sein Taschengeld ein und er sprang vom Fahrradständer herunter. Er wühlte in der Tasche und fand drei Zehnkronenstücke.
»Ich kann dir was leihen.«
»Sicher?«
Viktor nickte.
»Cool!«
Sie nahm das Geld und schaute in Richtung Bushaltestelle. Sie schien zu zögern und klimperte mit den Münzen.
»Wollen wir nicht lieber einen Kaffee schlürfen?«
»Ach ... ich weiß nicht«, sagte Viktor.
»Doch ... Komm schon!«
»Ach, weißt du ...«
»Ich lade dich ein«, sagte Marika und streckte die Hand aus.
Jetzt zögerte wiederum Viktor.
»Musst du denn zu deiner Alten gehen?«, fragte Marika. »Komm schon, sie kann doch warten!«
Sie zog ihn am Ärmel. Viktor blieb noch einen Augenblick lang stehen, aber Marika war schon unterwegs und er folgte ihr schließlich.
Sie überquerten den Marktplatz und gingen zu Lings Konditorei. Sie machten einen Bogen um den Mann mit den Augenbrauen, aber er sah sie doch. Er rief ihnen etwas nach, sie hörten nicht, was, aber er sah wütend aus. Viktor schaute zu Boden und konzentrierte sich auf die Pflastersteine, während Marika zurückstierte, die Faust ballte, den Mittelfinger ausstreckte und spuckte.
Viktor spuckte auch, er traf einen Gully zwischen den Spalten, das hatte er bis jetzt noch nie geschafft, jetzt machte er es mit links, aus zwei Metern Entfernung, er hatte nicht mal gezielt.
Marika ging vor, es läutete, als sie den Lichtstrahl am Türrahmen durchbrachen. Gesumme und Geklapper schlugen ihnen entgegen, die Feuchtigkeit beschlug die Fenster und die Bleche mit ofenfrischem Gebäck dampften. Viktor war oft mit seiner Mutter hier gewesen. Als er noch klein war, waren sie immer hierher gegangen, wenn sie in der Stadt Kleider gekauft hatten. Damals hatte er meist Saft getrunken und eine Vanilleschnitte mit viel Zucker drauf gegessen. Seine Mutter hatte schwarzen Kaffee getrunken und ein Zuckergussgebäck mit rosa Glasur gegessen. Viktor hatte seinen Saft immer mit dem Strohhalm getrunken, Blasen im Glas geblasen und sich in den Spiegeln an der Decke gespiegelt, die alles verkehrt herum sehen ließen. Damals war es nie voll gewesen, seine Mutter hielt nichts von langen Warteschlangen, und deshalb hatten sie immer montags eingekauft, wenn die Stadt menschenleer war.
Jetzt war Samstag und alle Tische waren besetzt: Mütter und Väter drängten sich mit Taschen, Tüten, Kinderwagen und Kindern; pickelige Gymnasiasten, ältere Herren und Frauen mit kleinen, flauschigen Wollmützen standen vor der Gebäcktheke an. Der Boden war voll feuchter Schuhabdrücke und graue Rauchwolken aus der Raucherecke hingen in der Luft.
»Was nehmen wir?«, fragte Marika, den Kopf ganz dicht an Viktors Schulter.
Er wehrte sich und machte einen Schritt nach hinten.
»Keine Ahnung.«
»Worauf hast du Bock?«
Viktor zuckte mit den Achseln. Marika stand auf den Zehenspitzen und ihr Blick wanderte gierig zwischen Zimtschnecken, Plundertaschen, Kopenhagenern, Vanilleherzen, Himbeerschnitten, Erdbeertorten und Zuckergussgebäck herum.
»Was nehmen wir?«
»Jeder eine Zimtschnecke«, schlug Viktor vor.
»Nein, etwas Leckereres«, sagte Marika und prüfte die Preisliste an der Wand neben der Kasse. »Wenn wir den Kaffee teilen, können wir uns eine Schnitte leisten, so eine mit Schokolade und gelbem Marzipan, die zweite Tasse ist sowieso umsonst. Okay?«
Viktor nickte und Marika bestellte eine gelbe Carl-Gustaf-Schnitte mit braunem Pulverkakao, ging zu der Selbstbedienungstheke und füllte eine große, weiße Teetasse bis zum Rand mit schwarzem Kaffee. Viktor drängelte sich zu einem freien Tisch vor.
Er mochte Marzipan eigentlich nicht, löffelte aber trotzdem vorsichtig von seiner Seite des Kuchentellers, während Marika von ihrer Seite aß.
»Ist deine Alte schon lange ausgezogen?«, fragte Marika, als die Schnitte schon fast aufgegessen war.
»Nicht so lange«, antwortete Viktor und trank einen Schluck Kaffee. Er war bitter und er schluckte ihn schnell hinunter, er wollte nicht verraten, dass er nicht gern Kaffee trank. Marika nahm die Tasse und trank von der anderen Seite.
»Vermisst du sie sehr?«
»Kommt darauf an«, sagte Viktor ausweichend und nahm einen so großen Schluck, dass sich sein Magen umdrehte.
»Was heißt ›kommt darauf an‹?«
»Na ja, manchmal ...«
Marika kramte in dem Aschenbecher nach Zigarettenstummeln. Sie fand einen, der noch ein paar Zentimeter bis zum Filter hatte, und holte ein Feuerzeug aus der Tasche.
»Rauchst du?«, fragte sie.
Viktor schüttelte den Kopf.
Marika strich den Stummel glatt und zündete ihn an. Ein kohlschwarzer Rand ringelte sich um das Zigarettenpapier, bevor die Glut im Tabak Halt fand.
»Dachte ich mir. Dass du nicht rauchst, meine ich«, sagte sie und machte ein paar kurze Züge. »Es ist am schädlichsten, so dicht am Filter. Aber Lungenzüge sind noch schlimmer, ich paffe nur.«
Sie hielt die Zigarette in einem gespreizten Griff, und jedes Mal, wenn sie Rauch einsog, bekam sie eine schmale Falte auf der Stirn.
»Einmal, als ich einen richtigen Lungenzug gemacht habe, habe ich fast gekotzt. Von Lungenzügen kann man Krebs bekommen, aber das kann man auch kriegen, wenn man nur danebensitzt und mitraucht, also kannst du es genauso gut selbst probieren.«
Marika streckte Viktor die Zigarette entgegen und er war kurz davor, sie zu nehmen, überlegte es sich aber anders.
»Du bist süß«, sagte sie.
Sie zog die Hand zurück und paffte weiter an der Zigarette. Sie hielt den Filter mit Daumen und Zeigefinger, sog den Rauch ein, ließ ihn in der Mundhöhle wenden, kostete ihn und atmete ihn wieder aus. Viktor kam sich albern vor.
»Doch, ich finde dich süß«, wiederholte sie, »im Ernst.«
Sie machte einen zu tiefen Zug und hustete, bis ihr die Tränen kamen.
»Fast ein Lungenzug«, krächzte sie und drückte die Zigarette aus.
Sie zog den Aschenbecher näher zu sich heran und drehte ihn im Kreis. Immer wieder.
»Bist du sicher, dass du morgen wieder heimkommst?«
»Klaro«, sagte Viktor. »Mit dem Dreiuhrbus.«
»Spitze!«, sagte sie und ließ den Aschenbecher auf den Tisch knallen.
»Was ist daran spitze?«, fragte Viktor.
»Ach, ich dachte nur ...«, sagte Marika und fixierte einen grünen Bus, der gerade vor dem Fenster hielt. Er ließ eine Reihe Leute hinaus, die sich in alle Himmelsrichtungen verteilten: Einige schlenderten auf den Marktplatz zu, eine Frau in einem hellblauen Mantel schlich sich zum Bingo, und eine Familie mit einem voll beladenen Kinderwagen kämpfte sich in die Konditorei herein und blockierte den Lichtstrahl, sodass das Türsignal hängen blieb, bis diejenigen, die schon Schlange standen, zur Seite rückten und ihr Platz an den Nummernzetteln machten.
»Was denn?«, fragte Viktor und brach ihr Schweigen.
»Ach was, es ist nichts«, sagte Marika und trank den Kaffee aus.
Viktor streckte sich nach der Tasche und zog sich die Jacke über.
»Ich muss los«, sagte er und strich sich mit der Hand die Haare aus der Stirn.
Marika nickte, sie standen auf und ließen das Tablett auf dem Tisch stehen. Viktor ging vor, die Tasche auf der Schulter, ohne sich um ihre Hand zu kümmern, die sich in seine Jackentasche hineingeschlichen hatte.
Von der Freilichtbühne blies das Blasorchester auf vollen Touren, und eine Gruppe halb erfrorener Rentner stand fröstelnd davor, hinter ihnen ein Typ mit schwarzer Baseballmütze und einem Ghettoblaster unter dem Arm, aus dem mit voller Lautstärke Technomusik dröhnte mit einem Bass, der wie ein verlorenes Herz pochte.
»Hast du noch ein paar Kronen, damit ich anrufen kann?«, fragte Marika.
»Nein, du hast den letzten Rest gekriegt«, sagte Viktor abwesend und versuchte herauszuhören, welches Lied mit der Blechmusik aufeinander prallte.
»Na dann«, seufzte Marika. »Jetzt kann ich nicht mal meinen Alten im Büro anrufen.«
»Arbeitet er heute?«, fragte Viktor.
»Hm, er arbeitet immer«, sagte Marika. »Aber weißt du was ...? Es ist doch nicht weit zu deiner Alten, oder?«
Viktor schüttelte den Kopf und schlug sich im Takt auf den Oberschenkel.
»Da komme ich mit und rufe von dort aus an, denn sie hat doch Telefon, oder?«
»Klaro hat sie, aber ...«
Viktor sah Marika an. Er konnte seinen Blick nicht von ihr lassen; ihr Haar, ihre Hände und die rote Jacke.
»Was denn, findest du es peinlich?«
»Peinlich?« Er räusperte sich und versuchte unbekümmert zu klingen. Er spürte, wie seine Ohren heiß wurden.
»Ja, ein Mädchen nach Hause mitzunehmen«, sagte Marika.
»Nein, gar nicht«, sagte Viktor, ohne es zu meinen.
»Okay«, sagte Marika, »dann ziehen wir los.«
Die Blechmusik verstummte und der Krachmacher hatte freien Spielraum. Marika summte den Refrain mit: »It’s my life, it’s my life, my boy.« Sie blieb stehen, machte ein paar schnelle Hip-Hop-Schritte und drehte sich auf der Stelle. Sie warf ihre Haare zurück und sah aus wie ein Nummerngirl aus dem Privatfernsehen. »Es ist total einfach«, sagte sie, »du darfst nur nicht nachdenken, sondern musst es einfach tun.«
Viktor hatte immer ebenerdig im Grünen gewohnt. Früher, als alles beim Alten war und seine Mutter daheim im Haus wohnte, hatte sie Dill und Salatköpfe gesät und Beete umgegraben. Sie hatte gern Erde unter den Nägeln. Viktor mochte keine Erde unter den Nägeln oder schmutzige Hände bekommen, aber er mochte seine Mutter, besonders, wenn sie da mit ihrer alten Jeans und den abgelaufenen Holzpantinen im Garten herumging und summte.
Jetzt wohnte sie fast in der Stadtmitte, am Sportplatz, in einem der höchsten Häuser der Stadt, im sechsten Stock. Das Haus war umgeben von schwarzem Asphalt, voll geschmierten Betonkästen mit stacheligen, dunkelroten Hagebuttenbüschen und von Ampeln und Autos, Autos, Autos.
Aber es war okay, wenn es ein Fußballspiel gab. Sie sagte, dass sie die Wohnung seinetwegen gewählt hatte, damit er auf dem Balkon sitzen und die Spieler anfeuern konnte, denn man sah den ganzen Platz schräg von oben. Eigentlich war es ihm lieber, sich mit anderen auf den Stehplätzen zu drängeln, eine Bratwurst zu kaufen und leere Dosen zu sammeln. Es machte aber trotzdem Spaß, bei seiner Mutter zu sein, man konnte weit sehen, fast bis ans Ende der Stadt. Und als es draußen auf dem alten Fabrikgelände brannte, hatte er alles gesehen: den Rauch, die Feuerwehrautos und die Karawane der Schaulustigen.
Er kannte den Türcode auswendig, 1632, und als er die Tasten gedrückt hatte, ging das Türschloss surrend auf. Sie traten ins Treppenhaus und die Haustür fiel hinter ihnen zu. Sie fingen an, die Treppen hinaufzulaufen. Viktor hörte, wie es hinter der Tür im ersten Stock raschelte, er packte Marikas Arm, lief voraus und zog sie bis zum nächsten Absatz. »Da unten wohnt ein alter Typ, der nicht ganz dicht ist«, zischte er, völlig außer Puste.
Viktor hatte, als er den Alten hörte, vergessen, die Stufen zu zählen, er hatte herausfinden wollen, wie viele Stufen es bis zu Mamas Wohnung waren. Er fing am zweiten Absatz von vorne an.
Er ging mit gleichmäßigen Schritten und las die Namensschilder: Fransson, Jakobsson, Manninen, und dann acht, neun, zehn, elf, zwölf ...
»In welchem Stock wohnt sie?«
»Im sechsten«, antwortete Viktor und blieb stehen.
Er drehte sich um und zählte die Stufen, bevor er weiter nach oben ging, dreizehn, vierzehn, fünfzehn ...
»Seit wann wohnt sie hier?«
»Wart mal!« Viktor lief zum dritten Absatz.
»Sechzehn, siebzehn, achtzehn«, zählte er laut.
»Was treibst du da?«
»Ich zähle.«
»Was denn?«
»Ich will wissen, wie weit es ist, das heißt, wie viele Schritte ...«
»Und wie viele sind es?«
»Sie wohnt im sechsten Stock. Achtzehn mal sechs macht ...«
»Einhundertacht«, sagte Marika schnell.
»Lass mal ausrechnen ... sechs mal zehn plus sechs mal acht«, murmelte Viktor, »ja, das macht einhundertacht, einhundertacht Stufen.«
»Ich kann nicht mehr«, stöhnte Marika. »Ich nehme den Lift.«
»Mach nur, ich laufe.«
Viktor fuhr nicht Lift. Er hatte von einem Lift gelesen, der abgestürzt war, sodass die Menschen in den Fahrstuhlschacht rasten. Viktor wollte nicht abstürzen, deshalb fuhr er nicht Lift. Und er war noch nie geflogen, das war ihm schon peinlich, aber er redete eben nicht davon. Ähnlich ging es ihm mit Rolltreppen, das war manchmal fast noch schlimmer; alles drehte sich, und er glaubte die ganze Zeit, dass er neben die gelbe Linie treten und zwischen den Stufen zermalmt werden würde. Am schlimmsten war es im Kaufhaus. Um in die Spielzeugabteilung zu kommen, musste er sich auf die Rolltreppe zwingen, es gab keine normalen Treppen, nur einen alten, verschlissenen Warenaufzug. Aber bald würde Toys »R« Us im Parterre neben dem Kaufhaus Domus aufmachen, dann würde er dorthin gehen.
Marika schien so etwas nichts auszumachen, Lift fuhr sie jedenfalls, und als er den sechsten Stock erreichte, stand sie schon da und wartete.
»Heißt deine Mutter Persson?«, fragte sie nachdenklich und zeigte auf den Briefeinwurf. Auf zwei der Türen klebten ein Streifen mit mehreren Namen. Nur eine Tür hatte einen einzigen Namen.
»K. Hedberg, ist das deine Mutter?«
Viktor nickte.
»Du heißt doch Persson?«
»Sie sind geschieden«, sagte er.
»Du solltest auch einen eigenen Namen haben«, sagte Marika. »Hasenfuß oder Seidenwand zum Beispiel, das klingt irgendwie weich. Du kannst ihn einfach ändern.«
Viktor zögerte und klingelte. Der Finger zitterte.
»Nein, das geht doch nicht.«
»Klar geht das!«, sagte Marika. »Du musst nur ans Standesamt schreiben.«
Da wurde die Tür aufgerissen und Viktors Mutter stürmte ins Treppenhaus. Sie umarmte Viktor und seine Tasche glitt ihm von der Schulter und plumpste auf den Boden.
»Endlich!«, rief sie aus und zerzauste seine Haare.
So froh, ihn zu sehen, war sie nie gewesen, als sie noch zu Hause wohnte. Viktor sträubte sich und hob die Tasche auf. Da entdeckte seine Mutter Marika.
»Hallo!«, rief sie erstaunt und zerzauste Viktors Haare noch einmal. »Na, hör mal, Herr Trödler, bist du in Begleitung? Willst du uns nicht vorstellen?«
Viktor seufzte und schnitt eine steife Grimasse.
»Also, das ist meine Mutter und das ist Marika«, sagte er schnell, damit seine Stimme nicht versagen konnte.
»Ich heiße Kerstin«, sagte Viktors Mutter und schüttelte Marikas Hand. »Herzlich willkommen!«
»Danke«, sagte Marika und trat in den Flur.
Viktor gefiel der Flur nicht. Es war, als würde man zu Ikea hineinspazieren. Alles war neu: die Kommode, der Spiegel und der Flickenteppich. Im Wohnzimmer wurde es besser, dort verrieten ein paar Kleinigkeiten, dass Mama ein früheres Leben gehabt hatte, im Haus, zusammen mit Viktor und Papa; ein schwerer, elfenbeinfarbener Lampenfuß, drei angestoßene Dala-Pferde und eine alte, vergammelte Kommode mit verschlissenen Beschlägen. Die Sachen gehörten nur ihr und Papa hatten sie noch nie gefallen.
Viktor spürte, wie seine Wangen glühten. Er hatte, seitdem er klein war, nie mehr ein Mädchen mit nach Hause gebracht. Er beeilte sich zu sagen, dass sie nicht bleiben wollte.
»Will sie nicht bleiben? Warum denn?«
»Sie will nur kurz anrufen«, antwortete er und wühlte in seiner Tasche, ohne nach etwas Besonderem zu suchen.
»Nur, wenn es okay ist«, fügte Marika hinzu. »Ich wollte Papa anrufen und ihn bitten, mich abzuholen.«
»Aber natürlich«, sagte Viktors Mutter. »Das Telefon steht in der Küche.«
Marika ging in die Küche, Viktors Mutter zog die Tür zu und stichelte flüsternd: »Kleiner Mann, hast du dir eine Freundin zugelegt?«
»Nein, habe ich nicht«, schnaubte Viktor und drehte sich weg.
Er hängte die Jacke auf und ging mit der Tasche in das winzig kleine Gästezimmer, das eigentlich eine Abstellkammer war mit einem kleinen Fenster. Hier hatte ein Bett Platz und hier hatte er – in einer Holztruhe unter dem Bett – seine Sachen: einen Schlafanzug, eine Zahnbürste, ein paar Unterhosen, einige Zeitungen und ein Buch über Fliegenfischerei, das er von seinem Großvater ausgeliehen hatte.
Als er in die Küche kam, hielt Marika immer noch den Hörer in der Hand. »Es ist die ganze Zeit besetzt«, seufzte sie.
»Wart ein bisschen«, sagte Viktors Mutter. »Drück die Taste fünf. Vielen Dank, Telekom. Wollt ihr so lange einen Schluck Tee trinken?«
»Nein, danke«, sagte Viktor schnell. »Wir haben gerade ...«
Marika überstimmte ihn und nahm an. Viktors Mutter setzte einen Topf Wasser auf und füllte einen geflochtenen Korb mit grobem Zwieback. Dann stellte sie eine Packung Lätta, einen großen Käse und mehrere Sorten Marmelade auf den Tisch: Apfelsine, Himbeer und Kiwi.
Viktor saß auf der Küchenbank und folgte ihr mit dem Blick. Die Haare, waren die nicht anders? Oder war etwas mit der Farbe? Oder mit dem Pony? Der war kürzer. Und die Kleider. Sie trug schwarze, enge Jeans und einen roten Pulli mit großen, aufgestickten Blumen. So war sie zu Hause nicht angezogen gewesen. Da hatte sie bis an den Hals zugeknöpfte Blusen und normale, einfarbige Pullis und blaue Hosen mit Bügelfalten und einem schmalen Gürtel in der Taille getragen.
Sie holte Tassen und Untertassen aus einem Wandschrank und drehte Viktor den Rücken zu, er erkannte sie fast besser von hinten; ihr schmaler Rücken und die Schultern, die nach vorne zeigten. Manchmal, wenn sie sich vor dem Spiegel fein machte, versuchte sie sich zu strecken, aber die Schultern fielen immer wieder nach unten, als ob die Arme an der Vorderseite des Körpers statt an den Seiten befestigt wären.
Als Viktors Mutter das Porzellan herunterreichte, nahm Marika es ab. Viktor sah, dass sie neue, weiße Tassen und Untertassen mit einem hellblauen Rand hatte, aber die Zuckerdose kannte er; das war die alte, vertraute, versilberte Zuckerdose mit Schnörkeln, einem spitzen Deckel und einem hohen Fuß. Als alles auf dem Tisch stand, nahmen sie um den Küchentisch Platz.
Der Tee musste drei Minuten ziehen, sonst wurde er bitter. Viktor stoppte die Zeit mit seiner Uhr. Er hatte keine Stoppuhr, so kam es darauf an sich zu erinnern, wann man angefangen hatte: vierzehn-null-zweiunddreißig. Marika stieß ihn neckisch ans Bein, er tat, als würde er es nicht bemerken, aber er spürte, wie er rot wurde. Plötzlich pumpte sein Herz das ganze Blut in den Kopf, er wurde bis an die Ohren rot und konnte nicht mehr klar denken. Er sagte nichts, er stoppte die Zeit. Als die drei Minuten vorbei waren, stand er auf und zog die Teekugel aus der Kanne. Dann holte er einen Untersetzer und stellte die Teekanne mitten auf den Tisch.
Viktors Mutter lachte und fragte, Marika lachte und gab Antwort. Doch, natürlich wohne sie in dem alten Haus, in dem alten Brunnenhotel. Doch, die Möbelimportfirma gehöre ihrem Vater, na ja, sie wisse noch nicht so genau, doch, sie fühle sich dort schon wohl.
Als sie fast allen Zwieback aufgegessen hatten, läutete das Telefon. Marika hob den Hörer ab und hatte endlich ihren Vater an der Strippe.
»Morgen können wir doch dein Ferkel spazieren führen?«, fragte Marika, als sie mit ihrer roten Jacke im Arm im Flur stand.
»Das Ferkel gehört mir nicht!«, sagte Viktor.
»Macht nichts, dann komme ich so vorbei«, sagte sie, trat in den Fahrstuhl und sauste nach unten.
»Wir sehen uns!«, rief sie von tief unten, bevor die Haustür zuging.
Seine Mutter saß noch am Küchentisch. Sie streckte sich nach dem letzten Zwieback und bestrich ihn mit einer dicken Schicht grüner Kiwimarmelade.
»Von welchem Ferkel sprecht ihr da?«, fragte sie. »Du hast doch kein Ferkel?«
»Nein, das ist nur der Scheiß ... der Hund«, sagte Viktor.
»Ingelas?«, fragte seine Mutter.
»Woher weißt du das?«
»Ich habe nur geraten«, sagte sie und lächelte.