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Kapitel 1
ОглавлениеDas kleine Fenster im Raum war nur leicht geöffnet und doch spürte ich eine unangenehme Kälte, die in den Raum hereinwehte. Ich konnte nur Umrisse wahrnehmen, aber sobald ich sie zu fixieren versuchte, verschwammen sie vor meinen Augen. Ärzte kamen herein. Ein Doktor in einem grauen Kittel mit weißem Kragen und hellbraunorangen Haaren kam zu mir und maß meinen Puls. Er schien um die 50 Jahre alt zu sein und seine Haut fühlte sich weich an. Ich hatte wohl wieder schlecht geträumt, sodass mich meine Mutter erneut in das Schlaflabor gesteckt hatte.
Ein anderer Arzt ging zu einer Frau, meiner Mutter – sie schien besorgt zu sein, denn meine Albträume hatten zugenommen und weitere schlaflose Nächte konnte ich mir nicht mehr leisten. Schließlich war die Schule wichtig, vor allem für einen Jungen, dem drohte, die zehnte Klasse wiederholen zu müssen.
„Louis hat schon wieder wild um sich geschlagen, als er geschlafen hat“, berichtete der Arzt meiner Mutter.
Meine beiden Ellenbogen und Hände taten höllisch weh und ich konnte sie nicht gut bewegen. Ich hob den Kopf leicht und neigte ihn ein wenig schräg zur Seite, damit ich hören konnte, was meine Mutter mit dem Arzt besprach. Sie würde wohl alles dafür tun, dass meine Albträume endlich verschwanden. Denn diese Träume plagen nicht nur mich, sie belasteten die ganze Familie, meine Mutter, meinen Vater und meine kleine Schwester Amber.
Ich konnte nur Bruchstücke der Unterhaltung zwischen dem Arzt und meiner Mutter verstehen, aber dieses eine Wort alarmierte mich sofort: Schlafkur! Ich wusste, dass es meine Mutter gut meinte, eine Schlafkur fand ich jedoch übertrieben. Aber was sollten wir machen? Der Arzt meinte, dass es sinnlos wäre, mich weiterhin in einem Schlaflabor zu beobachten.
„Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig“, dachte ich und ließ mich wieder auf das harte schneeweiße Bett fallen. Erschöpft schloss ich die Augen, das Valium wirkte.
Eine graue Rauchwolke wirbelte um mich herum, es war heiß und der Boden ausgetrocknet. Ein Mann stand urplötzlich auf einem Felsen und zeigte auf mich. Sein Gesicht war von der Rauchwolke verdeckt, aber ich konnte seine Umrisse und die Kleidung schwach erkennen. Auf der steinigen Anhöhe thronte meine größte Angst: der Mann, der an all meinen Albträumen schuld war.
Morpheus sprang geräuschlos mit einem Satz vom Felsen herunter. Er kam immer näher und schob langsam die Rauchwolken zur Seite. Ich fragte mich derweil, ob seine Soldaten wieder einen Teil meiner Traumwelt niedergebrannt und all die schönen Träume zerstört hatten.
Morpheus flüsterte etwas, doch ich konnte es nicht genau hören. Aber als er näher kam, verstand ich, was er sagte. „Träume können die Sinne vernebeln. Der Bann auf deiner Welt wird siegen.“
Wehrlos starrte ich auf Morpheus, der wie ein kampfbereiter Ritter in Rüstung dastand, und wünschte mir sehnlichst, einfach nur aufzuwachen. Doch da passierte etwas, das ich noch nie gesehen hatte. Mein Gegenüber zuckte zusammen und hob sich seinen Schild vors Gesicht, irgendetwas schien es zu blenden. Der Himmel wurde gelborange und die Rauchwolken lösten sich Stück für Stück auf. Dadurch wurde der Blick freigegeben auf Morpheus’ hellgraue Rüstung sowie ein Kettenhemd, das unten schon leicht zerrissen war. Er hatte blutrote Kleidung an, ein langes, glänzendes Bronzeschwert hing an seiner Seite herab, darüber wehte ein zerfetzter rot-schwarzer Umhang. Außerdem trug er einen riesigen Schild aus Stahl, und jedes Mal wenn er in meinen Träumen auftauchte, fragte ich mich, wie er nur diese gigantische Schutzwaffe hochheben konnte. Auf dem Schild war eine Art Wappen zu erkennen. Ein kleiner goldener Kreis, umgeben von reinem Schwarz, der Angst, die das Gute besiegen wollte.
Ich drehte mich um und sah in den Sonnenaufgang, der auf das verbrannte Land herunterschien. Morpheus musste alleine gekommen sein, denn er gab keine Befehle. Stattdessen taumelte er rückwärts, bis er über eine Unebenheit im Boden stolperte. Obwohl er mir schon so oft begegnet war, hatte ich sein Gesicht noch nie gesehen. Ich wollte es auch gar nicht. Seine Stimme und seine unheimliche Rüstung machten mir schon genug Angst.
Plötzlich hob er seinen rechten Arm, schrie wie ein wild gewordenes Tier und rannte los. Nicht auf mich zu, nein, weg von mir. Ich zuckte zusammen und mein Herz schlug schneller. „Was war das denn?“, fragte ich mich. War Morpheus vor etwas Bestimmtem davongelaufen? War es wirklich Sonnenlicht, das da so plötzlich am Himmel erschienen war? Verschwanden diese schrecklichen Träume nun vielleicht?
Zum ersten Mal schöpfte ich so etwas wie Hoffnung, dass ich die Bilder, die mich seit sieben Jahren des Nachts verfolgten, vielleicht doch loswerden könnte. Noch bevor ich irgendetwas herausfinden konnte, wurde alles schwarz um mich herum und ich wachte auf. Ich war verwirrt. Noch nie hatte ich Morpheus derart rennen sehen. Was war passiert? Wo war er hin?
Es tat gut zu wissen, dass ich erst einmal in Sicherheit war. Klar, eigentlich konnte mir in meinen Träumen körperlich nichts zustoßen, doch die Angst war stets übermächtig.
Ich schlug meine Augen auf und stellte fest, dass ich hinten im Auto meiner Mutter lag. Dort zu liegen war noch härter und unbequemer als im Schlaflabor.
Meine Mutter blickte in den Rückspiegel. „Na, Louis? Gut geschlafen?“, fragte sie mich.
Louis ... ja, das war ich. Ein 17-jähriger Junge, der in Kalifornien geboren worden war und mit zehn Jahren so schlimme Albträume bekommen hatte, dass er nun sogar eine Schlafkur absolvieren musste. Louis Haverbann. Ich sah eigentlich ziemlich durchschnittlich aus, wie Jungen in meinem Alter eben so aussahen. Pechschwarze, glänzende Haare, eisblaue Augen, hellrote Lippen und eine eiförmige Gesichtsform.
„Alles prima“, beruhigte ich meine Mutter und setzte mich in der hinteren Sitzreihe auf. „Also, du willst mich in eine Schlafkur stecken?“ Und mein Blick fiel dabei auf die bereits gepackten, großen Koffer.
Meine Mutter bemerkte meinen Blick und seufzte. „Du willst doch auch, dass deine Albträume verschwinden, oder? Die Ärzte sind davon überzeugt, dass dir eine Schlafkur helfen würde.“
„Klar will ich endlich wieder normal schlafen können. Aber du hast das einfach, ohne mich zu fragen, entschieden! Ich bin 17!“
„Du bist zwar 17, aber immer noch mein Sohn. Bitte, versuch es mit der Schlafkur“, erwiderte sie ruhig.
„Ich werde es schon überleben“, gab ich klein bei und meine Antwort zauberte ein breites Lächeln in ihr Gesicht.
Plötzlich bremste meine Mutter ab und bog in eine Allee ein, die mit Blumen an der Seite geschmückt war. Anschließend fuhr sie nach rechts und blieb neben einem roten Wagen stehen, aus dem gerade eine Familie ausstieg, die ziemlich wohlhabend aussah.
Ich kletterte aus dem Wagen und lehnte mich gegen den Kofferraum, während ich darauf wartete, dass meine Mutter irgendwelche wichtigen Zettel wegen meines Befundes und so weiter hervorkramte.
Zu der Familie mit dem roten Auto gehörte ein Mädchen, das gerade laut schrie: „Jetzt wartet doch mal auf mich!“ Schwungvoll knallte es die Autotür zu, und als es an mir vorbeistürmte, grinste es mich breit an, als würden wir uns kennen. Die Schönheit hatte lange blonde Haare, eine tolle Hautfarbe und sie konnte sehr schnell rennen. Doch ihr Lächeln wirkte, als würde sie damit jeden Typen um den Finger wickeln. Ihre Eltern schienen ziemlich reiche Menschen zu sein, denn das Auto war ein neuer, eleganter Sportwagen und ihre Kleidung wirkte edel.
Endlich stieg meine Mutter aus dem Wagen und hob ein Blatt Papier hoch, das mit irgendwelchen Daten übersät war. „Ich hab es gefunden“, rief sie glücklich und ging voraus auf das Gebäude zu.
Neben dem Eingang wuchsen zwei schöne Himbeersträucher, die das Tor schmückten. Darüber stand in geschwungener Schrift:
Dr. Callersts Schlafkur.
„Klingt ja verlockend“, dachte ich mir.
Als ich die Eingangshalle betrat, kam ich mir sofort fremd vor. Sie war gigantisch groß. Ein kleiner Teich mit allerlei bunten Fischen befand sich in der Mitte. Das Gewässer war umgeben von einem kleinen Dschungel. Eine Bananenstaude und andere Bäume mit Lianen wuchsen dort. Passend zu diesem Stück Urwald war die Luft in der Halle schwül, aber angenehm.
An der Rezeption stand eine schlanke, junge Frau mit langen Haaren und einem freundlichen Willkommenslächeln.
„Haverbann mein Name“, sagte meine Mutter etwas aufgeregt und gab der Frau die Unterlagen, die sie gefühlt stundenlang im Auto gesucht hatte. „Mein Sohn Louis“, sie packte mich vorsichtig am Arm und zerrte mich nach vorne, „wird drei Wochen in Ihrer Obhut bleiben und eine Schlafkur machen. Wir haben das schon alles abgeklärt.“
Ich grinste die Empfangsdame an und grüßte sie mit einer Handbewegung. Sie lächelte zurück, schaute auf die Papiere und sagte: „Ja, natürlich.“
Sie legte ein Erkennungsarmband auf den Tresen, darauf standen mein Name, meine Zimmernummer und der Grund, warum ich hier war. Schlafstörung (Albträume).
Schließlich griff sie nach einem Schlüssel und kam hinter dem Tresen hervor. „Hier lang bitte“, forderte sie uns auf, und nachdem ich das Erkennungsarmband vom Tresen gefischt hatte, folgten wir der Frau.
Ich sah mich noch einmal in der Eingangshalle um und entdeckte einige Räume, die daran grenzten. Die Mensa, ein etwas kleinerer Raum, war bunt angestrichen, die Stühle waren rot und auf den Tischen lagen weiße Tischdecken. Als Deko standen in der Mitte eine rosafarbene Rose und zwei Teelichter. Das fand ich zwar ein bisschen kitschig, aber dadurch wirkte der Raum etwas freundlicher. Außerdem gab es ein Fitnessstudio, dessen Inneres ich jedoch nicht sehen konnte, da die Tür zu war. Doch darüber stand in großen Lettern: Fitness mit Dr. Callerst.
Ich konnte mir irgendwie nicht vorstellen, mit einem Schlaftherapeuten Sport zu treiben. Doch ich glaube, dieser Dr. Callerst wollte einfach nur zeigen, dass das Gebäude ihm gehörte, und es den Leuten noch einmal verdeutlichen, falls sie die Wörter über dem Eingangsportal übersehen hatten. Doch eigentlich konnte keiner diese übergroßen Buchstaben übersehen.
Das Überraschendste an der Schlaf-Klinik war ein Schwimmbad mit der Bezeichnung Römertherme. Schon allein der Name klang ziemlich edel und so langsam interessierte ich mich dafür, was das wohl alles gekostet hatte.
Hinter dem Dschungel sah ich ein kleines Café, in dem auf die gleiche Weise gedeckt worden war wie in der Mensa, doch statt Rosen gab es Kaffeebohnen in einem kleinen Glas.
Meine Mutter und ich folgten der Empfangsdame in einen kleinen Fahrstuhl. Ich war noch nie ein Fan von Fahrstühlen gewesen, denn als ich einmal mit zehn Jahren mit meinem Dad in ein Gruselkabinett gegangen war, mussten wir uns alle in genau so einen Fahrstuhl hineindrängen. Das Licht ging aus und alle um uns herum schrien. Ich kippte einfach um und wachte später in einem Krankenhaus wieder auf. Man diagnostizierte damals einen Panikanfall, weil ich offenbar geglaubt hätte, es wäre alles echt. Jedes Mal fragte ich mich seither, ob das Gruselkabinett nicht vielleicht auch Teil meiner Albträume war.
„Könnten wir nicht lieber die Treppen nehmen?“, fragte ich die zwei Frauen, die bereits im Fahrstuhl standen und mich verwirrt anstarrten.
Doch meine Mutter verstand sofort, worum es ging. „Ja, klar. Das geht doch in Ordnung, oder?“, wandte sie sich an die Klinikangestellte. „Er hat ziemlich schlechte Erfahrungen mit Fahrstühlen.“
„Oh ja, natürlich. Das kann ich verstehen.“ Die Frau lächelte mich teilnahmsvoll an und wandte sich den Treppen zu.
Unterwegs fragte ich meine Mutter: „Wenn ich mich hier so umsehe, dann scheint mir das alles sehr modern und edel zu sein. Was wird dich das kosten?“ Mir war klar, dass man eine solche Frage bei Geschenken nicht stellte, aber eine Kur konnte man auch nicht wirklich als Geschenk bezeichnen.
„Ich wollte dir einfach etwas gönnen. Sieh es doch als Urlaub“, empfahl sie mir.
Damit hatte sie irgendwie recht. Drei Wochen ohne Amber und unseren blöden Hund Bowser zu verbringen, war ein regelrechter Jackpot. Trotzdem hatte ich noch keine Antwort auf meine Frage erhalten, als wir schließlich im vierten Stock ankamen. Ich schaute auf den Orientierungsplan des Gebäudes: fünf Stockwerke voll mit Patientenzimmern. Von außen hatte das Kurhaus gar nicht so groß ausgesehen.
Nun ging es einen kleinen Flur entlang, wir liefen an sieben Zimmern vorbei. „411 ... 412 ... 413 ...“, murmelte ich vor mich hin.
Vor einer kleinen Tür stoppte die Klinikangestellte und sagte zu mir: „Dein Zimmer, Louis.“ 417 stand auf einem Schild neben der Tür. Sie holte den Schlüssel aus ihrer linken Kitteltasche hervor und schloss auf.
Staunend sah ich mich im Zimmer um, das mich ein bisschen an unser Hotelzimmer in Kroatien erinnerte, in dem wir letztes Jahr die Sommerferien verbracht hatten. Klein, aber doch hübsch eingerichtet. Auf jeden Fall besser als das Schlaflabor oder die Rückbank im Auto meiner Mutter. Das Bett stand frei im Raum, sodass ich mir nicht die Hand aufschürfen konnte, wenn ich wieder träumte. Nicht so wie damals in unserer alten Wohnung in Seattle, wo ich bei wilden Träumen immer gegen den rauen Putz der Wand geschlagen hatte und mein Ellenbogen oft am nächsten Morgen blutig und offen gewesen war.
Ein kleines Nachtkästchen stand neben dem Bett mit einem Glas Wasser, einem kleinen Wecker und einer Orientierungskarte. Wahrscheinlich vom Gebäude. Außerdem waren noch zwei etwas kleinere Räume vorhanden. Einer beherbergte das Bad mit Dusche und sogar einer Badewanne. Und im anderen befanden sich das WC und ein Waschbecken. Ein großer Wandschrank sowie viele bunte Bilder von Sonnenuntergängen und dem Meer füllten den Raum. Zu meiner Überraschung stand neben dem Schrank ein kleiner Kühlschrank.
„Wozu denn das?“, fragte ich die Dame von der Rezeption und zeigte auf meine Entdeckung.
Sie trat zu mir und antwortete: „Für Getränke, die du unten in unserem Shop kaufen kannst, gleich hinter dem Fitnessstudio.“
So langsam beschlich mich wirklich das Gefühl, dass ich im Urlaub war. Und das während der Schulzeit. Ich würde wohl nicht viel verpassen, denn in einer Woche begannen ohnehin die Sommerferien. Und in diesen letzten Schultagen wurden sowieso nur öde Filme angeschaut.
„Die Putzkräfte werden dreimal in der Woche in dein Zimmer kommen und es reinigen“, erklärte die Angestellte nun und drückte mir einen Plan in die Hand. Darauf standen die Zimmerreinigungszeiten, Hausregeln und ein Ansprechpartner, an den ich mich, wie die Frau sagte, Tag und Nacht wenden konnte, wenn etwas nicht stimmte. Schlussendlich gab sie mir den Zimmerschlüssel und ging zur Tür hinaus. „Einen schönen Aufenthalt“, wünschte sie mir, bevor sie wieder zurück an ihren Empfangstresen ging.
Ich sah meine Mutter an, die es sich auf meinem Bett bequem gemacht hatte. „Ich hoffe, du kannst hier besser schlafen als bei uns zu Hause.“
Ich lächelte und antwortete: „Ganz bestimmt.“
„Na dann, mein Sohn ... kann ich noch irgendwas tun?“, wollte sie wissen.
Ich tat so, als würde ich überlegen. „Richte Dad, Amber und Bowser einen schönen Gruß aus.“
Sie grinste, stand vom Bett auf und ging zur Tür. Bevor sie den Raum verließ, drehte sie sich noch einmal mit trauriger Miene zu mir um. „Ich bin so stolz auf dich, Louis. Hab einen angenehmen Aufenthalt.“ Dann schloss sie die Tür hinter sich.
Nun war ich auf mich allein gestellt. Nur ich, die große Klinik und meine Albträume. Doch ich war mir nicht sicher, was meine Albträume anging, sonst war es immer meine Mutter gewesen, die mich geweckt hatte, bevor ich mich im Schlaf komplett blutig schlug. Aber hier war ich mit Morpheus und seinen Leuten allein.
Ich schaute mich noch einmal im Zimmer um. Es war schon Abend, stellte ich fest, als ich auf den Wecker sah: 20.50 Uhr. Die Tests im Schlaflabor hatten wohl länger gedauert als angenommen und die Klinik war ein gutes Stück von meinem Zuhause entfernt. Sollte ich es wagen, einfach zu schlafen, oder sollte ich mir Gedanken darüber machen, ob mich jemand retten würde, wenn ich schlecht träumte? Ich würde ohnehin bald einschlafen, denn ich war ziemlich fertig von der Autofahrt und der Medizin, die sie mir im Schlaflabor eingeflößt hatten. Noch bevor ich etwas entscheiden konnte, klopfte es dreimal laut an meine Tür. Ich rätselte, wer das wohl sein mochte. Meine Mutter, die irgendwas vergessen hatte? Die Frau von der Rezeption? Oder bildete ich mir das Klopfen nur ein, weil ich nun schon von Tagträumen heimgesucht wurde?
Da klopfte es wieder. Ich stand auf, um nachzusehen, ob ich wirklich schon Tagträume hatte. Ich umfasste den Griff, drehte ihn mit Schwung herum und die Tür sprang auf. Vor mir stand ein Mädchen, das mich ziemlich breit angrinste. Es hatte dunkelbraune, lange Haare, welche mich an Schokolade erinnerten. Die Augen passten super zur Haarfarbe, genauso schokoladig.
„Hey“, begrüßte mich meine Besucherin freundlich und diesem einen Wort konnte man bereits sehr viel von ihrem Charakter entnehmen.
„Hallo“, erwiderte ich etwas verblüfft. Ich kam mir vor wie ein Idiot. Hoffentlich verriet meine Antwort nichts von meinem Charakter: ängstlich, schüchtern und ziemlich müde.
„’tschuldigung, dass ich störe, aber ich habe dich in dieses Zimmer reinlaufen sehen und dachte mir ...“
„Ja, ich wohne die nächsten drei Wochen hier“, warf ich ein.
Erneut strahlte sie mich an und streckte mir ihre Hand entgegen. „Ich bin Luna.“
Ich ergriff ihre Hand, die sich so weich anfühlte, wie ihre Haare aussahen. „Louis“, murmelte ich.
„Na dann, Louis, freut mich, dich kennenzulernen. Wenn du irgendwelche Fragen zu diesem schrecklich großen Gebäude hast, meine Zimmernummer ist 412.“ Sie drehte sich um und lief schnurstracks den schmalen Gang entlang.
Ich schaute ihr noch hinterher, bevor ich ein bisschen verwirrt die Tür schloss. Anschließend packte ich meinen Koffer aus. 22.27 Uhr war es, als ich fertig war. Vielleicht sollte ich allmählich ins Bett gehen nach einem derart langen, tablettenreichen Tag. Was sollte schon passieren? Da Morpheus Angst vor dem Sonnenlicht hatte, konnte mir überhaupt nichts geschehen. Doch ich hatte Angst zu schlafen, Angst vor meinen eigenen Träumen. Und das mit 17. Erst mit neun Jahren hatte ich es geschafft, keine Angst mehr vor meinem Kleiderschrank zu haben. Für mich war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis irgendwann ein Monster oder ein Vampir oder so etwas heraushüpfen würde. Ich bekam die Angst in den Griff, indem ich bei Gedanken an ein plötzlich auftauchendes Monster an einen coolen Song dachte. Nach dem Aufwachen hatte ich dann immer einen Ohrwurm von jenem Lied.
Ich zog mich um und legte mich in das bequeme Bett. Für einen kurzen Augenblick glaubte ich, in ein Wasserbett zu fallen, weil die Matratze so weich war. Ich dachte an den Ferla-Song, den mir meine Mutter immer zum Einschlafen vorgesungen hatte, natürlich war ich damals noch ein kleiner Junge gewesen. Ich konnte mich nur noch schwach an ein paar Zeilen erinnern, aber das spielte keine Rolle mehr, denn ich war schon längst in meiner eigenen Traumwelt.
Ich lag auf einer grünen Wiese, und als ich aufstand, sah ich ein Dorf am Horizont, das offenbar nicht von Morpheus’ Männern beschädigt worden war. Das Gras sah gesund aus und auf einem kleinen Spielplatz tobten Kinder mit ihren Eltern herum. Ich kannte dieses Dorf aus meinen Erinnerungen. Im Folgenden träumte ich davon, wie mir meine Mutter offenbarte, dass ich noch ein kleines Geschwisterchen bekäme. Und prompt geschah dieses, Amber wurde geboren. Dabei hatte ich mir so sehr einen Bruder gewünscht. Das Merkwürdigste an diesem Traum war, dass ich meine Gedanken lenken konnte. Das war mir vorher noch nie passiert, ich hatte sonst keinerlei Kontrolle über mein Handeln oder sie Situation, in der ich mich befand.
Ich kniete mich auf den Boden, um mich zu vergewissern, dass ich dieses Mal wirklich in eine andere, realere Traumwelt gelangt war. Immerhin hatte ich von etwas geträumt, das ich tatsächlich einst erlebt hatte. Ich strich sanft über das weiche Gras unter meinen Fingern und an meiner Hand kitzelte es ... ich zuckte erschrocken zurück. Das war unmöglich! Wie konnte ich einen realen Traum haben? Ich war verwirrt. Konnte ich überhaupt noch unterscheiden, was Traum und Wirklichkeit war?
„Louis?“, ertönte es hinter mir. Es war eine vertraute Stimme, die ich schon gehört hatte.
Ich stand auf, drehte mich um und sah in ein Gesicht, das ich gut kannte. „Jane?“, fragte ich ungläubig. Doch es war tatsächlich Jane, die mich, seit ich ein Kleinkind gewesen war, in meinen Träumen begleitet hatte. Ein Mädchen mit braunen, langen Haaren, blaugrünen Augen und auffällig roten Lippen.
„Hey, Louis, schön, dich wiederzusehen“, hauchte sie sanft.
Es war wirklich schön, sie wiederzusehen, denn ich hatte, seit ich zehn Jahre alt gewesen war, von nichts anderem mehr geträumt als von Morpheus, seinen Männern und zerstörten Landschaften. Ich war verwirrt und gleichermaßen glücklich, weil ich endlich mal wieder von etwas nicht Furchterregendem träumte, auch wenn ich mich in einer seltsamen Traumrealität zu befinden schien.
„Bist du wirklich hier?“, fragte ich daher.
Jane begriff, dass ich zerstreut war, und schaute mich ernst an. „Wenn es nicht so wäre, stünde ich wohl kaum vor dir.“
Eine klare Ansage. „Fehlen da nicht noch zwei?“, hakte ich nach.
Ich sprach von zwei weiteren Personen, die mit mir durch meine Kindheitsträume gegangen waren. Wir vier waren ein unschlagbares Team gewesen. Und jetzt hatte ich vielleicht die Chance, sie wirklich kennenzulernen und mit ihnen zu sprechen. Es waren nun keine unscharfen Bilder in meinem Kopf mehr, sondern die Situation war real, oder sie fühlte sich zumindest so an.
„Ach, Ria und Marcus?“, fragte Jane.
Ja, ich hatte die drei quasi erfunden. Es gab sie nur in meiner Welt und mir war nicht bewusst, woher ich die Vorlagen für diese Personen hatte. Träume resultierten aus Bildern, die man im Alltag wahrgenommen hatte und im Schlaf verarbeitete. Zugegebenermaßen hatte ich Jane, Ria und Marcus nie gesehen, bis sie urplötzlich in meinen Träumen vor mir standen und wir beste Freunde wurden. Doch seitdem Morpheus aufgetaucht war, hatte ich nie wieder von ihnen geträumt. Und jetzt standen sie erneut vor mir. Wieso?
„Ist er schon da?“, fragte ein kleiner Junge mit weit aufgerissenen Augen Jane. Er hatte orange Haare und dunkelblaue Augen. Seine Ohren liefen nach oben hin spitz zu wie kleine Elfenohren.
Das musste Marcus sein, soweit ich mich erinnern konnte, hatte er Magie in sich und zauberte immer die verrücktesten Dinge. Doch er sah ganz und gar nicht wie ein Magier oder ein Zauberer aus. Nein, er sah aus wie ein zehn- oder elfjähriger Junge.
Er drehte sich zu mir um und staunte. „Du bist gekommen!“ Mich überraschte es, dass sie mich offenbar erwartet hatten. Er fuhr aufgeregt fort: „Wir brauchen deine Hilfe! Nur du kannst Morpheus beherrschen.“
Diese Sätze schienen einem Superheldenfilm zu entstammen. Doch er hatte wohl recht, da dies meine Fantasiewelt war und ich sie als Einziger einigermaßen beherrschte, war ich wohl auch derjenige, der sie retten konnte. Doch ich hatte kleinen blassen Schimmer, wo ich beginnen sollte. Morpheus konnte überall sein. Ich wusste nicht, wo er sich aufhielt, denn meine Träume waren meistens kurz und sehr heftig. Allein würde ich das niemals durchziehen können, so viel stand schon mal fest. Ich war nämlich kein Superheld, sondern einfach nur ein ganz normaler Junge.
Mit einem Mal kam ein Mädchen mit dunkelblonden Haaren herbeigestürmt. Ria, an sie erinnerte ich mich am besten. Sie trug ihre Haare immer offen und ihre blauen Augen strahlten aus ihrem Gesicht heraus. „Dahinten kommt eine Gruppe wütender Nashörner“, rief sie außer Atem Jane zu.
Peinlich! Das hatte ich mal geträumt, als ich acht Jahre alt und mit meiner Tante und meinem Onkel im Zoo gewesen war. Nashörner waren früher meine absoluten Lieblingstiere, doch dieser Traum hatte das komplett zerstört. Ich hatte sie streicheln wollen, aber wie Ria schon gesagt hatte, waren die Tiere wütend auf mich zugestürmt. Das war einer der Träume, an die ich mich noch eine ganze Weile erinnern konnte.
„Hey.“ Ja, das war das Mädchen, von dem ich schon fast mein ganzes Leben lang träumte. Rias Stimme hatte sich nicht verändert. Zart war etwas anderes, doch auch dunkel wäre übertrieben gewesen. Unbeschreiblich!
„Hallo.“ Wieder kam ich mir vor wie ein Idiot. Ich wusste nicht, warum, aber ich war seit Jahren in dieses erfundene Mädchen verliebt, obwohl ich es in Wirklichkeit noch nie gesehen hatte. Ebenso wenig wie Jane und Marcus. „Kann mir mal jemand erklären, warum mir alles so real erscheint?“, fragte ich die drei und kam mir dabei klein und dämlich vor.
„Du hast eine Mission. Du musst deine Träume retten“, sagte Jane ernst. „Du kannst Morpheus nur besiegen, wenn du klar denken kannst und dich in einer relativ realen Umgebung befindest.“
Mein Herz klopfte wie wild. Ich kannte blöderweise keinen, der auf einer Mission gewesen war und nicht mit üblen Wunden oder Verletzungen nach Hause zurückkehrte. Doch warum erst jetzt? Warum war das nicht schon passiert, kurz nachdem Morpheus in meine Welt eingedrungen war? Lag das an der Kur? Oder an der Freizeit, die ich jetzt hatte? Es konnte aber auch mit beidem etwas zu tun haben. Wenn das wirklich stimmen sollte, dann hatte ich genau drei Wochen Zeit, um Morpheus zu besiegen. Drei Wochen, um mich selbst vor dem Untergang zu bewahren.
„Also, hat jemand eine Idee, wo Morpheus’ Palast liegt?“, fragte ich meine Freunde.
„Hallo?“, gab Ria schnippisch zurück. „Du bist doch derjenige, der diese Welt in seinen Träumen erschafft. Du bist ihr Schöpfer und hast keinen Plan, wo was ist?“
Ich sah sie an und überlegte. „Ich bin höchstens acht Stunden hier und dann sehe ich meist alles unscharf. Außerdem kann ich oft nicht gut verstehen, was andere zu mir sagen. Und es gibt zum Glück auch Nächte, in denen ich gar nicht träume. Das sind die schönsten für mich“, erklärte ich den dreien.
„Du bist also nicht gern mit uns zusammen?“ Jane sah mich eingeschnappt an.
„Bist du deshalb nicht mehr zu uns gekommen in deinen Träumen? Wir durchforsteten das Land und halfen dir, so gut es nur ging, im Kampf gegen Morpheus“, erläuterte mir Ria. „Wir sorgen auch für das grelle Sonnenlicht, das Morpheus abwehrt.“
Jetzt begriff ich es erst, ich hatte quasi meine eigenen Schutzengel. Toll! „Dann habt ihr also für meine Sicherheit gesorgt?“, fragte ich die drei. Sie hatten gemerkt, dass ich es irgendwie immer noch nicht recht kapierte.
„Ja, so in der Art“, antwortete Marcus und lächelte mich an. Er schien mich zu mögen, bei Jane hingegen war ich mir da nicht so sicher.
Eine Welt vor dem Untergang zu retten ... wie schon gesagt, ich war kein Held mit Superkräften. „Wie soll bitte schön ein Junge mit Schlafstörungen eine ganze Welt vor einem Feind retten?“, fragte ich in die Runde. „Tut mir leid, Leute“, ich stand auf und sah dabei Ria in die Augen, die mich aufmerksam fixierte, „aber ich kann das nicht ...“
„Was?“, fragte Jane verblüfft.
Ihr Tonfall klang genauso wie der meines Lehrers in der neunten Klasse, wenn er einem verklickerte, dass man im Leben nichts erreichte, wenn man dem Unterricht nicht folgte. Ja, Mr Androw ... Ich wusste es nicht mit Sicherheit, aber ich ahnte, dass auch er irgendwo in meiner Traumwelt herumgeisterte. Als er mir einmal meinen Mathetest herausgegeben und mich wegen meiner Fünf minus fies angestarrt hatte, träumte ich drei Tage lang von seinem gruseligen Blick.
„Hey, wir sind für dich da wie in alten Zeiten.“ Jane kam auf mich zu und lächelte mich an. Es sah so aus, als meinte sie es ernst.
Na gut, meine Traumwelt war in Gefahr und vielleicht sollte ich es einfach mal versuchen, den Held zu spielen. „Wisst ihr, wo Morpheus’ Palast ungefähr liegt?“, wiederholte ich meine bereits zuvor gestellte Frage und schaute dabei Jane an, die ich mir stets sehr schlau vorgestellt hatte. Das war mir wohl auch einigermaßen gelungen.
„Das müssten etwa 700 Meilen von hier sein“, antwortete sie und zeigte in Richtung des kleinen Dorfes.
Stille war hereingebrochen, der Spielplatz, auf dem vorher noch die Kinder getobt hatten, war leer. Ein Windzug streifte mein Haar und wirbelte loses Gras auf. Ria sah ernst nach hinten, wo die große Weide den Horizont erreichte. Der Himmel verdunkelte sich, als würde es jeden Moment anfangen zu regnen. Der Boden fing an zu zittern und Hufgetrappel war zu hören.
„Rennt!“, schrie ich gegen den Lärm an.
Sofort stürmten alle los. So schnell war ich seit meinem letzten Leichtathletiksprint in der achten Klasse nicht mehr gerannt. Und ich war in Sport noch nie gut gewesen.
Auf der ganzen Wiese waren Maulwurfslöcher verteilt, die jedoch kaum zu sehen waren. Prompt stolperte ich und fiel hin. Jane hielt an und half mir auf die Beine. Auch Marcus stürzte ein paarmal. Im Laufen drehte ich mich um und erkannte, dass es tatsächlich Morpheus’ Männer waren, die uns auf Pferden verfolgten. Doch er selbst war nicht dabei. Hatte er Angst? Das konnte ich mir nicht vorstellen, dieser Mann war eiskalt. Ich rannte zu Marcus, der wieder mal hingefallen war, um ihm zu helfen, doch die Verfolger kamen immer näher und wirbelten Staubwolken vom Boden auf.
„Lauf weiter, ich tarne mich“, rief mir Marcus zu.
Ich zögerte nicht lange und rannte zu Jane und Ria, die in einem Haus im Dorf Zuflucht gesucht hatten. Marcus würde sich schon zu helfen wissen und die perfekte Tarnung finden, schließlich war er ein kleiner Magier.
„Was wollen die hier bloß?“, fragte Ria und sah mich verwirrt an.
Wenn die Kerle versuchten, das Dorf abzufackeln, waren wir erledigt. Die Krieger sahen Furcht einflößend aus. Jeder ritt auf einem schwarzen Pferd und war mit gewaltigen Lanzen und Speeren ausgestattet. Genauso wie Morpheus trugen sie dunkelrote Kleidung unter ihren Kettenhemden. Doch ich sah nichts, mit dem sie das Dorf in Brand setzen konnten. Sie ritten einfach vorbei, als wäre die Siedlung längst zerstört.
„Los, wir folgen ihnen“, rief uns Marcus zu, der eben mit vier Pferden angeritten kam und über das ganze Gesicht grinste. Jane und Ria waren von dem Anblick ebenso verwirrt wie ich. Doch dann klärte Marcus uns auf. „Keine Angst! Das ist bloß ein Zauber, der nicht lange wirkt, also glotzt mich nicht so stocksteif an, sonst entwischen sie uns noch.“
Ich warf Marcus einen dankenden Blick zu. Doch bevor ich auf das braunschwarze Pferd aufsteigen konnte, verspürte ich einen merkwürdigen Drang. Meine Finger zuckten und mir wurde auf einmal ganz kalt. „Alles okay, Louis?“, fragte mich Ria, die etwas besorgt aussah.
Ich wusste selbst nicht, was mit mir los war, auf einmal blendete mich ein weißes Licht. Ich spürte einen weichen Untergrund und lag plötzlich auf einem federweichen Kissen. Langsam öffnete ich die Augen und registrierte, dass ich wieder in meinem Klinikbett lag.
„Es war nur ein Traum“, murmelte ich vor mich hin und strich mir übers Gesicht. Ich fühlte ein paar Schweißperlen auf meiner Stirn. Ich schob die Bettdecke zurück und sah, dass meine Knie komplett mit Erde bedeckt waren. Als ich über den Maulwurfshügel gestolpert war, hatte ich mir meine Knie schmutzig gemacht, das stimmte. Aber das war im Traum gewesen ...
Ich sah auf den kleinen Wecker auf meinem Nachtkästchen: 8.22 Uhr. Auf dem Plan, den mir die Frau von der Rezeption in die Hand gedrückt hatte, las ich, dass die Frühstückszeit in der Klinik von neun bis zehn Uhr morgens war.
Während ich mir die Zähne putzte und meinen Pony hochgelte, musste ich immer wieder an das Abenteuer denken, das ich diese Nacht erlebt hatte. Dann schnappte ich mir den Gebäudeplan und verließ mein Zimmer.