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ОглавлениеDie einzige Angelegenheit, die sich in die Länge zog, war sein Wiedersehen mit Inga. Da er seiner Exfrau nicht die Chance geben wollte, ihn wegen Hausfriedensbruch anzuzeigen oder ihn beim Jugendamt anzuschwärzen, ging er sehr vorsichtig zu Werke. Er informierte sich beim Bezirksgericht und bekam den Rat, sich mit der Mutter des Kindes zu einigen. Rupert nahm sich einen Anwalt und brachte einen Antrag ein. Einige Tage später läutete das Telefon. Amanda, die sich nichtsahnend meldete, ließ fast den Hörer fallen, als Svenja am Apparat war und Rupert verlangte. Schnell lief sie hinters Haus um ihn zu holen. Rupert runzelte die Stirn. Er wusste nicht, was das zu bedeuten hatte und bat seine Schwägerin, das Gespräch mitzuhören. Diese traute ihren Ohren kaum, als Svenja ihren Exgatten beschimpfte und ihm vorwarf, dass er sich vor ihr versteckt habe. Sie nörgelte, dass sie es satt habe, allein für seine undankbare Tochter zuständig zu sein und verlangte, er solle endlich seinen Vaterpflichten nachkommen. Sie selbst werde in Kürze wieder heiraten und für längere Zeit verreisen. Rupert beging nicht den Fehler, sie darauf hinzuweisen, dass sie selbst ihn daran gehindert hatte, sich um seine Tochter zu kümmern. Er hörte ihre Tirade schweigend an und Amanda sah in seinem Gesicht Hoffnung aufkeimen. „Du kannst die Göre heute Abend abholen“, lautete der abschließende Befehl der liebenden Mutter.
„Diese Hexe“, entfuhr es Amanda. „Was machst du jetzt?“ „Ich rufe Guntram, meinen Anwalt, an. Genau dazu hat man solche Leute“, meinte Rupert leicht benommen. Anschließend telefonierte er längere Zeit mit seinem Anwalt. Amanda ging in die Ferienwohnung, um das zweite Schlafzimmer für Inga herzurichten. Als Rupert nach oben kam, strahlte er übers ganze Gesicht. „Guntram kommt am Abend mit. Wir holen Inga gemeinsam ab“, sagte er und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. „Ich kann es noch gar nicht glauben, dass es nach dem ganzen Theater jetzt so leicht geht.“ Amanda musste innerlich schmunzeln. Obwohl Rupert so lange fort gewesen war, sagte er immer noch gleich zu jedem „du“, wie er es seit seiner Kindheit im Tal gewohnt war. Der Herr Staranwalt hatte bestimmt nicht viele Klienten, die ihn gleich „Guntram“ nannten. „Hoffentlich geht wirklich so leicht“, meinte Amanda und mit ihren Zweifeln sollte sie rechtbehalten.
Es war nicht das herzige kleine Mädchen mit den hellblonden Zöpfen und den strahlend blauen Augen aus ihrer Erinnerung, das Rupert am späteren Abend ins Haus brachte. Amanda erschrak, als sie den stark geschminkten, trotzig blickenden Teenager mit den langen kohlschwarzen Haaren sah. „Ingalein, fast hätte ich dich nicht erkannt!“, rief sie aus und lächelte ihr Patenkind entschuldigend an. Das Mädchen verzog spöttisch das Gesicht. „Genau darum habe ich die Haare gefärbt. Ich bin nicht dein Ingalein“, sagte es trotzig und verschränkte die mageren Arme vor der Brust. Rupert tauschte mit Amanda einen ratlosen Blick und schlug seiner Tochter vor, ihr das Zimmer zu zeigen und das Gepäck nach oben zu bringen. Da offensichtlich der ganze Kofferraum voll mit Ingas Sachen war, half Amanda ihm, alles in den ersten Stock zu tragen. Inga lag inzwischen mit ihrem Walkman auf dem Bett und tat so, als ginge sie das Ganze nichts an. Auf Amandas Frage, ob sie noch etwas essen wolle, schüttelte Inga angewidert den Kopf. Also wünschte diese dem Mädchen eine gute Nacht und ging in die Küche, um für Rupert die Suppe zu wärmen, die sie zum Abendessen gekocht hatte. Da sie seinen Appetit kannte, stellte sie ihm noch Brot, Butter und Käse auf den Tisch und setzte sich mit einer Tasse Kräutertee zu ihm.
Rupert sah völlig erschöpft aus, als er die Küche betrat. Er löffelte schweigend die Suppe, während Amanda in kleinen Schlucken den heißen Tee trank und ihm Zeit ließ, sich zu stärken. Nachdem er den zweiten Teller gegessen hatte, bedankte sich Rupert bei ihr und meinte: „Es war entsetzlich, Amanda. Ich hätte viel früher zurückkommen und um Inga kämpfen sollen. Die Wohnung ist verwahrlost und schmutzig und Inga hat im heurigen Schuljahr die halbe Zeit gefehlt. Ihre Noten sind so schlecht, dass sie es nicht schaffen wird, hat die Direktorin zu Guntram gesagt. Er hat nach unserem Gespräch gleich Erkundigungen eingezogen. Die Schule hat schon daran gedacht, die Jugendwohlfahrt einzuschalten.“ „Jetzt ist Inga bei dir und das ist das Wichtigste. Alles andere wird sich mit der Zeit schon fügen“, versuchte Amanda ihrem Schwager Mut zu machen. Rupert seufzte: „Ja, sie ist bei mir, aber es wird vermutlich nicht leicht. Sie hasst mich.“
Am Morgen ließen sie Inga ausschlafen. Rupert wollte mit seiner Tochter reden, um sie dann entweder mit dem Bus in die Privatschule nach Bregenz, die sie bisher besucht hatte, oder in die Hauptschule nach Sonnleiten zu schicken, wie Christof. Eine dritte Möglichkeit war häuslicher Unterricht, aber das wäre nur eine vorübergehende Notlösung, darin waren sich Rupert und Amanda einig. Als Inga die Küche betrat, war Rupert noch im Stall. Er machte die Arbeit gerne und Amanda hatte im Haushalt und im Garten genug zu tun. Sie knetete gerade einen Brotteig, denn zum Mittagessen gab es einen Käsefladen. „Guten Morgen, Inga, was magst du zum Frühstück?“, fragte sie freundlich. „Nur eine Tasse Kaffee“, lautete die mürrische Antwort. Amanda hatte sich fest vorgenommen, sich nicht provozieren zu lassen. Sie goss Inga eine Tasse Kaffee aus der Thermoskanne ein und stellte Milch, Butter, Brot, Marmelade und Nutella auf den Tisch. Letzterem schien auch Inga nicht widerstehen zu können. Ohne ein Wort zu sagen, strich sie sich ein großes Nutellabrot und aß es zu ihrem Kaffee, in den sie reichlich Milch gegossen hatte. Amanda atmete innerlich auf. Wenigstens schien das Kind nicht magersüchtig zu sein, sondern nur den Stoffwechsel ihres Vaters zu haben, der auch Unmengen an Essen verdrücken konnte, ohne zuzunehmen.
Amanda knetete ihren Teig fertig und öffnete dann das Fenster für Charly, den Kater, der mehrmals am Tag zum Küchenfenster ein und ausging. Charly sprang auf Ingas Schoß und machte es sich dort bequem, als merke er, dass das Mädchen ein wenig Trost brauchte. Inga streichelte den Kater und Amanda erzählte ihr, dass er Charly heiße. „Ich hab mir auch immer eine Katze gewünscht, aber in der Stadt durfte ich keine haben“, sagte Inga und lächelte zufrieden, als Charly wohlig zu schnurren begann. Amanda, die das Ganze unauffällig beobachtete, schöpfte neue Hoffnung, die jedoch gleich wieder verflog, als Rupert die Küche betrat. Sobald sie ihren Vater sah, stand Inga auf und verließ grußlos den Raum.
Stirnrunzelnd schaute er ihr nach. „Grad eben hat sie Charly gestreichelt und gefrühstückt hat sie auch“, bemerkte Amanda kopfschüttelnd. „Sie ist anscheinend nur auf mich sauer“, seufzte Rupert, „daran bin ich wohl selbst schuld.“ „Nein, bist du nicht“, widersprach ihm Amanda vehement, „gegen Svenjas Tricks hattest du keine Chance.“ „Ich hätte früher zurückkommen und es noch einmal versuchen sollen“, beharrte Rupert. „Svenja hat ihre Meinung erst in den letzten Wochen geändert, als Inga aufmüpfig wurde.“ „Schon möglich, trotzdem hätte ich es versuchen müssen.“ Amanda akzeptierte, dass sie ihrem Schwager seine Selbstvorwürfe nicht ausreden konnte. „Lass ihr ein bisschen Zeit“, meinte sie zuversichtlich. „Ihr habt euch lange nicht gesehen und von ihrer Mutter hat sie wahrscheinlich nicht viel Gutes über dich gehört.“
Rupert ging hinters Haus, um Holz zu hacken und konnte sich so wenigstens körperlich abreagieren. Zu Mittag kamen Margot und Clemens heim. Beide bemühten sich um ihre neue Kusine. Clemens wollte, dass sie mit ihm Hausaufgaben machte und las ihr stolz eine Geschichte aus dem Lesebuch vor. Margot wollte Inga ihr Barbiehaus zeigen und freute sich darauf mit ihrer Kusine Puppen zu spielen. Solange Rupert nicht in der Nähe war, schien sie sich wohlzufühlen, sobald er jedoch auftauchte, wurde sie abweisend und sagte kein Wort mehr. Christof, dem Inga als kleines Mädchen auf Schritt und Tritt gefolgt war, fand ihre Haarfarbe grässlich und sagte ihr das rundheraus. Ihm schien Inga es aber nicht übelzunehmen. Am späten Nachmittag sagte sie zu Amanda, sie wolle eine Freundin anrufen, und telefonierte daraufhin längere Zeit. Nach dem Abendessen verschwand sie mit Margot in ihrem Zimmer. Eine Stunde später kamen die beiden stark geschminkt wieder heraus. Für Margot war es ein Spiel und sie drehte sich entzückt vor dem Spiegel im Hausgang. Für Inga schien es eine ernste Sache zu sein. Sie trug ein kurzes pinkfarbenes Kleid und Schuhe mit hohen Absätzen. Eine kleine schwarze Handtasche und eine Jacke hatte sie in der Hand. Nervös lief sie auf und ab und schaute immer wieder durch das Fenster in der Haustür auf den Vorplatz hinaus.
Rupert saß in der Stube, spielte mit den Buben Karten und merkte scheinbar nichts. Als dann jedoch ein Auto vorfuhr und Inga zur Tür hastete, war auch er mit wenigen langen Schritten dort. Das Mädchen konnte mit den hohen Absätzen nicht so schnell laufen und so sprach ihr Vater bereits mit dem jungen Burschen, der gekommen war, um es abzuholen. Die beiden hatten sich offensichtlich schon miteinander bekannt gemacht. „Um zehn Uhr muss Inga zu Hause sein, Rolf“, sagte ihr Vater gerade. Rolf lachte, als hielte er das für einen gelungenen Scherz. „Ja, und pass gut auf sie auf. Sie ist erst zwölf“, fügte Rupert hinzu. „Das ist gar nicht wahr, ich bin fast dreizehn“, rief Inga empört. Rolf schaute sie entsetzt an. „Du hast gesagt, du bist sechzehn“, rief er, legte den Rückwärtsgang ein und gab Gas. Mit quietschenden Reifen fuhr er davon. Entgeistert starrte Inga dem davonbrausenden Auto nach. Rupert hielt sie am Arm fest. Als sie jedoch begriff, was gerade geschehen war, schlug sie wild um sich und kreischte: „Ich hasse dich! Ich hasse dich, du bist so ein gemeiner Schuft!“ Dann lief sie ins Haus und knallte die Tür zu. Rupert atmete tief durch und ging äußerlich gelassen zurück in die Stube. „Warum lässt du dir alles von ihr gefallen?“, wollte Christof von seinem Onkel wissen. „Sie muss sich erst wieder daran gewöhnen, dass sie einen Vater hat“, meinte er entschuldigend. Sein Neffe schüttelte den Kopf. „Sie ist ziemlich schlecht erzogen“, stellte er kritisch fest. „Ich fürchte, da hast du recht“, seufzte der Onkel.
War Ingas Widerstand gegen ihren Vater zu Beginn eher passiver Natur, so artete er in den folgenden Tagen in einen offenen Krieg aus. In seiner Gegenwart mutierte das Mädchen zum unausstehlichen Biest und Rupert mit seinem schlechten Gewissen und seinen 68er-Idealvorstellungen von Kindererziehung ließ es stoisch über sich ergehen. Zu Amanda schien Inga langsam Zutrauen zu fassen und für die Kinder war sie einfach eine Schwester. Amanda dachte zurück an die Zeit, in der sie als Familienhelferin gearbeitet hatte. Oft war sie in schwierigen Situationen zu den Familien gekommen, aber sie konnte sich nicht erinnern, jemals ein Kind erlebt zu haben, dass sich so wild gebärdete. Jeden Tag nahm sie sich aufs Neue vor, sich nicht einzumischen, aber die Situation wurde immer unerträglicher. Rupert wirkte äußerlich ruhig, aber sein rapide steigender Zigarettenkonsum spiegelte seine innere Anspannung wieder. Während er vorher ab und zu vor dem Haus genüsslich eine Rauchpause gemacht hatte, war der Aschenbecher inzwischen jeden Tag randvoll. Inga weigerte sich auch, zur Schule zu gehen. Rupert meldete sie in Bregenz ab und sprach mit dem Direktor der Hauptschule, mit dem er jeden Donnerstag Fußball spielte. Heinz und er einigten sich darauf, Inga noch ein wenig Zeit zu lassen. Also lungerte Inga den ganzen Vormittag im Haus herum, streichelte Charly, wenn er es sich gerade gefallen ließ, und langweilte sich im Übrigen. Amanda nahm in der Bücherei ein paar Jugendbücher mit und legte sie auf die Kredenz in der Stube. Nachdem Inga die Bücher entdeckt hatte, verschlang sie eines nach dem anderen und schon am Freitagmorgen hatte sie alle gelesen. Amanda holte ihr aus Christofs magerem Fundus zwei Abenteuerbücher und damit war sie den Tag über beschäftigt.
Zum Abendessen stellte Amanda eine große Schüssel Birchermüsli auf den Tisch. Dazu gab es Tee und Butterbrote. Ihre Kinder liebten Müsli und ließen sich von der Mutter ihre Schalen füllen. Inga schüttelte sich angewidert. „Das eklige Zeug esse ich ganz bestimmt nicht“, verkündete sie, „ich hasse Rosinen.“ „Du kannst es essen oder vom Tisch gehen“, zeigte Rupert erste Anzeichen von väterlicher Autorität. „Ich hab Hunger, aber dir wäre es egal, wenn ich verhungere. Du, du, ...“, kreischte Inga und suchte nach einem passenden Wort, „Kinderschänder.“ Einen Moment lang war es totenstill am Tisch. Amanda sah den Schmerz in Ruperts Augen und im nächsten Augenblick verpasste er seiner Tochter eine schallende Ohrfeige. Inga heulte auf und lief Türen knallend aus der Küche. Rupert stand ebenfalls auf, entschuldigte sich bei Amanda und ging. Margot und Clemens saßen mit großen Augen da und wussten nicht, ob sie weinen sollten. Ihr großer Bruder hingegen schaufelte ungerührt Müsli in sich hinein. „Das hat sie verdient“, bemerkte er zufrieden. Amanda ärgerte sich über seine Selbstgefälligkeit. „Sei nicht so schadenfroh und sprich nicht mit vollem Mund“, tadelte sie ihren Ältesten. Christof schluckte und während er seine Schale nochmals füllte, erklärte er: „Papa hat mir auch einmal eine geklebt, als ich unverschämt zu dir war. Da habe ich es auch verdient.“ Amanda wunderte sich wieder einmal über die Härte, die Kinder an den Tag legen konnten. Sie erinnerte sich an den Vorfall. Während Vater und Sohn gleich wieder ein Herz und eine Seele gewesen waren, hatte zwischen Andreas und ihr den ganzen Abend dicke Luft geherrscht. „Männer“, dachte sie kopfschüttelnd.
Die Kinder wollten fernsehen und Amanda räumte das Geschirr in den Spüler. Dann band sie die Schürze ab und ging in den ersten Stock. Es war Zeit, sich einzumischen, fand sie. Inga war alt genug für die Wahrheit. Kurz entschlossen klopfte sie an die Tür. „Verschwinde, ich will dich nicht sehen“, tönte es aus dem Zimmer. Leise öffnete Amanda die Tür. Inga saß auf dem ungemachten Bett wie ein Häufchen Elend und hielt einen großen lila Stoffbären umklammert. Ihre Wange war gerötet und ihre Augen verweint. „Ich hasse ihn“, stieß sie trotzig hervor. „Mama hat immer gesagt, dass er ein Schuft ist und ich bin ihm ganz egal.“ Die Tränen begannen aufs Neue zu fließen und das Mädchen wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Amanda verkniff sich einen Kommentar und setzte sich zu dem armen verwirrten Kind aufs Bett. „Kennst du die Geschichte, wie deine Eltern sich kennengelernt haben?“, fragte sie leise. „Dein Papa war Assistent an der Universität und deine Mama war die Saison über Kellnerin am Stubaier Gletscher.“ Inga nickte, sie kannte die Geschichte.
„Rupert hat dort als Schilehrer gearbeitet, um sein mageres Gehalt aufzubessern. Er hat sich sofort in deine Mama verliebt. Ihr hellblondes Haar und ihre tolle Figur haben ihm sehr gut gefallen. Er fand sie lustig und sexy und als du dann unterwegs warst, haben sie sich riesig gefreut. Rupert hat in Bregenz eine Anstellung als kleiner Beamter bekommen. Dein Großvater hat ihm sein Erbe ausbezahlt und damit haben sie die Wohnung gekauft, in der ihr bis jetzt gewohnt habt, jedenfalls einen Teil davon.“ Inga nickte wieder. Sie wusste, dass man sich Geld von der Bank lieh, um Wohnungen oder Häuser zu kaufen. Amanda fuhr fort: „Weil sie wenig Geld hatten, hat deine Mama am Abend und am Wochenende als Kellnerin gearbeitet. Dann hat dein Papa auf dich geschaut oder du warst bei deinen Großeltern und bei uns.“ „Da war alles noch gut“, schniefte Inga.
Amanda streichelte ihr sacht übers Haar und das Mädchen schmiegte sich Trost suchend an sie. „Deine hübsche Mama hat den anderen Männern auch sehr gut gefallen und sie hatte immer wieder Verehrer. Dein Papa und sie haben sich mit der Zeit immer öfter gestritten und dann beschlossen, sich scheiden zu lassen. Das Problem dabei war nur, dass jeder der beiden dich bei sich haben wollte. Am Anfang hat es so ausgesehen, als ob dein Papa das Sorgerecht bekommen würde. Dann wärst du bei ihm geblieben, aber das wollte deine Mama natürlich nicht. Und weil sie wohl keine andere Möglichkeit sah, um das zu verhindern, hat sie zu einem schlimmen Trick gegriffen.“ Ingas Augen wurden groß. „Was hat sie getan?“, wollte sie wissen. „Sie hat behauptet, dass Rupert dich sexuell missbraucht hat“, sagte Amanda sachlich. „Aber das ist doch gar nicht wahr“, rief Inga entrüstet. „Nein, es ist nicht wahr“, seufzte Amanda, „aber die Richterin hat ihm trotzdem nicht geglaubt. Du warst durcheinander und hast viel geweint und zu deinem Schutz hat man ihm verboten, dich zu sehen.“ „Hat er mich darum nie besucht und mir nie geschrieben?“ Amanda nickte: „Es war schrecklich für Rupert. Er hat alles getan, was er konnte. Erinnerst du dich an seine Steine-Sammlung? Er hat sie verkauft, um einen Anwalt zu bezahlen, aber es war alles umsonst.“ „Und ich hab geglaubt, er hat sie nur mitgenommen, weil er mich nicht mehr mochte und ich die Steine so schön fand“, schluchzte Inga, die langsam verstand, wie alles zusammenhing. Amanda legte tröstend den Arm um die Schultern des Kindes und erzählte den Rest der traurigen Geschichte. „Rupert ist dann nach Australien gegangen. Dort hat er hart gearbeitet und viel Geld verdient. Zu deinem Geburtstag und zu Weihnachten schickte er immer Geld, damit ich dir etwas Schönes kaufen konnte.“ „Dann waren die Geschenke immer von Papa?“ „Die großen waren von ihm und die kleinen von Andreas und mir“, lächelte Amanda. „Und ich war so gemein zu ihm“, rief Inga entsetzt und stürmte aus dem Zimmer. Ihre Tante blieb noch dort, machte das Bett ordentlich und sammelte die Schmutzwäsche ein. Es war gut, dass Inga nun die Wahrheit kannte. Vielleicht schafften Rupert und seine Tochter es jetzt, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und ein neues Kapitel in ihrem gemeinsamen Leben aufzuschlagen, dachte sie zuversichtlich.
Am späten Abend, als Amanda gerade das Licht in der Stube löschen wollte, kam Rupert herein. Er umarmte seine Schwägerin. „Danke, dass du es ihr erzählt hast“, sagte er leise. „Ich dachte, es ist Zeit für die Wahrheit. Ihr habt beide genug gelitten“, meinte sie ernst und streichelte ihm über die Wange. Dann löste sie sich sanft aus seiner Umarmung und wünschte ihm eine gute Nacht. Es war nicht gut, wenn sie sich körperlich zu nahe kamen, fand Amanda. Sie waren beide schon zu lange allein, wobei sie nicht glaubte, dass Rupert in Australien wie ein Mönch gelebt hatte.