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Zweites Kapitel Dorotheas Leben vor Karl, so wie es wirklich gewesen ist.
ОглавлениеDorotheas Muttersprache, die Sprache der Zärtlichkeit, der Wärme und des unangefochtenen Vertrauens, war selbstverständlich Griechisch gewesen. Wenn der Vater daheim war, wurde deutliches, strenges Deutsch dagegengesetzt, was dem kleinen Mädchen wohl vor allem deshalb so streng erschien, weil es der jungen Mutter gefiel, in dem Familienspiel den Vater den Polizeihauptmann machen zu lassen. Wenn das Kind etwas anstellte, meist etwas, das es selbst gefährdete, wie eben kleine Kinder es tun, zum Beispiel, wenn es sich neugierig über das Balkongitter hängte oder sich Vogelbeeren in den Mund stopfte oder versuchte, mit der großen spitzen Schere Papierpuppen auszuschneiden, dann brach die Mutter in entsetztes Geschrei aus, riß das Kind zurück in die Sicherheit ihrer Umarmung, herzte und küßte es, wobei sie weiterhin kleine, schrille Laute ausstieß, die Zorn meinten, jedoch dem Kind eher wie etwas heftiger gesprochene Koseworte erschienen. Dorothea brach dann meist in Tränen aus, was noch mehr Geschrei und Umarmung hervorrief. Erst wenn Mutter und Kind sich aneinander müde gerieben hatten, kam die Mutter auf den Anlaß des Ganzen zurück, machte ein ernstes Gesicht und sagte: »Ich muß es dem Vater erzählen, heute abend, wenn der nach Hause kommt. Dann wirst du schon sehen, was der mit dir macht!«
Dies führte oft dazu, daß die kleine Dorothea, vier, fünf Jahre alt, manchmal den Feierabend fürchtete und daß sie sich zwischen ihrem Sündenfall und der Heimkehr des Vaters wilde Strafen ausmalte, die der Vater ihr auferlegen würde. Kam dann der Abend, hatte die Mutter entweder die Angelegenheit wieder vergessen, oder aber sie berichtete dem Vater in ihrem aufgeregten Singsang eine Geschichte, die sich nicht unbedingt deckte mit dem, was tatsächlich geschehen war. Zum Schluß sagte sie dann immer: »Du mußt mit dem Kind endlich einmal streng und deutlich reden!«
Was der Vater auch tat. Nur hörte seine Tochter nicht wirklich zu. Sie war viel zu befangen in ihren märchenhaften Horror-Phantasien, als daß eine ruhige Vaterstimme dagegen hätte anreden können. Nur das Reden über das Reden, »streng und deutlich«, blieb ihr im Kopf.
Die Mutter war eine bemerkenswert schlechte Pädagogin und hätte es leicht dazu bringen können, die Tochter dem Vater zu entfremden. Dies geschah jedoch nicht. Dorothea hatte schon als kleines Kind ein reichhaltiges Ensemble an heimlichen Mitspielern, und da die Mutter durch die drastische Realität ihrer ständigen physischen Nähe Dorotheas Phantasien oft behinderte, machte das Mädchen diese eben an ihrem Vater fest. Wenn der jedoch, sagen wir, das Töchterchen über eine belebte Straße führte oder mit ihr zusammen in den großen, dunklen Stadtpark ging, dann schob sie ihre kleine Hand in seine große und fühlte sich dort so sicher aufgehoben wie später nie mehr in ihrem Leben, jedenfalls nie wieder durch die Überzeugungskraft eines anderen Menschen.
Während der Sommermonate fuhren Mutter und Tochter stets nach Griechenland. Sofern der Vater Urlaub hatte, kam er mit ihnen, blieb aber nie die ganze Zeit. Hier und nun wurde auch der Vater sehr real, nicht mehr reduziert auf die gelegentliche warme Hand, sondern ein ganz normaler, großer Mensch, mit dem man schwimmen ging und der einem den Rücken eincremte und sich gelegentlich sogar um das Essen kümmerte.
Ungefähr zwei Jahre vor dem Tod der Mutter wurde der Vater an die Deutsche Botschaft in Oslo versetzt, einer der üblichen mysteriösen Entschlüsse des Auswärtigen Amtes, die sich jedem logischen Zugriff entziehen. Was sollte ein Altsprachler, ein Mittelmeerspezialist in Oslo? Der Vater sagte mit einem resignierten Lächeln: »Die Wege meiner Herren sind fremd und unverständlich«, und fügte sich, er war ein loyaler Staatsdiener. Die Mutter fügte sich auch, selbstverständlich, doch konnte sie sich diesmal schwerer zurechtfinden als je zuvor. Die Art der Menschen so hoch im Norden und der Mangel an Licht machten sie müde und melancholisch. Sie redete oft davon, daß sie heim wolle, endlich heimgehen nach Griechenland. Dort jedoch war inzwischen die »Obristenzeit« in vollem Gange, etwas, das dem Vater die Besuche verleidete und auch die Mutter sehr zu bedrücken schien. Im letzten Jahr hatte sie sich noch heftiger als sonst mit den schwarzen Frauen gestritten und gesagt, daß sie nicht mehr hierher gehörte und am liebsten überhaupt nie mehr wiederkommen würde.
Dorothea begriff nicht, was dort in Patras und im Haus am Meer soviel anders geworden sein sollte, sie sah kaum einen Unterschied, außer vielleicht den, daß jetzt mehr Polizisten als sonst herumstanden, ernste Männer mit steifen Mützen und einem Revolver am Gürtel. Es schien sich um eine Sache zu handeln, die nur die Erwachsenen etwas anging.
Der erste nordische Winter war noch nicht gar so schlimm. Mutter und Tochter gaben sich alle Mühe, den Schnee schön und interessant zu finden. Sie wanderten jeden Tag eine Weile draußen herum, vor allem, um sich anschließend auf der Bank vor dem großen Kaminfeuer die Füße zu wärmen, die Haare zu trocknen und an langen Stöcken Äpfel über der Glut zu braten.
Im zweiten Winter wurde die Mutter blaß und still. Der Vater, der an der Botschaft die Wirtschaftsabteilung leitete, arbeitete länger als sonst, mußte auch oft teilnehmen an irgendwelchen Geselligkeiten, zu denen ihn die Mutter kaum je begleitete.
»Was soll ich dort?« sagte sie. »Die Sprache versteh ich nicht, die Gespräche, falls ich sie denn verstehen sollte, interessieren mich nicht, und der Wein ist schlecht.«
»Früher bist du immer mitgekommen«, sagte der Vater traurig.
»Früher war ich auch noch jung«, antwortete die Mutter. Damals war sie achtundzwanzig Jahre alt, und der Vater war dreiundfünfzig. Wenn er nach einer dieser »Geselligkeiten« spät nach Hause kam, hatte er oft zuviel von dem schlechten Wein getrunken und schlief dann, um die Mutter nicht zu stören, im Gästezimmer.
Mehrmals sah die kleine Tochter die Mutter weinen. Das verschreckte das Kind zutiefst, besonders, weil die Mutter dabei ihren Körper abwandte und das Gesicht zu verbergen suchte, so als ob es sich bei den Tränen um etwas Verbotenes, irgendwie Unanständiges handelte. Kein einziges Mal hatte die Tochter der Mutter beim Weinen ins Gesicht schauen dürfen. Das Kind fühlte sich zurückgesetzt und von der Hauptrolle, die es sonst im Leben seiner Mutter spielte, zu einer unwichtigen, sogar störenden Randfigur degradiert.
Eines späten Nachmittags im dunklen Februar – an diesem Tag war keine Geselligkeit, und es sollte endlich wieder einmal ein richtiger Familienabend werden – wandte sich darum Dorothea an ihren Vater. Die Mutter war gerade aus dem Zimmer gegangen, der Vater las Zeitung. Dorothea schob sich ganz nahe an ihn heran und flüsterte:
»Die Mama tut etwas, was sie nicht tun soll.«
»Soso«, brummte er daraufhin mäßig interessiert, »hat sie dir endlich einmal einen Klaps gegeben?«
»Nein, sie hat sich vor mir versteckt.«
Der Vater legte nun doch die Zeitung beiseite und zog das Kind auf seinen Schoß. »War das ein Spiel?«
Dorothea schüttelte den Kopf. »Nein, nicht wie im Spiel. Sie wollte, daß ich sie nicht finde.«
»Wo?«
»Im Schlafzimmer.«
»Aha.«
»Und ich bin da reingelaufen und habe sie doch gesehen.«
»Und dann?«
»Sie hat gesagt, ich soll wieder rausgehen.«
Der Vater räusperte sich. Dann sagte er mit einer Stimme, die etwas fremd klang: »War jemand bei ihr?«
»Natürlich nicht.«
»Warum solltest du dann rausgehen?«
Dorothea machte sich ganz steif und sah dem Vater gerade in die Augen. »Sie hat geweint!«
Der Vater zögerte einen Augenblick, dann setzte er seine Tochter sanft auf den Boden. Er stand auf, richtete sich die Hosenbeine und ging zur Tür.
»Papa ...?« rief das Kind.
Er nickte ihr zu. »Ich werde die Sache klären.«
Die Klärung sah dann so aus, daß zuerst einmal die Schlafzimmertür abgeschlossen wurde. Dorothea hörte die Stimmen der Eltern, die sich mit langen Pausen so unaufgeregt unterhielten, daß es wirklich nicht nötig gewesen wäre, die Tür abzuschließen. Kein Streit, nein, das gewiß nicht, statt dessen sogar ein wenig Gelächter von seiten der Mutter. Und dann war es eine Weile still.
Als die Mutter wieder herauskam mit wirren, aufgelösten Haaren, roten Wangen und bekleidet mit ihrem Nachthemd – um sechs Uhr nachmittags! –, lächelte sie der Tochter seltsam schlafwandlerisch zu. »Wieso bist du denn noch nicht im Bett?« – und ging an ihr vorbei in die Küche, wo sie die Weinflasche aus dem Eisschrank nahm. Dorothea hatte sich einen Familienabend anders vorgestellt. Sie schaute ins Schlafzimmer und sah dort ihren Vater mit bloßem Oberkörper in dem unordentlichen Bett liegen und eine Zigarette rauchen.
»Papa...?« rief sie wieder.
Der nickte ihr zu. »Es ist gut, mein Kind, mach dir keine Sorgen.« Aber es war nicht gut, nur ein paar Tage lang. Dann wurde die Mutter wieder sehr traurig. Der Vater kam immer später nach Hause und schlief fast nur noch im Gästezimmer. Die Mutter stritt mit ihm. Sie sagte auch, daß sie sehr bald einmal zum Arzt gehen müsse, wegen ihrer ständigen Müdigkeit. Aber erst einmal würde sie heimfahren, die Sonne und das Meer und die Nähe der Familie, das wäre jetzt bestimmt die beste Therapie für sie. So fuhren sie in diesem Jahr eher als sonst nach Griechenland, schon im frühen Mai. Für Dorothea sei es das letzte Jahr vor der Schule, hieß es, und für die Mutter wäre die Sonne dringend notwendig. Sie war ganz dünn und blaß geworden, nur ihr Bauch stand etwas vor. Gelegentlich legte sie die Hand darauf und sagte, daß diesmal wirklich alles ganz anders sei und ob Dorothea sich nicht über ein Brüderchen freuen würde. Dorothea schüttelte energisch den Kopf, nein, darüber würde sie sich überhaupt nicht freuen. Die Mutter schien sie nicht gehört zu haben, jedenfalls reagierte sie nicht auf die Ablehnung ihrer Tochter. Statt dessen redete sie immer öfter davon, daß sie wirklich dringend zum Arzt gehen müsse, allerdings natürlich nicht in Oslo, da wären die Männer ja ständig betrunken, sondern zu Hause in Patras.
Der Vater betonte, daß der von der Botschaft empfohlene Frauenarzt ganz sicher kein Alkoholiker sei, doch die Mutter blieb bei ihrer Weigerung und legte sich mit einem um Überzeugung bemühten Lächeln die Hand ihres Mannes auf den Bauch.
»Wahrscheinlich ist doch alles genauso wie damals, ich habe es nur vergessen, meinst du nicht auch?«
Der Vater hatte beschlossen, daß er in diesem Jahr überhaupt nicht mitkommen wolle, nicht einmal für eine kurze Woche. Er hatte gesagt, daß die politische Situation in Griechenland dies nicht zulasse, woraufhin ihm seine Frau geantwortet hatte, daß ihm doch kein Mensch verbieten könne, seine Ferien mit Kind und Frau in deren Heimatland zu verbringen.
»Ein Mensch vielleicht nicht«, hatte der Vater geantwortet, »aber mein Anstand.«
Die Mutter war daraufhin sehr zornig geworden. Sie hatte den Vater angeschrien: »Da ist dir also dieser lächerliche Anstand wichtiger als deine Familie!«
Als der Vater sie zum Flugzeug brachte und seine Frau zum Abschied umarmte, sah sein Gesicht ganz weiß und fremd aus. Die Mutter weinte herzzerreißend und scherte sich nicht darum, daß ihr Kind und viele andere Menschen ihr dabei zuschauten.
In Griechenland wurde es dann etwas besser. Die schwarzen Frauen waren weniger streitlustig als sonst, und sie ließen auch Dorothea weitgehend in Ruhe. Statt dessen hegten und pflegten sie Dorotheas Mutter mit einer Hingabe, die schon fast gierig wirkte.
Die Mutter fügte sich, auch sie schien kaum mehr zum Streit bereit. Sie nahm etwas an Gewicht zu, und die Blässe ihrer Haut wurde durch das Strahlen der ungewöhnlich heißen Maisonne von einem hellen Braun zugedeckt. Sie sah jetzt sehr schön aus. Die Wölbung ihres Leibes wurde nicht stärker, und wer nichts davon wußte, konnte es auch kaum wahrnehmen.
Gelegentlich war der Vater am Telefon. Er sagte, daß er es nahezu jeden Tag versuche, daß jedoch die Leitung im Sommerhaus fast immer gestört sei.
Die Beziehung zwischen Mutter und Tochter, die während der letzten Oslo-Monate durch die gequälte Konzentration der Mutter auf sich selbst und auf ihre Ehe etwas weniger eng gewesen war, festigte sich wieder.
Dorothea liebte ihre Mutter mit der bedingungslosen Großzügigkeit, die wohl nur Kinder aufbringen können. Ohne daß sie es selbst recht bemerkte, verbannte sie ihre Phantasiegefährten in den Hintergrund und konzentrierte sich sehr real auf die Mutter, deren Gefährdung sie instinktiv erkannte. Das »Brüderchen« hatte damit nichts zu tun, es gehörte in den Bereich der Spielfiguren und sollte auch dort bleiben.
Zwar kannte die Mutter nahezu jeden Menschen im Dorf, aber Freunde und Vertraute schien sie nicht zu haben. Ausgenommen vielleicht den jungen Anwalt, der nebenan wohnte. Er war verheiratet und hatte drei kleine, lästige, verwöhnte Söhne, die das fremde Mädchen aus der Stadt bei jeder Gelegenheit knufften und es mit Sand und Steinen bewarfen. Buben sind etwas Schreckliches, dachte Dorothea, und rächte sich, indem sie ihrem Phantasie-Brüderchen ein halbblindes Auge und einen Hinkefuß verpaßte. Der Anwalt war immer sehr höflich und zuvorkommend. Oft blieb er am Gartentor stehen, um ein paar Worte mit der Mutter zu wechseln, und manchmal brachte er ihr aus Patras etwas mit, Konfekt, eine ausländische Zeitung oder eine Flasche Likör. Der Mutter schien dies zu gefallen.
»Wir sind zusammen aufgewachsen«, erklärte sie ihrer Tochter, »er ist ein alter Freund von mir.«
Jeden Tag gingen Mutter und Tochter zusammen an den Strand und von dort aus in eine kleine, abgelegene Felsenbucht, zu der außer ihnen nie eine Menschenseele kam. Dort legten sie sich auf die vom lauen Wasser umspülten grünbemoosten Felsen. Die Mutter schob sich ein aufblasbares Gummikissen unter den Kopf, schloß die Augen und lag ganz still. Ihre Arme hielt sie weit ausgebreitet, so als wolle sie der Sonne eine größtmögliche Fläche darbieten. Die Tochter spielte um sie herum, suchte nach Einsiedlerkrebsen, ordnete auf dem grünen Felsen Muscheln zu Mustern und baute zierliche Schlösser aus Sand und Stein.
Oft stieg sie hoch hinauf in den steilen Felsen, der über der Badestelle aufragte, um von dort aus auf die Mutter hinunterzuschauen. Zuerst hatte die Mutter ihr diese Kletterei verbieten wollen, zu steil, zu gefährlich, auch zu anstrengend in der Hitze, doch als sie dann gesehen hatte, wie mühelos und geschickt das Kind sich in dem schroffen Gestein bewegte, hatte sie nachgegeben und sich gesagt, daß Ziegen und Esel ja auch in den Felsen herumwanderten und daß die leichten Glieder eines Kindes sicher flinker und gelenkiger waren als die eines ausgewachsenen Esels. Wenn es sehr heiß wurde, in der Mittagszeit, kurz bevor sie heimgingen, zogen sie manchmal ihre Badeanzüge aus. Zuerst hatte die Mutter allergrößte Bedenken geäußert, doch schließlich hatte sie lachend gesagt, nach dem dunklen Osloer Winter habe nun ihr ganzer Körper Anspruch auf Licht, und in dieser Einsamkeit würde sich ja niemand daran stören können. Und dann hatte sie noch hinzugefügt, daß sie schließlich nicht Tantalus sei, dem die zürnenden Götter das vollkommene Labsal Tag für Tag vor Augen hielten, ohne daß er sich je daran erquicken durfte, denn warum sollten ihr die Götter zürnen, ausgerechnet jetzt, da sie reuig in die Heimat zurückgekehrt war?
Dieser fremde Name, Tantalus, hatte sich tief in das Gedächtnis des Kindes eingeprägt, als die Bezeichnung für eine Situation, in der sich jemand etwas nicht nimmt, obgleich er es doch so dringend braucht. Und noch etwas würde sie nie vergessen: das atemlos aufgeregte, fast ein wenig hysterische Gelächter der Mutter, als diese sich das erste Mal nackt auf den flachen Felsen niederlegte und ihren Körper gänzlich ungeschützt dem Wasser und der Sonne preisgab. Mit ihrer ausgestreckten Hand umklammerte sie ein Badetuch, so als wäre das Entblößen nur eine hastige, jederzeit wieder rückgängig zu machende Probehandlung, doch je öfter sie es tat, um so sicherer wurde sie, und schließlich schien die Probe bestanden zu sein, und die Mutter ließ das Handtuch beiseite und bewegte ihren schönen, nackten Körper auf dem feuchten Moospolster so frei und natürlich, als säße sie im hochgeknöpften Baumwollkleid mit den alten Frauen am Frühstückstisch. Selbstverständlich folgte die Tochter dem Beispiel der Mutter und entledigte sich ihres kleinen rotweiß geblümten Badeanzuges im gleichen Augenblick, wenn die Mutter den ihren, der schwarz war und eine merkwürdig steif abgepolsterte Busenpartie hatte, abstreifte. Und dann lagen die beiden eine Weile engumschlungen auf dem flachen Stein. Das Moos kitzelte ihre Körper mit der Bewegung des Wassers, und Dorothea konnte sich nicht genug darüber wundern, daß sich die Haut der Mutter trotz der von Zeit zu Zeit über sie wegschwappenden Wasserkühle immer gleichbleibend warm anfühlte.
Fast genauso schön wie der Aufenthalt in der einsamen Felsenbucht war danach der Mittagsschlaf, den Mutter und Tochter gemeinsam im alten Bootsschuppen hielten. Dort war es geheimnisvoll dunkel und kühl. Die Mutter hatte das alte Gerümpel etwas beiseite geräumt und in einer Ecke aus vielen Decken und Kissen ein weiches Lager bereitet. Die Wellen platschten leise gegen die hölzernen Stützen, Dorothea träumte, daß der Schuppen ein Schiff sei, auf dem sie ganz allein mit der Mutter in die große weite Welt hinausfuhr.
»Früher einmal hat hier die Liebe gewohnt«, sagte die Mutter.
»Früher, so wie im Märchen, ganz weit weg?« fragte Dorothea.
»Nicht so weit weg wie im Märchen, aber wohl doch nicht mehr nahe genug.«
Dem Kind erschien die Antwort als Aufforderung zu einem Ratespiel.
»Ich sehe, was du nicht siehst, und das ist...?«
Die Mutter schüttelte den Kopf. »Nein, das eignet sich nicht zum Raten.«
»War die Liebe ein Mann, eine Frau oder ein Kind?« insistierte Dorothea.
»Ich sag dir doch, ich will nicht.«
»Dann war’s bestimmt ein Monster«, beschloß Dorothea, »und du hast immer noch Angst vor ihm.«
Die Mutter lächelte, zog das Kind an sich und flüsterte verschwörerisch: »Du darfst es niemandem weitersagen, aber das Monster hat viel mehr Angst vor mir als ich vor ihm. Und es sieht auch ganz und gar nicht aus wie ein Monster, es sieht aus wie ein großer, schöner Mann mit starken Armen und festen Händen.«
»So wie Papa?« fragte das Kind.
»So wie Papa nicht sein will«, sagte die Mutter.
»Warum nicht?« fragte Dorothea.
»Weil er Angst hat, dann auch ein Monster zu werden.«
Manchmal, wenn sich Mutter und Tochter am Abend im Haus das Salzwasser von der nahtlos gebräunten Haut duschten, fiel Dorothea das weißgraue Abschiedsgesicht ihres Vaters ein, an das sie nur ungern denken mochte. Sie schob es immer so schnell wie möglich wieder beiseite, doch einmal sagte sie: »Papa würde sich bestimmt freuen, wenn er uns so sehen könnte.«
Die Mutter hörte auf zu lachen. Ihre Augen verdunkelten sich wie in Erinnerung an ein Unglück. Sie griff sich mit der flachen Hand auf den Bauch und murmelte: »Weiß ich nicht. Glaub ich auch nicht.«
Dorothea wollte die fröhliche Stimmung nicht hergeben und machte sofort einen Rückzieher: »Selbst schuld, er hätte mitkommen können!«
Woraufhin die Mutter ihr mit einer unbeherrschten, heftigen Gebärde auf den Mund schlug. »Sag so etwas nicht, was weißt denn du?«
Dorothea zuckte zusammen und brach in Tränen aus. Der Schlag hatte ihr nicht sonderlich weh getan, doch war es das erstemal, daß ihr die Mutter so etwas antat. Auch die Mutter hatte sich erschreckt. Sie riß das Kind an sich – »es tut mir leid, es tut mir ganz schrecklich leid« – und bedeckte das Gesicht der Tochter mit kleinen hektischen Küssen. Dann fing auch sie an zu weinen und konnte sich lange Zeit nicht wieder beruhigen.
Dorothea fühlte sich schuldig. Sie ahnte, daß sie etwas gegen die Gemeinsamkeit der Eltern gesagt hatte, einzig weil sie die Mutter allein für sich haben wollte.
So anders waren jetzt die Tränen der Mutter, anders als damals in Oslo, so ungehemmt und auch soviel verstörter. Sie sagte, sie wolle nun wirklich am nächsten Tag nach Patras fahren und endlich zum Arzt gehen.
Später am Abend saß die Mutter lange am Telefon, doch die Leitung war wieder einmal gestört.
Mutter und Tochter gingen zeitig zu Bett. In der Nacht wachte Dorothea auf. Sie tastete hinüber zur Mutter, deren Bett war leer. Das Kind erschrak. Eine Weile lag es zitternd und wagte nicht, sich zu rühren. Als es schließlich aufstand und zum Fenster schlich, sah es die Mutter langsam den Weg vom Schuppen heraufkommen. Ihr Gesicht und ihr langes Nachthemd leuchteten gespenstisch weiß im Mondlicht. Dorothea sprang ins Bett zurück und stellte sich schlafend. Die Mutter kam leise herein, fuhr mit prüfender Hand über das Gesicht der Tochter und legte sich nieder. Ihr Atem ging so leise, daß Dorothea ihn kaum hören konnte.
Am nächsten Morgen sehr früh rief der Vater an. Die Mutter bekam, als sie mit ihm sprach, rote Flecken am Hals. Sie redete ungeordnet und gehetzt, als wäre sie getrieben von irgendeiner Furcht. Sie bat ihn, sie flehte ihn an, zu ihr in die Sonnenwärme zu kommen, sie könne es ohne ihn nicht mehr ertragen. Dorothea stand neben der Mutter und sah ihr zu. Sie sah das aufgeregte Glitzern in den Augen, dann schon wieder Tränen. Schließlich drückte die Mutter der Tochter den Hörer in die Hand und sagte: »Da, versuch du es, bei mir nützt es nichts mehr«, und lief aus dem Zimmer.
»Papa...«, rief Dorothea in die Muschel.
Die Stimme des Vaters war ruhig. »Ich hoffe, du paßt gut auf deine Mutter auf.«
»Papa«, rief Dorothea wieder, »warum kommst du denn nicht?«
»Es geht nicht, ich kann nicht dorthin. Mama wird es dir erklären.«
»Mama will mir nichts erklären, sie will, daß du kommst. Und Mama ist nicht Tantalus, hat sie gesagt.«
»Ist nicht was?«
»Das ist jemand, der sich nicht nehmen kann, was er gern haben möchte.«
Der Vater schwieg.
»Hallo«, rief das Kind, »Papa, bist du noch da, wann kommst du, Papa?«
Der Vater räusperte sich. »Unmöglich«, sagte er, »ich kann nicht. Es geht nicht immer danach, was man gerne möchte. Aber es ist hier jetzt auch sehr schön, und manchmal scheint die Sonne ganz warm. Warum kommt ihr beiden nicht nach Oslo zurück?«
Dorothea schluckte. »Ich... ich weiß nicht. Ich glaube, das geht auch nicht. Mama ist jetzt so schön braun und sieht ganz gesund aus, und da in Oslo ... ich glaube, sie kann hier jetzt nicht weg. Von wegen diesem Tantalus, weißt du?«
Sie hörte den Vater am andern Ende der Leitung einen tiefen Seufzer ausstoßen. »Dann müssen wir wohl irgendwie damit fertig werden. Und wie geht es dem Brüderchen?«
»Weiß ich nicht«, sagte Dorothea, »Mama redet nicht viel darüber. « Dann, um dem Vater zu zeigen, daß die Mutter wirklich zu allem bereit war, fügte sie noch hinzu: »Mama will zum Arzt, morgen oder übermorgen.«
»Na endlich. Du mußt meine sehr große Tochter sein und auf deine Mutter aufpassen.«
»Ja, Papa.«
»Dann gib jetzt den Hörer der Mama zurück.«
Dorothea rief nach der Mutter und bekam keine Antwort.
»Sie ist nicht mehr da«, sagte sie.
»Dann grüß sie von mir.«
»Natürlich«, sagte das Kind und legte den Hörer auf.
Die Mutter lag im Bett und weinte. Dorothea kroch zu ihr unter die Decke und versuchte sie zu trösten. Als die Mutter etwas ruhiger geworden war, fragte das Kind: »Warum können wir nicht zurückgehen?«
»Weil ich dann wieder krank werde.«
»Aber Papa sagt, daß auch bei ihm jetzt die Sonne scheint.«
»Das ist nicht die richtige Sonne«, sagte die Mutter.
»Und warum kann Papa nicht hierherkommen? Er sagt, du würdest es mir erklären.«
»Das hat mit seinem Beruf zu tun und mit Politik. Und – « die Mutter überlegte, wie sie den Vater vor der Tochter verteidigen und ihn ihr verständlich machen konnte – »er kann es nicht leiden, daß hier so viele Polizisten sind und daß unschuldige Leute ins Gefängnis gesteckt werden.«
»Tun das die Polizisten?«
»Manche schon.«
»Dann laß uns zu Papa zurückfahren.«
»Ja«, sagte die Mutter nachdenklich, »vielleicht hast du recht. Bald, vermutlich morgen schon oder vielleicht auch übermorgen, werden wir zu Papa zurückfahren.«
Aber sie fuhren nicht. Und die Mutter ging auch nicht zum Arzt. Weiterhin wanderten Mutter und Tochter jeden Morgen in ihre eigene kleine Bucht, und in der heißen Mittagsstunde, bevor sie zum Essen nach Hause gingen, lagen sie längere Zeit nackt auf den wasserumspülten Steinen.
Mehrmals noch wachte Dorothea nachts auf und bemerkte, daß die Mutter nicht da war. Dann hockte das Kind sich ans Fenster und schaute hinaus, bis es die Mutter den Gartenweg hinaufkommen sah. Einmal meinte sie auch, eine andere Gestalt unten am Schuppen zu sehen. Sie dachte an das Liebesmonster mit den starken Armen und festen Händen.
Ungefähr eine Woche nach dem Anruf des Vaters stieg Dorothea in der brennendheißen Mittagsstunde wie eine Bergziege auf allen vieren die steilen Klippen bis ganz nach oben hinauf. Den rotweißgeblümten Badeanzug hatte sie unten gelassen, sie konnte ihn zusammen mit dem schwarzen der Mutter im Sand liegen sehen, beschwert mit einem kleinen Felsbrocken, damit eine zufällig hochschwappende Welle ihn nicht wegtragen würde. Ein paar Meter davon entfernt ruhte die Mutter mit weit ausgebreiteten Armen auf dem Moos, das von hier oben viel dunkler als aus der Nähe wirkte, ein bläulich glänzendes Flaschengrün, gegen das sich der Körper der Mutter, obgleich doch so braungebrannt, muschelhell abhob. Ihr schwarzes Haar hing in vielen langen Strähnen über das Kissen ins Wasser und bewegte sich dort wie lauter kleine Seeschlangen.
Ein leiser Wind wehte dem Kind über die bloße Haut. Es kroch ganz nahe über den Felsenrand und legte sich flach auf den Bauch, die verschränkten Hände unter das Gesicht gebreitet. Als es so auf die Mutter hinunterschaute, trieb ihm plötzlich ein seltsam fremdes Gefühl von Sehnsucht und Verzweiflung die Tränen in die Augen. Dorothea lag da und schaute, sie weinte, und sie war gleichzeitig glücklich. Sie war ganz und gar erfüllt von diesem Gefühl, sie wollte es in sich halten und sich doch auch davon befreien. Sie wollte die Süße ohne die Bitterkeit, das Glücksgefühl ohne den Schmerz. Sie dachte nicht an den Vater, nicht an die schwarzen Frauen, nicht an den drohenden Arzt, nicht an das Brüderchen, und nach einer Weile dachte sie überhaupt nichts mehr. Der Gefühlsansturm hatte sie müde gemacht. Das Bild der Mutter unter ihr begann sich langsam zu verschleiern, ihr kleiner Körper wurde träge und schwer, und sie war nahe daran einzuschlafen.
Da plötzlich geschah etwas Ungewöhnliches, eine Bewegung in dem Felsen unter ihr, die den Schleier vor ihren Augen zerriß. Auf halber Höhe näherten sich zwei Gestalten, sie bewegten sich, zielsicher und jeden Lärm vermeidend, auf den Badeplatz der Mutter zu. Dorothea, die hier noch nie einen anderen Menschen gesehen hatte, erschrak, vor allem, als sie begriff, daß es sich um zwei Polizisten handelte. Schlagartig wurde sie sich ihrer und der Mutter Nacktheit bewußt. Sie wollte schreien, aber das konnte sie nicht, aus Angst, sich selbst zu verraten. Die Mutter lag weiterhin mit ausgebreiteten Armen im seichten Wasser, sie hatte nichts bemerkt.
Die beiden Polizisten, die sich jetzt fast genau zwischen Dorothea und der Mutter befanden, blieben stehen. Dann hockten sie sich nebeneinander auf einen Stein und beugten sich weit hinüber, um die Mutter genau betrachten zu können.
Dorothea lag flach gegen die Steine gedrückt, ihre kleinen Hände hatten sich festgeklammert, als ob sie befürchtete, der Felsen würde in der nächsten Sekunde in sich zusammenstürzen.
Die Polizisten ließen sich Zeit. Sie hatten ihre Mützen neben sich gelegt, hockten da, sahen auf die Mutter hinunter, flüsterten und knufften einander grinsend in die Seiten.
Dann plötzlich kamen sie hoch, strafften sich, zogen ihre Uniformen glatt und setzten die Mützen wieder auf. Ohne noch weitere Rücksicht auf den Lärm zu nehmen, stiegen sie geraden Wegs zur Mutter hinunter.
Diese hörte das harte Treten der Männerstiefel, zuckte zusammen und starrte den beiden in einer langen Schrecksekunde entgegen. Dann sprang sie auf, lief ein paar Schritte, rutschte aus auf den glatten Steinen und fiel auf die Knie, kam wieder hoch und sah sich in äußerster Panik um. Die Polizisten standen zwischen ihr und dem Platz, wo Kleider und Badetasche lagen. Wollte sie dort hinlaufen, müßte sie ganz nahe an den Männern vorbei. Also blieb sie stehen, die Arme vor ihrem Körper verschränkt. Die Männer sagten etwas zu ihr, mit ziemlich lauten Stimmen, es klang, als würden sie aus einem Buch vorlesen.
Dorothea in ihrer Angst verstand kaum etwas, hörte nur mehrmals die Worte »unbekleidet« und »verboten« und einmal das Wort »Polizeirevier«. Als die Männer ausgeredet hatten, machten sie ein paar Schritte zur Seite und wandten der Mutter den Rücken zu. Die stolperte hinter ihnen vorbei zu ihren Kleidern und zog sich hastig an. Dorothea rührte sich immer noch nicht. Sie wußte, daß sie auf ihre Mutter aufpassen sollte, aber wie, sie war doch selber unbekleidet, und das war wohl verboten, und darum durfte sie sich so den Polizisten auf gar keinen Fall zeigen, das würde die Sache nur doppelt schlimm machen.
Die Mutter war jetzt fertig angezogen. Plötzlich schien sie sich auf das Kind zu besinnen und sah sich ängstlich suchend um. Sie rief nach ihr. Dorothea antwortete nicht. Die Polizisten wurden ungeduldig. Die Mutter rief immer lauter nach der Tochter, und zwischendurch schrie sie die Männer an, daß sie ohne ihr Kind auf gar keinen Fall gehen würde. Die Männer wurden ärgerlich und auch sehr laut. Dorothea verstand jetzt jedes Wort. Die Männer sagten, daß das Kind ohne weiteres allein nach Hause finden würde, die kenne doch den Weg besser als jeder Ortsansässige. Und die Frau solle nun endlich mit ihnen kommen.
Die Mutter machte keine Anstalten, ihnen zu gehorchen. Statt dessen versuchte sie plötzlich, nach der andern Seite hin zu entkommen, immer noch laut nach dem Kind rufend. Einer der Männer sprang zu ihr hin und griff nach ihr. Die Mutter trat mit den Füßen, riß sich los und begann wüste Schimpfworte auszustoßen. Das konnten sich die Polizisten nun wirklich nicht bieten lassen. Sie packten die Mutter ganz fest bei den Armen, jeder an einer Seite, und zerrten die sich immer noch heftig Wehrende hinüber zu dem schmalen Feldweg, der zum allgemeinen Badestrand führte.
Eine Weile noch konnte Dorothea die merkwürdige Gruppe sehen, ihre zarte, schmale Mutter zappelnd zwischen zwei großen Männern, konnte auch das Schreien und Schimpfen noch hören, dann verschwanden die drei um die nächste Felskuppe, und alles war wieder still wie zuvor.
Dorothea blieb oben auf dem Felsen liegen, den kleinen Körper eng an die Steine gedrückt. Sie dachte, daß sie ihre Mutter nie wiedersehen würde. Als die Angst etwas nachließ, kam der große Kummer, der ihr so weh tat, als hätte sie ein Feuer hinuntergeschluckt. Keine Träne konnte das Brennen löschen. Wenn sie sich hier nicht weiterhin fest an die Steine klammern würde, dann müßte sie ins Meer hinunterspringen, ganz weit hinaus, ins tiefe dunkle Meer. Dort würde dann wohl auch das Brennen vergehen. Aber Dorothea hatte schreckliche Angst vor solch einem Sprung, vor dem Fliegen durch die Luft und vor dem Ertrinken. Sie dachte, daß das Brennen vielleicht doch erträglicher sei als all das viele bittere Salzwasser in ihrem Mund. Dabei wollte sie doch nichts weiter, als daß ihre Mutter wiederkäme, um zu lachen und zu sagen, alles sei nur ein Spiel gewesen.
In ihrer Not versuchte sie, die Mutter zurückzuzaubern. Die Gedanken wie Stricke um sie zu werfen, ganz fest dran zu glauben und dann zu ziehen, ziehen, ziehen. Dorothea wußte, daß sie so etwas tun konnte, es war ihr schon manchmal gelungen. Doch durfte man dabei an absolut nichts anderes denken, man mußte Kopf und Herz so leer machen wie einen alten Gummiball, um Platz zu schaffen für das, was man herbeizaubern wollte. Man mußte sich konzentrieren, und Konzentration war Willenssache, hatte Papa gesagt.
Dorothea mühte sich mit aller Kraft. Und immer wieder kamen ihr diese zwei Ablenkungen dazwischen: das Bild der Mutter im weißen Hemd nachts auf dem Gartenweg und der Gedanke an den Vater, der sie allein gelassen hatte aus einem Grund, den er »Anstand« nannte und den sie nicht begriff.
Kurz bevor die Sonne unterging, kamen sie nach ihr suchen. Die schwarzen Frauen und ein paar Leute aus dem Dorf. Auch der Advokat aus dem Nebenhaus war dabei. Die Frauen riefen mit schrillen Stimmen ihren Namen, sie krochen in der Bucht zwischen den Steinen umher, als meinten sie, das Kind hätte sich dort im Sand vergraben. Sie hielten den kleinen rotweißen Badeanzug hoch und deuteten auf das Wasser hinaus. Einige begannen schließlich, in den Felsen herumzusteigen und auch hier hinter jedem Stein nachzuschauen. Es war der Advokat, der das Kind schließlich fand.
Dorothea klammerte sich an die Felsbrocken und wollte sich nicht aufheben lassen. Der Advokat mußte ihre Finger mit Gewalt loslösen. Dann umfaßte er mit beiden Händen ihren Leib und nahm sie hoch wie eine Katze. Als er hinunterstieg, hielt er ihren kleinen nackten Körper ganz hart an sich gedrückt, damit sie sich nicht bewegen konnte. Er hatte einen grobgestrickten Pullover an, der auf Dorotheas Haut kratzte. Sie begann zu schreien, er drückte ihr Gesicht fest gegen seine Schulter. Da schrie sie nicht mehr. In seinen harten, wollenen Armen wurde ihr sehr heiß. Sie hatte Angst vor dem Mann, aber sie war ihm auch dankbar, daß er sie gerettet hatte. Sie beschloß, sich nicht mehr gegen ihn zu wehren und sehr gehorsam zu sein. Sie machte ihren Körper ganz leicht, um ihm nicht zuviel Gewicht aufzubürden. Er schien dies zu spüren und gab ihr Gesicht frei, worauf ihr Kopf auf dem Hals hin und her pendelte wie eine Blume auf einem zu dünnen Stiel. So hielt der Mann ihren Kopf wieder fest, aber jetzt war sein Griff sehr sanft. »Kleines Mädchen«, murmelte er, »armes kleines Mädchen.«
Unten in der Bucht angekommen, wickelte er das Kind in eine große Decke, die roch nach Eukalyptus und Thymian. Er trug sie den ganzen Weg nach Hause. Neben ihm liefen die schwarzen Frauen, und dahinter kamen die anderen Leute, es war wie eine Prozession am Tag der Heiligen Jungfrau. Dorothea war irgendeine kleine Heiligenfigur oder auch eine Reliquie.
Am nächsten Morgen war Dorothea krank. Sie hatte Fieber, und die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Die Frauen rannten aufgescheucht um sie herum und versuchten, irgendwelche Nahrung in sie hineinzufüllen, was natürlich ohne Erfolg war. Dann machten sie ihr heiße und kalte Umschläge, und Dorothea mußte so sehr husten, daß sich dadurch ihre Kehle für eine kurze Zeit öffnete. Die Frauen nutzten die Gelegenheit und gossen ihr heißen, süßen Rotwein mit Ei hinunter. Der Rotwein schmeckte nicht sehr gut, aber anschließend wurde ihr ganz leicht im Kopf. Die Mutter war nirgends zu sehen, und Dorothea fragte auch nicht nach ihr.
Am späten Nachmittag kam der Advokat. Er brachte ihr Schokolade und in Puderzucker gewälzte Geleewürfel, die seine Frau selbst gemacht hatte. Diesmal hatte er keinen Pullover an, sondern einen richtigen Büroanzug. Er setzte sich an Dorotheas Bett. Sie wollte ihm dringend beweisen, wie gehorsam sie war. Deshalb zwängte sie sich ein kleines Stückchen Schokolade hinunter. Als dann die schwarzen Frauen das Zimmer für einen Augenblick verließen und sie mit dem Advokaten alleine blieb, fragte sie ihn nach der Mutter.
Die sei im Krankenhaus, antwortete der Advokat, in Patras, und dort kümmerten sich die Ärzte um sie.
»Aber die Mutter hatte schreckliche Angst vor dem Arzt«, antwortete Dorothea.
Der Advokat nickte. Ja, das könne er wohl verstehen. Aber dieses sei ein sehr gutes Krankenhaus, und die Ärzte dort seien in Ordnung. Außerdem würde er, der Advokat, schon dafür sorgen, daß der Mutter die allerbeste medizinische Versorgung zuteil würde. Denn er sei schließlich ein Freund der Mutter.
Das Kind nickte. »Mit starken Armen und festen Händen.«
»Wer, ich? Wie kommst du darauf?«
»Das hat Mama mir erzählt.«
Der Advokat schwieg und machte ein grimmiges Gesicht. Dorothea fürchtete schon, einen Fehler begangen zu haben, doch dann sagte er, wenn es ihr besserginge, dann würde er sie mit dem Auto nach Patras fahren, damit sie sich selbst von der Qualität des Krankenhauses und der Ärzte überzeugen könne. Dorothea fand, daß er merkwürdig daherredete, wollte aber dennoch liebend gern mit ihm nach Patras fahren.
Dazu kam es jedoch nicht, denn am Abend desselben Tages erschien der Vater. Dessen Gesicht war immer noch ganz weiß und fremd, so wie Dorothea es vom Flugplatz her in Erinnerung hatte. Er sagte ihr, daß die Mutter operiert werden müsse.
Vierzehn Tage später flogen Vater, Mutter und Tochter gemeinsam nach Oslo zurück. Die Mutter lag auf einer Krankentrage. All die schöne, gesunde Sonnenfarbe war aus ihrem Gesicht verschwunden. Während des ganzen Fluges hielt der Vater die Hand der Mutter in der seinen.
Das Sterben ging sehr langsam. Es dauerte den Sommer über und auch noch den Herbst bis kurz vor Weihnachten. Die meiste Zeit lag die Mutter zu Hause im Bett. Manchmal stand sie auch auf und setzte sich mit Mann und Tochter an den Eßtisch, um eine kleine Mahlzeit einzunehmen. Tagsüber war meist eine Krankenschwester im Hause, die sich um alles kümmerte. Dorothea versuchte sich einzureden, daß sie ihre Mutter nun doch nicht verloren hätte, denn sie war ja da und der Vater auch, und sie waren nun wieder eine richtige Familie.
Im Oktober wurde Dorothea eingeschult in die internationale Schule, wo man nur englisch sprach. Dorothea verstand nichts und saß immer nur so da und schwieg. Nach der Schule wartete sie ungeduldig auf den Bus, der sie nach Hause brachte, dann rannte sie die Treppe zur Wohnung hinauf. Sie hatte immer große Angst, daß die Mutter inzwischen weggeholt worden wäre, was auch mehrmals geschah, wenn sie wieder für eine Weile ins Krankenhaus mußte. Von dem Brüderchen war nie mehr die Rede. Der Vater hatte Dorothea erzählt, daß die Mutter schon lange krank gewesen sei, ohne es gewußt zu haben. Wenn sie nicht damals an dem heißen Juninachmittag zusammengebrochen und ohnmächtig geworden wäre, dann würde man es wahrscheinlich noch sehr viel später entdeckt haben.
Der Vater gab sich große Mühe mit seiner Tochter und redete mit ihr viel über das Leben und Sterben der Mutter. Er versuchte, ihr das Geschehen verständlich zu machen, damit zu dem Verlust nicht auch noch die Qual des Nichtbegreifens käme. Dorothea saß still und hörte seinen Worten zu, die jedoch nicht sehr viel ausrichteten, denn über das, was sie wirklich mit dem Vater verband, nämlich das Gefühl, nicht genug für die Mutter getan zu haben, darüber konnten sie nicht reden.
Am 15. Dezember wurde die Mutter nach Griechenland geflogen, das hatte sie selbst so verfügt. Sie war ganz klein und schmal geworden und so leicht, daß sie den Trägern kaum Mühe machte. Sie lag bewegungslos mit geschlossenen Augen auf ihrer Bahre, und der Vater hielt wieder während des ganzen Fluges ihre Hand. Die Krankenschwester war auch mitgekommen, alle drei Stunden gab sie der Mutter eine Spritze. Während der Nacht übernahm der Vater diese Aufgabe.
Im Haus am Meer hatte man alles vorbereitet. Im Stadthaus wäre es natürlich leichter gewesen, aber die Mutter hatte darauf bestanden, so nahe wie möglich am Meer zu sterben. Sie schien keine Angst zu haben. Als die Bahre ins Haus getragen wurde, lag sie mit ruhigem Gesicht da, immer noch bewegungslos und ohne die Augen zu öffnen. Dorothea wunderte sich, daß die Mutter das Meer, auf dessen Nähe sie doch bestanden hatte, nun überhaupt nicht anschaute. Im Schlafzimmer brannte ein Kaminfeuer. Drei Tage lang blieb die Mutter noch am Leben, aber sie sprach nicht mehr und öffnete auch kaum je die Augen. Viele Leute kamen zu Besuch. Sie standen ein paar Minuten am Bett und gingen dann hinüber ins Wohnzimmer, wo die Großmutter und ihre Schwestern sie bewirteten. Der Advokat kam jeden Tag. Dorothea und der Vater ließen die Mutter nicht mehr allein, einer von ihnen hielt immer ihre Hand. Als die Mutter schließlich zu atmen aufhörte, war es Nacht, und Dorothea schlief gerade. Der Vater weckte sie, und bis zum Morgen blieben sie alle drei eng beieinander.
Die Beerdigung fand bereits am nächsten Tag statt, und nahezu alle Dorfbewohner nahmen teil, auch die zwei Polizisten und der Advokat mit seiner Frau, die, obgleich sie noch jung war, schon genauso schwarz und vertrocknet aussah wie die Großmutter und die Tanten.
Während der anschließenden Geselligkeit, bei der viel geredet und gegessen und getrunken wurde, bat Dorothea ihren Vater, mit ihr ein wenig an die frische Luft zu gehen. Der Vater antwortete, daß er nichts lieber täte als dies, daß der Anstand es ihm jedoch verbieten würde. Sein Gesicht, während er das sagte, sah wieder ganz weiß und fremd aus, und seine Stimme klang so verzweifelt, daß Dorothea ihm ohne weiteres glaubte und verzieh, auch wenn sie wieder nicht verstand, was eigentlich gemeint war.
Dorothea lief hinunter zum Strand und von dort zu ihrer kleinen Badebucht. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Obgleich es kalt war, zog sie Schuhe und Strümpfe aus und stieg auf allen vieren hinauf auf die Felskuppe. Oben kauerte sie sich hin, schlang die Arme um die Knie und wartete. Sie hoffte, ihr würde jetzt etwas Schönes einfallen, irgendeine Geschichte, mit der sie leben könnte. Aber nichts kam. Sie dachte an das letzte Mal, als sie hier gesessen und versucht hatte, ihre Mutter zurückzuzaubern, und wie ihr immer wieder der Gedanke an den Vater und an die nächtlichen Ausflüge der Mutter dazwischengekommen war.
Dorothea wartete eine ganze Weile, und als es ihr schließlich zu kalt wurde, stieg sie langsam und zum erstenmal ungeschickt in die Bucht zurück, zog Schuhe und Strümpfe an und ging nach Hause. Vor der Gartentür stand der Vater zusammen mit dem Advokaten. Die beiden sahen ihr entgegen. Der Advokat sagte: »Du solltest nicht mehr dorthin gehen, jedenfalls nicht allein.«
Dorothea nickte folgsam. Nein, dorthin würde sie nicht wieder gehen, bestimmt nicht. Und ganz sicher nicht allein.
Nach dem Tod der Mutter versuchten Vater und Tochter ihr altes Leben wieder aufzunehmen. Dorothea lernte jetzt endlich Englisch und holte in der Schule den Stoff der verlorenen ersten Monate schnell auf. Sie blieben ein weiteres Jahr in Oslo, dann lebten sie für einige Zeit in Bonn, und danach wurde der Vater als Botschafter in einen afrikanischen Staat versetzt. Gemeinsam beschlossen sie, daß es besser sei, wenn Dorothea in Zukunft in einem Internat leben würde. Im Grunde erschien der inzwischen fast Zehnjährigen der Ort, an dem sie ihr Leben zu verbringen hatte, ziemlich gleichgültig. Sie war zu allem bereit, sie wollte gehorchen, sich anpassen, kooperativ sein, sofern man sie nur in Ruhe ließe und ihr durch ein vernünftiges Reglement alle Entscheidungen des äußeren Lebens abnähme.
Die Internate, die der Vater für seine Tochter aussuchte, schienen durchweg diese Bedingungen zu erfüllen, jedenfalls erwies Dorothea sich als problemlose Schülerin, Mitschülerin und auch als liebevolle Tochter für ihren Vater, den sie allerdings nicht sehr häufig sah. Aus den Ferien kam sie jedesmal dankbar und erleichtert in die Schule zurück, besonders nach dem jährlich verordneten Urlaub in Griechenland, wo ihr der erstrebte innere Freiraum nicht immer so ohne weiteres zugestanden wurde.
Dorothea war siebzehn Jahre alt, fast achtzehn, als sie ihre Schulferien wieder, wie jedes Jahr, bei den schwarzen Frauen im Haus am Meer verbrachte, weil der Vater es so von ihr verlangte. Gelegentlich kam er sie dort sogar besuchen, gerade war er eine ganze Woche mit ihr zusammen gewesen, eine angenehme Woche. Dorothea liebte ihren Vater sehr. Sie fand, daß er vernünftiger, toleranter, klüger und weniger autoritär sei als alle andern Väter, über die sie durch ihre Mitschülerinnen im Internat erfuhr. Sie ging mit ihm durchs Dorf, jeden Tag die gerade Straße auf und ab. Achtzig bis neunzig Häuser hatte das Dorf, und Dorothea und ihr Vater kannten alle Gesichter. Auch die der wenigen Touristen, die hierherkamen, es waren fast immer dieselben Familien mit Kindern, für die das abgelegene Dorf angenehmer und vor allem billiger war als die großen touristischen Zentren. Der Vater und Dorothea grüßten die Dörfler höflich und auch die Touristen. Gelegentlich wechselte der Vater ein paar Worte mit dem Popen, der sich bei dieser Gelegenheit stets zu einem merkwürdigen Altgriechisch verstieg, was weder der Vater noch der Pope selbst verstanden. Aber wozu auch. Auf den Inhalt eines solchen kleinen Wortwechsels kommt es gewiß nicht an, sagte der Vater. Er äußerte sich auch zu den Klagen des Bürgermeisters über die mangelnden Zuschüsse zur neuen Kanalisation und diskutierte über den Gartenzaun hinweg mit Athenasis politische Fragen.
Dorothea hielt sich immer ganz dicht an den Vater, und vor allem während der Gespräche mit dem Advokaten schmiegte sie sich eng an ihn und nahm seine Hand in die ihre. So beschützt, betrachtete sie neugierig den Mann, der sie damals auf seinen starken, unnachgiebigen Armen nach Hause getragen hatte, diesen großen stattlichen Jugendfreund ihrer Mutter, immer im gleichen dicken Pullover aus grober Wolle, die auf der nackten Haut kratzte. Sie lächelte ihm direkt in die Augen, während sie sich an den Vater schmiegte und sich dessen Arm um ihre Schultern zog. Der Vater gab ihr scheinbar gedankenlos nach, und so standen sie da, eine liebevolle Gemeinschaft gegenüber dem Mann, der immer alleine auftrat. Einmal sagte anschließend der Vater zu ihr: »Du scheinst momentan besonders liebebedürftig zu sein, mein Kind, dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, nur solltest du es nicht in Gegenwart anderer und nicht ausgerechnet an mir so ungehemmt demonstrieren.«
»Aber du bist doch mein Vater.«
»Eben. Und deine kostspielige Schulbildung sollte dich darüber aufgeklärt haben, daß Inzest in der griechischen Göttersage ein besonders beliebtes Thema ist.«
Dorothea küßte ihren Vater liebevoll und zog ihren gelenkigen kleinen Körper unter seinen Armen hindurch.
»Aber du bist ja kein Gott, Papa.«
Er jedoch schob sie von sich und sagte: »Ich weiß das, du weißt das, aber wissen es die Nachbarn? Außerdem berichtet die Legende auch von einigen peinlichen Fällen unter den Sterblichen.« Widerwillig nahm Dorothea Abstand und flüchtete sich in ihren Hochmut. »Du glaubst doch nicht etwa im Ernst, daß die Leute hier Bescheid wissen über ihre eigenen Legenden?«
»Das Wissen muß nicht immer durch den Kopf gehen, mein Kind. Und unser nicht ganz ungebildeter Nachbar Athenasis, vor dem du dich so besonders anschmiegsam aufzuführen beliebst, weiß es bestimmt, sogar im Kopf. Ich habe es an seinen Augen gesehen.« Dorothea wandte sich ab und lachte. »Der Anwalt ist ein alter Mann.«
»Wie man es nimmt. Jedenfalls könnte er dein Vater sein, wäre es sogar fast geworden, da deine Mutter doch mit ihm verlobt war.«
»Was? Der Anwalt mit Mama?!« Dorotheas Überraschungsschrei war geheuchelt, denn natürlich hatte das dörfliche Gerede ihr die alte Geschichte längst zugetragen. »Das kann doch nicht wahr sein, Mama wäre nie bereit gewesen, ein Leben in der griechischen Provinz zu führen.«
»Immerhin ist sie zum Sterben hierher zurückgekommen.«
Dorothea schluckte und ging wortlos aus dem Zimmer. Noch immer konnte sie sich nicht dazu überwinden, Bemerkungen über das Sterben ihrer Mutter als den normalen Bestandteil eines Gespräches hinzunehmen.
Dann war der Vater wieder fort und Dorothea allein. Die drei Frauen waren inzwischen alt und ließen sie in Ruhe. Sie verbrachte den Tag im Wasser und am Strand. Nachts fuhr sie manchmal mit den Fischern hinaus. Am Abend, bei Beginn der Dunkelheit, sah sie Tag für Tag den Advokaten nach Hause kommen, er parkte seinen Wagen am Straßenrand, stieg aus, ging um den Wagen herum, nahm vom Beifahrersitz einen oder zwei Aktenkoffer, warf die Autotür zu, schloß nicht ab, näherte sich langsamen Schrittes seinem Gartentor. Nie kam ihm seine Frau oder einer der Söhne entgegengelaufen. Dorothea stand auf ihrer Seite des Gartens und sagte: »Yazou Athenasis.«
Das erste Mal antwortete er scheinbar aus tiefen Gedanken heraus. »Yazou Maria.«
Dann schreckte er zusammen, hielt sich mit der freien Hand sekundenlang am Gartentor fest und sagte: »O Verzeihung, tut mir leid, du hast mich erschreckt. Guten Abend, mein Kind«, und ging mit schnellen, schweren Schritten in sein Haus.
»Ich bin nämlich kein Kind mehr«, sagte Dorothea leise hinter ihm her.
Sie sah jetzt ihrer Mutter sehr ähnlich, obgleich sie nicht ganz so hübsch war und noch niemand im Dorf auf die Idee gekommen war, sie Ormofula zu nennen, das Schönchen. Ormofulas Tochter, sagten sie höchstens, und dann spürte Dorothea, daß ein Schimmer von dem Glanz ihrer Mutter auf sie fiel. Dorothea hatte die gleichen großen blauen Augen wie die Mutter, deren dichte dunkle Haare, den ausdrucksvollen Mund, und vor allem hatte sie die Energie geerbt, jene ungewöhnliche, zielstrebige Willenskraft, die die Mutter nach der Heirat verloren oder vielleicht bewußt abgegeben hatte an die Tochter.
Leicht machte es ihr Athenasis nicht, und sie schaffte es vor allem durch Gewöhnung. Niemand kam ihm entgegengelaufen, aber Dorothea war da und wartete auf ihn: »Yazou Athenasis, wie geht es dir.«
Beim nächstenmal: »Ich hoffe, du hattest einen schönen Tag, Athenasis, oder war es unerträglich heiß in der Stadt?«
Und dann: »Strengt es dich nicht an, dies tägliche Hin- und Herfahren, ich habe gehört, daß der Verkehr immer dichter wird.«
Jeden Abend etwas mehr nachbarliches Geschwätz, bei dem Dorothea sich erwachsen und verständig zeigte.
Er hörte auf, sie »mein Kind« zu nennen, und redete sie mit Namen an. Sie fragte ihn nach seiner Arbeit, seinen Klienten, seinen Fällen, seiner politischen Meinung. Sie hatte gut zugehört, was der Vater mit Athenasis besprochen hatte.
Der Mann begann, sich auf die abendlichen Begegnungen zu freuen. Er bereitete sich darauf vor, überlegte sich im Auto, was er ihr wohl erzählen könnte, brachte ihr gelegentlich eine ausländische Zeitung mit, um Besprochenes zu beweisen oder zu unterstreichen, schenkte ihr wieder Konfekt, wie damals, solches mit Schokolade oder das, was seine Frau selbst zubereitet hatte, Geleewürfel, in Puderzucker gewälzt. Und einmal brachte er ihr sogar eine Flasche französischen Orangenlikör, den er jedoch gleich wieder an sich nahm, so als wäre es ein Versehen gewesen.
»Ich vergesse manchmal, wie jung du noch bist«, sagte er. »Ein Klient hat mir die Flasche geschenkt, ich werde sie lieber für mich behalten.«
»Wenigstens einen Schluck«, bat Dorothea, »ich möchte probieren.«
»Unsinn«, erwiderte er, »ich war gedankenlos. Gute Nacht, Dorothea.«
»Zum Schlafen ist es viel zu früh«, sagte sie, »ich gehe später noch zum Strand hinunter, nach dem Essen. Das tue ich jeden Abend, Yazou Athenasis.«
Wieder dauerte es ein paar Tage, bis er ihr an den Strand folgte. Er brachte die Likörflasche mit und gab ihr einen kleinen Schluck. Und dabei benahm er sich väterlich streng und betonte, daß dies wirklich nur zum Probieren sei. Und wie es denn bei ihr in der Schule mit dem Alkohol wäre, man höre ja so allerhand über Drogenmißbrauch in vornehmen Privatschulen.
»Nicht nur in Privatschulen«, antwortete Dorothea und hängte sich bei ihm ein, wie sie es in seiner Gegenwart bei ihrem Vater zu tun pflegte. Nebeneinander standen sie in der Dunkelheit und schauten aufs Meer, der große schwere Mann und das zarte junge Mädchen.
»Bestimmt bist du ein guter Vater«, sagte sie und lehnte sich wärmesuchend an ihn.
»Ich habe keine Töchter.«
»Dafür hast du drei Söhne.«
»Wenn du meine Tochter wärest, dann würde ich sehr streng auf dich achtgeben und dich sicher nicht in einer fremden Schule erziehen lassen.«
»Du hättest lieber beizeiten auf meine Mutter achtgeben sollen«, sagte Dorothea in einem plötzlichen Anfall von Zorn und warf ihm dann die Arme um den Hals. Er befreite sich mit einem Ruck aus ihrer Umarmung und stapfte wortlos davon, zurück in seinen Garten und in sein Haus. Doch schon am nächsten Tag war er wieder da, wollte nicht einmal einen einzigen Abend verpassen, und von da an kam er jeden Abend. Immer standen oder saßen sie nebeneinander am Strand und schauten aufs Meer. Meist sprachen sie dabei von der Mutter. Anfänglich hielten sie sich noch an die echten Erinnerungen, sorgsam getrennt nach seinen und ihren, austauschend, vergleichend, ergänzend.
Er erzählte von seiner Maria, der Schönen, der Ormofula, o ja, jeder hätte sie geliebt. Und er vor allem, natürlich, als Nachbar, ihr immer so nahe. Und sie hatte ja auch keinen Vater oder Bruder gehabt, der sie beschützen konnte, also war die Verantwortung auf ihn gefallen, und die hätte er freudig übernommen. So glückliche Zeiten, alles so schön geordnet und übersichtlich, die Zukunft klar und heiter. Und dann war alles vorbei. Plötzlich keine Zukunft mehr. Fortgelaufen war die Ormofula, zuerst nach Athen und dann ins Ausland, allein, wirklich, ein Mann konnte nicht der Grund gewesen sein. Die Ehe kam erst sehr viel später. Und jetzt würde er doch gerne endlich einmal wissen, warum, er hätte schließlich das Recht dazu, er mit all seiner Liebe und Verantwortung.
Er nahm Dorothea bei den Schultern und bedrängte sie: »Warum ... warum?«
Dorothea lächelte, sah ihm in die Augen. »Du tust mir weh, Athenasis.«
»Mein Gott, diese Augen«, sagte er und wandte sich ab. Doch sehr bald kehrte sein Blick zurück, bedrängte sie von neuem, sah in dem jungen Mädchen die Vergangenheit, und schließlich, mehr und mehr, mußte er die Gegenwart wahrnehmen. Und das war es doch wohl, was Dorothea angestrebt hatte.
»Mama hat oft im Bootsschuppen übernachtet«, sagte sie.
»Hat sie nicht. Wozu auch. Es waren ja genug Räume im Haus vorhanden. Jeder hatte sein eigenes Zimmer.«
»Nicht die ganze Nacht, meine ich, nur ein paar Stunden. Da liegt man gut auf dem breiten Lager mit den vielen Kissen, und man kann die kleinen Wellen gegen die Stützpfeiler schwappen hören. Mama ist den Gartenweg entlanggegangen, es war sehr dunkel, aber ihr weißes Hemd war doch zu sehen.«
»Das hast du geträumt.«
»Hab ich nicht. Du kannst dich ja selbst überzeugen.«
»Deine Mutter ist tot«, sagte er in brutaler Zurechtweisung, »sie geht nicht mehr den Gartenweg entlang.«
»Natürlich nicht.«
Doch am nächsten Abend ging sie wieder, im weißen Hemd. Es war zwei Tage vor ihrer Abreise.
Dorothea lag auf dem Bett, das eigentlich gar kein Bett war, nur eine Anhäufung von bunten Matratzen und Kissen mit einer Flickendecke darüber. Es roch nach Eukalyptus und Thymian. Dorothea hatte dafür gesorgt, daß der Geruch nicht verging. Die trockene Wärme eines langen Sommers war in dem kleinen Raum eingefangen, der Schuppen war wieder ein Schiff, das sie in die Welt hinaustragen sollte.
Als der Mann den Raum betritt, erschrickt Dorothea, und sie bildet sich ein, daß weniger seine Gegenwart sie ängstigt als der Lärm, den er macht, schließlich haben die alten Frauen einen leichten Schlaf. Er bewegt sich schlürfend, stolpert und fällt fast auf das Lager. Doch sogleich richtet er sich wieder auf, hockt sich am Fußende hin, so weit wie möglich von ihr entfernt. Dorothea bemerkt einen schwachen Geruch von Alkohol.
»Gib mir auch zu trinken«, sagt sie, und er reicht ihr die eckige Flasche mit dem Orangenlikör. Dorothea nimmt drei, vier Schluck und stellt die Flasche neben das Bett auf den Holzboden. Ihre Hand ist ruhig. Er bleibt am Fußende sitzen, den Kopf gesenkt. Seine Haltung wirkt endgültig, so als hätte er bereits das Ziel all seiner Möglichkeiten erreicht.
Dennoch wartet Dorothea zuversichtlich. Eine schwererträgliche Stille hängt im Raum, gut, daß wenigstens die kleinen Wellen schwappen, man lauscht und versucht, sie auf rhythmische Wiederholungen festzulegen. Was sonst kann man tun gegen die Ungeduld?
Sie greift noch einmal nach der Flasche. Er nimmt sie ihr mit entschiedener Gebärde aus der Hand und stellt sie hinter sich. Danach versinkt er wieder in Bewegungslosigkeit.
Nur nichts übereilen, die Nacht ist lang. Dorothea versucht sich abzulenken. Sie denkt an eine Klarinettensonate, die sie sehr liebt und viele Male gehört hat. Jetzt muß sie sich wundern, wie ungenau ihre Erinnerung ist. Nur zwanzig, dreißig Takte, dann weiß sie nicht mehr weiter, stößt sich an falsch gedachten Tönen. Also sagt sie sich einen Vers auf, den sie sich extra für diese Gelegenheit zurechtgelegt hat.
Aus all dem, was gesagt ich und getan,
Wird keiner wissen, wer ich wirklich war,
Ein Hindernis war da, um zu verwirren
Die Taten und die Weise meines Lebens.
Ein Cavafi-Vers, wie für sie selbst gemacht, sehr passend, findet Dorothea.
Wie lange will er sie noch warten lassen? Das Mädchen seufzt. Sie findet, daß der nächste Schritt von ihm ausgehen sollte.
»Athenasis ...?« fragt sie schließlich.
Er räuspert sich. »Ich bin ein alter Mann.«
Dorothea lächelt. Dies Argument hat sie im Griff.
»Jung oder alt«, flüstert sie, »nichts ist entschieden. Es hängt alles noch in der Luft, genau da, wo du es gelassen hast. Du mußt es nur endlich fassen und halten.«
Dorothea lauscht ihren eigenen Worten und meint, daß sie sehr lyrisch klingen, kaum ein Unterschied zu Cavafi. Darum fügt sie noch hinzu: »Ein Hindernis war da, um zu verwirren die Taten und die Weise unseres Lebens. Warum räumst du das Hindernis nicht endlich beiseite, Athenasis?«
Der Mann reagiert prosaisch. »Ich kann nicht«, sagt er.
Dorothea schüttelt ungläubig den Kopf. Sie schiebt sich etwas näher an ihn heran, in ihrem langen weißen Hemd, und kniet sich neben ihn.
»Warum bist du gekommen, Athenasis?«
»Ich weiß es nicht.«
Seine Schultern zittern. »Athenasis, hör doch ...«
Sie greift nach ihm, fährt ihm mit der Hand über das Gesicht und spürt seine Tränen.
»Maria...«, stöhnt er, und sein schwerer Körper schwankt wie unter Krämpfen hin und her. Dorothea hat plötzlich das Gefühl, daß mit ihm das ganze Bootshaus ins Wanken gerät.
»Verdammt«, sagt sie, »Athenasis, tu mir das nicht an.«
Aus Angst, sich von seiner Verzweiflung mitreißen zu lassen, flüchtet sie sich in Wut.
»Hör auf, alter Mann«, faucht sie, »hör auf zu weinen, sag ich dir. Wenn du schon bei meiner Mutter versagt hast, dann sei doch wenigstens bei mir ein richtiger Mann.«
Sie reißt sich das weiße Hemd über den Kopf und springt ihm wie eine Katze in den Schoß, drängt sich an ihn, reibt ihre Haut an seinem harten Pullover, beschwört die Erinnerung an jenen grausamen Augenblick vor vielen Jahren, als er sie mit unerbittlich zugreifenden Armen vom Felsen hochgenommen und nach Hause getragen hatte. Und wie damals schreit sie laut auf. Da greift ihr der Mann in die Haare und drückt ihren Kopf gewaltsam gegen seine Schulter, um ihr Geschrei zu ersticken.
Der Schrecken fährt ihr in die Glieder. Sie macht sich steif, will zurückweichen, kämpft gegen ihn, aber das nützt ihr nun nichts mehr, das bewirkt eher das Gegenteil. Sie weiß, daß er sie leichthändig zerbrechen könnte, wenn sie nicht tut, was er will.
Aber was will er denn, sie hat doch alles für ihn arrangiert, so fürsorglich und brav, er will ihr doch jetzt nicht etwa Schmerzen bereiten? So hat sie es sich nicht vorgestellt. Sie krallt ihre Hände in das Felsgestein, aber er umfaßt den winzigkleinen Leib, ergreift das hilflose, nackte Kätzlein, das nach seiner Mutter Ausschau hält, und reißt es hoch, fester und fester drückt er ihren Kopf gegen seine Schultern, kaum daß sie noch atmen kann. Da bleibt ihr nichts, als sich weich zu machen, sich hinzugeben an seinen Furor, sich einzufügen, in ihm aufzugehen, mit ihm zu zittern, mit ihm zu weinen, mit seiner Sehnsucht auf und nieder zu tanzen in einem Rhythmus, so gewalttätig und plump, daß der morsche alte Bootsschuppen in allen Fugen kracht. Das kleine Mädchen stöhnt in Angst und Schmerz, laß mich los, so hab ich es nicht gemeint, sie ahnt, daß ihr Traumschiff zu Bruch gehen wird, bevor es noch irgendwo anlanden kann. Mit letzter Kraft schiebt sie ihr Gesicht über seines, er oder ich, für beide reicht der Atem nicht aus. Sie sucht seinen Mund und stiehlt ihm die Luft. Er oder ich, sein Körper erlahmt, fast hat sie ihn besiegt, doch da gibt es plötzlich einen furchtbaren Ruck, ein Krachen und Splittern, und das Schiff zerbirst, platzt auseinander wie ein zerschlagenes Ei und kippt seinen Inhalt ins Meer. Nur keine Panik, denkt sie, das Meer ist mir vertraut, damit werde ich fertig, ich brauche kein Schiff, um auf den Wellen zu reiten.
Plötzlich aber merkt sie, daß sie das Schwimmen verlernt hat, daß sie der Strömung hilflos ausgeliefert ist. Das Wasser rollt über sie hinweg und unter ihr hindurch, es liebt sie und schüttelt sie wie in willkürlichem Spiel, läßt sie abstürzen und hebt sie von neuem. Die rasende Talfahrt verursacht ihr Schwindel, blind schlägt sie um sich, und nochmals kommt sie hoch, schnappt nach Luft, aber schon hat das Gewicht des Mannes sie wieder nach unten gedrückt.
»Maria...«, stöhnt er, »Maria.«
Sie will diesen Namen nicht mehr hören, aber es nützt ihr nichts, er hält sie zu fest gepackt, er umklammert ihre Hüften mit seinen Beinen, er reitet auf ihr wie auf einer Rettungsplanke.
»Mama...«, versucht sie zu schreien, »wo bist du denn jetzt, hilf mir, erkläre es ihm, er gehört doch zu dir.« Aber es kommt nichts Verständliches mehr aus ihr heraus, nur mehr ersticktes Gurgeln und Stöhnen. Er jedoch kann sich sein Wort noch bilden, das einzige, um das es ihm geht.
»Maria«, schreit er immer wieder, »Maria«. Es platzt aus ihm heraus wie ein Triumphgeschrei.
Das Wasser braust und tost, hat sie schon fast besiegt. Sie will nicht, sie will ihn nicht, soll er sich doch seine Erlösung von Maria holen, was hab denn ich damit zu tun.
Dann schlagen die Fluten endgültig über ihnen beiden zusammen. Eng umschlungen und doch meilenweit voneinander entfernt, verzweifelt und einsam rauschen sie ab in die Dunkelheit.