Читать книгу Die Trevelyan-Schwestern: Gabe des Stolzes - Helene Henke - Страница 6

2. KAPITEL

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Einige Tage später fand Cynthia erneut einen Gartenstrauß, vermeintlich diskret abgelegt auf einem Beistelltisch im Flur, allerdings in der Nähe ihres Schlafzimmers. Sie war noch nicht lange wach und in den frühen Morgenstunden ohnehin reizbar. Möglicherweise taten auch die Neckereien über ihren geheimen Verehrer ihren Beitrag oder schlicht das Gedankenkarussell über ihren momentanen Familienstand, das sie in den letzten Tagen beschäftigte, obwohl sie es gar nicht wollte. Es machte auch keinen Unterschied, woher es kam, dass sie bei dem erneuten Anblick dieser unerwünschten Nettigkeit in Wut geriet. Sie griff nach dem Blumenstrauß und beförderte ihn umgehend in den nächsten Papierkorb. Langsam übertrieb es Stewart mit seinen Aufmerksamkeiten und überhaupt, was hatte der Gärtner im Schlaftrakt der Familie verloren? Auch wenn er eines der Zimmermädchen beauftragt hatte, die Blumen so nahe an ihrem Schlafzimmer abzulegen, empfand es Cynthia als sehr unangenehm. Die ganze Zeit über hatte sie sich geduldig gegeben. Schließlich hatte niemand Einfluss darauf, in wen er sich verliebte. Auch Stewart nicht. Bisher schien es zu genügen, ihm höflich, aber bestimmend gegenüberzutreten. Doch das überstieg endgültig Cynthias Geduld. Es schien an der Zeit, den aufdringlichen Mann zur Rede zu stellen. Sie machte sich schnaufend auf den Weg nach unten und durchquerte die Halle, um Stewart im Garten aufzusuchen. Letztlich würden ihre Worte nicht so hart ausfallen, wie sie es sich gerade in Gedanken zurechtlegte. Dazu verrauchte ihre Wut für gewöhnlich zu schnell, aber zumindest wollte sie ihn bitten, es zu unterlassen, ihr dauernd Blumen zu schenken. Im Vorbeigehen hörte sie ihren Vater nach ihr rufen, doch sie war noch zu aufgebracht.

„Jetzt nicht, Vater“, rief sie über ihre Schulter hinweg. „Ich komme später zu dir.“

Mit diesen Worten hastete sie die Außentreppe des Herrenhauses hinunter und lief quer über den Kiesweg, als ihr auch schon Stewart entgegenkam. Cynthia blieb stehen, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte den heraneilenden Gärtner an. „Das trifft sich ja gut. Wir müssen uns unterhalten.“

Erst beim Näherkommen erkannte sie Stewarts vor Aufregung gerötetes Gesicht. Sofort verflog ihre Wut und eine dunkle Ahnung zog in ihr auf. Plötzlich fiel ihr auf, dass die Stimme ihres Vaters vorhin besorgt geklungen hatte.

Sie löste ihre Arme aus der Abwehrhaltung. „Was ist los? Ist etwas passiert?“

„Miss Cynthia, Miss Cynthia.“ Stewart machte keuchend halt und beugte sich vor, um wieder zu Atem zu kommen. „Etwas stimmt nicht mit Nori …“

Der Schreck fuhr ihr durch die Glieder und zog heiß in ihren Kopf.

„Bitte? Was ist mit ihm? So sprechen Sie doch“, fuhr sie den Gärtner an.

„Die Mädchen im Stall sagen, er lahmt ganz schlimm und hat möglicherweise eine schwere Erkrankung …“

„Was reden Sie denn da? Seit wann haben unsere Mitarbeiter eine medizinische Ausbildung?“

Sie hasste diese pseudomedizinischen Halbwahrheiten, vor allem, weil so etwas noch mehr Angst beim Betroffenen verursachte, als er ohnehin schon hatte.

Ein Gärtner, der mit weit aufgerissenen Augen die Hände in die Luft warf, machte die Sache auch nicht besser. Anscheinend war er nicht in der Lage, ihr wiederzugeben, was man ihn auszurichten beauftragt hatte. Cynthias Herz schlug wie wild, als die Sorge um Nori sie erfüllte.

„Hat jemand Doktor Sweets benachrichtigt?“, fragte Cynthia schon auf dem Weg zum Stall.

Stewart murmelte etwas Unverständliches, während er übereifrig neben ihr herhastete. Eine vernünftige Antwort schien von ihm nicht zu erwarten zu sein, also schob sie sich an ihn vorbei und rannte, so schnell sie konnte, zum Stall.

Zu ihrer Erleichterung erkannte sie schon von Weitem den rot-grau melierten Haarschopf von Doktor Sweets, der gerade dabei war, sein mobiles Röntgengerät aus seinem Wagen zu holen. Er trug wie jeher seine Tweetjacke mit aufgesetzten Flicken an den Ellbogen und strahlte Vertrauenswürdigkeit aus. Er behandelte die Pferde der Trevelyans seit Jahrzehnten und war für Cynthia die Kompetenz in Person. Er würde es schon wieder richten, unter was auch immer Nori litt.

Allerdings beunruhigte sie dennoch das schwere Geschütz in Form eines Röntgenapparates.

„Guten Morgen, Doktor, Sie haben Nori bereits untersucht?“

„Cynthia“, grüßte der Arzt zurück und nickte. „Dein Vater hat mich benachrichtigt und da ich gerade in der Nähe war, konnte ich schnell hier sein.“

Er nahm den Zuggriff des rollbaren Gerätes in die Hand und zog es Richtung Stall.

„Ich verstehe das nicht, vorgestern war noch alles in Ordnung mit Nori. Was ist denn mit ihm?“

„Nun, er hat gebockt, als er geputzt werden sollte, und wollte sogar zubeißen.“

Cynthia runzelte die Stirn. „Das sieht ihm gar nicht ähnlich.“

„Deshalb hat euer Stallmädchen auch deinen Vater gerufen, der sich anscheinend gerade in der Nähe aufgehalten hatte.“

Wahrscheinlich sein Morgenspaziergang, überlegte Cynthia abwesend.

„Dein Vater hat mich dann angerufen, weil er an Nori deutliche Bewegungseinschränkungen sowohl vertikal wie horizontal bemerkt hatte. Ich habe ihm erst mal etwas gegen den Palpationsschmerz gespritzt, damit ich ihn weiter untersuchen kann.“

„Er hat Schmerzen?“ Cynthia musste schlucken.

„Ja, beim Abtasten im Brustwirbelbereich ist er aufgestiegen.“

Sie näherten sich dem Stall. Cynthia lief sofort auf Nori zu und streichelte sanft seine Nüstern. Er wirkte apathisch, sein Blick war glasig.

„Das kommt vom Schmerzmittel“, erklärte Doktor Sweets, der ihre Sorgen zu ahnen schien. „Vermutlich macht ihm nur seine Arthritis zu schaffen. Der Gute ist ja auch nicht mehr der Jüngste.“ Er klopfte Nori sanft auf das Hinterteil und zwinkerte Cynthia zu.

Getröstet fühlte sie sich dennoch nicht und konnte das ungute Gefühl im Bauch nicht vertreiben.

„Du kannst mir gerne helfen und die Röntgenplatte gegenhalten“, bot der Arzt ihr an.

Sie war froh, etwas tun zu können, und gemeinsam war das Röntgenbild schnell gemacht. Während Cynthia ihr Pferd streichelte, beobachtete sie besorgt den kritischen Blick, mit dem Doktor Sweets das Röntgenbild begutachtete.

Er wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. „Nun, es sieht aus, als hätten wir es hier mit sich berührenden Dornfortsätzen an den Brustwirbeln zu tun. Die Reibung verursacht natürlich Schmerzen.“

Ein kalter Schauder zog über Cynthias Rücken. „Sie meinen, er leidet unter Kissing Spines?“

„Genau diagnostizieren lässt sich das TLI-Syndrom nicht ohne weitere Tests, aber es liegt nahe und ist die häufigste Rückenerkrankung bei Pferden. Fürs Erste würde ich empfehlen, ihn ein wenig zu schonen. Dabei meine ich natürlich keine Boxenruhe, das wäre in dem Fall nicht sinnvoll.“

„Es heißt, Kissing Spines führt zur Unreitbarkeit des Pferdes …“ Allein der Gedanke schnürte Cynthia die Kehle zu.

„Nicht zwingend. Wenn wir ihn behutsam therapieren, kann er noch bis ins hohe Alter geritten werden.“

Doktor Sweets packte sein Röntgengerät zusammen und beförderte es zurück zu seinem Wagen. Cynthia streichelte noch einmal Nori und folgte dem Arzt.

„Was kann ich für ihn tun?“

„Mmh“, machte der Arzt nachdenklich.

Innerlich hoffte sie inständig, der selbst in die Jahre gekommene Tierarzt übertrieb mit der Diagnose oder hatte sich schlicht geirrt. Doch leider lag auf der Hand, dass dies nichts weiter als Wunschdenken war. Ebenso wie sie kannte Doktor Sweets Nori seit dem Fohlenalter und war mit sämtlichen medizinischen Schwächen des Tieres vertraut.

„Du kennst ihn ja am besten und weißt, welche Haltung ihm angenehm ist. Versuche zu vermeiden, dass er ins Hohlkreuz fällt. Dadurch reiben die Dornfortsätze erst recht aneinander.“

„Vielleicht sollte ich ihn mit langem, tiefem Hals longieren. Eventuell auch über Cavaletti“, überlegte sie laut.

„Eine gute Idee. Und wenn du ihn reitest, am besten im Galopp, da löst er sich besser als im Trab. Ich lasse dir ein paar Schmerzmittel da.“

Mit diesen Worten verabschiedete sich der Arzt und stieg in seinen Wagen. Mit einem betrübten Gefühl im Bauch machte sie sich auf den Weg zurück zum Haus. Irgendwie fand sie die Untersuchung unbefriedigend, fast als wäre Doktor Sweets sich nicht völlig sicher. Oder es lag daran, dass die ganze Situation Cynthia überforderte, weil Nori in seinem Leben nie ernsthaft erkrankt war. Auf jeden Fall wollte sie nicht tatenlos sein und wollte alles über die Krankheit herausfinden. Cynthia war nicht zimperlich, doch dass ihr geliebtes Pferd erkrankt war, traf sie bis ins Mark.

Als sie an den Rundbeeten vorbeilief, lugte Stewart hinter einem Ginsterbusch hervor und nickte ihr mitfühlend zu. Cynthia runzelte nur die Stirn und wischte sich resolut die Tränen von den Wangen. Sollte sie gleich irgendwo einen Strauß dieser gelben Blüten finden, würde sie ihm diesen umgehend um die Ohren hauen.

Im nächsten Moment schämte sie sich, dieser dummen Blumenmacke des Gärtners so viel Aufmerksamkeit gewidmet zu haben. Es gab wirklich Wichtigeres.

In den darauffolgenden Tagen konnte Cynthia kaum einen klaren Gedanken fassen, so sehr beschäftigte sie sich mit Noris Zustand. Nachdem sie sich tagelang mit dem Rumoren in ihrem Magen abfinden musste, konnte sie ihre Stimmung nur noch schwer verbergen. Sie saß beim Frühstück und starrte gedankenverloren in ihre Kaffeetasse und konnte den Drang, zu weinen oder loszuschreien, nur schwer unterdrücken. Doch sie schwieg, wie sie es immer getan hatte.

Dafür las sie alles, was sie finden konnte, über die Behandlungsmöglichkeiten der Krankheit Kissing Spines und fragte ihrem Vater Löcher in den Bauch.

„Ich möchte dir nicht zu nahe treten, Cynthia, aber kann es sein, dass du dich da etwas zu sehr hineinsteigerst?“, fragte er irgendwann.

Cynthia schnappte empört nach Luft. „Dass ausgerechnet du so etwas zu mir sagst!“ Sie warf einen Blick auf ihre Mutter, die nur kurz den Mund verzog. Von ihr hätte Cynthia eine solche Bemerkung erwartet, aber nicht von ihrem Vater.

„Natürlich bin ich besorgt.“ Plötzlich fühlte sie sich alleingelassen wie ein Teenager, dessen weltbewegende Probleme bei den Eltern nichts weiter als Unverständnis hervorriefen.

„Nori ist in besten Händen. Er bekommt Schmerzmittel und wird von euch therapiert. Und dennoch schaust du, als stünde das Ende der Welt bevor.“

Cynthia stellte ihre Tasse klirrend auf den Unterteller. „Ich kann doch nicht ignorieren, wenn es Nori schlecht geht. Irgendwer muss doch etwas unternehmen.“

Ihr Vater hob beschwichtigend die Hände, doch ehe er etwas erwidern konnte, kam Mutter ihm zuvor.

„Deshalb habe ich auch Mister Forbes herbestellt“, warf sie lapidar in den Raum.

Völlig irritiert sah Cynthia ihre Mutter an. „Du hast was? Wer ist Mister Forbes?“

Ihre Mutter wich ihrem Blick aus und befeuchtete sich die Lippen. Eine typische Angewohnheit, wenn ihr etwas nicht zu behagen schien.

„Mutter?“, fragte Cynthia aufgebracht.

„Ein bisschen Contenance wäre wünschenswert, junge Dame“, entgegnete ihre Mutter streng.

Cynthia hatte nicht das geringste Interesse, sich zusammenzureißen. „Jetzt komm mir bitte nicht so, sondern erklär mir lieber, was es mit diesem Mister Forbes auf sich hat.“

„Er ist ein bekannter Tierheilpraktiker aus Kanada, der zurzeit die Gestüte in der Gegend besucht, um die Pferde zu untersuchen. Manchmal ist es angebracht, eine zweite Meinung einzuholen. Vielleicht wird dich das beruhigen. Außerdem sprechen die Leute in höchsten Tönen von seinen sagenhaften Fähigkeiten.“

„Sagenhaft? Klingt ziemlich esoterisch.“ Cynthia musterte ihre Mutter kritisch.

„Ich habe über ihn gelesen“, fügte ihr Vater hinzu. „Er wird in der Presse der Knochenbrecher genannt.“

Cynthia starrte ungläubig ihre Eltern an und fragte sich, ob die beiden ihren Verstand verloren hatten. Demnächst kauften sie noch fragwürdige Wunderseren im Internet.

„Das ist jetzt nicht euer Ernst, oder?“

Während ihre Mutter nur eine Miene zog, ergriff ihr Vater das Wort.

„Wenn es dir passender erscheint, kannst du ihn auch Pferdeheiler nennen. Der Mann hat ausgezeichnete Referenzen und ist regelmäßig im ganzen Land unterwegs.“

„Ihr glaubt doch nicht, dass ich einen Scharlatan an ein so wertvolles Pferd lasse.“ Cynthia konnte ihre Entrüstung kaum im Zaum halten.

„Er hat schon wertvollere Pferde als Nori behandelt und geheilt“, fügte ihre Mutter hinzu. „Außerdem ist er schon seit einer Weile draußen bei den Stallungen.“

Cynthia sprang auf, ihr Stuhl schob sich quietschend über den Parkett. „Er ist schon hier? Ich kann nicht fassen, dass ihr so etwas entscheidet, ohne es vorher mit mir abgesprochen zu haben.“

„Jetzt beruhige dich aber mal, Kind. Deine Mutter hat es nur gut gemeint.“

Ihr fehlten die Worte, während ein Schwall Wut in ihr hochkochte. Manchmal glaubte sie, es mit Kindern zu tun zu haben, wenn ihre Eltern mit ihren gut gemeinten Ratschlägen ankamen. Für gewöhnlich waren diese eher harmlos und erzeugten in ihr allenfalls ein Augenrollen. Doch das hier ging definitiv zu weit. Sie hätten doch wenigstens vorher mit ihr sprechen können. Verflixt noch mal!

Ohne ein weiteres Wort lief sie in die Halle, streifte sich schnaubend Reitstiefel und Jacke über und lief die Außentreppe hinunter. Sie war so wütend, dass sie auf den letzten Stufen ins Straucheln geriet und beinahe gestolpert wäre. Doch sie fing sich auf und marschierte über den Weg Richtung Stall. Ihr Herz schlug vor lauter Aufregung. Hoffentlich kam sie nicht zu spät und konnte ein mögliches Unheil noch abwenden. Sie hatte einiges über solche Pseudoheiler gelesen, die oft mehr Schaden anrichteten, als ohnehin schon vorhanden war. Natürlich wurden die Folgeschäden dieser laienhaften Behandlungen erst so spät erkannt, dass man den sogenannten Heiler nicht mehr zur Verantwortung ziehen konnte.

Schon von Weitem sah sie den Mann, der vor Nori hockte und offenbar dabei war, dessen Vorhand zu begutachten. Cynthia stieß einen missmutigen Zischlaut aus. Das Pferd hatte Rückenprobleme und er untersuchte die Beine. War ja klar. Und dann dieses karierte Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln, das sich über den breiten Rücken spannte, wie sie beim Näherkommen wahrnahm. Zu dem zusammengebundenen Haar würde sie vermutlich gleich einen barbiergepflegten Vollbart und damit einen würdigen Vertreter des lumbersexuellen Trends erblicken. Sie verdrehte die Augen.

Schwungvoll stieg sie über den niedrigen Begrenzungszaun, der sie nur noch wenige Meter von ihrem Pferd trennte.

„Hören Sie sofort auf damit, was auch immer Sie da tun“, rief Cynthia.

Nori bewegte sich und wieherte erschreckt auf, erkannte aber sofort ihre Stimme und beruhigte sich wieder. Der Mann neigte den Oberkörper ein wenig nach hinten, um einem möglichen Tritt des Pferdes zu entgehen, und richtete sich in dem Moment auf, als Cynthia vor ihn trat. Sie war es nicht gewohnt, ihren Kopf nach hinten zu neigen, um jemandem ins Gesicht zu sehen, und für den Bruchteil einer Sekunde war sie perplex, als er sich vor ihr aufbaute, sodass sie erst einmal auf seinen Hals starren musste.

„Sie sind Mrs Trevelyan, nehme ich mal an. Ich bin Travis Forbes.“ Er streckte zum Gruß die Hand aus, doch Cynthia verschränkte die Arme vor der Brust und musterte sein Gesicht.

Sein breiter Mund verzog sich zu einem Lächeln, als er seine Hand zurückzog, wobei sich ein Grübchen auf seinem kräftigen, glatt rasierten Kinn bildete. In seinen moosgrünen Augen meinte sie ein spöttisches Funkeln zu vernehmen. Sie hatte nicht vor, zu zeigen, dass sie ihr unhöfliches Verhalten schon im selben Moment bedauerte, und zog es vor, auf Konfrontation zu bleiben.

„Sie sollten Ihr Pferd nicht so erschrecken, schon gar nicht, wenn jemand vor ihm hockt“, sagte er mit ruhiger Stimme und tätschelte beiläufig Noris Hals.

Was fiel ihm ein, sie zu maßregeln?

Sie klopfte Nori auf das Hinterteil und bemerkte, wie erstaunlich ruhig ihr Pferd war. „Wie kommen Sie dazu, die Diagnose meines Tierarztes infrage zu stellen?“

Er hob erstaunt die Augenbrauen. „Ich wurde hergebeten, um nach Ihrem Pferd zu sehen, und nicht, um in einen Wettstreit zu treten. Für wen halten Sie mich?“

„Für einen Quacksalber“, platzte es aus ihr heraus.

Zwar hob er überrascht die Augenbrauen über ihren Angriff, behielt aber sein Lächeln bei. Wollte er sie damit provozieren? Cynthias Wutpegel schnellte erneut in die Höhe, doch musste sie erkennen, dass sie sich über sich selbst ärgerte. Die Beleidigung war ihr herausgerutscht und nun kam sie nicht mehr raus aus der Situation. Sie rechnete damit, dass Mister Forbes sich jeden Moment umdrehen und gehen würde, doch er behielt seinen freundlichen Gesichtsausdruck bei und ließ sie damit gegen eine Wand des Lächelns laufen.

„Tatsächlich?“, fragte er mit einem amüsierten Blitzen in den Augen.

Cynthia presste die Lippen zusammen. Nori wandte den Kopf mit einem leichten Grummeln herum und grub sanft seine Nüstern in Mister Forbes’ Haar, der seine Aufmerksamkeit sofort dem Tier zuwandte.

Jetzt fiel Nori ihr auch noch in den Rücken mit seinen offenen Sympathiebekundungen.

„Vielleicht sollten Sie sich dann dem richtigen Körperteil zuwenden“, fuhr Cynthia ihn an.

Irgendetwas Irritierendes lag in seinem Blick, als er sich ihr wieder zuwandte. Sie beschloss, es zu ignorieren.

„Und welcher Körperteil sollte Ihrer Meinung nach untersucht werden?“

„Doktor Sweets hat Kissing Spines diagnostiziert, also ein Rückenproblem, und Sie untersuchen seine Vorhand“, erklärte sie absichtlich lehrerhaft.

Er streichelte mit beiden Händen den Hals des Pferdes. „Nori leidet nicht unter Kissing Spines. Seine Beschwerden rühren auch nicht vom Rücken her, sondern vom Bein. Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass er lahmt?“

Jetzt hatte er ausgeholt und Cynthia stand da wie vom Donner gerührt. Einerseits spürte sie erneut Entrüstung aufsteigen, anderseits fühlte sie sich sofort betroffen darüber, möglicherweise ein Symptom an Nori übersehen zu haben.

„Er war in den letzten Tagen etwas apathisch, wegen der Schmerzmittel“, verteidigte sie sich. „Wir haben nur ein paar behutsame Longierübungen gemacht.“

„Ich verstehe“, erwiderte er und schüttelte dabei verständnislos den Kopf. „Glücklicherweise stand er unter Medikamenten, sonst hätten die Übungen ihm noch mehr Schmerzen verursacht. Sie konnten das nicht wissen.“

„Wie können Sie sich da so sicher sein?“, entgegnete Cynthia verunsichert.

Statt einer Antwort griff er nach Noris Halfter und führte ihn langsam ein Stück über die Weide. Cynthia konnte nichts Ungewöhnliches feststellen, doch als die beiden umdrehten und wieder auf sie zukamen, erkannte sie eine kaum wahrnehmbare Unebenheit in Noris Gang. Es brauchte in der Tat einen sehr geschulten Blick, um das leichte Lahmen zu erkennen. Mister Forbes beobachtete konzentriert Noris Bein und tastete es immer wieder ab, während sie gingen.

„Das ist eigenartig“, sagte Cynthia. „Beim Röntgen zeigten sich überlappende Dornfortsätze. Das werden wir uns wohl kaum eingebildet haben.“

„Kann ich das Röntgenbild sehen?“

„Wenn es Ihnen hilft …“ Sie ging in den Stall, wo sie die Aufnahmen in einem Materialschrank aufhob.

Als sie sich mit dem Bild in der Hand umdrehte, schrak sie auf, weil Forbes direkt hinter ihr stand. Sie hatte nicht bemerkt, dass er ihr gefolgt war.

„Und Sie sollten sich nicht so heranschleichen und Menschen erschrecken, Mister Forbes“, konterte sie auf seine Rüge von vorhin.

„Die meisten Menschen nennen mich Travis“, erwiderte er und nickte.

Sie reichte ihm die Aufnahme, die er gegen das Licht hielt und eingehend studierte. Seine Miene war konzentriert, nur hin und wieder blinzelte er gegen das tief stehende Sonnenlicht. Cynthia nahm kräftige Unterarmmuskeln, aber gepflegte Hände wahr. Während sie ihn beobachtete, konnte sie nicht verhindern, milde gestimmt zu werden. Die Behutsamkeit, wie er mit Nori umging, die Ruhe, mit der er ihr begegnete, obwohl sie ihm deutlich kritisch gegenübertrat, weckte irgendwie Vertrauen in ihr. Auch wenn sie noch daran zweifelte, dass er von der Röntgenaufnahme etwas verstand, wirkte er dennoch professionell. Außerdem wollte sie ganz dringend daran glauben, dass Nori wieder gesund werden würde.

„Hier liegt keine klinisch relevante Rückenerkrankung vor. Schauen Sie.“

Cynthia trat vor und musste sich sehr nah neben ihn stellen, um mit ihm gemeinsam das Röntgenbild zu betrachten. Ihre Schultern berührten sich, als er die Hand hob, um auf das Bild zu deuten. „Hier sind in der Tat Dornfortsätze zu sehen, die sich teilweise auch berühren, was schnell auf ein TLI-Syndrom hindeuten könnte.“

„Das klingt hoffentlich nach einem ‚Aber‘.“

Interessiert stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Als er sich ihr zuwandte, war sein Gesicht dem ihren so nah, dass sie seinen Atem spürte. Schnell neigte sie sich ein wenig zurück.

„Ja, das tut es.“ Er lächelte sie an und deutete erneut auf das Bild. „Bei sechsundfünfzig Prozent der röntgenologisch untersuchten Pferde wird das sogenannte Kissing Spines gefunden, aber bei immerhin siebenundzwanzig Prozent handelt es sich eben nicht um eine ernste Rückenerkrankung.“

„Aber wie ist das möglich?“

„Manchmal kommt es zwischen zwei sich berührenden Dornfortsätzen zur Ausbildung von Pseudogelenken. Bei Nori ist es der Fall, wie Sie hier sehen können. Außerdem zieht er weder den Rücken ein, noch konnte ich vorhin eine eingeschränkte Hinterhandaktivität feststellen. Das Wichtigste ist jedoch, dass diese Pseudogelenke keine Schmerzen verursachen.“

Die Erleichterung brauste wie ein warmer Wind über sie hinweg. „Das sind ja wunderbare Nachrichten. Sind Sie sich auch sicher?“

Sie strahlte ihn an, woraufhin er sie erstaunt anblickte. „Das bin ich. Wir haben es hier mit einer Patellaluxation zu tun. Genau genommen, das Karpalgelenk im Hinterbein ist herausgesprungen.“

„Legt sich das nicht für gewöhnlich von alleine?“, fragte sie.

„Meistens ja, aber in manchen Fällen eben nicht.“

Gemeinsam gingen sie zurück zu Nori. Er führte das Pferd auf den gepflasterten Bereich vor dem Stall und ließ es langsam auf- und ablaufen. Dabei betrachtete er eingehend das Bein des Tieres.

„Kommen Sie her und fühlen Sie“, forderte er sie auf, nachdem er Nori zum Stehen gebracht hatte.

Sie legte ihre Hand auf Noris Bein. Das Pferd schnaubte leise und stupste Cynthia mit den Nüstern an.

„Weiter unten.“ Er trat heran, griff ihre Hand und führte sie hinunter zu Noris Kniescheibe. Diese spontane Berührung erschien ihr eigenartig, aber seltsamerweise nicht unangenehm.

„Fühlen Sie es?“

Sie fuhr leicht zusammen. „Ja … sein Bein ist an dieser Stelle wärmer und leicht geschwollen. Was können wir dagegen machen?“

„Wir werden das Knie wieder einrenken.“

Cynthia starrte ihn an. Zwar verfügte Nori über einen überaus entspannten Charakter, doch bei Schmerzeinwirkung konnte das mächtige Tier durchaus aggressiv reagieren und einen Tritt wollte Cynthia nicht von ihm abbekommen.

Travis wies sie an, den Halfter zu halten und ruhig auf Nori einzureden, während er sich neben dem rechten Vorderbein aufstellte. Sofort schien das Pferd zu spüren, dass etwas vor sich ging, und fing an, sich unruhig zu bewegen. Besorgt richtete Cynthia ihren Blick abwechselnd von Nori zu Travis, der gerade andeutete, an Nori vorbeizugehen. Sobald er aus dem Blickwinkel des Tieres verschwunden war, drehte er sich schnell um und hob mit einer fast elegant anmutenden Bewegung das gewinkelte Hinterbein des Tieres an. Damit stützte der Heilpraktiker beinahe das ganze Gewicht des Pferdes. Ehe Nori überhaupt begriff, wie ihm geschah, vernahm Cynthia ein deutlich hörbares Knacken. Die Kniescheibe war an ihren angestammten Platz zurückgesprungen. Ein Schaudern rann über ihren Rücken. Ein schmerzerfülltes Wiehern ließ Travis und Cynthia gleichzeitig schleunigst zur Seite treten.

Nori warf den Kopf in den Nacken und stieg auf. Dann preschte er über die Weide davon. Cynthia entfuhr ein Schreckschrei. Sie schlug beide Hände vor den Mund, während Travis in stoischer Ruhe dastand und einfach wartete.

Tatsächlich dauerte es nicht lange und Nori kam zurückgetrabt. Anscheinend hatte er sich wieder beruhigt, denn er blieb leise schnaubend vor ihnen stehen.

„Das ist unglaublich. Er scheint keine Schmerzen mehr zu haben“, rief sie glücklich. „Was sind Sie, dass Sie so viel Kraft haben? Baumstammwerfer?“

Er hatte es tatsächlich geschafft, sie konnte es kaum glauben. Ihr Herz hüpfte vor Erleichterung. Sämtliche Sorgen fielen von ihr ab, ebenso alle missmutigen Vorurteile. Dabei hatte sie ihn so unhöflich behandelt. Irgendwie musste sie es wiedergutmachen. Sie drehte sich zu ihm um und umarmte ihn freundschaftlich.

„Vielen Dank, Mister Forbes.“

Zu ihrer Überraschung erwiderte er ihre Umarmung. „Ich heiße Travis! Und ich werfe in der Tat manchmal Baumstämme.“

Lachend löste sie sich von ihm. „Danke, Travis.“

Die Trevelyan-Schwestern: Gabe des Stolzes

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