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Donnerstagvormittag 9. April
ОглавлениеAm Donnerstagmorgen hatte sich Georg gerade angezogen, als das Telefon klingelte.
„Pielhop.“
„Kriminalpolizei Bremen, Lapschies. Es geht um Ihre verstorbene Frau Elvira Langelott“, meldete sich der Kriminalhauptkommissar.
„Polizei! Was ist mit Elvira los?“, reagierte Georg verwirrt.
„Wir bekamen eine Meldung von der Rechtsmedizin. Der gehen wir nach“, ließ sich der versierte Kommissar Felix Lapschies nicht aus der Ruhe bringen.
Solche Telefonate gehörten zu seinem alltäglichen Dienst. Eines hatte er in den Jahren bei der Polizei gelernt: ruhig bleiben.
Felix Lapschies war knapp fünfzig Jahre alt, hatte volles Haar, aber an den Schläfen zeigten sich graue Strähnen. Sein Kennzeichen waren der alte Trenchcoat und die bunten Schals, die seine vier Töchter ihm jährlich zu Weihnachten schenkten. Er zog seine Kinder ohne Mutter groß, denn seine Frau Lisbeth hatte vor acht Jahren Selbstmord begangen.
„Rechtsmedizin, Meldung. Was soll das bedeuten? Was ist los? Wann wird sie endlich freigegeben?“
Georg fühlte jäh seinen Blutdruck steigen.
„Herr Pielhop. Ich komme bei Ihnen vorbei. Dann besprechen wir alles Nähere. Ist Ihnen das recht?“
„Ja, kommen Sie. Ich bleibe heute zu Hause“, stimmte Georg mürrisch zu.
Widerstand zu leisten und Informationen aus dem Kommissar herauslocken zu wollen, erschien ihm zwecklos.
„Gut, in einer halben Stunde bin ich bei Ihnen. Die Adresse haben wir.“
„Ich erwarte Sie“, stimmte Georg zu, obwohl ihm mehr als mulmig zumute war.
„Auf Wiederhören, Herr Pielhop, bis gleich“, verabschiedete sich der Kommissar.
Georg verabschiedete sich nicht, er drückte einfach das unerfreuliche Gespräch weg. Was sollte das bedeuten? Polizei, Elvira, Rechtsmedizin. Er konnte sich keinen Reim auf den Anruf machen. Es dämmerte ihm langsam, dass seine Lage aussichtslos war. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als auf den Kommissar zu warten. Um die Wartezeit sinnvoll zu nutzen, holte er sich ein paar Kekse aus der aufgeräumten Küche. Er sollte aufpassen. So schnell geriet man selber unter Verdacht oder ins Visier der Ermittlungen.
Die bittere Erfahrung hatte er bei einer Zeugenaussage gemacht. Das Verfahren betraf ihn gar nicht direkt. Es ging um einen Kunden seiner Firma, der strafbare Geschäfte betrieb. Georg hatte sich damals sofort einen erfahrenen Rechtsanwalt genommen. Der hatte es tatsächlich geschafft, ihn und seine Firma aus diesem verzwickten Fall herauszuhalten. Bei der Polizei hatte er nicht aussagen müssen. Das Risiko, dass Stellungnahmen in die Medien gelangten, war zu groß, denn bei dem Beschuldigten hatte es sich um eine schillernde Persönlichkeit gehandelt. Das hätte seinen guten Namen und das Renommee seiner Firma ruiniert, obwohl Georg völlig unschuldig war. Viel hatte er zur Aufklärung ohnehin nicht beitragen können. Aber allein schon die Anrufe der ermittelnden Dienststelle hatten ihn deutlich spüren lassen, dass sie ihn ebenfalls im Visier hatten.
Er nahm sich vor, achtsam zu sein. Georg wollte dem Kriminalhauptkommissar das Wort überlassen. Während des Gespräches verplapperte er sich womöglich noch und belastete sich damit ungewollt selber. Georg mahnte sich zur Gelassenheit. Er durfte nicht so aufgeregt und übernervös reden, wie eben am Telefon.
Es klingelte an der Tür. Das musste der Kommissar sein. Nichts Gutes ahnend stand Georg auf, ging zur Tür und öffnete sie. Vor ihm stand ein großer, kräftiger Mann mit leicht ergrauten Haaren. Aber der Haarschopf zeigte keine Tendenzen zum Haarausfall, stellte Georg fest. Seine Haare dagegen entwickelten langsam lichte Stellen.
„Herr Pielhop, nehme ich an? Guten Tag“, sagte Kriminalhauptkommissar Felix Lapschies.
Neben ihm stand seine aparte Kollegin Kriminalkommissarin Jasmina Gante.
„Ja, Sie sind der Kommissar?“, fragte Georg.
„Ja, ich habe mich angekündigt. Das ist meine Kollegin Jasmina Gante“, stellte Lapschies seine Kollegin vor.
„Bitte treten Sie ein. Wir gehen am besten ins Wohnzimmer.“
Georg gab zögerlich die Tür frei und machte eine einladende Handbewegung.
„Hier ist gleich die Garderobe. Wenn Sie ablegen möchten?“
Die beiden Kommissare traten ein, zogen ihre Mäntel aus und hängten sie auf die Haken. Jasmina Gante legte erst die mitgebrachten Unterlagen auf das kleine Schränkchen, um ihren Mantel besser abstreifen zu können. Dann folgte sie ihrem Chef ins Wohnzimmer.
„Bitte nehmen Sie Platz“, sagte Georg und zeigte auf die teure Sitzgarnitur.
Für jeden Einrichtungsgegenstand im Hause Pielhop hatte Georg ein erkleckliches Sümmchen bezahlt. Denn Elvira hatte die Angewohnheit gehabt, automatisch das Teuerste auszuwählen. Sie hatte das für ihr gutes Recht gehalten, denn ihr Ehemann verdiente gut.
„Danke.“
„Herr Pielhop, Ihre Frau Elvira Langelott ist am Montag verstorben. Mein Beileid“, eröffnete Lapschies das Gespräch.
„Ja, sie war lange krank. Kein Arzt wusste, was dahintersteckt“, erwiderte Georg und erinnerte sich mit Schrecken an seinen Vorsatz, sich keinesfalls als Plaudertasche zu geben.
„Herr Pielhop, ich habe hier den Bericht der Rechtsmedizin vorliegen.“
Lapschies zögerte einen kurzen Moment und fuhr dann fort.
„Ihre Frau ist vergiftet worden.“
„Was? Wie kann das geschehen?“, sagte Georg verblüfft. „Vergiftet. Was soll das? Wieso vergiftet? Wer sollte so etwas tun? Ich kann mir das nicht erklären.“
Völlig überrascht rutschte Georg in seinem Sessel ein Stück nach vorne. Das vermittelte den Eindruck, als wollte er kein Wort des Kommissars verpassen oder gar überhören.
„Die Rechtsmedizin entnahm Gewebeproben, unter anderem auch von der Leber und den Nieren. Dort fanden sie unnormal erhöhte Blei- und Quecksilberwerte. So hoch, dass die Organe schließlich versagten und sie daran gestorben ist“, erklärte Lapschies.
„Blei, Quecksilber“, echote Georg und seine Stimme versagte.
Seine Selbstbeherrschung war vollkommen futsch.
Unbeirrt redete Lapschies weiter: „Die gehören zu den Umweltschadstoffen, die ab bestimmten Werten sehr giftig sind. Bei Ihrer Frau waren die Werte sehr stark erhöht“, erklärte der Kommissar.
„Es tut mir leid, dass ich Ihnen das mitteilen muss. Es ist sehr bedauerlich.“
Georg saß angespannt im Sessel und presste die Knie zusammen. Er schwitzte, seine Hände transpirierten und feuchteten seine Hose an. Das unangenehme Gefühl nahm er aber überhaupt nicht wahr. Sein Gesicht zeigte mur grenzenlose Ratlosigkeit.
„Wie kann das geschehen?“
„Wir müssen dem nachgehen. Darf ich Ihnen einige Fragen stellen?“
„Natürlich, fragen Sie. Ich will alles wissen. Lebt etwa der Mörder in meiner Nähe?“
Erschrocken blickte sich Georg im Wohnzimmer um, als wenn der Mörder in einer Ecke lauern würde. Diese Konsequenz wurde Georg schlagartig klar. Er fühlte sich plötzlich zutiefst verunsichert.
„Das versuchen wir herauszufinden, Herr Pielhop“, sagte Lapschies. „Mit welchen Menschen hatte Ihre Frau Kontakte?“
Nüchtern stellte Lapschies seine erste Frage. Jasmina Gante hatte zwischenzeitlich ihren Block und einen Stift hervorgekramt und wartete. Die Namen und Telefonnummern, die sie bald vom frischen Witwer erhalten würde, brachten ihr und ihren Kollegen mühselige Recherchearbeit für die nächsten Tage ein.
„Zuallererst ich selbstverständlich. Brauchen Sie meinen Ausweis? Dann hole ich meine Geldbörse.“
„Später, im Moment nicht“, beschwichtigte Lapschies Georgs Eifer.
„Dann unsere Putzfrau Amelie Wurps, ihre Mutter Aloisia Märis, ihre Freundinnen, mit denen sie manchmal Golf spielte, ihre Gruppe von alten Schulfreundinnen, Frau Hempel, meine Sekretärin. Elvira arbeitete halbtags bei mir im Büro. Sie erledigte die Buchführung und dort traf sie Frau Hempel. Wer kam noch mit ihr zusammen?“, rätselte Georg.
„Kochte sie hier selbst?“, fragte Lapschies.
„Ja, sie bereitete sich, wenn sie mittags von der Arbeit kam, eine kleine Mahlzeit zu. Sie achtete ständig auf ihr Gewicht und ihre Figur. Außer dienstags, dann kochte Frau Wurps eine Kleinigkeit für sie“, erklärte Georg.
„Fallen Ihnen noch mehr Kontaktpersonen ein?“, wollte Lapschies wissen.
„Lassen Sie mich überlegen. Sie ging zweimal in der Woche zur Gymnastik, einmal im Monat zum Friseur und alle zwei Monate zur Kosmetikerin. Mehr fällt mir im Moment nicht ein. Jedenfalls keine Personen, von denen ich weiß.“
„Alte Freunde?“ Der Kommissar half Georg auf die Sprünge.
„Ja, ich erinnere mich. Da war einer. Das lief damals etwas unschön ab. Elvira trennte sich spontan von ihm und war dann mit mir zusammen. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Er stalkte sie ein paar Wochen lang. Dann ließ das nach und sie hatte ihre Ruhe.“
„Können Sie mir seinen Namen sagen?“, hakte Lapschies nach.
„Nein, an den Namen kann ich mich nicht erinnern. Der ist vielleicht in ihren Unterlagen zu finden. Sie führte Tagebuch, falls es zu einer Anzeige kommen sollte.“
„Können Sie mir das Tagebuch geben, Herr Pielhop?“, fragte Lapschies vorsichtig.
„Ich hole es aus ihrem Zimmer, einen Moment.“
Währenddessen schauten sich Lapschies und Jasmina im geräumigen Wohnzimmer um. Wo könnten die Umweltschadstoffe sein?
Georg kam wieder und hielt ein Notizbuch in Händen.
„Hier ist es, bitte“, und überreichte Lapschies das Buch.
„Danke. Sie bekommen es selbstverständlich zurück.“
„Okay.“
„Herr Pielhop, die Spurensicherung muss das ganze Haus nach Blei- und Quecksilberquellen durchsuchen. Geht das morgen? Ich gehe davon aus, dass Sie dann anwesend sind?“
„Und am Montag untersuchen wir Ihr Büro", ergänzte der Kommissar.
„Ja, kein Problem. Ich bin zur Stelle. Dann handelt es sich wirklich um Mord?“, wurde ihm schlagartig und mit Schrecken bewusst.
Elvira ermordet? Wer sollte einen Grund dafür gehabt haben, sie zu ermorden. Ausgerechnet die harmlose Elvira. Wer sollte das sein? Vielleicht sah der Mörder es auch auf ihn ab? Seine Hände zitterten. Die Spurensicherung würde nicht nur der Polizei Klarheit bringen, sondern auch ihm. Dann wusste er wenigstens sicher, ob er auch im Visier des hinterhältigen Mörders stand.
„Haben Sie einen Verdacht?“
„Nein, mir fällt kein Mensch ein. Sie war nicht streitsüchtig, ganz im Gegenteil.“
„Herr Pielhop, eine Frage noch, dann sind wir vorerst fertig. Haben Sie eine Lebensversicherung abgeschlossen?“
„Ja, ich schloss einen Vertrag für uns beide ab. Falls einer von uns beiden zuerst sterben sollte, bekommt der andere die Summe ausgezahlt“, gab Georg dem Kommissar bereitwillig Auskunft.
Ein Verschweigen dieses wichtigen Details brachte ihm ohnehin keine Vorteile, sondern eher Nachteile. Also besser bei der Wahrheit bleiben, gestand sich Georg notgedrungen ein. Gleichzeitig erkannte er messerscharf, dass eine hohe Lebensversicherung als ein lupenreines Mordmotiv galt. Damit rutschte er in den Augen der Kommissare in der Hierarchie der möglichen Täter an die erste Stelle der Favoritenliste. Georg fühlte ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. Doch er musste Rede und Antwort stehen. Es führte kein Weg daran vorbei. Außerdem verfügte die Polizei über Mittel und Wege, solche Informationen ans Tageslicht zu zerren. Es war naiv zu glauben, eine Lebensversicherung verschweigen zu können.
„Um welche Summe geht es da?“, fragte Lapschies nach.
„Die Versicherungssumme beträgt 500.000 Euro. Würden wir beide gleichzeitig sterben, bei einem Unfall zum Beispiel, bekämen unsere Erben das Geld.“
„Wer kommt da infrage?“
„Ich machte noch kein Testament, doch da sind mein Bruder und dessen Kinder und Elviras Mutter. Meine Eltern sind gestorben.“
Bei dieser Frage bemerkte Georg plötzlich, dass er dringend ein Testament verfassen sollte. Und was ist überhaupt mit meiner Tochter? Bisher hatte er kaum Vorsorge für seinen Tod getroffen und für unnötig gehalten. Er war erst fünfundvierzig Jahre alt, wer denkt schon an so was. Er stand in der Blüte seines Lebens und Testament sowie Vorsorge für das eigene Ende waren bislang nicht in seinen Fokus geraten. Das war doch eher etwas für alte Leute, hatte er gedacht. Testament und Vorsorgevollmacht hatte er in die hinterste Schublade seines Gehirns geschoben. Doch jetzt trat ihm sein Versäumnis vor Augen: Schicksalsschläge kamen schneller als erwartet. Er musste sich unbedingt in allernächster Zeit darüber Gedanken machen. Die hinterhältige Vergiftung hätte auch ihn treffen können. Konnte er sicher sein, dass der Anschlag nicht ihm galt oder ihn miteinbezog?
Der Kommissar unterbrach seine Gedankengänge.
„Herr Pielhop, die Leiche Ihrer Frau wurde freigegeben. Sie kann aus der Rechtsmedizin abgeholt werden“, teilte Lapschies Georg mit.
„Endlich, dann gebe ich dem Bestatter Bescheid“, musste Georg seine Erleichterung darüber eingestehen.
„Für heute sind wir fertig. Morgen kommen wir um neun Uhr, Herr Pielhop“, kündigte Kommissar Lapschies die Spurensicherung an.
Seine Kollegin und er standen auf und gingen zur Garderobe. Sie nahmen sich ihre Wintermäntel von den Haken und zogen sie über. Die Temperaturen waren im Januar recht frisch.
An der Haustür wandte sich Lapschies zu Georg um und verabschiedete sich:
„Auf Wiedersehen, Herr Pielhop, morgen dann.“
„Auf Wiedersehen“, sagte Jasmina Gante.
Sie beteiligte sich bei dem ganzen Gespräch mit keinem einzigen Wort, schrieb aber fleißig mit.
„Auf Wiedersehen, Herr Lapschies, Frau Gante“, sagte Georg und verneigte sich kurz und schloss die Tür.
Betreten schlich er ins Wohnzimmer. Das erschien ihm plötzlich gefährlich. Überall lauerten giftiges Blei und totbringendes Quecksilber. Fühlte er etwa Kopfschmerzen? Roch die Luft merkwürdig? Wenn er heute Nacht keinen Schlaf finden würde, übernachtete er in einem Hotel. Das nahm er sich vor. Augenscheinlich hatte es jemand gezielt auf Elvira abgesehen. Aber warum? Er wälzte die Gedanken hin und her, konnte sich keinen passenden Reim auf die Eröffnungen des Kommissars machen. Blei. Quecksilber. Wie kam man da ran?
Mit diesen sinnlosen Überlegungen kam er nicht weiter, sie brachten keine Ergebnisse. Georg verfolgte einen anderen Gedankenstrang, der sich ihm im Nachhinein aufgedrängt hatte. Verhielt er sich verdächtig? Die Sache mit der hohen Lebensversicherung war Fakt. Er hatte die Versicherung auf Gegenseitigkeit vor fünf Jahren abgeschlossen. Das musste jedem verdächtig vorkommen. Das belastete eindeutig ihn. Er sah schließlich jeden Sonntag Tatort, denn Elvira lag Sonntag für Sonntag auf dem Sofa und war verrückt auf Tatort. Georg hatte nie eine Chance gehabt, das sonntägliche Abendprogramm zu beeinflussen. Dadurch wusste er Bescheid! Und er hatte gelernt, besser gleich die Fakten erwähnen, als Heimlichtuerei zu versuchen. In Zukunft würde er sich still und unauffällig verhalten und seinen Geschäften nachgehen. Er musste Frau Hempel mitteilen, dass er morgen zu Hause bleiben musste. Und der Bestatter wartete ebenfalls auf seinen Anruf.