Читать книгу Ich aber schlafe allein - Helga Hegewisch - Страница 4
Erstes Kapitel
ОглавлениеDr. Karl Ravensborg kam aus dem Büro nach Hause und betrat sein Wohnzimmer. Er versicherte sich seiner guten Laune, auf deren Ausstrahlung er heute abend dringend hoffte, und setzte, obgleich ihn noch niemand sah, vorsichtshalber jetzt schon ein Lächeln auf. Wie immer irritierte ihn der Zustand dieses Raumes, dessen oberflächliche Ordnung, das wußte er genau, einzig seinetwegen hergestellt worden war. Würde er eines Tagen für immer verschwinden, dann würde sie die umgekippten Stühle nur aufheben, wenn sich jemand draufsetzen wollte, und Spinnweben würde sie als hübsche Dekoration ansehen. Mit dem Rücken zur Tür hockte Karls Frau auf dem Sofa vor dem Fernseher und gab mit weit offenen, blicklosen Augen vor, sich für die Acht-Uhr-Nachrichten zu interessieren. Er trat von hinten an sie heran, küßte sie auf die Haare und ließ ihr über die Schulter ein Buch in den Schoß gleiten.
»Wir sind urlaubsreif, Johanna«, sagte er.
»Um Gottes willen«, sagte seine Frau, die eigentlich Dorothea hieß.
Karl war ein sehr großer, blonder, breitschultriger Mann mit Bürstenhaarschnitt und einem vollen Oberlippenbart. Seine blauen Augen blickten freundlich aufmerksam. Er hatte zwar keine engen Freunde, doch war er allgemein beliebt. Um seinen Mund lag oft ein neutral höfliches Lächeln. Manchmal konnte er jedoch auch laut auflachen, aus der Schulter heraus, wobei er die Nasenflügel blähte und die Oberlippe hochzog über schmalen, langen, bläulichweißen gepflegten Zähnen. Das Nasenblähen und das Zeigen der Zähne wirkten oft ein wenig wie Verachtung. Einen ähnlichen Gesichtsausdruck zeigte er, wenn er sich seinem Sexualbedürfnis hingab, zu Anfang der Verbindung jeden Morgen und Abend, später nur noch einmal täglich und jetzt, im zwanzigsten Jahr ihrer Ehe, immer noch einmal wöchentlich, vorzugsweise an den Abenden vor Sonn- und Feiertagen.
Dorothea empfand die sexuellen Aktivitäten ihres Mannes als eine Art Verpflichtung, der sie sich zu stellen hatte, weil dies nun einmal Teil eines normalen ehelichen Arrangements war. Gelegentlich neigte sie zu gewisser Resistenz, jedoch nicht aus bewußter Auflehnung, sondern eher aus Unkonzentriertheit und Ermattung. Ihren Mann störte ein solches Verhalten nicht, ganz im Gegenteil, es schien ihn eher anzuregen, weil er sich durch die zielstrebige Überwindung ihres Widerstandes seiner physischen Überlegenheit versichern konnte.
Dorothea nahm Karl die Benutzung ihres Körpers keineswegs übel, sie war ihm immer noch liebevoll zugetan. Männer sind halt so, dachte sie, die brauchen ihr regelmäßiges Purgativ, und daß sie dabei sogar Lust empfinden können, ist eine große Freundlichkeit der Natur. Ihr selbst war diese Freundlichkeit auch geschehen, wenn auch keineswegs beim Geschlechtsakt, sondern bei dessen verspäteter Folge: Tatsächlich hatte sie lustvoll geboren, fünfmal binnen zwölf Jahren, und trotz der unvermeidlichen Schmerzen hatte sie die Geburten in einem absoluten Hingerissensein erlebt, als gewaltige orgiastische Sturzbäche, denen gegenüber sich die Lustbemühungen ihres Mannes eher als ein lasches Geplätscher ausnehmen mußten. Dorothea war sehr zierlich gebaut und wohlproportioniert. Wenn sie im Sommer barfuß ging oder im Winter statt Schuhen Wollsocken trug – beides tat sie im Haus fast ausschließlich –, wirkte sie kindlich klein. Wenn sie ihre hochhackigen Schuhe anzog und den Hals streckte, konnte man sie für gut mittelgroß halten. Am liebsten trug sie kindhafte Kleidung, ausgewachsene Overalls, die an Strampelhosen erinnerten, oder baumwollene, überlange T-Shirts mit Strumpfhosen darunter. Für die Öffentlichkeit jedoch konnte sie sich, da Karl manchmal daran gelegen schien, aufmachen wie eine Grande Dame und sich auch so verhalten. Zwischen Kinderzimmer und Salon lagen weite, bunte, halblange Röcke und schwarze Pullover oder Baumwollhemden. Ihre Haut war leicht bräunlich und konnte im Gegenlicht einen Olivschimmer annehmen. Im landläufigen Sinne war sie sicher nicht hübsch, der Mund zu breit, die Nase zu lang. Das Auffallende an ihr waren ihre hellblauen Augen unter einer üppigen, sehr dunklen Mähne. Zu Hause band sie sich die Haare meist nachlässig mit einem Gummiband im Nacken zusammen. Wenn sie ausging, türmte sie sie passend zu den Hackenschuhen hoch und ließ nur ein paar Strähnen ins Gesicht hängen, gegen die sie, wenn etwas sie irritierte, stoßhaft und wirkungslos zu blasen pflegte.
Obgleich Dorothea jede Art von Sport oder gar Gymnastik verachtete, war sie äußerst gelenkig, sie amüsierte ihre Kinder gelegentlich damit, sich wie eine Schlange zwischen Stuhlbeinen durchzuwinden oder sich, wie die Eingeborenen der Karibik, ohne mit Kopf und Oberkörper die Erde zu berühren, rückwärts unter einem niedrig gespannten Seil durchzuschieben. Als Karl, der Große, Schwere, Ungelenke, zufällig einmal bei einer solchen Vorführung zugegen war, hatte er anschließend die Nasenflügel gebläht und die Oberlippe hochgezogen und gesagt, er fände es ausgesprochen obszön, wenn sie sich den Kindern gegenüber derartig zur Schau stellte. In einer ersten Reaktion hatte Dorothea sich gekränkt gefühlt, hatte sich dann jedoch trotzig zu der Gegenrede aufgerafft, daß der Fehler hier wohl eher im Auge des Beschauers läge und daß ihre Gelenkigkeit für die Kinder nichts weiter als ein unschuldiges Spiel darstellte. Danach jedoch hatte sie Sorge getragen, daß er es nie wieder mitansehen mußte. Dorothea erfüllte fast immer die Wünsche ihres Mannes, oder zumindest machte sie es ihn glauben, womit er sich zufriedengab. Sie war sehr gut im Verheimlichen.
Karls plötzliche Ankündigung einer dringend fälligen Reise geschah ein-, zweimal pro Jahr, und die Anstrengungen, die seine Frau hierfür zu machen hatte, standen ihrer Meinung nach keineswegs für den darauffolgenden angeblichen Genuß. Wohin diesmal? Hier ein eingefrorenes Devisenguthaben, dort ein Akkreditiv zu öffnen und gelegentlich sogar die ganz wichtige neue oder alte Geschäftsverbindung, alles willkommene Ausreden, die in bezug auf Zeit und Ort die Qual der Wahl erleichterten (Karl lächelte listig). Auf diese Weise hatte Dorothea viele Länder gesehen und für vielerlei Kulturen Interesse gezeigt, meist außereuropäische. Seitdem Dorothea mit Karl zusammenlebte, hatte sie sich nie mehr entscheiden müssen, hatte seine Entscheidungen auch nie in Frage gestellt, sei es aus Trägheit, Dankbarkeit oder aus Mangel an Energie. Sowie Karl wieder einmal seine Urlaubsreise verkündete, machte sie sich kommentarlos daran, den äußerst komplizierten Haushalt für ihre Abwesenheit zu organisieren. Ohnehin war sie meist zu müde, um sich zu engagieren, was ihr recht gut zupaß kam. Denn kaum etwas fürchtete Dorothea so sehr wie ihr eigenes Engagement. Sie reiste mit Karl, weil er es von ihr erwartete. Ihr schlechtes Gewissen gegenüber den Kindern, welches sie auch ohne besonderen Anlaß plagte, wog leichter als die Aussicht auf Mißbilligung eines urlaubsreifen Gatten. Sie reiste aber auch mit Karl, weil sie ihm dankbar war für seine Fürsorge und seine Entschlußfreudigkeit. Weil sie nun einmal ja gesagt hatte und dabei bleiben mußte. Weil sie an ihn gewöhnt war. Weil sie gelernt hatte, auf die schützende, einlullende Kraft der Rituale zu vertrauen, weil sie sich in seinen Armen, wenn diese auch gelegentlich etwas grob mit ihr umgingen, sicher fühlte. Weil sie den Druck seines übergewichtigen, ganz auf das Hier und Jetzt und die momentanen Bedürfnisse angelegten Körpers leichter ertragen konnte als die Schwerelosigkeit ihrer beschämenden Wolkenkuckucksmentalität. Und vor allem, weil er sie einstmals von ihrer eigenen Freiheit gerettet hatte.
»Diesmal geht’s endlich nach Griechenland«, sagte Karl. Dorothea zuckte zusammen. »Nein«, sagte sie, »auf gar keinen Fall.« Karl lachte sehr herzlich, als hätte sie einen Witz gemacht. »Wo sind die Kinder?«
»Welche zum Beispiel?«
»Da sich die großen um diese Zeit draußen herumtreiben, wie ich sehr wohl weiß, meine ich die kleinen.«
Dorothea deutete mit spitzem Finger auf den Bildschirm: »Wenigstens einmal am Tag sachliche Information, aktuelle Bezüge, das war doch dein Rezept für mich, oder? Also sind die beiden Kleinen jetzt im Bad, von wo aus sie meine Informationspflicht nicht stören können.«
»Bist du schlecht gelaunt?«
»Nein«, antwortet Dorothea, »nur müde und etwas überdrüssig.«
»Meiner überdrüssig?«
»Nicht daß ich wüßte. Gehst du jetzt zu den Kleinen?«
»Nein«, sagte Karl, »ich bleibe bei dir.«
Er setzte sich neben seine Frau, die die Augen nicht vom Bildschirm nahm, platzierte den Aktenkoffer auf seinen Knien und ließ den Deckel aufklappen.
»Ich habe noch mehr mitgebracht, weißt du. Der Baedeker ist natürlich etwas obsolet, aber doch sehr hübsch geschrieben, so kulturbeflissen und korrekt. Zur Komplettierung etwas Lockeres, Modernes, dies hier sei das Vernünftigste, meinte der Buchhändler. Und dann haben wir den historischen Überblick und das angemessene Quantum Lyrik, ›Von Sappho bis Elytis‹, klingt sehr umfassend. Und noch ein paar Short stories für die Wartezeiten auf dem Flugplatz oder während meiner Besprechungen, ›Frauen in Griechenland‹. Alles in allem ein guter Querschnitt für deine Vorbereitung.«
»Sei doch mal still«, unterbrach sie, »jetzt kommt der Wetterbericht.«
Ein paar Minuten lang saßen Mann und Frau einträchtig nebeneinander und ließen sich von der Wetterfrau darüber aufklären, wieso und warum der Septemberanfang diesmal so ungewöhnlich kühl sei.
Danach drückte Dorothea die Off-Taste und fragte in die entstandene Stille hinein: »Welche Vorbereitung?«
Karl strich mit den Fingerspitzen über die Bücher in seinem Aktenkoffer.
»Griechenland im September«, schwärmte er, »dort ist es bestimmt noch nicht kühl, so wie hier. Sanft auslaufender Sommer statt beginnender Herbst.«
»Und woher willst denn ausgerechnet du das wissen?«
»Zwar hatte ich keine griechische Mutter wie du, doch ist mir immerhin die geographische Lage deines Kindheitslandes bekannt.«
Karl legte seinen weit ausgreifenden, schweren Arm um die Schultern seiner Frau.
»Hör mal, Johannchen«, sagte er, »ich bin nämlich wirklich urlaubsreif.«
»Was ist es denn diesmal?« fragte sie nicht unfreundlich, »vielversprechende neue Geschäfte oder ärgerliche alte?«
»Beides, Liebling, beides.«
Dorothea war auf der Hut und richtete sich zum Kampf. Wenn ihr Mann sie Liebling nannte und den Arm um ihre Schultern legte, sprach das für die Dringlichkeit seines Entschlusses und für seinen Durchhaltewillen.
»Wie wichtig?« fragte sie.
»Sehr, sehr wichtig.«
Dorothea seufzte. »Normalerweise..., na du weißt ja. Aber wenn’s gar so wichtig ist, dann fährst du auf jeden Fall besser allein. Ich würde dich doch nur von der Arbeit ablenken.«
»Aber keineswegs!« sagte er eifrig und zog sie näher an sich heran. »Deine Sprachkenntnisse und überhaupt, ich will dich bei mir haben. Eine Woche Athen, vielleicht auch zehn Tage, gut als Übergang und zum Eingewöhnen. Und danach gehen wir auf die Inseln.«
»Nein«, sagte Dorothea.
»Warum nicht?«
»Du weißt, daß es mir nicht sehr gut geht momentan. Meine Schwindelanfälle, meine Augen...«
»Der Doktor hat gesagt, das wäre normal.«
»Ich bitte dich, ich bin einundvierzig«, sagte sie.
»Bei manchen kommt’s eben eher, hat der Doktor gesagt.«
»Aber nicht bei mir.«
»Also was dann?«
»Wenn ich das wüßte.«
»Wie dem auch sei, ein kurzer Urlaub wird dir guttun.«
»Die Kinder, der Haushalt«, sagte sie.
»Unsinn. Wir wissen beide genau, daß du abkömmlich bist. Die Kinder sind inzwischen recht selbständig, Philomena hat ihren letzten Anfall vor einer Woche gehabt, es wird also mindestens zwei Monate dauern, bevor sie uns ihre nächste Kündigung auf den Tisch knallt. Der Hund ist nicht schwanger, Louis hat eine solide Freundin, Frieder zieht alle Zuneigung, die er braucht, aus seinem Computer, und Toni hat statt dessen den Fußballclub. Die beiden Kleinen sind bei Tante Sophia gut aufgehoben.«
»Stimmt alles. Und stimmt auch wieder nicht. Immerhin würde ich, wenn es sich um sonstwelche fernen Gegenden handelte, mein Bestes tun, über diese Unstimmigkeiten hinwegzusehen. Aber nicht im Falle Griechenland. Ich bin seit zwanzig Jahren nicht dort gewesen. Die alten Frauen sind tot, Freunde habe ich keine mehr. Alles, was mit diesem Land zu tun hat, ist für mich fern, vorbei und abgelebt. Ich will es nicht wieder hervorzerren.«
»Aber deine Wurzeln, Liebling, deine Erinnerungen. Ich kann nicht glauben, daß du tatsächlich bar jeglicher Heimatsehnsucht bist.«
»Wenn du das nicht glauben kannst, warum hast du dann nie einen Versuch unternommen, diese Sehnsucht zu befriedigen?«
»Die Lage der Dinge war eben nicht entsprechend.«
»Und das war gut so. Hast du Hunger? Philo hat dir dein Abendessen bereitgestellt. Ich gehe und hole es.«
»Ich bin nicht hungrig. Bleib bei mir sitzen.«
»Aber ich sollte nach den Kleinen sehen. Sie sind schon viel zu lange im Bad.« Dorothea sprang auf und lief zur Tür. Seit einiger Zeit fühlte sie sich nicht mehr sicher aufgehoben bei sich selbst. Sie wollte nichts mehr in sich hereinnehmen und schon gar nicht aus sich hinausgehen.
»Auf gar keinen Fall nach Griechenland!« rief sie, als sie die Tür hinter sich schloß.
Karl sah ihr nach und schüttelte den Kopf. »Auf jeden Fall nach Griechenland«, murmelte er.
Karl Ravensborg hatte die um fünfzehn Jahre jüngere Dorothea von Leinen auf der Beerdigung ihres Vaters, des Botschafters Gottfried von Leinen, kennengelernt. Von Anfang an hatte es für ihn unumstößlich festgestanden, daß diese Frau seine Frau werden würde. Als der Sarg hinausgetragen wurde, hatte er heiße Tränen vergossen, weniger aus Kummer um den Dahingegangenen als aus Erleichterung, daß seine langwierige Suche nach einer passenden Gefährtin nun endlich ein Ziel gefunden hatte. Bei dem anschließenden Empfang mit Sekt und belegten Broten sagte er zu der trauernden Tochter: »Ich verdanke Ihrem Vater sehr viel, er hat mir meine unsinnige diplomatische Karriere verdorben und mich in die freie Wirtschaft verstoßen, weil er mich für arrogant, nicht sehr vaterlandstreu und auch nicht für genügend anpassungsfähig hielt. Ihr Vater war ein sehr kluger Mann.«
»Ich weiß nicht«, schluchzte Dorothea, »ich habe ihn nicht sehr gut gekannt.«
»Das war auch nicht nötig. Zu gute Kenntnis seiner Person hätte seinen Einfluß auf Sie vermutlich geschmälert. Und mit welcher unsinnigen Karriere beschäftigt sich denn, wenn ich mir die Frage erlauben darf, seine einzige Tochter momentan?«
Dorothea sah den fremden Mann aus tränenverquollenen Augen an, begriff sein Anliegen und antwortete: »Mit gar keiner.« Worauf Karl Ravensborg, ohne zu lächeln, abschließend bemerkte: »Na, um so besser, dann können Sie mir jedenfalls später nicht den Vorwurf machen, ich hätte Sie von etwas zurückgehalten.«
Dorothea suchte verzweifelt in ihrer, extra für die Beerdigung angeschafften, schwarzen Handtasche nach einem Taschentuch. »Wie käme ich dazu. Statt dessen werde ich vielleicht eines Tages zu Ihrer Beerdigung gehen und anschließend zu Ihrer Tochter sagen: ›Er war ein sehr kluger Mann.‹«
»Ich habe keine Tochter.«
»Sie sind ja auch noch nicht tot. Und um eine Tochter zu zeugen, braucht es nicht sehr viel. Sie müssen sie anschließend auch nicht selber großziehen, sie können sie ins Internat geben.«
Karl Ravensborg blickte das junge Mädchen erstaunt an, so als hätte sie ihm gerade eine äußerst überraschende Mitteilung gemacht.
»Verzeihung«, sagte Dorothea.
»Wofür?«
»Könnten Sie mir bitte Ihr Taschentuch leihen?«
Das Tuch war groß und weiß und sehr sorgsam gefaltet. Dorothea betrachtete es irritiert.
»Ich dachte, ich hätte Sie vorhin weinen sehen?«
»Zu Beerdigungen nehme ich immer zwei Taschentücher mit.«
»Sehr gut organisiert«, sagte Dorothea.
Eine Weile standen sie schweigend. Dorothea schneuzte sich ausgiebig und steckte dann sein Taschentuch in ihre schwarze Handtasche. Er sagte: »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Sie Johanna nenne?«
»Nicht, wenn es einen guten Grund dafür gibt.«
»Allzu viele Leute haben Sie schon Dorothea genannt. Das ist wie Abnutzung. Dorothea bedeutet ja dasselbe wie Johanna, Gottesgeschenk. Ich bin sehr possessiv, wissen Sie, ich brauche mein eigenes Gottesgeschenk.« Während der nächsten Tage war er ihr auf Schritt und Tritt gefolgt, hatte sie morgens und mittags und abends besucht und ihr Blumen gebracht, zuerst weiße, dann gelbe und schließlich rote. Dorothea nahm ihn hin wie eine Jahreszeit, etwas, womit man sich einzurichten hat, unabwendbar, folgerichtig. Ihr Gesicht wirkte hohl und wie ausgewaschen vom vielen Weinen, und die Haare, von denen sie mehr zu haben schien als alle anderen Menschen, bildeten eine dramatische schwarze Wolke über ihrer schmalen Gestalt.
»Nimm doch die Haare zurück«, sagte er, »ich kann dich kaum sehen.«
Sie streifte den Draht von den Stielen der roten Rosen, drückte sie ihm in die Hand – »halt mal« – und bündelte sich mit dem Blumendraht die Haare im Nacken zusammen. »Besser so?«
Ihre Augen, von denen er wußte, daß sie leuchtend blau waren, wirkten beschlagen wie altes Fensterglas.
»Ich liebe dich«, sagte er.
Dorothea nickte. »Ich habe nichts dagegen, mit dir zusammenzuleben, aber die Sache mit der Liebe scheint mir etwas verfrüht.«
»Mir nicht.«
»Gut für dich«, sagte sie, nahm ihm die Blumen wieder ab und stellte sie in die Vase.
»Lauf nicht in der Wohnung herum, setz dich zu mir.«
Als sie dann neben ihm saß, nahe, willfährig und doch seltsam unkörperlich, bat er sie, ihm von ihrem Leben zu erzählen.
Sie nickte, schloß die Augen und begann: »Es war einmal ...«
»Halt«, unterbrach er, »ich will die Wahrheit, kein Märchen.«
»Du könntest dich bemühen, zuerst das Märchen zu begreifen und dann das für dich erträgliche Quantum Wahrheit herausfiltern.«
»Andersherum«, sagte er. »Ich bin jemand, der zuerst die Wahrheit braucht. Und danach kann ich selbst entscheiden, wieviel Märchen darin unterzubringen ist.«
Sie zuckte die Schultern. »Wie du willst. Also halten wir uns an die Fakten. Ob du allerdings daraus viel über mein vergangenes Leben erfährst, möchte ich bezweifeln.«
»Das laß nur meine Sorge sein«, sagte er und legte seinen Arm um ihre Schultern. Dorothea zögerte. Es erschien ihr fast unmöglich, für diesen Mann den passenden Wahrheitstonfall zu finden.
»Also, das war so ...« begann sie. »Eines Tages, während einer Konferenz in Athen, traf ein achtundvierzig Jahre alter deutscher Diplomat mit klassischer Bildung und latent homosexuellen Neigungen...«
»Woher willst du denn das wissen?« unterbrach Karl.
»Ich weiß es eben.«
»Unumstößliches Faktum?«
»Natürlich. Die einzig plausible Erklärung für gewisse Begebenheiten, die ich sonst gegen ihn halten müßte.«
»Zu subjektiv«, sagte er, »zu pragmatisch.«
»Findest du es etwa unrecht, subjektiv und pragmatisch der Liebe zu dienen? Aber wie du willst. Also: Da traf ein achtundvierzigjähriger deutscher Diplomat auf eine dreiundzwanzig Jahre alte griechische Übersetzerin. Sie war sehr schön, sie hatte einen Körper wie die Venus von Milo und lange schwarze Haare. Entgegen seinen bisherigen emotionalen Gepflogenheiten verliebte er... halt, kein beweisbares Faktum, also vergessen wir’s. Jedenfalls heiratete er die Dame und zeugte mit ihr eine Tochter namens Dorothea. Die Ehe galt als sehr glücklich. Und als die junge Frau kurz nach ihrem dreißigsten Geburtstag an Krebs erkrankte und starb, war ihr Ehemann untröstlich. Faktum, ich schwör’s dir!«
»Ich glaub’s dir ja«, sagte er beruhigend.
»Von jetzt ab geht es ausschließlich um mich. Tu mir bitte einen Gefallen und häng nicht hinter jede Aussage dein skeptisches Fragezeichen. Das blockiert meinen Mitteilungsdrang.«
»In Ordnung, solange du mir garantierst, bei der Wahrheit zu bleiben.«
»Bei meiner Wahrheit, ja. Also hör zu.«
»Das Kind Dorothea erinnerte sich kaum an die Mutter, statt dessen an einen vagen Schmerz und an eine griechische Großmutter samt zwei alten Tanten in einem Dorf nahe Patras, die sich in allen Ferien aufopfernd darum bemühten, durch Fotos und dumpfe Erzählungen den Schmerz in dem widerstrebenden Kind am Leben zu erhalten. Vielmals hatte Dorothea den Vater darum gebeten, sie während der Ferien nicht mehr den schwarzen Trauerfrauen von Patras auszuliefern, doch der Vater, der ihr sonst nichts versagen konnte, war standhaft geblieben: Er habe der Alten einst die schöne, junge Tochter genommen, so schulde er ihr wenigstens ein paar Wochen vom Leben des eigenen Kindes. Dorothea erschien dies wie ein phantastisch grausliges Schauermärchen, da sie sich jedoch sehr von allem Phantastischen, Unwirklichen angezogen fühlte, bevölkerte sie die Szenerie noch zusätzlich mit Drachen, Geistern und guten und bösen Rittern und kam jedesmal aus den Ferien zwar erschöpft, jedoch im Bewußtsein siegreich bestandener Abenteuer nach Hause zurück. Nie hatte sie Schwierigkeiten, die Rollen der Drachen und Geister, in der Vorstellung des Kindes allesamt weiblicher Natur, zu besetzen: Im Dorf herrschte ein großer Frauenüberschuß. Als die bösen Ritter mußten die Polizisten herhalten, ortsfremd, auswechselbar und in ihrer Funktion so anonym, daß man ihnen alles Schlechte unterschieben konnte. Aber für das Element des Siegreichen, Guten stand Dorothea nur ein einziger Mann zur Verfügung, der Anwalt von nebenan, dessen echte Person sich den kindlichen Phantasien eher schlecht als recht unterordnete.
Da sich der Vater, durch seine wechselnden diplomatischen Missionen vielfach hin- und hergetrieben, außerstande sah, die persönliche Verantwortung für das tägliche Leben seiner Tochter zu übernehmen, wuchs Dorothea in Internaten auf, vier Jahre in England, drei Jahre in der französischen Schweiz, und danach fünf Jahre in einem Landschulheim in der Nähe von Frankfurt am Main. Offenbar hatte der Vater bei der Auswahl der Schulen eine ebenso glückliche wie kluge Hand bewiesen, denn Dorothea fand nie etwas gegen das Internatsleben einzuwenden und betonte gegenüber jedem, der sie, meist mit mitleidigem Unterton, danach fragte, daß sie eine ungemein schöne Kindheit und Jugend gehabt hätte.«
»Hattest du wirklich?« fragte Karl.
»Allerdings«, antwortete sie trotzig. »Unterbrich mich jetzt nicht. Gegen Ende ihrer Schulzeit, als sich der Abschied von der festgefügten Ordnung ankündigte, erschien es Dorothea, als würde ihr langsam der Boden unter den Füßen weggezogen. Zum erstenmal in ihrem Leben würde sie keine Forderungen zu erfüllen haben, und diese Aussicht jagte ihr Schauer des Entsetzens durchs Gefühl.
Während ihrer letzten Griechenlandferien vor dem Abitur verliebte sie sich in eben jenen Rechtsanwalt, mit dem sie zuvor die Rolle des Siegreichen, Guten besetzt hatte. Er war fast dreißig Jahre älter als sie und selbstverständlich verheiratet.
Wieder zurück in ihrer Internatsheimat, dachte sie ununterbrochen an den fernen Geliebten, weihte ihm auf ewig Geist, Seele und Körper und fiel dennoch nicht durchs Examen. Um dem Objekt ihrer Verklärung auch intellektuell näher zu sein, schrieb sie sich in Göttingen für das Studium der Altertumskunde ein.
Im zweiten Monat des ersten Semesters tauchte der Mann, der nebenher einen Weinhandel betrieb, wodurch er auf Geschäftskosten reisen konnte, bei ihr in Göttingen auf, wollte alte Liebesschwüre erneuern und sprach jetzt sogar von Scheidung. Dorothea jedoch sah weder einen berückenden nackten Hermes von Praxiteles noch einen delphischen Wagenlenker im schlichten, gefältelten Gewand, sondern einen bürgerlich behäbigen Provinzler mit Nylonhemd und Knopfweste unter mausgrauem Jackett, und sie erschrak sehr. Ihr griechischer Traum zerbrach, und als sie endlich die Scherben weggeräumt hatte, beschloß sie, diesen Mann zu vergessen und nie wieder nach Griechenland zurückzukehren.«
»Eine etwas übertriebene Strafe für ein Nylonhemd«, befand Karl. Dorothea hatte inzwischen die Augen geschlossen und redete vor sich hin wie eine Nachrichtensprecherin, die unpassenderweise über private Ereignisse zu berichten hatte. Jetzt öffnete sie kurz ihre Augen und warf Karl einen bösen Blick zu.
»Halt den Mund und laß mich weitererzählen.« Dann schloß sie die Augen erneut und wandte sich wieder ihren Nachrichten zu. »Dorothea quittierte das sinnlos gewordene Studium und versuchte es mit der Medizin. Dort wartete sie umsonst auf einen neuen Gefährten, an dem sie ihre ziellosen Wünsche und Träume hätte festmachen können. Nachdem sie sich mehrmals bei den Präparierkursen im praktischen Umgang mit Leichen hatte übergeben müssen und ihre Hände eine unangenehme Bläschenallergie gegen Lysol entwickelten, wechselte sie über zur Germanistik. Nach drei Jahren Studium ohne Engagement – Dorothea war jetzt zweiundzwanzig Jahre alt und überlegte sich gerade ernsthaft, ob sie nicht doch am besten Lehrerin werden und für immer ins Internat zurückkehren sollte – starb plötzlich und unerwartet ihr Vater an einer Gehirnblutung.
Bei der Beerdigung lernte sie dann einen Mann kennen, Dr. Karl Ravensborg, achtunddreißig, Industriekaufmann. Er behauptete, sie zu lieben, woraufhin die beiden heirateten. Ende der Geschichte.«
Karl tätschelte gerührt Dorotheas Schulter. »Nein«, sagte er, »das ist erst der Anfang.«
»Soll ich weitermachen?« fragte sie daraufhin.
»Besser nicht«, sagte er. »Jetzt tritt ja meine eigene Wahrheit wieder in Kraft, da kann ich auf die deine verzichten.«
»Solltest du aber nicht.«
»Vielleicht nicht. Aber ich muß mich schützen. Meinen Möglichkeiten sind Grenzen gesetzt. Verstehst du das etwa nicht?«
»Doch, doch«, antwortete sie, »verstehen tue ich das sehr gut. Aber es wird wohl eine Weile dauern, bevor ich es auch akzeptieren kann.«
Zwei Monate nach diesem klärenden Einführungsgespräch, das die begehbaren Wege nach rückwärts und vorwärts in etwa festlegte, heirateten Dorothea und Karl tatsächlich und machten sich sogleich daran, die nötigen Schritte zur Zeugung einer Tochter zu unternehmen.
Als dann auch das fünfte Kind ein Junge wurde, sagte Dorothea kurz nach der Geburt zu ihrem Mann: »Das war’s dann wohl, ich gebe mich geschlagen. Sonst werde ich noch vor Erschöpfung zugrunde gehen. Und das muß ich schon allein deshalb vermeiden, weil ich sonst nicht zu deiner Beerdigung kommen kann.«
Karl seufzte. »Na, Gott sei Dank.«
»Freu dich nicht zu früh. Jedenfalls werde ich mich dann in Ermangelung einer Tochter an deine fünf trauernden Söhne mit den Worten wenden...«
»Wie schön für uns alle!« unterbrach Karl lächelnd.
»Dann kann ich ja beruhigt sterben.«
»Du kennst meine Worte noch gar nicht.«
»Wozu auch. Es reicht mir zu wissen, daß du loyal bist. Und darüber hinaus: Zu gute Kenntnis einer Person würde ihren Einfluß auf mich nur schmälern, nicht wahr, und das wollen wir doch beide nicht.«
»Nein«, sagte Dorothea, »das wollen wir beide nicht. Bleibt noch die Sache mit der Liebe. Was sagst du, wenn ich dich heute danach frage?«
»Ich sage: Selbstverständlich liebe ich dich.«
Dorothea schüttelte verständnislos den Kopf. »Was denn nur, was liebst du an mir?«
»Alles, was du mir von dir gibst und zeigst.«
»Und der Rest?«
Karl zog aus seiner Jackentasche einen Brillantring heraus. Er rieb ihn sorgfältig an seinem Ärmel und steckte ihn dann an ihre linke Hand über den schmalen Verlobungsring, den sie noch nie abgenommen hatte.
»Diesen Rest gibt es für mich nicht«, sagte er.
So beschlossen die Eltern von nun an vermittels der Pille, einen weiteren Kindersegen rigoros zu blockieren. Karl, der nicht ohne Grund an Dorotheas Zuverlässigkeit zweifelte, sorgte für die tägliche Einnahme, und Dorothea fügte sich kommentarlos. Sie war jetzt so ausreichend mit Arbeit versorgt, daß sie stets eine Entschuldigung parat hatte, sich selbst keine Rechenschaft geben zu müssen. Wo kämen wir denn hin, wenn wir das, was uns die Situation abverlangt, auch noch fortwährend kritisch hinterfragen würden.
Jahrelang befand Dorothea sich am Rande gedankenloser Erschöpfung, was Karl nicht verstehen konnte, da er stets alles ihm mögliche unternommen hatte, ihr das Leben zu erleichtern. Vieles jedoch war ihm eben nicht möglich, befand sich gänzlich außerhalb seines praktischen Organisationstalentes, ja wurde von ihm nicht einmal erkannt.
Dorothea liebte ihre Kinder so kraftvoll und aufwendig, wie es ihrem Wesen entsprach. Bei den beiden kleinen, Robby und Billy, eigentlich natürlich Karl-Robert und Karl-Wilhelm, achtete sie besonders darauf, sie nicht versehentlich ihrer unerfüllten Tochtersehnsucht auszusetzen.
Als Kind einer griechischen Mutter und vor allem als Enkeltochter von gleich drei schwarzen griechischen Frauen hatte sie bereits in sehr jugendlichem Alter eine Unzahl von Direktiven für die Zeit nach der Schwangerschaft mitbekommen und diese zwar etwas wahllos, aber darum nicht minder unabdingbar bei sich aufbewahrt: Täglich ein halbes gekochtes Hühnchen essen (ohne Haut), auf keinen Fall selbst zum Metzger gehen, nie von links nach rechts schräg die Straße überqueren, jede kreuzweise Bindung (Schnürsenkel, Haarbänder) vermeiden, beim Gehen nicht hinter sich schauen, beim Stolpern drei Schritte zurückgehen und den Weg wiederholen, dem Baby jeden dritten Tag einen frischen Beutel mit Thymian und Eukalyptus unter die Matratze legen, unter gar keinen Umständen das Bett mit dem Ehemann teilen.
Gott sei Dank waren alle diese Anweisungen auf die Dauer von achtundzwanzig Tagen limitiert, länger hätte Dorothea auch nicht durchhalten können. Zumal ihr Mann das Ganze nicht begriff und sie sich darum, seinetwegen, immer neue Lügen ausdenken mußte. Nach jedem Kind betonte er energischer, daß er diese Nachgeburtszeiten sobald nicht wieder mitzumachen gedächte.
Karl Ravensborg erhob sich in seinem nicht sehr aufgeräumten Wohnzimmer vom Sofa und ging zur Terrassentür. Hatte Dorothea inzwischen seine Grenzen, die er anfangs so dringend verteidigen zu müssen glaubte, akzeptiert? O ja, und sie hatte sie dazu noch von ihrer Seite her ausbruchsicher befestigt, damit er nur ja nicht darüber hinausreichen und nach ihr greifen könnte. Wenn er es anders angefangen hätte, damals, ob sie ihm dann heute wohl etwas mehr Nähe zubilligen würde?
Er ging auf die Terrasse und schlug gegen den kühlen Wind den Jackenkragen hoch. Eine glückliche Ehe, durchaus als Erfolg zu werten. Kaum jemals Streit, fünf gesunde Kinder, das Einkommen solide und gesichert, Johanna immer noch jung und reizvoll. Was wollte man mehr. Eine Tochter? Nun ja, es wäre nett gewesen: ein Wesen, das an einem hing und einem so viel Liebe schenken würde wie Dorothea einst ihrem Vater.
Im Haus ertönte Lärm, und aus der Terrassentür brachen »die beiden Kleinen«, Robby und Billy, acht und neun Jahre alt und wirklich nicht mehr gar so klein. Karl stand da, die Arme ausgebreitet, und ließ sich von seinen Kindern mit Beschlag belegen. Dorothea lehnte im Türrahmen und dachte: Das immerhin schafft er zweifelsfrei.
»Mama hat gesagt, du fährst nach Griechenland und bringst uns etwas mit«, schrie Robby, während er sich bemühte, über das Terrassengitter seinem Vater auf den Rücken zu steigen.
»Mama und ich fahren zusammen nach Griechenland«, sagte Karl.
»Bestimmt nicht!« rief Billy, der ältere und ruhigere von beiden. Er drängte sich gegen den Vater und legte sich dessen Hände um den knochigen Oberkörper. Karl konnte unter dem dünnen Pyjamastoff die Rippen seines Sohnes spüren.
»Warum nicht?« fragte Karl.
»Wir brauchen sie hier. Und da in Griechenland, da sind ..., also da gibt’s böse Geister.«
»Auch gute!« rief Dorothea von der Tür her.
»Aber viel, viel mehr böse, hast du doch selbst gesagt«, schmetterte Robby.
Karl lachte. »Eure Mutter muß immerfort Geschichten erfinden, daran sind wir ja gewöhnt.«
»Das stimmt«, gab Billy zu. »Aber nicht über Griechenland. Da kommt sie nämlich her. Das ist ihr Land, und da braucht sie nichts zu erfinden. Da kennt sie alle Geister persönlich, und die kennen sie.«
»Na um so besser«, meinte Karl, »dann brauchen wir für sie ja nichts zu befürchten. Und es ist doch wirklich ein Akt der Höflichkeit, daß sie endlich einmal hinfährt und ihre persönlichen Geister persönlich besucht.«
»Sie fährt nicht hin«, sagte Dorothea. »Kommt jetzt, Kinder, ihr habt schon gebadet, und es ist kühl hier draußen.«
Immer wieder wunderte Karl sich, wie unproblematisch seine Söhne den Vorschlägen der Mutter nachkamen. Es ist wie ein sehr ausgeklügeltes System von Geben und Nehmen, dachte er, ein hochkompliziertes Geflecht aus Abhängigkeiten und Bestechungen, wobei ich nie so recht weiß, worin das eine und worin das andere liegt und wer hier eigentlich die Zügel in der Hand hält.
Gottesgeschenk? Geistergeschenk wohl eher, und Sohn Billy hatte schon recht: In gewissen Regionen schien Dorothea alle Geister persönlich zu kennen.
Später am Abend, als endlich Ruhe eingekehrt war und auch die drei Großen nacheinander dem Familienoberhaupt ihre Reverenz erwiesen hatten – tatsächlich mochten die Kinder ihren Vater gerne und ließen ihn kaum spüren, wie »ungeheuer fremd dieser alte Mann« (Louis’ Worte) ihnen war –, sagte Karl zu seiner Frau: »Ich denke, eine Woche oder zehn Tage werden dir zur Vorbereitung genügen?«
Dorothea ließ den Kopf sinken. Die Nacht rückte näher, und seit geraumer Zeit hatte sie Angst vor ihren Nächten.
»Ach Karl...«, sagte sie.
»Ich seh’s ja ein«, antwortete er, »ich hätte dich schon früher einmal zurückbringen sollen. Ich bitte um Verzeihung. Jetzt werden wir alles nachholen.«
»Lieber nicht«, sagte sie.
»Zuerst Athen«, redete er weiter, »und dann eine Insel deiner Wahl. Halb Baedeker, halb Bikini, und von den verfügbaren Geistern nur die guten. Klingt das nicht vielversprechend?«
»Willst du etwa im Tourismus investieren?« fragte sie mißtrauisch.
»Vorerst noch nicht. Ich will dort unten nur nicht ohne dich sein.«
Dorothea stand auf und strich ihrem Mann mit dem Handrücken leicht über die Wange.
»Ich geh’ schlafen. Arbeite nicht zu lange.«
»Ich arbeite nicht, ich komm’ mit dir.«
»Ach ja?« Sie warf ihm einen mißtrauischen Blick zu.
»Keine Arbeit heute abend? Geht’s dir nicht gut?«
»Ich bin eben urlaubsreif«, sagte er und legte seinen Arm um ihre Schulter.
Auch das noch, dachte sie.
Später, als Karl neben ihr eingeschlafen war und sie sich vorsichtig aus seinen Armen gelöst und auf ihre Seite des Bettes hinübergearbeitet hatte, mußte sie wieder einmal an jenen Tag, eine Woche nach der Beerdigung ihres Vaters, denken, als sie zum erstenmal mit Karl ins Bett gegangen war. Damals hatte sie bereits den Entschluß gefaßt, ihr zukünftiges Leben mit ihm zu verbringen. Verliebtheit, Liebe gar? Vor allem wohl eine perfekte Organisation des Schicksals bezüglich Timing und Abstimmung ihrer beider Bedürfnisse.
Dorothea hatte warnend zu Karl gesagt: »Du nimmst doch nicht etwa an, daß du der erste Mann in meinem Leben bist?«
Karl war zusammengezuckt. Eine Weile hatte er stumm und bewegungslos neben ihr gelegen, während Dorothea geduldig auf ihn gewartet hatte. Sein Körper war ihr ungeheuer groß und wuchtig erschienen, eigentlich nicht sehr passend für den ihren. Doch der Mann gefällt mir, und ich gefalle ihm, hatte sie gedacht, und das Körperliche werden wir schon in den Griff kriegen. Schon damals hatte sie ihm mit dieser Handrückengeste, die später typisch für sie wurde, über die Wange gestrichen und sich freundlich erkundigt: »Also, was ist denn nun?«
»Laß das!« hatte er gesagt, sich mit einem plötzlichen Ruck aufgerichtet und ohne weitere Präliminarien begonnen, das Körperliche in den Griff zu kriegen, grob, hart und schnell. Dorothea hatte vor Schreck laut aufgeschrien. Anschließend waren Blutflecken auf dem Laken gewesen.
»Na siehst du«, hatte Karl gesagt.
»Du hast mir weh getan«, hatte Dorothea geantwortet.
Daraufhin hatte Karl gelächelt und sie freundlich geküßt.
»Beim ersten Mal tut’s immer weh.«