Читать книгу Fürstenkinder Staffel 1 – Adelsroman - Helga Torsten - Страница 6

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Im sanften Schein der Abendsonne liegt Schloß Degencamp. Majestätisch erheben sich seine langgestreckten, trutzigen Mauern zu imposanter Größe.

Die Strahlen der untergehenden Sonne brechen sich in den spiegelnden Scheiben der hohen gotischen Spitzbogenfenster. Von dem an den Campanile von Florenz erinnernden Uhrturm schlägt die Schloß­uhr sieben.

Es ist Abendbrotzeit. Die lange Tafel im Speisesaal des Schlosses ist gedeckt. Kostbares Porzellan schimmert matt auf schneeweißem Damast, auf dem die goldenen Bestecke blitzen. Anmutig gebundene Blumenarrangements sind über die ganze Tafel verteilt.

Aber es ist nur für eine einzige Person gedeckt.

Fürst Hasso von Degencamp bewohnt das Schloß seiner Väter allein. Er ist ein gütiger Herr, ein sehr leutseliger Herr. Das Schloßgesinde liebt und verehrt ihn. Aber er führt ein sehr zurückgezogenes Leben, der junge Fürst von Degencamp. Seit dem Tode seiner Mutter, der alten Fürstin, hat es keine festlichen Bälle mehr auf Schloß Degencamp gegeben, auf denen sich früher, zu Lebzeiten der alten Fürstin, der gesamte Hochadel der Umgebung zu versammeln pflegte. Nur einmal im Jahr lädt der Fürst zur Hubertusjagd. Er ist passionierter Jäger, wie er auch ein leidenschaftlicher Reiter ist.

Der Fürst führt kein müßiges Leben. Der Verwalter weiß ein Lied davon zu singen. Der Fürst sieht ihm sehr genau auf die Finger und schaut, wie die Ernte steht.

Die Lakaien, die hinter dem Kopfende der großen Tafel im Speisesaal stehen, werden unruhig. Sie blicken zu der kostbaren astronomischen Uhr im Glasgehäuse auf dem Kaminsims hinüber. Es ist schon Viertel nach sieben. Der Fürst pflegt sonst seine Mahlzeiten auf die Minute genau einzunehmen.

Irgend etwas muß geschehen sein…

Fürst Hasso von Degencamp saß in diesem Augenblick in dem kleinen Boudoir seiner verstorbenen Mutter und starrte auf ein kleines Päckchen Briefe, das vor ihm auf der Platte des wertvollen Empireschreibtischs lag. Die männlich­schönen Züge des Fürsten waren von starker Erregung geprägt, die schmalen, energischen Lippen zu einem Strich aufeinandergepreßt.

Er zog noch einmal das Schreiben heraus, das zuoberst in dem Päckchen gelegen hatte, und las es zum zweitenmal. Die feinen Schrift­züge riefen schmerzlich-sü­ße Erinnerungen in ihm wach. Wie oft hatte er die zarte Frauenhand, die sie geschrieben, an seine Lippen gezogen und zärtlich geküßt.

»… und so halte ich es für meine Pflicht«, las der Fürst, »Ihrer Durchlaucht mitzuteilen, daß ich von einem gesunden Knaben entbunden worden bin, der seinem Vater sehr ähnlich ist. Könnte nicht vielleicht diese Tatsache mit dazu beitragen, das Herz Ihrer Durchlaucht zu rühren und dem Fürsten zu gestatten, seinen Sohn zu sehen?«

Die Hand des Fürsten ballte sich zur Faust.

Nein! Auch dieser demutsvolle Brief hatte das harte Herz seiner Mutter nicht rühren können. Sie hatte ihm nicht einmal gesagt, daß er einen Sohn hatte, und den Aufenthaltsort ihrer ehemaligen Gesellschafterin streng vor ihm geheimgehalten. Sie hatte ihm nur versprochen, daß sie für das Kind sorgen würde, das die junge Frau erwartete, als die Fürstin sie vom Schloß wies.

Fürst Hasso sprang auf und schritt erregt im Zimmer hin und her.

Wie hatte er sich damals bemüht, die Adresse der Geliebten ausfindig zu machen. Er hatte sogar einen Detektiv beauftragt. Aber es war alles vergeblich gewesen. Sie war aus seinem Leben verschwunden wie ein schöner Traum, an den man sich noch lange erinnert – weil seine Mutter es so gewollt hatte.

Er stürzte wieder an den Schreibtisch zurück und nahm den Umschlag des Briefes hoch: da stand der Absender! Endlich hatte er die so lange gesuchte Adresse!

Nun konnte ihn nichts mehr daran hindern, die Geliebte wiederzusehen. Sechs Jahre waren inzwischen vergangen. Vielleicht war sie längst an einen anderen Ort gezogen. Aber es konnte jetzt nicht mehr schwierig sein, das herauszufinden. Er würde noch heute abend fahren und sie vielleicht morgen schon in den Armen halten und seinen Sohn sehen, seinen Sohn! Er hatte einen Sohn!

Bevor er das Zimmer verließ, legte er die Briefe wieder zurück in das kleine Geheimfach, das er durch einen bloßen Zufall entdeckt hatte.

Die Lakaien im Speisezimmer warteten vergeblich. Fürst Hasso von Degencamp verließ wenig später in seinem schnellen Sportwagen das Schloß.

*

Die Gräfin Kingsbird legte das Modejournal, in dem sie geblättert hatte, aus der Hand und rekelte sich träge auf der brokatbespannten Couch. Sie warf einen Blick auf die kleine Barockuhr, die auf dem Kaminsims stand und gähnte.

Es war fünf Uhr, Zeit zum Tee. Die Gräfin streckte die schmale, ringgeschmückte Hand aus und griff nach der silbernen Glocke, die auf dem kleinen Nußbaumtischchen stand, einer wertvollen Intarsienarbeit im Barockstil.

Auf ihr Läuten erschien ein in eine graue Samtlivree gekleideter Diener und verbeugte sich stumm.

»Ah, Jean. Ist meine Tochter schon vom Reiten zurück?«

»Jawohl, Frau Gräfin. Die Komteß ist eben auf ihr Zimmer gegangen, um sich umzukleiden.«

»Na schön. Dann servieren Sie jetzt den Tee und bitten meine Tochter zu mir herunter. Sagen Sie ihr, sie möchte sich beeilen. Ich habe mit ihr zu reden.«

»Sehr wohl, Frau Gräfin.«

Der Diener verbeugte sich devot und verließ das ganz in Altrosa und Silber gehaltene Boudoir ebenso lautlos, wie er gekommen war.

Wenig später flog die weiß­lackierte Flügeltür mit einem Knall auf, ein junges Mädchen stürzte herein und warf sich in den der Couch zunächst stehenden Sessel.

»Guten Tag, Mama. Ich habe einen schrecklichen Teedurst. Es ist so heiß heute, und das Reiten hat mich fast mehr angestrengt, als es mir Spaß gemacht hat.«

Die Gräfin zog die Brauen hoch und betrachtete ihre Tochter mißbilligend.

»Wie oft habe ich dir gesagt, daß man es sich nicht anmerken läßt, wenn einem heiß ist. Hättest du nicht erst ein Bad nehmen können, bevor du zu mir herunterkommst?«

»Hätte ich – natürlich. Aber Jean sagte, ich solle mich beeilen, nun, und da habe ich mich eben umgezogen, so schnell es ging. Ich weiß ja, daß du nicht gern wartest.«

Die Komteß senkte schuldbewußt den Kopf mit dem langen blonden Haar und zupfte nervös an ihrem winzigen Batisttaschentuch herum.

»Hör endlich auf, mit diesem Tuch zu spielen«, herrschte die Mutter sie an. »Wie kann man nur mit siebzehn Jahren schon so nervös sein, wie du es bist. Es wird höchste Zeit, daß du aus der Stadt herauskommst. Auf Schloß Degencamp wirst du dich sicher sehr wohl fühlen und gar nicht wieder fortwollen – und das sollst du ja auch nicht, wenn alles gutgeht«, setzte die Gräfin leise hinzu und lächelte vor sich hin.

»Wo soll ich hin?« fragte die Komteß mit weit aufgerissenen Augen. »Nach Schloß Degencamp? Ich? Fürstin Degencamp? Du scherzt, Mama!« stammelte Diana erschrocken. »Ich habe keine Lust, jetzt schon zu heiraten, und keinerlei Ambitionen, aufs Land zu gehen und dort zu verkümmern.«

»Aha! Du willst also nicht«, stellte die Gräfin mit unnatürlicher Ruhe fest und nahm ein Stück Konfekt. »Und welcher Art sind deine Pläne, wenn ich fragen darf?«

»Pläne?« Diana machte runde Augen. »Ich habe keine Pläne. Ich will aber auf alle Fälle meine Jugend ein bißchen genießen und…«

Die Mutter fiel ihr scharf ins Wort:

»Bevor du weitersprichst, wirst du mir vielleicht verraten, wer dieses Genießen deiner Jugend – wie du dich ausdrückst – finanzieren soll?«

»Nun, Papa hat doch Geld genug hinterlassen.«

»Er hatte es, mein liebes Kind. Er hatte es«, berichtigte die Gräfin sie. »Es fällt mir nicht leicht, es dir zu sagen, aber dein Vater hat Unsummen im Kasino verspielt, und von dem ehemals märchenhaften Vermögen der Kingsbirds ist nur noch ein winziger Rest übrig, der auch bald verbraucht sein wird. Ist es nicht die Pflicht der Tochter, der Mutter in Zeiten der Not beizustehen und sich ihr gegenüber dankbar zu erweisen?«

Diana senkte den Kopf mit dem üppigen blonden Haar. »Das ist ja schrecklich, Mama«, murmelte sie bestürzt. »Das habe ich natürlich nicht geahnt. Ich dachte…« Sie schluckte. »Aber deshalb kann ich doch nicht jetzt schon heiraten, mit knapp siebzehn. Ich kenne Hasso von Degencamp ja auch gar nicht. Vielleicht verabscheuen wir einander aus tiefster Seele. So etwas gibt es doch, Mama? Und was dann?«

In ihren graublauen Augen schimmerte Hoffnung.

»Wir müssen es abwarten, mein Kind«, sagte die Gräfin sanft.

»Wann soll es losgehen? Ich meine, wann fahren wir nach Schloß Degencamp?«

»In einer Woche, mein Liebling«, sagte die Gräfin mit ihrer sanftesten Stimme. »Bis dahin müssen wir aus dir eine höchst attraktive junge Dame gemacht haben. Du mußt mir allerdings schon ein wenig dabei helfen. Willst du?«

»Ja, Mama«, nickte Diana folgsam. Aber ihr war nicht ganz wohl dabei zumute.

*

»Großer Gott, Max, hast du das eben gesehen? In dem Auto da eben saßen doch mindestens sechs junge Leute! Ist das eigentlich gestattet? So viele Menschen in einem so kleinen Wagen?« fragte die alte Dame in dem tomatenroten Mercedes, der eben an dem alten, klapp­rigen Ford vorbeifuhr, aus dem Gesang und fröhliches Gelächter zu hören war.

»Ich weiß es nicht, ob es diesbezügliche Vorschriften gibt, Agathe«, antwortete ihr Mann gleichgültig.

Die alte Dame hatte sich geirrt In dem tannengrünen Ford ältesten Baujahrs saßen nicht sechs, sondern zehn Studenten und Studentinnen, die unter großem Gelächter Wetten abschlossen, ob der altersschwache Wagen die letzten zwanzig Kilometer noch schaffen würde, oder ob sie ihn schließlich schieben müßten.

»Und ich sage euch, der Ottokar schafft es! Der schafft noch ganz andere Sachen!« prahlte Jürgen Bentloh, der Besitzer des Wagens. »Was gilt die Wette? Ich zahle zehn zu eins.«

Aber bevor sich jemand zu einer Gegenwette entschlossen hatte, tat Ottokar unter viel Geknatter seinen letzten Schnaufer und stand. Und es hatte nicht den Anschein, als würde er sich jemals wieder von der Stelle rühren.

»Hach, da haben wir die Bescherung«, brüllten die Kommilitonen des stolzen Autobesitzers. »So viel Lob konnte er nicht verkraften! Und was machen wir jetzt?«

Sie kletterten einer nach dem anderen heraus und besahen sich den Schaden, das heißt, soviel davon zu sehen war, denn unter der Motorhaube qualmte und dampfte es beängstigend.

»Wir werden wohl die zwanzig Kilometer zum Schloß zu Fuß marschieren müssen«, lachte die rot­haarige Claudia und wandte sich zu der neben ihr stehenden Kommilitonin, »oder fahren wir beide per Anhalter, Sybill?«

Sybill von Gereneck riß ihre schwarzen Augen auf und sagte entsetzt:

»Um Himmels willen, Claudia! Wir können doch nicht per Anhalter fahren! Wenn Mama das erführe, träfe sie glatt der Schlag. Nein, nein! Das geht auf keinen Fall!«

Sie ging zum Straßenrand hinüber und setzte sich in das hohe Gras.

»Wundervoll«, rief sie schwärmerisch aus. »Wie lange habe ich auf keiner Wiese mehr gesessen. Hier bleibe ich jetzt erst einmal sitzen, bis ihr beschlossen habt, wie es weitergehen soll.«

Die andern lachten und meinten, es würde ihr mit der Zeit schon zu langweilig werden, dann beratschlagten sie ernsthaft, was zu tun sei.

Das dunkelhaarige, zarte junge Mädchen mit den großen Märchenaugen und den feinen Gesichtszügen schlang die Anne um die hochgezogenen Knie und ließ den Blick träumerisch über die umliegenden Felder und Wiesen gleiten.

Sie sog den Geruch der Erde tief in die Lungen und sah entzückt einem Lerchenpärchen zu, das mit hellem Jubelschrei hoch hinauf in den blauleuchtenden Himmel stieg.

Sybill von Gereneck lächelte glücklich. Wie herrlich war es doch, wieder einmal Landluft zu atmen, sich in der freien Natur bewegen zu können, den Blick weit über die Felder schweifen zu lassen, statt überall auf graue Mauern und Häuserfronten zu stoßen.

Es war nicht leicht gewesen, die Mutter zu überreden, sie mitfahren zu lassen mit den Kommilitonen, die sich über den Studentendienst zu freiwilligen Erntearbeiten auf Schloß Degencamp gemeldet hatten. Die Baronin von Gereneck war sehr standesbewußt. Daß eine Baronesse Gereneck als Erntearbeiterin auf dem Schloß des Fürsten von Degencamp arbeiten sollte, flößte ihr Entsetzen ein.

»Dein seliger Vater würde sich im Grabe herumdrehen, wenn er das wüßte«, hatte sie zu Sybill gesagt und die Hände gerungen.

Sybill war allerdings nicht so überzeugt davon, und das sagte sie ihrer Mutter auch, denn der Freiherr von Gereneck hatte Zeit seines Lebens keinerlei Standesdünkel gekannt. Er war mit seinen Leuten oft aufs Feld hinausgegangen und hatte selbst mit Hand angelegt, wo es nottat. Das war der Grund gewesen, daß er beim Personal so beliebt war wie auch Sybill, seine einzige Tochter, denn sie hatte es nicht anders gehalten.

Als der Freiherr kurz vor seinem Tode das Gut mit seiner Familie verließ und sein Bruder es übernahm, war große Trauer beim Gesinde gewesen, weil es einen so guten Herrn verloren hatte.

Sybill seufzte leise. Es war ihr schwergeworden, sich in der Stadt einzuleben, und wäre das Studium nicht, das ihr viel Spaß machte, würde sie sicher so manche bittere Träne vergießen und es vor Sehnsucht manchmal kaum aushalten.

Der Onkel hatte sie zu den Semesterferien eingeladen, aber Sybill hatte abgelehnt. Sie wußte, daß der Onkel das Gut total heruntergewirtschaftet hatte, und es wäre ihr schwergefallen, den Anblick der leeren Ställe und der überall herrschenden Verwahrlosung zu ertragen.

Wieder seufzte sie schwer. Tränen schimmerten in ihren dunkelblauen Augen, über die sie jetzt die langen, seidigen Wimpern senkte, damit die andern ihren Kummer nicht bemerkten.

»Sieben, acht, neun, zehn. Lieber Himmel, wo haben die bloß alle in dem kleinen Ding Platz gehabt«, staunte der Fahrer des riesigen Treckers, der dicht hinter dem Ford hielt, und sah lächelnd auf das lustige Völkchen hinunter, das um den Wagen herumwimmelte.

»Wo wollen denn die Herrschaften hin?« erkundigte er sich gutmütig.

»Nach Schloß Degencamp«, gab einer der jungen Leute Auskunft. »Wissen Sie zufällig, ob es noch sehr weit ist bis dahin?«

»Ja, das weiß ich zufällig«, lachte der Mann. »Ich will nämlich auch hin. Da gehören Sie wohl zu den Studenten, die wir zur Aushilfe für die Erntearbeiten bekommen sollen, ja? Na, da wird es wohl am besten sein, wenn ich Sie gleich mitnehme.«

Er kletterte herunter und kramte ein dickes Tau heraus, das er an dem streikenden Ottokar befestigte.

»So, und nun schieben Sie ihn mal schön an den Straßenrand heran, damit ich gut vorbeikomme, ja?« kommandierte er. Man gehorchte ihm lachend und machte seine Späße.

»Das fängt ja lustig an«, meinte Sybill und half ebenfalls mit. »Paß auf, Jürgen, der Fürst kauft dir deinen Ottokar noch fürs Schloßmuseum ab!«

»Wenn er mir so viel dafür gibt, daß ich mir einen tollen Jaguar kaufen kann, soll er ihn meinetwegen haben«, grinste der baumlange Kommilitone vergnügt und schob aus Leibeskräften seinen Ottokar mit den andern weiter.

»Für einen Jaguar willst du ihn hergeben?« lästerten die andern. »Das ist doch nicht dein Ernst? Dieses gute Stück?« Alles lachte, auch der Treckerfahrer. Als sie schließlich auf Trittbrettern, Lehnen und Kühler ihres Autoveteranen hinter dem riesigen Trecker in den Schloßhof rollten, eilte das ganze Gesinde herbei und bestaunte sie.

»Na, also, da wären wir«, sagte Jürgen Bentloh und sprang als erster herunter. »Das ist also die gute Landluft.« Er rümpfte die Nase und sah sich vorsichtig um. »Hier scheint man haufenweise Schweine zu züchten. Es duftet jedenfalls sehr danach.«

Sybille von Gereneck war ein paar Schritte abseits gegangen und sah aus großen, glänzenden Augen um sich. Ihr Blick glitt von den Verwaltungsgebäuden hinter dem Schloß zu den riesigen Stallungen hinüber, und als ein fröhliches Wiehern ihr Ohr erreichte, seufzte sie glücklich auf. Pferde!

Den großen Ställen nach zu urteilen, sogar viele Pferde! Lieber Himmel, vielleicht würde sich irgendwann Gelegenheit zum Reiten bieten. Ihre dunklen Augen leuchteten sehnsuchtsvoll auf. Sie hatte vollkommen vergessen, daß sie nicht allein und nicht als Besucherin hierher aufs Schloß gekommen war, sondern zum Arbeiten. Erst als Claudia ihr vorsichtig auf die Schulter klopfte, besann sie sich wieder.

»Komm, Sybill, man will uns unsere Unterkünfte zeigen.«

Der Mann, der sie hergefahren hatte, ging quer über den riesigen Hof zum Schloßgebäude hinüber. Die Studenten folgten ihm.

»Himmel, ein richtiges Schloß«, staunte Claudia. »Das hätte ich mir nicht träumen lassen, daß ich mal in einem richtigen Schloß wohnen würde!«

»Nun, du würdest als Schloß­fräu­lein ganz sicher entzückend sein«, scherzte Jürgen Bentloh und lachte vergnügt.

»Ich denke, Sybill würde besser in die Rolle passen. Heh, Sybill! Träumst du?«

Claudia kicherte. »Jürgen will dich zum Schloßfräulein machen, und du träumst. Was meinst du, hättest du Lust, immer in diesen dicken Mauern zu leben?«

Sie klopfte gegen die grauen Steinquader und schüttelte sich.

»Im Winter ist es hier ganz gewiß schrecklich kalt. Nein, so ein alter Kasten, das wäre nichts für mich.«

»Ach, das möchte ich nicht sagen. Da drin kann es sicher ganz schön gemütlich sein«, sagte Sybill langsam. »Heute sind auch solche Schlösser schon mit modernstem Wohnkomfort eingerichtet. Und dann – wie gemütlich kann es an einem Kaminfeuer sein.«

»Seht, seht! Unsere Sybill bekommt ganz sehnsuchtsvolle Augen«, lachte Jürgen Bentloh. »Was meint ihr, wollen wir sie an den Gutsherrn verschachern? Sie würde eine ausgezeichnete Schloßherrin abgeben.«

»Ach Jürgen, laß doch den Unsinn!«

Sybill wurde ärgerlich. »Wenn das jemand vom Schloß hört!«

»Vielleicht der Schloßherr selbst«, ulkte Claudia.

»Na, da brauchst du nicht bange zu sein«, lachte Jürgen Bentloh. »Der Herr Fürst werden sich wohl kaum sehen lassen. Für unsere Abfertigung ist das Personal zuständig.«

*

Die Mamsell hatte die Studenten in ihre Unterkunft eingewiesen. Die Zimmer, die behaglich und nett waren, lagen nebeneinander an einem langen Gang und waren durch Verbindungstüren voneinander getrennt. Aber es gab keine Schlüssel.

»Schade«, lachte Jürgen Bentloh, der das Zimmer neben Claudia hatte. »Nun wollte ich gerade um Mitternacht ein bißchen gespenstern kommen, und nun ist diese dumme Verbindungstür abgeschlossen.«

»Na, na!« lachte einer der Kommilitonen und warf Jürgen einen anzüglichen Blick zu.

Claudia errötete und ging in ihr Zimmer. Die andern lachten. Daß sie ein bißchen in Jürgen Bentloh verliebt war, wußten sie alle. Aber mehr als ein harmloser Flirt war es nicht.

»Wenn die Herrschaften umgekleidet sind, bitte ich zum Essen«, ließ die Mamsell vernehmen. Sie hatte die Badezimmer noch einmal inspiziert und festgestellt, daß alles in Ordnung war.

»Oh, herrlich! Ich verspüre einen Riesenappetit!«

Jürgen Bentloh stürzte in sein Zimmer, um seine Garderobe ausnahmsweise mit einer Krawatte zu vervollständigen.

Man konnte nie wissen. Vielleicht stellte man sie dem Fürsten doch vor.

Aber Fürst Degencamp sei verreist, teilte die Mamsell den Studenten in dem kleinen Rokokosaal mit, in dem sie aßen. »Er hätte Sie sonst sicher selbst begrüßt«, fügte sie hinzu.

Claudia war ein bißchen enttäuscht. Sie hätte für ihr Leben gern einen richtigen Fürsten kennengelernt. Sybill atmete auf. Irgendwie war es ihr lieber so.

Am nächsten Morgen teilte man sie zur Arbeit ein.

Es war herrliches Wetter. Die Sonne strahlte von einem fast wolkenlosen blauen Himmel, und die Luft war warm und trocken. Es war noch kein bißchen herbstlich.

Sybills Wangen glühten. Ihre großen Augen leuchteten vor Glück. Sie fühlte sich wohl, wie schon lange nicht mehr. Die Luft hier draußen auf dem Lande bekam ihr gut. Sie rief Jürgen Bentloh, der neben ihr arbeitete, ein Scherzwort zu. Er wollte gerade antworten, als jemand ihn beiseite schob und sich neben ihn und Sybill drängte.

»Heh, was soll das denn?« rief Jürgen Bentloh verärgert. Dann erkannte er Claus Schröter, der vom schnellen Laufen noch ganz außer Atem war.

»Ich habe es nicht eher geschafft. Ich bin sofort gekommen, als ich deinen Brief bekam«, sagte er zu Sybill, die ihn verdutzt ansah. »Aber ihr wart schon alle weg. Da habe ich mich beeilt, hierherzukommen. Und da bin ich nun.«

»Fein, daß du da bist, Claus«, fing Sybill sich schnell wieder. »Ich hatte eigentlich nicht damit gerechnet, daß du es wirklich ernst meinst. Du zeltest doch so gern. Waren dir deine Freunde nicht böse, weil du sie im Stich gelassen hast?«

»Ich glaube nicht«, sagte er zerstreut und warf Jürgen Bentloh einen nicht gerade freundlichen Blick zu. »Jetzt arbeite ich neben Sybill weiter«, knurrte er ihn an. »Das ist dir doch hoffentlich klar?«

Der Kommilitone lachte. »Aber natürlich, mein Lieber. Hast ja schließlich ältere Rechte, nicht wahr?«

»Wie meinst du das?«

Sybill mischte sich ein. »Was ist da los? Was habt ihr euch da zuzuzischen? Wenn du schon einmal hier bist, Claus, mußt du auch mitarbeiten. Also los!« kommandierte sie.

Sybill war eigentlich nicht so sehr begeistert davon, daß Claus tatsächlich gekommen war. Sie wußte, daß sie nun keine einzige Minute mehr allein sein würde. Claus würde ihr nicht mehr von der Seite weichen. Fast bereute sie es, ihn benachrichtigt zu haben.

Der nächste Tag war ein Sonntag. Der Vorarbeiter, der sie zur Arbeit einteilte, sagte ihnen, daß heute nur den halben Tag gearbeitet würde. Das wurde mit großem Hallo begrüßt. Man beratschlagte, wie man den Nachmittag am besten verbringen könnte, und es wurde beschlossen, einen Ausflug ins Dorf zu machen.

Als es soweit war, entschuldigte sich Sybill bei den anderen mit Kopfweh.

»Ich werde mich ein bißchen hinlegen. Vielleicht wird’s dann besser. Ich komme nach«, versprach sie.

Claus war enttäuscht.

»Ich habe mich so auf den Nachmittag gefreut«, maulte er. »Jetzt habe ich auch keine Lust mehr, mit den anderen ins Dorf zu gehen.«

»Sie werden aber annehmen, das sei verabredet«, gab Sybill ihm zu bedenken. »Das sieht dumm aus. Das mußt du doch einsehen.«

Er gab ihr schließlich recht, wenn auch schweren Herzens. Wenig später sah sie ihn von ihrem Fenster aus mit den anderen Kommilitonen in Ottokar, den sie wieder repariert hatten, eilig davonfahren.

Sie atmete unwillkürlich auf. Sie hatte es von jeher geliebt, ihren eigenen Gedanken nachzuhängen und sich nicht stets und ständig anderen Menschen anschließen zu müssen.

Sie ging langsam vom Fenster weg zu der bequemen Couch hinüber. Aber bevor sie sich hinlegte, überlegte sie es sich anders.

Ihr Kopfweh würde am besten draußen in der freien Natur vergehen. Sie wollte einen Spaziergang machen, ganz allein über Felder und Wiesen, wie sie früher daheim oft stundenlang spazierengegangen war.

Sie eilte an den Einbauschrank und nahm eine leichte hellblaue Leinenhose heraus. Dann zog sie eine gleichfarbige Bluse an und schlüpfte in weiche Lederslipper.

Sie sah in den Spiegel. Die Arbeit in der Sonne hatte ihr gutgetan. Ihre Wangen waren gerötet und leicht gebräunt. Ihre Augen leuchteten unternehmungslustig.

Sybill lächelte vergnügt vor sich hin. Wenn Claus von diesem Spaziergang wüßte, würde er ganz sicher sofort umkehren. Aber er ahnte nichts davon. Und das war gut so.

Sie begegnete niemandem. Der große Gutshof war wie leergefegt. Das Gesinde hatte den Nachmittag über frei. Sie überlegte kurz, in welche Richtung sie sich wenden sollte, dann schlug sie den Weg zu den Feldern ein, den sie jeden Morgen gefahren wurden.

Ein leichter Wind wehte und bewegte die schweren Ähren, so daß es aussah, als sei das ganze Feld ein goldgelbes Meer, durch das sanfte Wellen leise rauschten. Hin und wieder leuchtete ein bunter Farbklecks auf, ein paar Stengel rotglühenden Mohns oder ein paar Kornblumen.

Von den Koppeln hintern den Feldern klang ein fröhliches Wiehern herüber. Sybills Herz schlug rascher: Pferde! Sie ging unwillkürlich schneller. Dann stand sie vor der Koppel, auf der ein einzelner Hengst weidete.

Sie hielt den Atem an. Lieber Himmel, was für ein Pferd! Sie streichelte mit den Augen den edlen Schwung des langestreckten Halses, die zierlichen Hufe, die zerbrechlich wirkenden Gelenke.

Unwillkürlich griff sie in die Hosentasche. Aber natürlich war kein Zucker darin.

Als der Hengst, der sie aufmerksam betrachtete, ihre Hand in der Hosentasche verschwinden sah, kam er erwartungsvoll näher.

Sybill hielt ihm die leere Handfläche hin.

»Mein armer Schatz. Es ist ja nichts darin«, flüsterte sie zärtlich. »Es tut mir so leid, mein Liebling.«

Als verstünde das schöne Tier ihre Worte und verzeihe ihr, fuhr es vorsichtig mit der rauhen Zunge über ihre Hand und wieherte leise.

Sybill kraulte ihm sanft die Nüstern. Die klugen braunen Pferdeaugen sahen sie freundlich an.

Eine unzähmbare Lust, sich auf den Rücken dieses herrlichen Pferdes zu schwingen und mit ihm davonzureiten, überkam sie plötzlich. Wie, wenn sie es tatsächlich täte? Ihr Herz klopfte schnell und ungestüm. Es brauchte ja niemand zu sehen. Ein paar Minuten nur, ein paar kurze, aber selige Minuten.

Der Hengst drängte sich dicht ans Gatter. Er tänzelte unruhig auf den zierlichen Hufen. Es war, als ahne er ihre Gedanken und sei einer Meinung mit ihr.

»Was meinst du, soll ich es tun?« flüsterte sie in das Pferdeohr, das sich steil aufrichtete. »Und wenn mich dein Herr erwischt?« Aber der ist ja verreist, beruhigte sie sich selbst. Und der Verwalter? Es gab doch hier sicher einen Verwalter?

Der Hengst wieherte leise. Er stupste sie vertraulich mit der Nase.

»Ich tue es«, sagte sie plötzlich laut. »Jawohl, ich tue es! Wenn man mich erwischt, soll man mich hinauswerfen. Das ist auch nicht so furchtbar schlimm. Aber ich habe wieder einmal auf dem Rücken eines Pferdes gesessen. Eines so herrlichen Pferdes, wie du es bist, mein Lieber.«

Sie kletterte kurzerhand über das niedrige Gatter. Der Hengst kam langsam heran und rieb seinen schönen Kopf an ihrem Arm.

»Läßt du mich aufsitzen?« bat sie zärtlich und griff in seine Mähne. »So ganz ohne Sattel und Zaumzeug? Oder hast du das nicht gern?«

Mit einem kühnen Satz saß sie oben. Der Hengst schien zunächst erschrocken. Er stieß ein helles Wiehern aus, aber dann begann er unruhig zu tänzeln und die Ohren anzulegen. Sybill klammerte sich an der Mähne fest und dirigierte ihn mit ihren Schenkeln. Es klappte besser, als sie erwartet hatte. Er setzte zum Sprung an, und gleich darauf schwebte sie über das Gatter und brauste in einem leichten Galopp über Wiesen und Felder davon.

*

»Teufel noch einmal – ist das nicht Ödipus?«

Der Reiter, der auf einem fast schwarzen Araber den Feldweg entlanggeritten kam, kniff die Augen zu einem schmalen Spalt zusammen. Ohne Zweifel, die Koppel da wenige hundert Meter vor ihm war die von Ödipus, einem seiner Reitpferde. Und das Tier, das da eben über das Gatter gesetzt hatte, mußte demzufolge auch Ödipus sein. Aber wer erlaubte es sich, Ödipus ohne seine Erlaubnis zu reiten? Den Burschen würde er sich gleich einmal vornehmen.

Fürst Hasso von Degencamp nahm die Zügel kürzer und setzte zur Verfolgung an. Aber er mußte sich dranhalten, denn dieser Teufelsbursche da vor ihm war ein guter Reiter, und Ödipus war so leicht nicht einzuholen.

Der Fürst biß die Zähne aufeinander, daß sie knirschten, und trieb den Rappen zu immer schnellerem Galopp an.

Jetzt war er so dicht herangekommen, daß er erkennen konnte, daß Ödipus nicht von einem Mann, sondern von einer Frau geritten wurde.

Und dann sah er noch etwas, was ihn starr vor Staunen machte: Ödipus war ungesattelt. Diese Frau mußte wie der Teufel selbst reiten können.

Instinktiv fühlte er Bewunderung. Gleichzeitig jedoch keimte der Verdacht in ihm, daß er sich hier um nichts anderes als um einen Diebstahl handeln konnte. Man wollte ihm Ödipus stehlen.

Ein unbändiger Zorn stieg in ihm auf. Wenn er dieses weibliche Wesen da vor sich erwischte, dann gnade ihm Gott!

Er schrie dem Rappen ins Ohr: »Schneller, schneller, Gero! Noch viel schneller!« Und der Rappe raste wie eine Windsbraut hinter dem davonstürmenden Ödipus her.

Plötzlich aber wendete die tollkühne Reiterin ihr Pferd, und Hasso von Degencamp konnte seinen Rappen gerade noch rechtzeitig zur Seite reißen.

Er zerdrückte einen Fluch zwischen den Zähnen. Was war das nun wieder? Eine neue Finte? Er wendete den Rappen ebenfalls und staunte. Ödipus war aus dem Galopp in langsamen Trapp gefallen, und es würde kaum Mühe machen, ihn jetzt einzuholen.

Als er den Rappen neben Ödipus parierte, war sein Gesicht zorngerötet. Seine graublauen Augen blitzten böse.

»Wer sind Sie?« herrschte er Sybill an, die erschrocken zusammenzuckte.

»Ich…« Sie sah ihn furchtsam an. »Sie denken vermutlich, ich wollte das Pferd stehlen. Aber das wollte ich nicht, ganz bestimmt nicht. Mich überkam nur plötzlich die Lust zum Reiten so übermächtig, daß ich nicht widerstehen konnte.«

Sie musterte seinen einfach geschnittenen graugrünen Jagdanzug. »Sie sind der Verwalter, ja?«

Er ging auf ihre Frage nicht ein.

»So! Die Lust zum Reiten überkam Sie, und da stehlen Sie einfach ein Pferd, das beste und schönste übrigens, das es in der ganzen Gegend gibt, und reiten damit auf und davon. Sie scheinen von Zigeunern abzustammen!« Er lachte grimmig.

Bei dem Wort Zigeuner fuhr sie zusammen. Glühende Röte überzog ihr feines Gesicht. Ihre großen, schönen Augen funkelten böse.

»Ich verbitte mir derartige Beleidigungen«, sagte sie scharf. Sie richtete sich hoch auf und gab dem Hengst einen leisen Schenkeldruck, auf den er sofort reagierte. Er stieg steil in die Höhe und setzte sich gleich darauf in Trab, der in immer schnelleren Galopp überging.

»Dieses kleine Biest hat mich hereingelegt«, murmelte der Fürst und setzte hinterher.

Diesmal gelang es ihm nicht, die Reiterin einzuholen, so sehr er sich auch bemühte. Erstaunt beobachtete er, wie sie den Hengst zur Koppel zurücklenkte und mit ihm über das Gatter setzte. Dann sprang sie leichtfüßig herunter und tätschelte ihm liebevoll den Hals.

Sie machte keinerlei Anstalten, davonzulaufen. Als er neben dem Gatter vom Pferd sprang, streckte sie ihm eine schmale feingliedrige Hand hin.

»Haben Sie zufällig ein Stück Zucker bei sich? Er hat es verdient, und ich habe leider keinen.«

Der Fürst vergaß, was er hatte sagen wollen, und suchte in seiner Hosentasche nach einem Zuckerwürfel.

»Hier. Bitte.«

»Vielen Dank.«

Sie nahm den Zucker und hielt ihn Ödipus hin. Dann drehte sie sich zu dem Mann, der stumm neben ihr stand, herum und sagte leise:

»Also meinetwegen können Sie mich jetzt verhaften lassen, es ist mir egal. Sie können mich auch bei Ihrem Fürsten verpetzen, aber der ist ja Gott sei Dank nicht da.«

»So! Der Fürst ist nicht da? Und woher wollen Sie das so genau wissen?« erkundigte er sich belustigt.

»Ich weiß es eben«, sagte sie kratzbürstig. »Also nehmen Sie Papier und Stift zur Hand und notieren Sie: Ich heiße Sybill von Gereneck und wohne mit einigen Kommilitonen auf Schloß Degencamp. Wir helfen bei den Erntearbeiten. Sie können es mich ja wissen lassen, ob ich gleich abreisen soll oder ob es möglich sein wird, mir mein Vergehen zu verzeihen. Es steht Ihnen natürlich frei, mich bei der Polizei wegen versuchten Diebstahls anzuzeigen. Auf Wiedersehen, Herr Verwalter!«

Sie stützte die Hände auf das Gatter und schwang sich elegant darüber. Dann schritt sie hocherhobenen Hauptes davon.

Er sah ihr kopfschüttelnd nach. Was für eine energische kleine Person! Und wie entzückend sie ausgesehen hatte, als sie ihn so zornig anblitzte. Ein bildschönes Mädchen, diese kleine Wildkatze!

Sie war also eine Studentin, die zu den Erntearbeiten aufs Schloß gekommen war. Und reiten konnte sie, Donnerwetter! Das machte ihr so leicht keiner nach.

Er tätschelte gedankenverloren Ödipus’ Hals.

Wenn sie tatsächlich auf dem Schloß wohnte, hatte sie auch sicher die Wahrheit gesagt. Er schüttelte lächelnd seinen Kopf mit dem vollen braunen Haar.

Was für ein Einfall, sich einfach ein Pferd von der Koppel zu nehmen und ungesattelt loszureiten. Ein Teufelsmädchen, wirklich! Er würde sich einmal bei der Mamsell nach den Studenten erkundigen.

Der Fürst ritt langsam zum Schloß zurück. Dort wartete eine neue Überraschung auf ihn. Jackson, sein Diener, hielt ihm den Telefonhörer hin und flüsterte ihm zu, die Gräfin Kingsbird sei am Apparat.

»Hallo, Hasso! Wie ich höre, bist du gerade erst von einer Reise zurückgekommen«, tönte ihm die etwas schrille Stimme seiner Kusine entgegen. »Wie geht es dir? Wir haben uns ewig nicht gesehen.«

»Nein wirklich, sehr lange nicht«, sagte er herzlicher, als er beabsichtigt hatte. »Es muß schon einige Jahre her sein, daß wir uns zuletzt gesehen haben – irgendwo in der Schweiz, glaube ich. Wie geht es dir?«

Er kannte den Grafen Kingsbird recht gut vom Roulette her, wo er selbst gelegentlich Zuschauer war. Und er kannte auch die Spielleidenschaft des andern. Seine Mutter hatte die Kusine damals vor der Heirat gewarnt. Die Grafen Kingsbird gehörten einem der ältesten Adelsgeschlechter an. Graf Egon war das schwarze Schaf der Familie. Jedermann wußte das. Aber Irene hatte damals in ihrer Verliebtheit auf niemanden gehört.

Inzwischen allerdings mochte sie eingesehen haben, wie recht die anderen mit ihrer Warnung gehabt hatten.

Wie er wußte, ging es den Kingsbirds ziemlich schlecht; die Kusine tat ihm leid.

»Ich war lange nicht auf Schloß Degencamp. Wie sieht es aus bei dir? Steht die Ernte gut?«

»Mehr als gut. Ich bin zufrieden. Aber du kannst gern einmal vorbeikommen; du bist jederzeit gern gesehen.«

»Das tue ich, ich nehme dich beim Wort«, rief sie eine Nuance zu schnell. »Ich glaube, ein bißchen Landluft würde mir guttun. Hast du etwas dagegen, wenn ich meine Tochter mitbringe?«

»Aber natürlich nicht«, sagte er leicht schockiert, weil sie so überraschend schnell zugesagt hatte. Er erinnerte sich übrigens gar nicht daran, daß Irene eine Tochter hatte.

»Schick ein Telegramm vorher, hörst du? Ich hole euch dann von der Bahn ab.«

»Fein, mein Lieber. Vielen Dank für die Einladung. Wir werden möglicherweise schon bald kommen.«

Als er wenig später den Hörer auflegte, fragte er sich, was wohl der wahre Grund ihres Anrufs gewesen sein mochte.

Er legte die Reithandschuhe, die er immer noch in der Hand hielt, achtlos auf den nächsten Sessel und ging zur Hausbar hinüber, um sich ein Glas Whisky einzuschenken.

Er warf einen Eiswürfel in ein Kristallglas und goß den goldgelben Whisky hinein. Dann füllte er mit Soda auf.

Als er den Diener sah, winkte er ihn heran.

»Holen Sie mir die Mamsell, Jackson. Und wenn sie hier ist, achten Sie darauf, daß uns niemand belauscht. Haben Sie mich verstanden?«

»Sehr wohl, Durchlaucht.«

In dem knochigen Gesicht des Dieners zuckte kein Muskel. Er eilte lautlos zur Tür.

Der Fürst ging zur Bar und schenkte sich ein neues Glas Whisky ein. Er hatte gerade Eis hineingetan, als es leise klopfte.

»Ja, bitte.«

Die Mamsell kam herein. Ihr gutmütiges Gesicht strahlte.

»Wie schön, daß Durchlaucht wieder da sind«, sagte sie und blieb bescheiden an der Tür stehen.

»Kommen Sie her, Lina, setzen Sie sich!« forderte der Fürst sie auf. »Ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen. Etwas sehr Wichtiges.«

Sie setzte sich und blickte ihn aufmerksam an. Seit langem war Mamsell Lina seine Vertraute. Wenn er früher als Junge etwas ausgefressen hatte, kam er stets zu ihr, und sie hatte es immer verstanden, ihn zu trösten. Hatte er Stubenarrest von dem strengen Vater bekommen, schmuggelte sie ihm allerlei Leckeres in sein Zimmer, und die ersten heimlichen Rendezvous mit einer Dorfschönen hatte sie ebenfalls vermittelt.

»Lina.« Der Fürst stellte das Glas fort und kam heran. Die Mamsell stand auf, aber er drückte sie wieder in ihren Sessel zurück. »Ich kann mich doch auf Ihr Schweigen verlassen?«

Das volle Gesicht der Mamsell drückte Empörung aus.

»Aber Durchlaucht wissen doch…«

»Ja, ja! Schon gut. Ich wollte Sie nicht kränken, Lina. Sie erinnern sich doch sicher an die letzte Gesellschafterin meiner verstorbenen Mutter?«

»Und ob, Durchlaucht. Was für eine schöne junge Frau war das! Und so lieb war sie immer – so lieb! Ich weiß heute noch nicht so recht, warum die gnädigste Durchlaucht sie damals so plötzlich entlassen hat.«

Der Fürst schritt erregt im Zimmer auf und ab, die Hände auf dem Rücken verschränkt. In dem männlich-schönen Gesicht zuckte es.

»Ich werde es Ihnen sagen, Lina: Sie erwartete ein Baby. Und die Fürstin wollte es nicht zulassen, daß ich sie heirate. Darum mußte sie gehen.«

»Ach!«

Das gutmütige Gesicht der Frau wirkte betroffen.

»Ich habe damals immer wieder versucht, ihren Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Vergeblich. Jetzt, ein Jahr nach dem Tode meiner Mutter, habe ich in einem Geheimfach ihres Schreibtischs endlich die Adresse gefunden. Ich bin sofort hingefahren, aber…«

Er senkte den Kopf. Seine Rechte fuhr nervös durch das volle Haar. »Ich fand sie nicht mehr am Leben. Eine schwere Krankheit vor zwei Jahren…« Er unterbrach seine Wanderung durch das Zimmer und trat vor die alte Mamsell. Seine Augen leuchteten. »Aber ich bekam die Adresse meines Sohnes. Ja, Lina! Ich habe einen Sohn!«

Der Fürst lächelte stolz. »Ich habe ihn mir angesehen. Er ist im Internat. Ein Prachtbengel! Er gefällt mir sehr. Ich werde ihn adoptieren und zu mir nehmen. In den nächsten Tagen schon. Ich möchte gern, daß Sie ihn holen, Lina. Sie werden ihm natürlich nicht verraten, daß ich sein leiblicher Vater bin. Aber seien Sie lieb zu ihm. Denken Sie daran: Er hat seine Mutter verloren und weiß nicht einmal, daß er noch einen Vater hat.«

Lina war aufgesprungen.

»Durchlaucht, ich werde mich des Vertrauens würdig erweisen Mein Gott, wie wunderbar – wir werden wieder einen kleinen Prinzen im Haus haben!«

Über ihr gerötetes Gesicht liefen die Tränen. Sie wischte sie hastig fort. »Wie alt ist er denn, der kleine Prinz? Und wie heißt er?«

Der Fürst lächelte gerührt. »Er ist sechs Jahre alt, und er heißt Wolfram.«

»Ein hübscher Name. Wann soll ich fahren, Durchlaucht?«

»Gleich morgen, Lina. Ich will ihn so schnell wie möglich hierhaben. Übrigens, eine Frage noch. Sie betreuen doch die Studenten, die ich zur Aushilfe angefordert habe, nicht wahr?«

»Jawohl, Durchlaucht. Sie sind sehr fleißig. Ich meine, sie sind doch das körperliche Arbeiten eigentlich nicht gewohnt. Aber sie geben sich große Mühe. Die Vorarbeiter sind zufrieden. Und so freundlich sind sie alle! Und so lustig!«

Lina schwärmte geradezu.

Der Fürst lächelte.

»Das ist ja schön. Sagen Sie, Lina, befindet sich eine Sybill von Gereneck darunter?«

Lina nickte eifrig. »Ja, eine Baronesse ist auch darunter. Sybill von Gereneck, richtig, so heißt sie. Eine sehr liebe Dame ist das.«

Der Fürst schwieg eine Weile, dann gab er der Mamsell Anweisungen für ihre Fahrt zum Internat. Als sie etwas später das Zimmer verließ, ging er langsam zum Fenster hinüber und sah hinaus.

Der große Schloßpark lag im Licht der Nachmittagssonne. Der Blick des Fürsten glitt hinüber zu dem Teil des Parks, in dem er als kleiner Junge immer gespielt hatte. Die alte Schaukel war sicher noch da, auch das große Stahlgerüst, auf dem er so gern herumgeklettert war Und in wenigen Tagen würde sein Sohn dort spielen. Sein Sohn! Er hatte einen Sohn!

Er schritt zum Schreibtisch hinüber und nahm sich eine Zigarette aus einem kleinen Silberkästchen. Hoffentlich machte Lina ihre Sache gut! Er hielt es für richtiger, wenn eine so mütterliche Frau wie sie den kleinen Wolfram abholte. Frauen gegenüber waren Kinder meist sehr viel zutraulicher.

Der Fürst lächelte glücklich. Er konnte es kaum erwarten, seinen Sohn in die Arme zu schließen und auf Schloß Degencamp willkommen zu heißen.

*

Der riesige Erntewagen war über und über mit Heu beladen. Und ganz oben thronten Sybill und Claudia und sangen. Ihre Kommilitonen waren schon auf dem Gutshof eingetroffen, als sie kamen. Sie breiteten allesamt die Arme aus und wollten die beiden Mädchen auffangen.

»Ich kann ganz allein hinunter«, sagte Sybill übermütig und ließ sich vorsichtig hinabgleiten.

Aber plötzlich kam sie zu stark ins Rutschen und sauste mit Schwung in Jürgen Bentlohs weit ausgebreitete Arme.

»Hallo!« schrie er begeistert. »Das ist aber mal was Nettes, was ich mir da eingefangen habe!«

Er hielt sie lachend fest. »Einen Kuß zum Pfand, Gnädigste. Sonst kommt ihr nicht frei!«

»Laß sie sofort los, du unverschämter Kerl!« Claus Schröter sprang mit einem Riesensatz auf Jürgen zu und riß an seinen Armen, die Sybill fest umklammert hielten.

Aber der lachte und rannte mit Sybill auf seinen Armen davon.

»Seid ihr verrückt geworden?« rief Sybill. »Laß mich sofort herunter, Jürgen!«

Aber der dachte gar nicht daran und lief mit ihr weiter.

»Was für ein reizendes Spiel«, ertönte da eine dunkle wohlklingende Männerstimme.

Sybill fuhr zusammen. »Wenn du mich nicht augenblicklich herunterläßt, passiert etwas!« zischte sie und biß Jürgen in den Oberarm.

»Du bist ja eine Wildkatze, Sybill«, brummte er und rieb sich den Arm.

»O ja! Den Eindruck habe ich auch«, sagte Hasso von Degencamp und trat lächelnd auf die beiden zu. »Eine ganz reizende Wildkatze übrigens.«

Sybill wurde feuerrot. Sie wäre am liebsten in den Boden gesunken. Aber es sollte noch ärger kommen.

»Wer ist der Herr, Sybill?« fragte Jürgen Bentloh. »Willst du uns nicht bekannt machen?«

»Er hat sich mir noch nicht vorgestellt«, sagte Sybill aufsässig. »Er ist der Verwalter.«

»Oh, natürlich, was für eine Unterlassungssünde. Bitte, verzeihen Sie«, sagte der Fürst liebenswürdig. Er verbeugte sich knapp. »Fürst Degencamp.«

Sybill starrte ihn fassungslos an. Jürgen Bentloh verbeugte sich korrekt und nannte ebenfalls seinen Namen.

»Ich freue mich, daß Sie alle so liebenswürdig sind, uns ein bißchen bei den Erntearbeiten zu helfen. Ich war leider verreist. Sonst hätte ich Sie schon eher begrüßt. Ich würde mich freuen, wenn ich Sie heute abend zu einem kleinen Drink bei mir sehen könnte.« Der Fürst lächelte erst Sybill und dann Jürgen zu.

Sybill war nicht fähig, irgend etwas zu sagen. Jürgen Bentloh bedankte sich höflich für die Einladung. Gleich darauf verabschiedete sich der Fürst.

Claus Schröter starrte der hohen, eleganten Gestalt böse nach.

»Wie der Sybill angesehen hat«, knurrte er, »am liebsten würde ich mir das verbitten.«

Sybill, die sich inzwischen wieder gefangen hatte, sagte verärgert:

»Ich bin nicht dein Eigentum, Claus. Ich kann ganz gut allein fertig werden.«

Sie ließ die beiden stehen und lief in ihr Zimmer hinauf.

Claus Schröter sah ihr verdutzt nach. Jürgen Bentloh lächelte amüsiert.

»Siehst du, Claus, Fürst müßte man sein. Sybill ist eine Baronesse. Du vergißt das immer wieder.«

Claus wurde böse. »Sybill hat nicht den geringsten Adelsdünkel. Das wäre mir schon längst aufgefallen.«

Er drehte sich um und ging ebenfalls davon.

Jürgen Bentloh grinste. »Den hat’s ganz schön erwischt. Aber ich habe nicht den Eindruck, daß Sybill sich allzuviel aus ihm macht.«

*

Sybill überlegte, ob sie sich noch nachträglich bei dem Fürsten entschuldigen sollte, weil sie sich einfach das Pferd genommen hatte. Ihr war die ganze Angelegenheit entsetzlich peinlich.

Aber Fürst Degencamp schien das gar nicht zu erwarten. Er empfing am Abend seine Gäste mit strahlender Laune.

Sie saßen im Jagdzimmer, und sehr bald war eine rege Diskussion im Gange.

Der Fürst bezauberte alle mit seinem Charme und seiner Liebenswürdigkeit. Nur Sybill benahm sich nach wie vor äußerst reserviert und kühl ihm gegenüber.

»Ihre reizende Kommilitonin scheint sich nicht recht wohl zu fühlen«, sagte der Fürst halblaut zu Jürgen Bentloh, dem er gerade eine Zigarette aus einem kostbaren Jadekästchen anbot.

»Sybill meinen Sie, Durchlaucht?« Jürgen Bentloh sah zu Sybill hinüber, die ein bezauberndes erdbeerfarbenes Wollkleid trug.

»Ja, allerdings – ich muß zugeben, sie ist unwahrscheinlich still heute abend. Das ist eigentlich sonst gar nicht ihre Art. Aber vermutlich erinnert sie alles hier ein wenig an ihr Zuhause. Sie ist ebenfalls auf einem Schloß großgeworden. Nach dem Tode des Vaters haben sie und die Mutter das Gut verlassen müssen. Ein Verwandter hat es übernommen, glaube ich. Nun lebt sie in der Stadt und ist dort nicht ganz glücklich.«

»Ach, so ist das.«

Der Fürst nickte nachdenklich. Er warf einen Blick zu Sybill von Gereneck hinüber, den sie wahrnahm, und der sie seltsam verlegen machte.

Sie saßen noch bis tief in die Nacht hinein zusammen, und als die Studenten sich schließlich verabschiedeten, meinte der Fürst, man müsse solchen netten Abend bald wiederholen.

Claus begleitete Sybill bis vor ihre Zimmertür.

»Du warst so schweigsam heute«, sagte er und musterte sie besorgt. »Fühlst du dich nicht wohl? Oder ist dir die Arbeit zu schwer? Wenn du nicht länger mitmachen möchtest, würde dir das sicher niemand übelnehmen.«

»Aber nein. Sie ist mir schon nicht zu schwer.«

Sybill lächelte den Freund an. »Es ist lieb von dir, daß du dir meinetwegen Sorgen machst. Gute Nacht, Claus. Schlaf gut«, sagte sie schnell und legte flüchtig die Hand auf seinen Arm. Dann war sie auch schon in ihrem Zimmer verschwunden.

Nachdenklich ging er zu seinem Zimmer hinüber. Er wurde nicht klug aus Sybill. Mochte sie ihn nun, oder mochte sie ihn nicht?

*

»Warum soll ich mit der Tante gehen? Es war mir doch bisher auch streng verboten, mit fremden Tanten zu gehen«, erkundigte sich der kleine dunkelhaarige Junge mit dem zarten Gesichtchen, in dem zwei leuchtendhelle Augen verwundert auf die Vorsteherin des Internats blickten, die ihn hatte zu sich kommen lassen.

»Sehen Sie? So ist er!« seufzte die und warf der freundlichen Frau auf dem Besucherstuhl einen vielsagenden Blick zu. »Der Fürst wird es nicht leicht mit ihm haben. Wolfram kann einen mit seinen unwahrscheinlich logischen Fragen manchmal arg in Verlegenheit bringen.«

Lina, die Mamsell des Fürsten Hasso von Degencamp, lächelte zärtlich zu dem Kleinen hinunter, der sie aufmerksam betrachtete.

»Gerade das wird dem Fürsten sicher viel Freude machen«, sagte sie und erhob sich. »Ich könnte es mir jedenfalls vorstellen. Aber ich glaube, wir müssen aufbrechen, sonst verspäten wir uns. Alfred wird sicher auch schon da sein.«

»Wer ist denn Alfred?« erkundigte sich der Kleine mißtrauisch.

»Alfred, das ist unser Chauffeur. Der wird uns gleich nach Hause fahren«, erklärte Lina ihm freundlich.

»Mein Zuhause ist aber hier«, beharrte das Kind und blieb zögernd stehen.

»Ein Internat ist niemals ein richtiges Zuhause, mein Kleiner«, belehrte die Mamsell ihn und nahm ihn bei der Hand. »Nun sag der Tante auf Wiedersehen und bedanke dich für ihre Freundlichkeit, dann komm. Der Fürst wartet.«

»Ja, mein Liebling. Du mußt schön brav sein. Du wirst es sehr gut haben auf Schloß Degencamp. Und wenn du dich erst einmal dort eingelebt hast, möchtest du ganz sicher überhaupt nicht wieder zurück. Davon bin ich überzeugt.«

Die Vorsteherin streichelte ihm zärtlich die dunklen Locken und hauchte einen Kuß auf seine Stirn. Dann begleitete sie ihn und die Mamsell zur Tür, vor der tatsächlich schon der Wagen des Fürsten stand und auf sie wartete.

Der Kleine beäugte den großen silbergrauen Mercedes von allen Seiten.

»Hm, ein Mercedes«, sagte er sachkundig. »Darin fahren wir zu dem Schloß?«

»Ja, mein Schatz. Aber nun steig bitte ein.«

Lina half ihm in den Fond des Wagens und nahm neben ihm Platz.

Alfred schloß sorgfältig die Tür hinter ihr und setzte sich ans Steuer. Langsam glitt der schwere Wagen davon.

Wolfram winkte der Vorsteherin, die immer noch in der Tür stand und ihm traurig nachsah. Man merkte ihr an, daß sie den Jungen ins Herz geschlossen hatte.

Dann hat er es wenigstens gut gehabt, dachte Lina und betrachtete das Kind verstohlen von der Seite.

So sieht also der Sohn unseres Fürsten aus. Sie lächelte gerührt. Ein schönes Kind, ein bildschönes Kind. Da kann der Fürst aber stolz sein.

Wolfram berührte sie vorsichtig am Knie.

»Fahren wir nun wirklich zum Schloß?« fragte er ungläubig. »Zu einem Schloß wie im Märchen?«

»Ja, mein Kind.« Lina nickte freundlich.

»Und ist da vielleicht auch ein König? Und vielleicht auch eine Königin?«

Die großen Kinderaugen funkelten. Anscheinend gewann er Gefallen an dem Ganzen.

»Nein. Eine Königin gibt es dort nicht und auch keinen König, aber einen Fürsten, und du wirst ein…« Sie verschluckte noch rechtzeitig, was sie hatte sagen wollen, nämlich, daß er dort auf dem Schloß als Prinz leben würde. Der Fürst hatte ihr streng verboten, es ihm zu sagen.

Der Kleine fragte vorsichtig:

»Ist der Herr Fürst nett?«

»Ja, sehr nett. Du wirst ihn sicher schnell liebhaben.«

»Liebhaben? Ich weiß nicht«, sagte der Junge gedehnt. »Aber wenn er nett ist, mag ich ihn vielleicht.«

Wie selbstbewußt er schon ist, dachte Lina. Er ist schon ein richtiger kleiner Herr.

»Hör mal, Wolfram, so heißt du doch, nicht wahr?«

»Ja, so heiße ich. Aber Sie können mich auch Wölfchen nennen. Die andern Jungen nannten mich immer Wölfchen.«

»Also, Wölfchen, wir werden jetzt in der Stadt ein paar Einkäufe machen, dir ein neues Mäntelchen kaufen und Anzüge. Freust du dich darauf?«

»Hm«, machte er gedehnt. »Bekomme ich auch neue Schuhe?«

»Neue Schuhe auch, ja, natürlich. Aber warum gerade neue Schuhe?«

»Meine alten haben kaputte Spitzen. Ich spiele so gern Fußball, und dabei gehen immer die Spitzen der Schuhe so schnell entzwei. Könnte ich vielleicht gleich ein Paar richtige Fußballschuhe haben?«

Er sah sie erwartungsvoll an.

Lina zögerte. Der Fürst hatte nichts davon gesagt, daß sie seinem Sohn Fußballschuhe kaufen dürfe. Andererseits hatte er ihr genug Geld mitgegeben, um ihn von Kopf bis Fuß neu einzukleiden. Also warum nicht auch ein Paar Fußballstiefel? Wenn er doch so viel Spaß daran hatte.

»Ja«, sagte sie entschlossen. »Ein Paar Fußballstiefel bekommst du auch. Bist du nun zufrieden?«

»Sehr!« Die hellblauen Kinderaugen strahlten. »Sie sind eine sehr, sehr liebe Tante!«

Lina lächelte gerührt. Ein reizendes Kind war das! Wirklich! Sie hatte es jetzt schon ins Herz geschlossen.

Das Einkaufen mit dem kleinen Wolfram machte viel Spaß. Er fand es großartig, alles selbst aussuchen zu dürfen, und die Verkäuferinnen waren entzückt von dem hübschen, braven kleinen Jungen, dessen strahlende Augen alles Neue bestaunten.

Den Kofferraum voller Pakete und Päckchen, fuhren sie schließlich weiter.

Der Einkauf mit den damit verbundenen Aufregungen hatten den Kleinen müde gemacht. Als Lina sich einmal zufällig zur Seite wandte, sah sie, daß er eingeschlafen war.

Er schlummerte noch, als sie die breite Auffahrt zum Schloß hinauffuhren. Lina überlegte, ob sie ihn wecken sollte oder nicht, als sie den Fürsten auf die Freitreppe hinaustreten sah.

Er kann es nicht mehr erwarten, ihn bei sich zu haben, dachte sie voller Verständnis. Was für ein Jammer, daß er erst so spät von seinem Sohn erfuhr.

Der Wagen rollte sanft aus. Fürst Hasso von Degencamp trat heran und blickte durch die Scheibe in den Fond.

Lina kletterte heraus. »Er schläft«, sagte sie leise. »Er ist vor etwa einer Stunde eingeschlafen. Es wäre eigentlich schade, ihn aufzuwecken. Soll ich ihn hinauftragen?«

»Das mache ich selbst.«

Der Fürst öffnete die hintere Wagentür und beugte sich zu seinem Sohn hinunter. Rührung überkam die alte treue Mamsell. Sie schneuzte sich verlegen.

»Komm, mein Sohn. Endlich bist du daheim.«

Hasso von Degencamp nahm seinen Sohn behutsam hoch und trug ihn vorsichtig wie eine kostbare Last ins Schloß und die Treppe nach oben. Lina folgte mit den Koffern des Kleinen. Der Chauffeur brachte die Pakete.

Man hatte ein Zimmer hergerichtet. Ein schönes, großes Zimmer mit Blick zum Park. Der Fürst hatte einen Innenarchitekten bestellt, der ein richtiges Jungenzimmer daraus machen sollte, mit allem, was ein Junge von sechs Jahren sich wünscht.

Der Fürst trug seinen Sohn zu dem kleinen Sofa und bettete ihn darauf. Gerade als er sich aufrichtete und den Jungen mit zärtlichen Blicken betrachtete, schlug Wolfram die Augen auf. Lina bemerkte es und zog sich schnell zurück. Sie hielt es für richtiger, wenn Vater und Sohn in diesem Augenblick allein waren.

»Wo bin ich denn?« Wolfram rieb sich verschlafen die Äuglein und sah erstaunt um sich. »Ich war doch eben noch im Auto. Wo ist die nette Tante, die mir die Fußballschuhe gekauft hat? Habe ich das vielleicht bloß geträumt? Auch das vom Schloß und dem Fürsten?«

Hasso von Degencamp lächelte amüsiert.

»Nein, mein Junge. Das hast du nicht geträumt. Aber du warst eingeschlafen. Inzwischen hat die nette Tante dich zu mir gebracht, auf das Schloß, wo du in Zukunft leben wirst.«

Wolfram richtete sich auf und betrachtete stirnrunzelnd den Mann, der vor ihm stand und ihn freundlich ansah.

»Und wer sind Sie?« erkundigte er sich schließlich. »Sind Sie der Herr Fürst?«

Hasso von Degencamp setzte sich neben seinen Sohn.

»Nun hör mir mal gut zu, mein Junge«, sagte er ernst. »Ja. Ich bin der Fürst von Degencamp. Und du bist mein Sohn; in Zukunft wirst du mit mir hier auf Schloß Degencamp wohnen. Ich…« Er suchte nach Worten, um dem Kind zu sagen, was es unbedingt wissen mußte. »Deine Mami hat früher auch hier auf dem Schloß gewohnt. Sie und ich, wir haben einander sehr lieb gehabt. Aber dann ist deine Mami eines Tages fortgegangen und hat dich mitgenommen. Ich wußte nicht, wo ihr beide wart. Ich habe dich erst jetzt wiedergefunden. Und da habe ich dich sofort hierher zu mir geholt. Verstehst du das alles?«

Wolfram antwortete nicht. Er kaute an seiner Unterlippe und schien zu überlegen. Dann sagte er zögernd:

»Aber warum ist denn die Mami mit mir fortgegangen, wenn sie Sie doch liebgehabt hat?«

Der Fürst war auch auf diese Frage seines Sohnes vorbereitet. Er sagte langsam:

»So wie du eine Mami hattest, hatte ich auch eine Mami. Aber leider mochte meine Mami deine nicht leiden, und da ist deine Mami dann fortgegangen.«

»Und warum haben Sie meine Mami weggehen lassen?«

Diese Frage aus dem Mund seines Sohnes traf den Fürsten hart.

Ja – warum hatte er sie damals gehen lassen, die er doch so sehr geliebt hatte? Es war alles so schnell gegangen. Er hatte nicht gedacht, daß seine Mutter so hart sein würde, und er hatte vor allem nicht damit gerechnet, daß die Geliebte ihr so schnell und so bedingungslos gehorchen würde. Er hatte nicht mit ihrem verletzten Stolz gerechnet, der es nicht zulassen wollte, daß das Herz, das sich verraten glaubte, sich zu dem Geliebten flüchtete.

So war sie gegangen, ohne ihm auch nur ein Wort zu sagen. Nie hätte er von der Existenz seines Sohnes erfahren, wenn er nicht zufällig jenes Geheimfach im Schreibtisch der Mutter geöffnet hätte.

Die großen Kinderaugen, die den seinen so seltsam ähnelten, waren immer noch fragend auf ihn gerichtet.

»Ja, mein Sohn«, sagte er langsam, und seine Stimme klang traurig. »Deine Mami ist damals fortgegangen, ohne mir etwas zu sagen. Ich wußte nichts davon. Ich konnte sie also auch nicht zurückhalten.«

Der Ausdruck in den hellen wachsamen Augen veränderte sich jäh.

»Dann hat Ihre Mami also meine Mami weggejagt. Sie war böse, Ihre Mami, sehr böse! Ich mag sie nicht. Ich will nicht hierbleiben!«

Er war plötzlich ganz steif vor Abwehr. Der Fürst erschrak.

»Meine Mutter lebt nicht mehr, Wolfram«, sagte er leise. »Wir sind ganz allein, du und ich. Meinst du nicht, daß es schöner wäre, wenn wir beide zusammenblieben?«

»Ich kenne Sie ja gar nicht!« stieß das Kind hervor. Es stand auf und lief zur Tür. »Ich möchte wieder zurück. Ich will hier nicht bleiben. Ich mag nicht!«

Er weinte nicht, aber sein kleines Gesicht sah unglücklich und entschlossen zugleich aus.

»Aber ich bin dein Vater, Wolfram«, sagte der Fürst leise. Es klang bittend.

Der Junge wandte sich zögernd um.

»Aber ich kenne Sie doch gar nicht«, wiederholte er.

Es war kein Trotz in seiner Stimme, nur Nichtverstehen und leise Abwehr.

»Du wirst mich kennenlernen. Vielleicht kannst du mich dann doch ganz gut leiden«, sagte der Fürst.

Der Junge meinte zögernd:

»Manche von den Kindern im Internat haben einen Vati. Aber die Vatis kommen immer mal zu Besuch. Zu mir kam nie jemand. Nur als Mami noch da war, da…« Tränen erstickten die Kinderstimme.

Die kleine Gestalt an der Tür wirkte auf einmal sehr winzig und verloren.

Fürst Hasso war mit zwei Schritten bei seinem Sohn und zog ihn zärtlich in die Arme.

»Aber jetzt hast du mich«, sagte er schnell. »Jetzt bist du doch nicht mehr allein. Ich habe dich sehr lieb. Das mußt du mir glauben. Vielleicht bleibst du doch hier. Ich könnte mir vorstellen, daß es sehr schön wird mit uns beiden.«

Er nahm ein weißes Taschentuch aus dem Jackett und wollte dem Kleinen die Augen trocknen. Aber der Junge nahm es ihm fort und rieb energisch in seinem Gesichtchen herum. »Das kann ich doch schon selbst«, sagte er energisch. »Ich bin doch schon groß.«

Nun bestand Wolfram nicht mehr darauf, zurückgebracht zu werden.

Als Lina auf das Läuten des Fürsten hereinkam, begrüßte das Kind sie schon wie eine alte Vertraute, und sein Vater ließ es beruhigt mit der Mamsell allein.

Auf dem Weg in sein Arbeitszimmer überlegte er, ob er den Jungen richtig behandelt hatte. Er kam zu dem Schluß, daß es besser war, dem Kind gut zuzureden, als es zu zwingen und Gehorsam von ihm zu verlangen.

*

Sybill hatte sich wieder einmal von den andern fortgeschlichen. Wenigstens hin und wieder mußte sie allein sein, mußte ihren eigenen Gedanken nachhängen und in Ruhe genießen, daß sie wieder einmal auf dem vertrauten Lande war.

Ein Gesicht tauchte in Gedanken vor ihr auf, ein sehr männliches, fast ein wenig streng wirkendes Gesicht. Der etwas eigenwillige Mund lächelte, und am Kinn wölbte sich ein Grübchen, ein ganz winziges.

Sie schrak zusammen und errötete wie ertappt: dieses Gesicht gehörte dem Fürsten Degencamp.

»Ich bin ja wahnsinnig«, flüsterte sie vor sich hin. »Ich muß übergeschnappt sein! Außerdem ist es gar nicht wahr, ich bin nicht verliebt – nicht in den Fürsten – niemals!«

Sie bemühte sich, an etwas anderes zu denken, dieses Gesicht nicht mehr zu sehen; aber es ließ sich nicht so einfach fortwischen. Es tauchte immer wieder vor ihr auf, und es war, als lächelten ihr die schmalen Lippen heimlich zu.

Und als sie es endlich geschafft zu haben glaubte, als sie befreit aufatmete, war es wieder da, und der Mund, unter dem das winzige Grübchen sich wölbte, lächelte und sagte:

»Wie nett, Sie zu treffen, Baro­nesse. Mir scheint, Sie lieben die Einsamkeit.«

Sie brauchte geraume Zeit, bis sie begriff, daß er leibhaftig vor ihr stand, in einen grünen Lodenanzug gekleidet, einen winzigen Zwergdackel an der Leine.

Warum hat das Tier keinen Laut von sich gegeben? dachte sie und neigte grüßend den Kopf. Es ist alles, als ob ich nur träumte.

Aber gleich darauf war Sybill schnell bereit, an die Wirklichkeit zu glauben, denn der Dackel schien Gefallen an ihren Beinen zu finden. Jedenfalls machte er einen Hupfer und bemühte sich gleich darauf eifrig, an ihr emporzuklettern.

Sie schrie erschrocken auf, und der Fürst griff sich den Frechdachs und tadelte ihn lachend:

»Du bist eben ein Rüde; schöne Beine magst du anscheinend besonders gern.«

Sybill errötete, während der Fürst humorvoll sagte: »Rübezahl wird den Schaden natürlich ersetzen. Es tut ihm schrecklich leid, hat er mir eben anvertraut.«

Sie lachte belustigt. »Rübezahl braucht sich keine Sorgen zu machen. Ich mag Hunde, besonders so winzige. Er ist ja noch ein Baby.«

Der Fürst ließ den Kleinen wieder von seinem Arm herunter.

»Er ist neun Wochen alt. Ich habe ihn mir eben vom Förster geholt. Mein Sohn soll ihn haben.«

»Sie haben einen Sohn, Durchlaucht?« Sie sah ihn erstaunt an.

»Ach bitte, lassen Sie die Durchlaucht fort, Baronesse. Ja, ich habe einen Sohn.«

Er ging wie selbstverständlich neben ihr weiter. Eine ganze Weile hing jeder seinen eigenen Gedanken nach. Dann sagte der Fürst plötzlich:

»Wie würden Sie ein Kind behandeln, das nicht wußte, daß es einen Vater hat und zudem nicht ein einfaches Bürgerkind ist, sondern ein kleiner Prinz. Wie würden Sie ein solches Kind behandeln, noch dazu, wenn es mit dieser Veränderung in seinem kleinen Leben absolut nicht einverstanden ist?«

Er sagte ihr nicht, daß er von seinem Sohn sprach, doch Sybill ahnte es.

Sie bemühte sich, ihr Erstaunen darüber zu verbergen, daß er ihr, der Fremden soviel Vertrauen schenkte.

Als sie sich mit der Antwort Zeit ließ, wiederholte er nachdenklich:

»Nun, wie würden Sie ein solches Kind behandeln? Sie wollen doch einmal Pädagogin werden.«

Sie bückte sich und nahm den Dackel auf den Arm, der plötzlich nicht mehr weiterwollte.

»Ich würde davon ausgehen, daß eine solche Veränderung im Leben eines so kleinen Kindes unbedingt wie ein Schock wirken muß und den Jungen sehr liebevoll und behutsam behandeln. Man darf ihn vorläufig zu nichts zwingen. Man muß sich um sein Vertrauen be­mühen. Wie alt ist der Junge?«

»Er ist sechs Jahre alt.«

»Hm. Ein schwieriges Alter. Da begreift er schon vieles und ist doch nicht in der Lage, gewisse Dinge zu verstehen.«

Sybill blickte nachdenklich vor sich hin.

»Sie sind ein wunderbares Mädchen, Baronesse.«

Der Fürst war stehengeblieben. Sie sah verwirrt zu ihm auf. Er war ein ganzes Stück größer als sie. Sybill wirkte sehr winzig und zart neben ihm. Er schien das auch zu empfinden, denn er sagte lächelnd:

»Es ist mir eigentlich immer noch unbegreiflich, wie Sie ohne Sattel und Zaumzeug auf das Pferd gekommen sind. Eine großartige Leistung übrigens, Ihr verbotener Ritt von neulich.«

Sie sah ihn mißtrauisch an, nicht sicher, wie er das eben gemeint hatte. Aber in seinem Lächeln war keinerlei Ironie, und so sagte sie, ebenfalls lächelnd:

»Ich habe das von klein auf geübt; mein Vater war ein guter Lehrmeister. Mama schlug die Hände über dem Kopf zusammen, wenn sie sah, wie ich die Dreijährigen einritt.«

Sie verstummte. Das Lächeln verschwand aus ihrem reizenden Gesichtchen, und Traurigkeit breitete sich darauf aus.

»So sind Sie also auch auf dem Lande aufgewachsen?« Er sah sie mitfühlend an. »Es ist sicher nicht leicht für Sie, Ihr Studentenleben in den engen Mauern einer Stadt zu führen.«

Sybill zögerte, dann sagte sie kurz:

»Man gewöhnt sich an alles.«

Sie durchschritten ein kleines Birkenwäldchen, und als sie aus dem Walde hinaustraten, stellte Sybill erstaunt fest, daß sie sich unmittelbar vor dem Schloß befanden.

Claus Schröter kam ihr entgegen. Er machte kein sehr freundliches Gesicht. Als der Fürst sich verabschiedet hatte und zu den Stallungen hinüberschritt, sagte er böse:

»Sieh einmal an! Die Gegenwart des Fürsten ist dir anscheinend sehr viel angenehmer als die eines gewöhnlich Sterblichen. War es wenigstens nett?«

Sybill schüttelte den dunklen Lockenkopf. »Ich weiß nicht, wie du auf derartige Ideen kommst, Claus. Ich habe den Fürsten zufällig auf einem Waldspaziergang getroffen. Das ist alles. Du kannst es mir glauben; du kannst es aber auch lassen, das liegt ganz bei dir.«

Sie war ernstlich böse. Claus versuchte einzulenken.

»Es hätte ja sein können, nicht wahr? Wir wissen alle, daß er in dich verliebt ist. Das sieht schließlich jeder.«

»Ich verbiete dir, einen derartigen Unsinn daherzureden!«

Sybill stampfte empört mit dem Fuß auf. Ihre schönen dunklen Augen funkelten zornig.

Claus Schröter sah sie sprachlos an. So verärgert hatte er sie noch nie erlebt. Bevor er etwas sagen konnte, kam Claudia aus dem Hintereingang des Schlosses und rannte mit allen Anzeichen des Schreckens auf sie zu.

»Jürgen ist die Treppe hinuntergestürzt. Er wollte Mamsell Lina helfen, etwas auf den Boden zu tragen. Dabei ist es passiert. Könnt ihr bitte helfen, ihn in sein Zimmer zu schaffen? Ich fürchte, er hat sich ernstlich verletzt.«

Sie liefen sofort los. Aber Lina hatte inzwischen schon den Verletzten auf sein Zimmer tragen lassen und nach einem Arzt telefoniert.

Jürgen biß die Zähne zusammen, aber man sah doch, daß er Schmerzen hatte.

»Was machst du nur für Geschichten?« fragte Sybill kopfschüttelnd. »Man kann dich auch nicht einen einzigen Augenblick allein lassen.«

»Ich war ja nicht allein. Das ist es ja«, feixte er. »Mamsell Lina hat mich dermaßen verwirrt, daß ich völlig durcheinander war.«

Alle lachten. Es klopfte, und Fürst Degencamp trat ein.

Seine Miene drückte Besorgnis aus.

»Ich höre, Sie sind gestürzt, Herr Bentloh. Haben Sie starke Schmerzen? Ich hoffe, daß der Arzt jeden Augenblick eintrifft.«

Jürgen Bentloh lächelte mit verzerrtem Gesicht.

»Vielen Dank, Durchlaucht. Aber ich halte es schon aus. Ich weiß selbst nicht, wie das passieren konnte. Es ist mir einfach unbegreiflich.«

Lina öffnete die Tür und ließ einen älteren Herrn mit einer schwarzen Tasche eintreten.

»Da sind Sie ja, lieber Doktor.«

Der Fürst ging ihm entgegen und reichte ihm die Hand, die der Arzt mit tiefer Verbeugung nahm.

»Es ist doch selbstverständlich, daß ich sofort komme, Durchlaucht. Wie ich höre, hat einer Ihrer Erntehelfer einen Unfall gehabt? Darf ich mal sehen?«

Er trat an das Bett, und Sybill und ihre Kommilitonen erhoben sich und verließen das Zimmer. Der Fürst schloß sich ihnen an.

»Es tut mir so leid, daß das passieren mußte«, sagte er bedauernd. »Es wird natürlich alles Erforderliche für Ihren Kommilitonen getan.«

»Vielleicht wird es am besten sein, wenn man ihn in eine Klinik bringt«, sagte Sybill langsam. »Mit dem Bein scheint etwas nicht in Ordnung zu sein.«

»Wenn es möglich ist, daß er hierbleiben kann, würde ich das vorziehen, und er vermutlich auch. Es ist selbstverständlich, daß er die beste Pflege bekommt.«

Eines der Stubenmädchen kam die Treppe heraufgerannt. Es war völlig verstört.

»Der Kleine ist fort! Er ist nicht in seinem Zimmer. Und ich kann ihn nirgendwo finden.«

»Entschuldigen Sie mich bitte.«

Der Fürst verneigte sich kurz vor Sybill. In seinen Augen lag Bestürzung. Er wandte sich um und eilte die Treppe hinunter.

Sybill sah ihm erschrocken nach.

Claus trat zu ihr. Sein Mund war verkniffen. In seinen grauen Augen lag Ratlosigkeit und Zorn.

»Ich verstehe dich nicht, Sybill«, sagte er vorwurfsvoll. »Seit wir hier sind, scheine ich dir überhaupt nichts zu bedeuten. Du hast nur noch Augen für den Fürsten. Die anderen haben es ebenfalls bemerkt. Und doch streitest du alles ab. Ich habe das Gefühl, du bist nicht ehrlich, vielleicht nicht einmal dir selbst gegenüber.«

Ihr Blick schien aus weiter Ferne zu kommen.

Er glaubte schon, sie habe gar nicht gehört, was er gesagt hatte, da sprach sie langsam:

»Hast du schon einmal darüber nachgedacht, wie aussichtslos es für eine kleine Baronesse wäre, einen Fürsten zu lieben? Ich möchte dich bitten, dieses Thema nie mehr anzuschneiden, Claus, oder mit unserer Freundschaft ist es endgültig vorbei.«

Bevor er etwas darauf antworten konnte, hatte sie sich umgewandt und ging langsam auf ihr Zimmer zu.

Sie hatte die Zimmertür noch nicht ganz erreicht, als Lina die Treppe heraufgehetzt kam.

»Der Prinz ist verschwunden! Seine Durchlaucht lassen fragen, ob es vielleicht möglich wäre, daß Sie sich ebenfalls an der Suche beteiligen.«

»Aber selbstverständlich«, sagte Sybill sofort. Ihre Kommilitonen schlossen sich an.

Man beratschlagte kurz. Dann machte man sich getrennt voneinander auf die Suche.

Sybill schlug den gleichen Weg ein, den sie vorhin gegangen war. Rechts und links sah sie die Leute des Fürsten das Gebüsch durchkämmen.

Unbewußt lenkte sie ihre Schritte einer Lichtung zu, deren helles Viereck den Anschein erweckte, als sei der Wald hier zu Ende.

Eine große Wiese mit hohem, von der Sonne schon ein wenig verbranntem Gras lag vor ihr.

Roséfarbener und weißer Klee duftete süß.

Ein paar Schmetterlinge umgaukelten eine kleine Gestalt, die seltsam verloren neben einem großen Brennesselbusch hockte und ihr ängstlich entgegensah.

Der Kleine mochte etwa sechs oder sieben Jahre alt sein.

Sybills Herz klopfte unwillkürlich schneller. Sie war fast sicher, daß sie vor dem Gesuchten stand.

Als sie ihn ansprach, wich er erschrocken zurück. Sie trat vorsichtig näher, um ihn nicht noch mehr zu erschrecken.

»Wie heißt du denn, mein Junge? Bist du nicht der kleine Prinz?«

Er nickte furchtsam. Die grau­blauen Augen, die denen seines Vaters so sehr glichen, waren schreckhaft geweitet.

Sie hockte sich zu ihm in das weiche Gras und sah ihn freundlich an.

»Fürchtest du dich etwa vor mir?«

Er nickte schnell.

»Sie sind eine Fee, nicht wahr? Und jetzt wollen Sie mich verzaubern.«

Er rückte vorsichtig ein Stück­chen von ihr ab.

Sie lächelte erstaunt.

»Eine Fee soll ich sein? Warum glaubst du das?«

»Weil…« Er schlang die mageren Ärmchen um die Knie und sah sie aufmerksam an. »Weil ich in einen Prinzen verwandelt worden bin. Vorher war ich nur ein kleiner Junge. Aber jetzt bin ich ein Prinz. Ein großer Fürst ist gekommen und hat gesagt, ich bin sein Sohn. Aber ich weiß ganz genau, daß ich keinen Papa habe. Die Mami hat es mir erzählt – die Mami…« Er stockte, und die hellen Augen füllten sich langsam mit Tränen.

Mitleid erfaßte das Herz des jungen Mädchens. Eine heiße Zärtlichkeit für dieses Kind, das so viele andere Kinder ganz sicher beneiden würden und das doch so einsam und unglücklich war, wallte in ihr auf.

»Mein kleiner Liebling«, flüsterte sie zärtlich und schlang die Arme um die kleine Gestalt, die sich gar nicht mehr vor ihr zu fürchten schien, denn das Kind schmiegte sich schutzsuchend an sie. »Weißt du nicht, wo deine Mami ist?«

»Doch!« Das kleine Gesichtchen wirkte ernst, als der Junge jetzt ruhig sagte:

»Die Mami ist da oben. Der liebe Gott hat sie fortgeholt. Aber sie kann mich immer sehen. Nur wiederkommen darf sie nicht. Der liebe Gott will sie bei sich haben.«

»Ach.«

Sybills Kehle war seltsam trocken. Tränen stiegen in ihre schönen Augen. Sie drückte das Kind noch zärtlicher an sich und streichelte sacht das weiche braune Haar.

Der Kleine kuschelte sich an sie. Er schien keine Furcht mehr vor ihr zu haben.

»Eine alte Frau hat mich in ein Schloß gebracht. Sie hat mir schöne Sachen gekauft, und ich bin dann in einen Prinzen verwandelt worden«, vertraute er ihr im Flüsterton an. »Aber ich möchte lieber kein Prinz sein. Ich möchte lieber wieder zu den andern Jungen ins Internat zurück. Ich mag es gern, wenn die Tanten dort Märchen erzählen, aber ich mag nicht verzaubert sein und bei einem Zauberer wohnen.«

Sybill schüttelte lächelnd den Kopf.

»Ja, glaubst du denn, daß der Fürst ein Zauberer ist?«

»Doch!« Er nickte ernsthaft.

»Aber nein, du kleines liebes Dummerchen.«

Sie streichelte ihn zärtlich.

»Ich glaube schon, daß dir da alles wie ein Märchen vorkommt. Aber es ist kein Märchen. Der Fürst ist wirklich dein Papa und kein Zauberer. Er wäre ganz sicher traurig, wenn er erführe, daß du ihn dafür hältst.«

»Aber er ist nicht mein Vater. Die Mami hat doch gesagt…«

»Vielleicht hatte deine Mami jemandem ein Versprechen gegeben, dir nicht zu erzählen, daß dein Vater ein Fürst ist. Vielleicht durfte die Mami das nicht. Hat dir der Vati das nicht erklärt?«

»Doch.«

»Und du glaubst ihm nicht? Da wäre er sicher sehr traurig, wenn er das wüßte. Er hat dich nämlich sehr lieb.«

»Das glaube ich nicht!« Der Junge befreite sich aus Sybilles Armen und rückte ein Stückchen von ihr ab.

»Die Vatis von den anderen Jungen kamen immer mal zu Besuch. Mein Vati kam nie.«

»Vielleicht konnte er nicht kommen.«

»Ein Erwachsener kann alles, was er will.«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf mit den dunklen Locken.

»O nein, mein Liebling. Man darf niemals alles, was man will. Aber nun bist du ganz lieb und kommst mit mir. Dein Vater macht sich große Sorgen um dich.«

Er stand auf und machte Miene, davonzulaufen.

»Ich komme nicht mit. Ich will da nicht wieder hin!« rief er trotzig.

Sie erhob sich ebenfalls, vermied es aber, auf ihn zuzutreten.

Sie strich ihren Rock glatt und wandte sich halb zum Gehen.

»Ich bin sehr enttäuscht«, sagte sie ruhig. »Ich hatte gedacht, du seist ein kluger kleiner Kerl, aber das bist du nicht. Du bist noch ein ganz, ganz kleiner Junge, der an Hexen und Zauberer glaubt.«

»Gibt es denn keine Zauberer?«

Er trat vorsichtig näher.

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein. Nur im Märchen.«

»Aber so ein großes Schloß.« Er schien zu zögern.

»Dein Vater wird sehr traurig sein. Du machst wohl gern andere Leute traurig.«

»Aber nein! Wirklich nicht.«

Jetzt stand er neben ihr.

»Glauben Sie, daß der Fürst traurig ist, wenn ich nicht mehr zu ihm zurückkomme?«

»Sehr traurig.«

»Und er ist wirklich mein Papa?«

Was sollte sie diesem kleinen, verwirrten Schäfchen sagen?

Sybill nickte. »Ja«, sprach sie mit überzeugender Stimme.

Sehr langsam schob sich eine kleine Hand in die ihre.

»Ich will nicht, daß er traurig ist. Ich war auch so traurig, als die Tante im Internat mir sagte, daß die Mami nie wiederkommt, weil sie nun immer beim lieben Gott bleiben muß. Es ist gar nicht schön, wenn man traurig ist.«

Er sagte das mit so großem Ernst, daß es sie erschütterte.

Was für ein lieber kleiner Kerl!

Sie nahm die kleine Hand fest in die ihre und schritt mit ihm durch den Wald, über den sich langsam die Schatten der Dämmerung senkten, zum Schloß zurück.

Fürst Degencamp war noch nicht von der Suche zurück. Sie setzte sich mit dem Kind in die große Halle und ließ sich von Wolfram erzählen, was er im Internat erlebt hatte.

Sybill saß in einen der großen, weichen Ledersessel geschmiegt, und Wolfram kauerte auf einem niedrigen Schemel zu ihren Füßen. Er erzählte eifrig – von den Freunden, von den Tanten und von allen denen, die er in sein kleines Herz geschlossen hatte.

Sybill hörte ihm so aufmerksam zu, daß sie den Fürsten erst bemerkte, als er schon dicht neben ihnen stand.

»Sie haben ihn gefunden. Ich bin Ihnen so dankbar, Baronesse.«

Sein Gesicht wirkte grau und eingefallen. Die schmalen Lippen bebten.

Der Kleine war aufgestanden. Es kam ihr vor, als betrachte er seinen Vater ohne Furcht, aber mit großem Ernst.

»Er hat geglaubt, er sei verzaubert worden«, sagte sie sehr leise. »Er dachte, dies hier sei nur ein Märchen. Es wird gut sein, ihm alles zu sagen – ich meine – alles.« Sie zögerte. Sie war nicht sicher, wie er ihre Worte auffassen würde.

Der Fürst blickte versonnen vor sich hin. »Aber wird er verstehen? Er ist doch noch so klein.«

»Er ist ein intelligenter Junge. Ich würde es versuchen, Fürst Degencamp.«

»Ich danke Ihnen.«

Er drückte ihr bewegt die Hand. »Wo haben Sie ihn gefunden?«

»Mitten im Wald, auf einer Wiese. Er wirkte ganz einsam und braucht sehr viel Liebe, glaube ich.«

In ihren schönen dunklen Augen leuchtete es warm. Sie nickte dem Kleinen zärtlich zu. Dann neigte sie grüßend den Kopf mit den glänzenden Locken und schritt schnell davon.

*

Sie arbeiteten noch ein paar Tage auf den Feldern draußen, dann war es geschafft. Die Ernte war eingebracht.

Man sah es den Studenten an, daß sie viel im Freien gearbeitet hatten. Sie waren braungebrannt und sahen gut erholt aus.

»Am Sonntag findet ein großes Erntefest statt«, sagte Claudia aufgeregt zu Sybill. »Aber wir werden wohl nicht mehr hier sein. Eigentlich schade, nicht wahr? Es hat mir viel Spaß gemacht.«

»Ach, ich weiß nicht«, antwortete Sybill nachdenklich. »Vielleicht ist es besser so.«

Claudia sah sie erstaunt an. Bevor sie etwas sagen konnte, kam einer der Kommilitonen und verkündete begeistert, daß der Fürst sie alle einlade, sich vierzehn Tage lang auf dem Schloß zu erholen.

»Er sagt, wir sollen uns als seine Gäste fühlen. Ist das nicht sehr liebenswürdig?«

Claudia schlug jubelnd in die Hände.

»Ja, wirklich, sehr nobel von ihm, nicht Sybill?«

Sybill nickte langsam. »Doch. Aber ich weiß nicht – Mama erwartet mich. Ich glaube, ich kann die Einladung nicht annehmen.«

»Aber Sybill! Du bist doch so gern draußen auf dem Land. Ich versteh’ dich wirklich nicht. Du kannst deiner Mutter doch ein Telegramm schicken.«

Claudia sah die Freundin erstaunt an.

»Das könnte ich – trotzdem – sie ist es nicht gewohnt, so lange allein zu sein. Seid mir bitte nicht böse. Ich fahre lieber heim.«

Sie ahnte selbst nur, was sie sich nicht einzugestehen wagte: daß das eine Flucht war vor einer Liebe, die von vornherein aussichtslos sein mußte.

Sie schlenderten langsam auf den Gutshof. Von den Ställen klang das leise Wiehern der Pferde her­über. Die Mägde gingen mit klappernden Eimern in den Kuhstall. Vom Geflügelhof hörte man das aufgeregte Gackern der Hennen, die ihr Futter bekamen.

All das waren wunderbar vertraute Geräusche, vertraut und in der Enge der Großstadt so schmerzlich vermißt.

Sybill seufzte schwer.

»Ich komme noch nicht mit hinein«, sagte sie. »Ich gehe ein bißchen in den Wald, bleibe aber nicht lange. Bis nachher also.«

Es erschien ihr plötzlich unerträglich, ins Haus und in ihr Zimmer zu gehen. Sie hatte das Bedürfnis, jeden Augenblick, den sie noch hier verleben konnte, draußen in der frischen Luft zu verbringen.

Als sie an der Schmalseite des langen grauen Schloßgebäudes entlangging, sah sie einen Wagen die breite Ahornallee heraufkommen.

Es war der Mercedes des Fürsten.

Er saß selbst am Steuer, neben ihm ein junges Mädchen, ganz in Schwarz gekleidet, das sich lebhaft mit ihm unterhielt.

Sybill spürte, daß Schmerz sie durchzuckte, wie ein feiner, schneller Nadelstich, der einen unvorbereitet trifft.

Wer saß da neben dem Fürsten? Seine Braut vielleicht? Bevor der Wagen ihren Blicken entschwunden war, hatte sie noch eine ältere Dame gesehen, die im Fond saß.

Sybill ging schneller. Sie lief fast. Eine Hand hielt sie auf ihr Herz gepreßt, das schwer und dumpf schlug.

Im schützenden Halbdunkel des Waldes warf sie sich unter einer schlanken Birke ins Gras und starrte in den lichtblauen Himmel hinauf, vor den die sich schon leicht verfärbenden Blätter der Birke wie feines Filigran breiteten.

Ich kenne ihn doch kaum, dachte sie erschrocken.

Es kann doch nicht sein, daß man sich in einen Mann verliebt, mit dem man nur einige Male gesprochen, von dessen Existenz man nie etwas geahnt hat?

Es kann nicht sein! Es kann nicht sein! hämmerten ihre Gedanken. Ihre weit geöffneten Augen sahen nicht den Himmel über sich, nicht die zarten Blätter der Birke, die leise im Wind bebten, sie glaubten, ein männlich-herbes Antlitz zu sehen, aus dem zwei graublaue Augen voll zärtlicher Ironie auf sie herabsahen und ein stolzer Mund Worte zu ihr sprach, die sie nur im Traum zu ersehnen wagte.

Ein Windstoß fuhr durch die sanft gewölbte Krone der Birke. Er trieb ihre Äste und Zweige zusammen, daß sie sich zu einem dichtgeschlossenen Dach vor dem Himmelsblau verdichteten.

Auch als der nächste Windstoß sie wieder auseinanderriß, sah Sybill den Himmel immer noch nicht. Aber die Augen, von denen sie eben geträumt, waren über ihr, und eine helle Stimme sagte vorwurfsvoll:

»Hier sind Sie also! Und ich habe überall nach Ihnen gesucht.«

Sie fuhr empor.

»Du bist es, Wolfram«, sagte Sybill erstaunt. »Bist du etwa schon wieder fortgelaufen?«

»Nein. Ganz bestimmt nicht!«

Er hockte sich neben sie ins Gras.

»Es war so langweilig in meinem Zimmer. Ich mag all die neuen Spielsachen nicht, die –«, er zögerte unmerklich – »Vater mir geschenkt hat. Und ich war so allein. Da habe ich gedacht, ich könnte Sie vielleicht mal besuchen. Ich habe Sie gesucht – überall. Und dann dachte ich, weil ich Sie doch damals im Wald getroffen habe, vielleicht sind Sie…«

»Und nun bin ich da wirklich!«

Sie lachte fröhlich. Aber gleich darauf sagte sie, ernster werdend:

»Du hast sicher niemandem gesagt, wohin du gehst, nicht wahr?«

Er schüttelte den Kopf.

»Und wenn der Vater dich nun sucht?«

»Der Vater ist ja nicht da. Er ist mit dem Auto fortgefahren. Zuerst wollte er mich mitnehmen. Aber dann hat er gesagt, es sei vielleicht doch besser, wenn ich hierbliebe. Er hat so was wie: Man muß sie erst vorbereiten – vor sich hingemurmelt. Ich habe es genau verstanden.«

Er sah sie aufgeregt an. »Ich glaube, es kommt jemand zu Besuch. Die Lina hat es auch gesagt.«

Wieder durchfuhr der feine Nadelstoß ihr Herz. Ihr Lächeln wirkte verzerrt, als sie leise fragte:

»Und warum magst du die schönen Spielsachen nicht, die dein Vater dir geschenkt hat?«

»Och, ich muß ja immer ganz allein mit ihnen spielen. Das ist so langweilig.«

Er verzog das niedliche Gesicht zu einer Grimasse.

Sybill erhob sich aus dem Gras und strich ihren Rock glatt.

»Ich denke, wir gehen jetzt zusammen zum Schloß zurück. Es könnte doch immerhin sein, daß dein Vater sich ängstigt, wenn er dich nachher nicht in deinem Zimmer findet. Vielleicht denkt er dann, du seist wieder fortgelaufen.«

»Aber er ist doch nicht da«, versuchte Wolfram einzuwenden.

»Doch! Er ist schon wieder zurück. Ich habe ihn vorhin kommen sehen.«

Sie nahm ihn an die Hand, und er ging willig mit.

»Ich mag Sie sehr«, vertraute er ihr an, und die kleine Hand drückte die ihre ganz fest. »Könnten Sie nicht ein Weilchen zu mir heraufkommen und mit mir spielen?«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, zögerte sie. »Vielleicht ist es dem Fürsten nicht recht.«

»Ich werde ihn einfach fragen«, beschloß der Junge und sah sie triumphierend an. »Werden Sie dann kommen?«

»Ja. Aber ich fahre schon bald nach Hause.«

»Nach Hause? Wohnen Sie denn nicht immer hier im Schloß?«

Grenzenlose Enttäuschung klang aus den Worten des Kindes. Sybill hörte es gerührt. Liebevoll strich sie mit ihren schlanken Fingern durch sein dichtes braunes Haar.

»Magst du mich denn ein bißchen?« fragte sie leise.

»Sehr!« klang es voller Inbrunst zurück.

Sie waren beim Schloß angekommen. Eben öffnete sich die schwere Eingangstür, und der Fürst trat heraus.

Als er das junge Mädchen erblickte, das seinen Sohn an der Hand hielt, ging ein frohes Leuchten über sein Gesicht. Er eilte die Treppe hinunter auf sie zu.

»Da bist du ja, Wolfram«, sagte er erleichtert. »Ich habe dich schon vermißt.«

Sybill ließ den Kleinen von ihrer Hand, aber er lief nicht zu seinem Vater. Er blieb an ihrer Seite.

»Ich möchte so gern, daß sie mich besucht, Vater. Aber sie sagt, sie fährt fort, nach Hause. Kann sie nicht noch ein bißchen bleiben?«

Wolfram sah den Vater bittend an. Leise und ein bißchen verschämt fügte er hinzu:

»Sie ist so lieb. Ich mag sie sehr gern.«

Der Fürst warf einen erstaunten Blick auf das junge Mädchen. Wie hatte sie es nur fertiggebracht, in so kurzer Zeit das Herz seines Sohnes zu erobern?

Sybill sagte schnell, als ahne sie seine Gedanken:

»Er möchte mir seine neuen Spielsachen zeigen, nicht wahr, Wolfram?«

Der Kleine nickte eifrig.

»O ja, Vater. Darf ich das bitte?«

Es war die erste Bitte, die sein Sohn an ihn richtete. Hasso von Degencamp sah voller Staunen auf das Mädchen, das dieses Wunder vollbracht hatte. Die Verschlossenheit und innere Abwehr des Kindes hatten ihn fast verzweifeln lassen.

»Natürlich darfst du«, sagte er. »Die Baronesse wird noch zwei Wochen hiersein. Vielleicht spielt sie manchmal mit dir, wenn du sie schön bittest.«

»Aber sie hat doch gesagt, sie fährt schon bald nach Hause«, sagte Wolfram traurig.

Der Fürst sah sie fragend an. Sybill nickte zögernd.

»Ja, es stimmt. Ich danke Ihnen für Ihre großzügige Einladung. Aber ich kann sie nicht annehmen, meine Mutter erwartet mich. Außerdem möchte ich vermeiden, mich wieder zu sehr an das Landleben zu gewöhnen. Es ist dann viel schwerer für mich, in die Stadt zurückzukehren.«

»Und wenn Sie für immer hierblieben? Ich meine als Erzieherin meines Sohnes«, fragte der Fürst spontan.

Ihr Herz schlug unwillkürlich schneller, aber dann schüttelte sie stumm den Kopf.

»Heißt das nein?«

Man hörte die Enttäuschung aus den Worten des Fürsten, als er schnell weitersprach:

»Aber warum denn nicht? Ich biete Ihnen ein gutes Gehalt. Wenn Sie es wünschen, kann Ihre Frau Mama ebenfalls hierherkommen. Selbstverständlich werden ein Kindermädchen und ein Hauslehrer zu Ihrer Entlastung eingestellt.«

Sie lächelte zaghaft. »Es geht nicht, wirklich nicht. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, Durchlaucht.«

Von der Treppe her klang die Stimme eines jungen Mädchens:

»Hallo, Hasso! Wo steckst du denn?«

Sybill verabschiedete sich schnell. Dann lief sie davon. Es sah fast wie eine Flucht aus.

»Wer war denn das?«

Diana kam die Treppe heruntergelaufen. Sie sah der Davoneilenden neugierig nach.

»Das war die Baronesse von Gereneck. Sie hat uns bei der Ernte geholfen.«

Der Fürst schien zerstreut. Diana sah ihn erstaunt an. Sie wollte etwas sagen, als die Stimme ihrer Mutter ertönte:

»Du wirst dich erkälten, Diana. Binde dir ein Tuch um.«

Das junge Mädchen errötete.

»So rasch erkälte ich mich nicht, Mama. Es ist überhaupt nicht kalt draußen.«

»Wollt ihr nicht hereinkommen?«

Die Gräfin beugte sich über das Geländer und sah hinunter. Als sie den Jungen erblickte, stutzte sie.

»Wer ist denn das?«

»Ich werde es euch gleich erklären«, sagte der Fürst schnell. »Komm, Wolfram, begrüße deine Tante und deine Kusine.«

»Kusine? Tante?«

Die Gräfin riß ihre Augen auf.

Der Kleine verbeugte sich artig und reichte den beiden Damen die Hand.

»Wolfram ist mein Sohn!«

Die Worte des Fürsten schlugen wie eine Bombe ein.

»Ich habe überhaupt nicht gewußt…« Nach einem Blick auf den Jungen, der sie neugierig musterte, verstummte die Gräfin.

»Geh auf dein Zimmer, Wolfram. Wasch dir die Hände und laß dich zum Essen ankleiden«, sagte der Fürst. Das Kind ging gehorsam nach oben.

»Es ist schwierig ohne Erzieherin«, seufzte der Fürst. »Ich habe annonciert. Aber bisher habe ich niemanden gefunden, der mir geeignet schien.« Er verstummte.

Sie gingen in den Blauen Salon, und die Gräfin ließ sich in einen der brokatbespannten Sessel fallen.

»Du wolltest uns erklären, Hasso«, begann sie unruhig.

»Ach ja, natürlich.«

Er zog ein silbernes Zigarettenetui aus der Tasche und reichte es der Kusine hinüber. Dann steckte er sich selbst eine Zigarette an. Auf den Gedanken, daß Diana ebenfalls schon rauchen könnte, kam er nicht. Sie war für ihn noch ein Kind.

»Ich weiß selbst erst seit einiger Zeit, daß ich einen Sohn habe«, begann er. Und er erzählte der aufhorchenden Gräfin alles über die kurze, glückliche Liebe mit der Gesellschafterin seiner Mutter. Er verschwieg nicht, wie sehr er sie geliebt hatte und wie schmerzlich es für ihn gewesen war, zu erfahren, daß sie nicht mehr unter den Lebenden weilte.

Das Gesicht der Gräfin verfinsterte sich zusehends.

»Es wäre nicht unbedingt deine Pflicht gewesen, das Kind jetzt anzuerkennen«, sagte sie langsam. »Ich denke, deine Mutter hat ausreichend für den Jungen gesorgt. Er scheint doch im Internat recht gut aufgehoben gewesen zu sein.«

Hasso von Degencamp lächelte.

»Aber ich finde es wunderbar, einen Sohn zu haben. Und hätte seine Mutter noch gelebt« – sein Gesicht nahm einen ernsteren Ausdruck an – »dann hätte ich sie natürlich geheiratet.«

Die Gräfin erstarrte.

»Du hättest es fertiggebracht, eine Bürgerliche zu heiraten? Du – ein Fürst von Degencamp?«

»Selbstverständlich hätte ich das. Ich halte nicht viel von unseren alten verstaubten Konventionen, die stolz und einsam, aber niemals glücklich machen.«

Die Worte des Fürsten klangen heftig. Seine Augen funkelten.

»Ich will nicht der Tradition leben, sondern das Leben führen, das ich mir wünsche. Das Leben ist kurz – sehr kurz. Und es liegt an uns, was wir daraus machen.«

»Aber Hasso! Wenn dich dein Vater hören könnte! Er würde sich im Grabe umdrehen! Du, ein Fürst von Degencamp…«

»Du wiederholst dich, liebe Kusine«, fiel er ihr ins Wort. »Übrigens wird Wolfram mit allen Rechten und Pflichten dereinst einmal mein Nachfolger. Ich habe ihn ­adoptiert.«

Die Gräfin rauchte hastig. Aber es gelang ihr nicht, ihre Erregung zu verbergen.

»Meinst du, daß deine zukünftige Frau damit einverstanden sein wird, daß das Kind einer anderen Frau ihrem eigenen Kind die ihm zustehenden Rechte nimmt?« fragte sie scharf.

Der Fürst runzelte unwillig die Brauen.

»Entschuldige, liebe Kusine«, sagte er heftiger, als er beabsichtigt hatte, »aber ich wüßte wirklich nicht, was dich das anginge. Und nun laß uns von etwas anderem reden.«

Die Gräfin verschluckte rechtzeitig, was sie noch hatte sagen wollen, und lächelte liebenswürdig.

Es würde nicht leicht sein, diesen halsstarrigen Mann davon zu überzeugen, was gut für ihn war, dachte sie bei sich. Laut aber sagte sie:

»Wer war denn die junge Dame, die mit dem Jungen kam und dann so eilig davonlief?«

»Baronesse Gereneck, die bei den Erntearbeiten hilft«, antwortete Diana statt des Vetters.

»Eine Baronesse, die bei den Erntearbeiten hilft?« sagte die Gräfin gedehnt. »Gibt es das auch? Vermutlich total verarmte Familie. Aber trotzdem…« Ihre Miene drückte Verachtung aus.

Fürst Degencamp stellte in diesem Augenblick fest, daß er die Kusine unausstehlich fand. Er warf ­Diana einen unfreundlichen Blick zu und meinte kühl:

»Es könnte deiner Diana vielleicht auch nicht schaden, wenn sie sich ein wenig betätigen würde. Hast du noch gar nicht gehört, daß das auch unter den jungen Damen des Hochadels heute üblich ist?«

Die Gräfin errötete vor Ärger, und Diana sagte schnell:

»Wir haben im Internat einen Rotkreuzkursus mitgemacht. Ich bin gar nicht so untüchtig, wie du glaubst, lieber Vetter.«

Sie lachte spitzbübisch. Es machte ihr Spaß, mit anzuhören, wie die Mutter und der Vetter die Klingen kreuzten.

»Ah, Krankenpflege«, sagte der Fürst gedehnt. »Das trifft sich großartig. Einer unserer Studenten hat sich das Bein gebrochen. Die Pflegerin, die ich engagiert habe, ist heute morgen erkrankt. Da hast du gleich Gelegenheit, dich ein bißchen nützlich zu machen, Diana.«

Die Gräfin erstarrte.

»Das ist doch wohl nicht dein Ernst, Hasso. Ein junges Mädchen wie Diana kann doch nicht einfach zu einem jungen Mann ins Zimmer gehen.«

Ihre grauen Augen blitzten entrüstet.

»Aber warum denn nicht, Ma­ma?« fiel Diana ein. »Als wir einmal eine Woche lang im Krankenhaus eingesetzt worden waren, mußten wir auch zu den männlichen Patienten ins Zimmer. Es ist doch nichts dabei.«

Die Gräfin schnappte hörbar nach Luft.

»Ich habe es ja gesagt«, murmelte sie fassungslos, »seit immer mehr Emporkömmlinge ihre Töchter auf Schweizer Internate schicken, ist das Niveau der meisten Internate bedauerlicherweise ganz erheblich gesunken. Ich werde dich nicht wieder dahin zurückschicken, Diana.«

Die Gräfin verschluckte rechtzeitig, was sie noch hatte sagen wollen, und Diana lachte leise.

Fürst Degencamp erhob sich.

»Na, dann komm, Diana! Ich werde dich zu dem Kranken bringen. Er wird entzückt sein, wenn sich ein so nettes junges Mädchen um ihn kümmert.«

Die beiden verließen den Salon, während die Gräfin mit den widerstreitendsten Gefühlen zurückblieb.

*

Jürgen Bentloh richtete sich erstaunt auf, als nach kurzem An­klopfen der Fürst, gefolgt von einem schwarzgekleideten jungen Mädchen, sein Zimmer betrat.

»Guten Tag, Herr Bentloh. Wie geht’s? Schon ein bißchen besser?«

Der Fürst streckte ihm die Rechte entgegen. Dann stellte er ihm seine Kusine vor.

»Die Komteß wird sich ein bißchen um Sie kümmern. Sie ist mit der Pflege von Kranken vertraut. Also, wenn Sie irgend etwas wünschen, sagen Sie es ihr ruhig. Also bis nachher, Diana.«

Damit ging er.

Die beiden jungen Leute saßen sich einander verlegen gegenüber, Jürgen Bentloh mit hochgezogenem Knie gegen seine Kissen gelehnt, Diana stocksteif auf ihrem Stuhl.

Sie war ein bißchen ratlos. Der Vetter hatte sie da in eine merkwürdige Situation gebracht. Was, um Himmels willen, sollte sie hier tun? Es wäre vielleicht doch besser gewesen, sie hätte von diesem Rot-Kreuz-Lehrgang nichts erwähnt.

Sie zupfte verlegen an ihrem Kleid und bemühte sich, es bis zu den Knien herunterzuziehen, was ihr nicht gelingen wollte, denn das schwarze Seidenkleid war nach der neuesten Mode ziemlich kurz gearbeitet.

Jürgen Bentloh sah ihren Be­mühungen eine Zeitlang wortlos zu, wobei er sachlich feststellte, daß diese Beine makellos schön waren.

»Ich würde es aufgeben«, sagte er schließlich. »Es nützt doch nichts.«

Diana errötete. Als sie seinen spitzbübischen Blick bemerkte, lachte sie.

»Sie haben recht«, sagte sie freimütig. »Es hat keinen Zweck. Es ist Mamas Schuld. Sie hat das Kleid so kurz arbeiten lassen.«

»Aber ich finde das reizend. Warum wollen Sie Ihre hübschen Beine denn verstecken, Komteß? Das haben Sie doch gar nicht nötig.«

Wieder errötete sie. Er bemerkte es, und es machte ihm Spaß.

Was für ein reizendes Ding! Diana hieß sie. Sie sah mit ihren etwas rundlichen Formen durchaus lieblich aus.

Verlegen fragte sie:

»Haben Sie Schmerzen? Kann ich etwas für Sie tun? Sie haben das Bein gebrochen, nicht wahr? Wie ist das denn passiert? Sind Sie vom Erntewagen gefallen?«

Er wollte es ihr gerade erklären, als es klopfte und Claudia das Zimmer betrat.

Sie machte große Augen, als sie ihn mit einem ihr unbekannten jungen Mädchen allein fand.

»Ah, Claudia, komm doch herein!« rief er ihr gutgelaunt entgegen. »Du weißt doch, ich habe gern Besuch. Wenn ihr draußen auf den Feldern seid, langweile ich mich gräßlich.«

»Du siehst mir nicht gerade danach aus, als ob du dich langweiltest«, sagte sie spitz und nickte ­Diana hochmütig zu.

Jürgen Bentloh grinste. Er machte die jungen Mädchen miteinander bekannt, und Diana reichte Claudia mit herzlichem Lächeln die Hand.

»Mein Vetter hat mir erzählt, daß Sie ihm alle bei der Ernte geholfen haben«, sagte sie freundlich. »Ich finde das großartig. Welcher Fakultät gehören Sie an? Ich hätte gern studiert. Aber meine Mutter hat es mir nicht erlaubt.«

Claudias Mißtrauen war zwar noch nicht besiegt, aber Dianas liebenswürdiger Offenheit vermochte sie nicht zu widerstehen.

Sie setzte sich zu den beiden, und wenig später waren alle drei in ein interessantes Gespräch über die Vorzüge und Nachteile eines Hochschulstudiums vertieft.

Als der Fürst später noch einmal nach seiner Kusine sah, lächelte er zufrieden. Diana hatte eine Beschäftigung gefunden, das war groß­­artig.

Er kam sich ihr gegenüber mit seinen zweiunddreißig Jahren doch schon recht alt vor. Sie war noch ein solches Küken. Es war besser und sicher viel netter für sie, wenn sie unter Gleichaltrigen war.

*

»Am Sonntag ist Erntefest. Dann tanzen alle Leute und sind lustig. Werden Sie auch mit mir tanzen?«

Klein-Wolfram sah Sybill, die mit ihm mit der großen Eisenbahn spielte, erwartungsvoll an.

»Ich werde am Sonntag nicht mehr hier sein. Ich reise übermorgen ab.«

»Nein! Bitte nicht! Bitte bleiben Sie doch bis Sonntag! Bitte, bitte!« Die großen Kinderaugen bettelten.

Sybill seufzte. Was sollte sie tun? Sie hatte der Mutter zwar ihren Ankunftstermin noch nicht mitgeteilt, aber sie hatte es sich doch fest vorgenommen, am Sonntag daheim zu sein.

Wolfram stellte die Lokomotive, die er gerade an den Personenzug koppeln wollte, aus der Hand und schmiegte sich an ihre Knie.

»Bitte, bitte«, wiederholte er. Die kleine Kinderhand legte sich schüchtern auf ihre Rechte.

Sie strich ihm zärtlich übers Haar.

»Also meinetwegen. Wenn du doch so sehr darum bittest.«

»Prima!«

Er drückte sie stürmisch an sich.

»Das ist prima, prima, prima!«

Er hüpfte und sprang im Zimmer umher und schnitt übermütig Fratzen.

Der Fürst, der leise hereingekommen war, staunte. So ausgelassen hatte er seinen Sohn noch nie erlebt.

»Was ist denn mit dir los?« fragte er gutgelaunt. »Du bist ja so munter heute.«

Wolfram lächelte den Vater schüchtern an und trat wieder zu Sybill, an die er sich zärtlich schmiegte.

»Sie bleibt noch zum Erntefest«, sagte er leise und sah strahlend zu ihr auf.

»Und das macht dich so froh?«

Der Fürst strich seinem Sohn behutsam übers Haar.

»Es ist lieb von Ihnen, daß Sie bleiben wollen.«

Er sah Sybill nachdenklich an. »Warum bleiben Sie nicht noch ein bißchen länger? Ihre Kommilitonen bleiben doch auch noch?«

Sybill sah verlegen die beiden Augenpaare, die einander so sehr ähnelten, mit der gleichen Bitte darin auf sich gerichtet.

Sie brachte es nicht fertig, noch einmal nein zu sagen.

»Also gut. Ich nehme Ihre Einladung an, Durchlaucht. Vielen Dank.«

Sie drückte den Kleinen zärtlich in ihre Arme.

»Bist du nun zufrieden, Wolfram?«

»Sehr!«

Die Kinderaugen strahlten. Ehe sie es sich versah, hatte der kleine Prinz ihren Kopf zu sich heruntergezogen und küßte sie zärtlich auf die Wange.

Verlegen ob dieses spontanen Zärtlichkeitsausbruchs, senkte er gleich darauf den Kopf mit den dunklen Locken.

Sybill legte liebevoll den Arm um ihn, und der Fürst sagte lä­chelnd:

»Ich hätte mich furchtbar gern in der gleichen Form bedankt, aber ich fürchte, ich würde da auf große Ablehnung stoßen. Ich traue mich nicht.«

Sybill lächelte, und unter diesem Lächeln errötete sie tief.

Der Fürst sah es mit Entzücken. Dieses Mädchen verzauberte ihn von Tag zu Tag mehr.

*

Erntefest auf Schloß Degencamp. Die Knechte und Mägde tanzten ausgelassen auf der großen Tenne, es gab Freibier, soviel jeder wollte, und an langen Spießen in der großen Schloßküche drehten sich langsam Spanferkel und zarte Hähnchen.

Der Fürst war nicht knauserig. Die Ernte war gut gewesen. Grund genug, dem Personal ein großartiges Fest zu geben.

Traditionsgemäß feierte auch der Fürst selbst mit und alle Gäste des Schlosses.

Die Gräfin Kingsbird allerdings hielt sich sehr zurück, und als sie bemerkte, daß ihre Tochter im Begriff war, sich ebenfalls unter die Tanzenden zu mischen, zog sie sie sanft, aber bestimmt zurück.

»Du trägst Trauer, mein Kind. Vergiß das bitte nicht. Du wirst doch nicht so pietätlos sein und wenige Wochen nach dem Tode deines lieben Vaters leichtfertig zum Tanz gehen«, sagte sie vorwurfsvoll.

Diana ließ traurig den Kopf hängen. Aber der Fürst, der die Worte gehört hatte, legte der geknickten Diana lachend den Arm um die Schulter.

»Sei nicht traurig, du wirst in deinem Leben sicher noch Gelegenheit genug haben, Feste zu feiern und dich zum Tanz führen zu lassen. Hast du eigentlich schon an deinen Kranken gedacht? Wie mir scheint, hast du da eine Pflicht übernommen. Bist du ihr heute schon nachgekommen?

Ich könnte mir vorstellen, daß dein Pflegebefohlener ebenso wie du des tröstlichen Zuspruchs bedarf.«

»Aber Hasso! Du kannst Diana doch nicht fortwährend auf das Zimmer eines jungen Mannes schicken«, empörte sich die Gräfin.

»Der junge Mann befindet sich nicht in seinem Zimmer, sondern auf der Terrasse. Wenn du unbedingt möchtest, kannst du dich ja dazusetzen, liebe Kusine«, lachte der Fürst, der in einer eleganten hellgrauen Flanellhose und einem am Halse offenstehenden Seidenhemd blendend aussah.

Diana lachte und lief durch den Salon zur Terrasse hinüber. Die Gräfin folgte ihr kopfschüttelnd. Merkwürdige Sitten herrschten auf Schloß Degencamp. Es war an der Zeit, daß hier einiges geändert wurde.

Sie erinnerte sich seufzend der herrlichen Schloßbälle, die zu Lebzeiten der Fürstin regelmäßig stattgefunden hatten, Bälle, auf denen der gesamte Hochadel sich zu versammeln pflegte. Was waren das für glanzvolle Feste gewesen. Aber Hasso war ein richtiger Einsiedler. Das hatte es wohl noch nie gegeben, daß ein Fürst Degencamp so zurückgezogen lebte wie er. Er war schon ein seltsamer Kauz, ihr Vetter. Hoffentlich gelang es Diana, ihn für sich zu interessieren. Bis jetzt war davon allerdings relativ wenig zu bemerken.

Die Gräfin runzelte unwillig die Brauen. Sie sah durch die offenstehenden Terrassentüren hinaus und bemerkte, daß Diana und dieser Student sich lebhaft unterhielten.

Es würde wohl tatsächlich am besten sein, wenn sie sich im Salon niederließ, um die beiden zu beobachten. Man konnte schließlich nie wissen. Diese jungen Männer taugten heutzutage nichts, dachte die Gräfin.

Sie nahm eine Handarbeit und ließ sich auf einem der kleinen Biedermeiersofas nieder.

Während sie ab und zu einen Blick zu den beiden jungen Leuten hinauswarf, hing sie ihren Lieblingsgedanken nach. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihre Diana bereits als Fürstin auf Schloß Degencamp residieren. Selbstverständlich würde sie selbst dann ebenfalls ihren ständigen Wohnsitz hier nehmen. Kinder müßten kommen, dann würde man sie brauchen, und sie wollte sich dem jungen Ehepaar unentbehrlich machen.

Die Gräfin lächelte siegesbewußt.

Bisher hatte sich alles nach ihren Plänen gefügt. Warum also sollte sich dieser, ihr Lieblingswunsch, nicht auch erfüllen?

*

Jürgen Bentloh hatte erstaunt aufgesehen, als er sah, wer zu ihm herauskam. Er hatte sich gerade zum hundertsten Male über seinen Unfall geärgert, der ihn daran hinderte, heute beim Erntefest richtig dabeizusein.

Er tanzte für sein Leben gern. Nicht einmal Claudia hatte ihm Gesellschaft leisten wollen, was er ihr sehr übelnahm. Er kam sich verlassen und verraten vor, wie er da so allein auf der Terrasse in einem bequemen Liegestuhl lag und in den Büchern blätterte, die der Fürst ihm hatte bringen lassen.

»Das ist aber riesig nett, daß Sie nach mir schauen«, lächelte er ­Diana entgegen, die schüchtern zu ihm trat. »Tanzen Sie denn nicht mit?«

Sie schüttelte traurig den Kopf, und er erinnerte sich ihrer Trauer.

»Verzeihen Sie«, lächelte er verlegen. »Ich hatte nicht daran gedacht.«

Sie setzte sich zu ihm und sagte mit einer Offenheit, die ihn erstaunte:

»Das macht nichts. Ich hatte es selbst auch ganz vergessen. Mama mußte mich erst wieder erinnern. Ist das nicht schrecklich? Ich habe meinen Vater sehr lieb gehabt, wirklich. Trotzdem hatte ich es einen Augenblick lang vergessen. Ist das nicht herzlos von mir? Ich bin selbst ganz unglücklich darüber.«

Sie machte einen niedergeschlagenen Eindruck. Er legte seine Hand auf ihren Arm und sagte tröstend:

»Ich finde, Sie sollten sich nicht mit derartigen Gedanken quälen. Sie sind doch jung und hübsch. Da ist es gar kein Wunder, wenn Sie sich ein bißchen amüsieren möchten. Niemand kann Ihnen das verübeln.«

»Finden Sie wirklich?«

Sie sah ihn erstaunt an. Ihre zarten Finger strichen verlegen das offen über die Schultern fallende Haar zurück.

»Ob ich was finde?«

»Nun, daß ich hübsch bin.«

Sie senkte die langen Wimpern über die Augen und sah verschämt auf die Platten des Fußbodens.

Sie wirkte in diesem Augenblick so mädchenhaft reizend, daß er sie am liebsten in die Arme genommen und geküßt hätte.

»Natürlich sind Sie hübsch. Hat Ihnen das noch niemand gesagt?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein. Ich bekomme nur immer das Gegenteil zu hören.«

»Von wem? Den Burschen werde ich mir einmal vornehmen. Ich werde mich mit ihm duellieren! Jawohl! Sowie ich einigermaßen wieder zu Fuß bin, werde ich ihn fordern – auf Säbel und Pistolen! Das darf nicht ungesühnt bleiben! Wer ist der Kerl?«

Sie kicherte erst, dann lachte sie laut auf.

»Sie sind ulkig. Würden Sie das wirklich tun für mich?«

»Mich für Sie schlagen? Selbstverständlich! Sofort! Wenn es sein muß, mit einem ganzen Regiment!« scherzte Jürgen Bentloh.

Er legte die Hand aufs Herz und warf ihr einen feurigen Blick zu.

»Aber Sie können sich mit dem Burschen nicht schlagen, denn es handelt sich um meine Mutter«, lachte sie.

»Ach so! Ihre Frau Mama.«

Er wiegte bedächtig den Kopf hin und her. »Das ist natürlich dumm. Da kann man tatsächlich nichts tun. Man könnte sie höchstens einmal sehr nachdrücklich darauf aufmerksam machen, welch bezauberndes Wesen sie mit ihren ungerechten Worten vergrämt und zutiefst beleidigt hat.«

»Um Himmels willen! Sie sitzt da drinnen im Salon. Sagen Sie bloß nichts. Sonst dürfte ich ganz sicher nicht mehr zu Ihnen.«

Diana sah sich erschrocken um.

Jürgen folgte ihrem Blick und schüttelte unwillig den Kopf. Die Gräfin war ihm auf den ersten Blick unsympathisch.

Als spüre sie seine Gedanken, sah sie auf und zog die Brauen zusammen. Er verbeugte sich höflich, so gut es im Sitzen mit dem eingegipsten Bein ging; aber sie tat, als bemerke sie es nicht.

»Sie mag mich nicht«, flüsterte er. »Sie kann mich nicht ausstehen.«

»Machen Sie sich nichts draus«, tröstete Diana ihn. »Ich jedenfalls mag Sie sehr.«

»Wirklich?«

Er sah ihr tief in die Augen, und sie errötete über und über.

»Ich… Es ist mir nur so herausgerutscht«, flüsterte sie verschämt. »Ich hatte es eigentlich gar nicht sagen wollen!«

»Es stimmt also nicht«, stellte er bekümmert fest. »Schade!«

»Doch, stimmt es!«

Sie war wirklich verlegen. »Aber nun wollen wir von etwas anderem reden, ja?«

»Ich finde, es ist ein herrliches Gesprächsthema«, beharrte er. »Ich kann gar nicht genug darüber hören.«

Sie erhob sich und tat, als wolle sie gehen.

Er faßte nach ihrer Hand und drückte sie sanft in ihren Sessel zurück.

»Warum wollen Sie jetzt davonlaufen? Sie sind ein ängstlicher kleiner Hase. Aber ich mag ängstliche kleine Hasen sehr.«

Sie sagte nichts. Ihre Finger spielten nervös mit dem zarten Batisttuch.

»Wenn Sie weiter so daran zerren, werden Sie gleich nur noch Fetzen in den Händen halten. Ich fände das schade«, sagte er leise.

Sie steckte das Taschentuch ein und fuhr sich verlegen mit der Hand übers Haar.

»Sie haben wunderschönes Haar. Aber warum lassen Sie es nicht kürzer schneiden? Es würde viel besser aussehen als diese schulterlangen Strähnen«, sagte er nachdenklich.

Diana ärgerte sich. »Das war eben nicht gerade sehr liebenswürdig. Jetzt gehe ich aber wirklich. Auf Wiedersehen.«

Sie stand auf und kehrte ihm beleidigt den Rücken. Als er nach ihrer Hand greifen wollte, sah er den Blick ihrer Mutter streng und gleichzeitig unaussprechlich hoch­mütig auf sich gerichtet.

»Diana«, rief sie mit ihrer etwas schrillen Stimme. »Bitte komm herein. Ich machte, daß du mir beim Wollewickeln hilfst!«

»Auf Wiedersehen.«

Diana warf Jürgen einen schnellen Blick zu, in dem nichts Gekränktes mehr lag. Dann lief sie in den Salon.

Er sah ihr nachdenklich nach. Er fand sie reizend, ein bißchen üppig vielleicht, aber er mochte die allzu schlanken Mädchen sowieso nicht.

*

Sybill tanzte mit einem der Knechte einen feurigen Csardas. Er packte sie bei den Hüften und schwenkte sie hoch in die Luft. Sie lachte strahlend und stützte die schlanken Arme anmutig auf seine Schulter. Die anderen jubelten ihr ausgelassen zu. Sie erkannte unter ihnen den Fürsten, der lächelnd zu ihr emporsah und jetzt auf sie zukam.

Er klatschte in die Hände und sagte fordernd:

»Hier warten noch andere Tänzer auf Ihre Dame, mein Lieber.« Und er ergriff Sybill und nahm sie dem Knecht einfach fort, der lachend zurücktrat und seinem Herrn Platz machte. Sie schätzten ihn alle und verehrten ihn sehr. Er kehrte nie den Gebieter heraus und gab sich immer leutselig und freundlich.

Sybill tanzte mit dem Fürsten weiter, ruhiger jetzt und eleganter.

»Wissen Sie eigentlich, wie bezaubernd schön Sie sind?« flüsterte der Fürst ihr zu und sah ihr tief in die leuchtenden Augen.

Sie antwortete nicht, aber sie lächelte glücklich.

Er konnte den Blick nicht von ihrem sanft geröteten Gesicht mit den strahlenden Augen und dem lockenden Blick lassen.

Ihre Haut schimmerte wie mattes Elfenbein. Das dunkle Haar trug sie zu einer hohen Krone aufgesteckt, was zu dem echten Dirndl ganz entzückend aussah.

Er drückte sie fester an sich.

»Sybill, Sie sind zauberhaft«, flüsterte sein Mund und neigte sich dem ihren zu.

Dicht neben ihm klatschte jemand in die Hände, und eine helle Knabenstimme rief bittend:

»Darf ich auch mal mit Tante Sybill tanzen, Vater?«

»Aber natürlich, mein Junge.«

Der Fürst gab das junge Mädchen zögernd aus seinen Armen frei. Sein Blick ließ den ihren nicht los und machte Sybill seltsam befangen.

»Komm, Wolfram. Wir wollen es einmal versuchen!«

Sie ergriff den Kleinen bei den Händen und begann, sich mit ihm zu den Klängen der Dorfkapelle zu drehen. Ihr buntes Dirndl bauschte sich um die schlanken Beine, das seidige Haar flog im Wind. Alle ihre Bewegungen waren anmutig und sehr graziös. Fürst Degencamp stand wie gebannt und sah Sybill und seinem Sohn beim Tanz zu.

Der Kleine schien in der Nähe der Baronesse ein ganz anderes Kind. Sie verstand es großartig, mit ihm umzugehen. Sie war die geborene Mutter.

Hasso von Degencamp hatte schon seit langem nicht mehr den Wunsch verspürt, sich zu verheiraten.

Als er jetzt zu der schönen jungen Frau hinübersah, die seinen Sohn an den Händen hielt und ihm zulachte, wußte er plötzlich, daß keine andere ihn je so glücklich machen würde wie dieses Mädchen, das ihn vom ersten Tag an verzaubert zu haben schien.

»Hilfe, ich kann nicht mehr! Mir ist schon ganz schwindlig.«

Sybill stand vor ihm, seinen Sohn an der Hand, dessen Augen glücklich strahlten.

Der Fürst legte den Arm um sie und hielt sie ganz leicht umfaßt.

»Geht es schon wieder?« fragte er zärtlich und lächelte in ihre blauen Augen hinein. »Ja, die Dorfmusik hat es in sich!«

Claus Schröter tanzte soeben vor bei. Er wirkte zornig und unglücklich dabei.

Der Fürst strich seinem Sohn die feuchten Haare aus der Stirn.

»Du bist lange genug aufgewesen. Meinst du nicht auch?«

Der Kleine nickte gehorsam.

»Ja, Vater. Darf Tante Sybill mich zu Bett bringen?«

»Tante Sybill? Darfst du sie denn so nennen? Hat sie dir das erlaubt?«

»Aber ja!«

Sybill drückte den Kleinen zärtlich an sich. »Natürlich darf er das. Na, dann wollen wir den kleinen Schlingel mal zu Bett bringen. Sag dem Papa gute Nacht, Wolfram.«

Der Fürst bückte sich zu seinem Sohn hinunter und nahm ihn auf den Arm.

»Ich darf doch dabei zuschauen?«

»Aber gern.« Sybill nickte scheu.

Sie bemerkten alle drei den finsteren Blick nicht, mit dem Claus Schröter ihnen nachsah, als sie zum Schloß hinübergingen.

*

Claus war unglücklich. Er war es schon seit einiger Zeit, nämlich seit sie hier auf Schloß Degencamp waren. Sybill war nicht mehr die, die sie gewesen war, als sie noch zusammen die Collegebank drückten. Sie hatte sich seltsam verändert. Manchmal ging sie umher wie in Trance, dann wieder war sie ausgelassen und wild, daß er sie nicht wiedererkannte.

Und sie hatte für ihn kaum mehr als hin und wieder ein freundliches Lächeln. Von der herzlichen Zuneigung, die sie doch früher für ihn empfunden hatte, war nichts mehr zu spüren.

Claus ahnte, daß der Fürst ihr mehr bedeutete, als sie zuzugeben bereit war. Das Interesse, das der Fürst seinerseits für sie zeigte, war ohnehin nicht zu übersehen.

Die Kommilitonen hatten das natürlich ebenfalls längst bemerkt. Und sie sparten nicht mit Spötteleien. Jeder von ihnen wußte doch, wie sehr er in Sybill verliebt war.

Claus nagte gedankenvoll an der Unterlippe. Die andern machten sich insgeheim lustig über ihn und belächelten ihn mehr oder weniger offen. Wenn sie doch nie hierhergekommen wären! Er würde am nächsten Morgen abreisen.

*

Am nächsten Tag war Claus Schröter verschwunden. Man suchte lange nach ihm, fand ihn aber nicht. Spät am Abend erst kam ein Telegramm von ihm. Man möge sich nicht beunruhigen. Er sei nach Hause zurückgekehrt.

Sybill wachte an diesem Tag erst auf, als die Sonne schon golden ins Zimmer schien und ein Strahl ihre Nasenspitze erreichte und von dort weiter über ihre geschlossenen Lider huschte.

Sie spürte die Wärme und das Licht und rieb sich schlaftrunken die Augen. Fast gleichzeitig klopfte es leise und schüchtern an der Tür.

Eine kleine Gestalt kam rasch hereingeschlüpft.

»Darf ich bei dir frühstücken, Tante Sybill? Der Vater ist in den Wald geritten, und die beiden Tanten schlafen noch. Ich habe aber schon solchen Hunger, und allein schmeckt es mir gar nicht. Darf ich bleiben?«

Wolfram kuschelte sich dicht an sie, und sie streichelte zärtlich seinen dichten Haarschopf.

»Natürlich darfst du«, sagte sie, »aber wo kriegen wir so schnell ein Frühstück her?«

Als habe sie da ein Zauberwort ausgesprochen, öffnete sich die Tür, und Lina erschien mit einem Tablett in der Hand.

»Seine Durchlaucht haben mich beauftragt, das Frühstück selbst zu bringen«, sagte sie und entdeckte erstaunt den kleinen Besuch, der bei der Baronesse auf der Bettkante saß.

Auf silbernen Schälchen servierte Lina geschickt köstlich duftende Milchhörnchen, braungebackene Mohnbrötchen und dazu köstliche Konfitüre und herrlichen Landschinken.

»Ah, wundervoll! Jetzt merke ich erst, daß ich Hunger habe«, gestand Sybill lachend und griff nach der Kaffeetasse.

»Und was machen wir mit dir?« Sie sah zu Wolfram hinunter, der seine Hand nach einem Mohnbrötchen ausgestreckt hatte und eben herzhaft hineinbiß.

»Würden Sie ihm bitte eine Tasse Schokolade bringen, Lina?«

»Aber natürlich. Ich bin sofort wieder da.« Und zu Wolfram gewandt: »Ich bringe dir auch noch ein paar von den Teekuchen mit, die du so gern ißt«, versprach Lina und eilte aus der Tür.

Wenig später war sie wieder da.

»So, da wäre auch die Schokolade«, strahlte sie. »Und nun wünsche ich recht guten Appetit.«

»Vielen Dank«, lächelte Sybill. »Ich glaube, wir werden alles aufessen, nicht wahr, mein Liebling?«

Der kleine Prinz nickte strahlend.

»Damit würden Sie mir eine riesige Freude machen!« sagte Lina und strahlte über ihr rosig angehauchtes Gesicht.

Die Baronesse war wirklich reizend. Sie mochte sie sehr.

Als Lina gegangen war, legte Wolfram sein Mohnhörnchen hin und fing an, unruhig auf dem Bettrand hin und her zu rutschen.

»Du, Tante Sybill«, sagte er schließlich vorsichtig.

»Ja, mein Liebling?«

Sybill sah ihn freundlich an.

»Ich hab’ eine große Bitte.«

»Ich höre«, sagte sie schalkhaft lächelnd.

»Könntest du vielleicht – ich meine, würde es dir etwas ausmachen, Wölfchen zu mir zu sagen?« brachte er schließlich heraus und sah sehr verschämt und verlegen zu Boden.

»Aber mein Liebling, wenn du es gern möchtest? Natürlich tue ich das gern.«

Sybill zog ihn zärtlich an sich und fuhr ihm über die weichen Locken. Sie hatte ihn so lieb, den kleinen Prinzen. Und es würde wohl Tränen auf beiden Seiten geben, wenn sie heimfahren mußte.

Nach einer Weile erschien Claudia in Sybills Zimmer, verschlafen und gähnend. Von Wolfram nahm sie keine Notiz.

»Ich werde jetzt frühstücken. Die andern sind inzwischen längst aufgestanden. Wir wollen heute nachmittag einen Ausflug mit Ottokar machen. Hast du Lust, mitzukommen?«

Sybill wollte gerade zusagen, als sie die bittenden Augen Wölfchens sah.

»Ach, weißt du, ich möchte doch lieber nicht«, sagte sie schnell. »Ich habe etwas anderes vor.«

»Na, wie du willst. Ich habe es dir jedenfalls gesagt.«

Claudia gähnte noch einmal herzhaft, dann ging sie.

»Hast du was mit mir vor, Tante Sybill?« fragte Wölfchen erwartungsvoll.

Sie drückte ihn zärtlich an sich.

»Ja, mein kleiner Spatz. Du hast es erraten. Mir schien doch, als machte da jemand ganz traurige Augen, weil ich mitfahren sollte. Oder habe ich mich da getäuscht?«

Er strahlte sie so zärtlich an, daß ihr ganz warm ums Herz wurde.

»Ach, Tante Sybill, kannst du denn wirklich nicht für immer hierbleiben?« fragte er bittend. »Ich werde auch stets ganz, ganz brav sein.«

Sie küßte ihn auf die Wange.

»Lieber kleiner Schatz«, murmelte sie zärtlich. »Es geht nicht. Es geht wirklich nicht.«

Sie hatten ihr Frühstück beendet. Sybill sprang mit einem Satz aus dem Bett und hob den Kleinen hoch in die Luft.

»So, jetzt ziehst du dich rasch an, und ich werde duschen. Anschließend machen wir einen schönen Waldspaziergang. Was meinst du dazu?«

»Prima! Da nehme ich Dackeli auch mit.«

»Das kannst du. Aber jetzt schnell hinaus mit dir.«

*

Die Augen des Fürsten leuchteten auf, als er Sybill mit seinem Sohn an der Hand auf sich zukommen sah. Er hielt sein Pferd an, um das liebliche Bild ganz in sich aufzunehmen. Sein Herz schlug heftig in seiner Brust. Und er wußte plötzlich, daß er noch nie in seinem Leben etwas so heiß und so heftig begehrt hatte wie dieses Mädchen.

Er liebte die kleine Baronesse von Gereneck mit der ganzen Kraft seines Herzens. Und er war entschlossen, sie zu seiner Frau zu machen, gegen alle Widerstände, die sicher zu erwarten waren.

»Vater!«

Wölfchen hatte es ausgerufen. Er löste sich von Sybills Hand und lief dem Reiter entgegen.

Auch das hat sie fertiggebracht, dachte der Fürst tief gerührt, daß mein Sohn mich als seinen Vater anerkennen und liebengelernt hat.

Er sprang vom Pferd und nahm Wolfram auf die Arme.

»Na, mein Junge? Möchtest du auch einmal reiten?«

Er hob ihn auf das Pferd, das geduldig stillhielt.

Wölfchen fürchtete sich nicht.

»O ja«, jubelte er begeistert, »mit Tante Sybill, ja, Vater?«

Sybill lächelte verlegen. Aber Fürst Hasso ließ ihr keine Zeit zur Antwort. Er nahm sie, die ihn leicht wie eine Feder dünkte, einfach auf die Arme und hob sie auf den Rappen.

Sekunden nur spürte sie seine starken Arme um sich; und in diesen Sekunden schlug ihr Herz laut und stürmisch, daß sie meinte, er müsse es hören.

Ihre zarten Wangen röteten sich purpurfarben.

Dann saß sie hinter dem kleinen Prinzen auf dem Pferd, das unruhig auf dem Boden scharrte.

Der Fürst sah glücklich lächelnd zu ihr empor. Er nahm die Zügel und begann neben dem Rappen herzugehen, der sich gehorsam in Trab setzte.

»Sybill.« Die Stimme des Fürsten klang seltsam rauh. »Ich muß Sie heute noch sprechen. Ich habe Ihnen eine Frage zu stellen, deren Beantwortung für mich sehr wichtig ist.«

Sie nickte. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Die Röte auf ihren Wangen vertiefte sich.

Sie schlang die Arme zärtlich um das vor ihr sitzende Kind und preßte ihr glühendes Gesicht an sein Köpfchen.

Als sie in den Gutshof einbogen, kam der Verwalter aufgeregt auf sie zugelaufen. Er blieb in einiger Entfernung stehen und sagte:

»Durchlaucht, der Herr Baron Werndeck bittet, Seine Durchlaucht sprechen zu können. Es ist sehr wichtig, wie er sagt.«

»Der alte Werndeck?« Der Fürst zog die Brauen hoch. »Dann muß es sich tatsächlich um etwas Wichtiges handeln. Er würde mich wohl sonst kaum aufsuchen.«

Er hob erst den Kleinen, dann Sybill vom Pferd.

»Bitte entschuldigen Sie mich. Wir sehen uns nachher noch.«

Er eilte davon.

»Was tun wir jetzt, Tante Sybill?«

Das Kind sah sie fragend an. »Spielen wir ein bißchen mit der Eisenbahn?«

»Wie du willst, mein Liebling.«

Sie nahm den kleinen Prinzen an die Hand und ging mit ihm ins Schloß. Sie stiegen die gewundene Treppe empor und gingen über den teppichbelegten Gang zu Wölfchens Zimmer.

Als sie an den Zimmern der Damen Kingsbird vorbeikamen, scholl die laute Stimme der Gräfin zu ihnen heraus. Offenbar schalt sie mit ihrer Tochter, deren Schluchzen deutlich zu hören war.

»Ich begreife nicht, wie du dich derart gehenlassen kannst! Du hast wohl vergessen, daß du in aller­nächster Zeit Fürstin Degencamp werden sollst. Was soll dein zukünftiger Mann von dir denken, wenn er von diesem unglaublichen Vorfall erfährt!«

Die Komteß antwortete etwas, aber Sybill hörte nichts mehr. Das Blut rauschte in ihren Ohren, ihr Herz schlug wie ein Hammer dumpf gegen die Brust.

Der Fürst wollte die Komteß heiraten! Und sie hatte geglaubt – sie hatte wirklich angenommen, daß er und sie… Wie töricht war sie doch gewesen. Wie grenzenlos töricht und dumm!

Ihre Wangen wurden blaß. Auch aus ihren Lippen wich alle Farbe.

»Ich Törin«, murmelte sie vor sich hin. »Was bin ich doch für ein dummes Ding!«

Das Kind sah sie erschrocken an.

»Was hast du denn, Tante Sybill? Du bist auf einmal ganz traurig.«

Wie sensibel er ist, dachte sie. Er ist ein so lieber Junge. Aber ich kann nicht länger hierbleiben. Jetzt kann ich es nicht mehr. Wenn der Fürst mich nachher fragt – sicher will er mir noch einmal zureden, daß ich die Stelle als Erzieherin des Prinzen doch annehmen solle, so muß er mir doch anmerken, daß ich eine andere Frage erwartet hatte! Bestimmt wird er es merken.

Sie preßte die Hand auf das jetzt wild und verzweifelt pochende Herz.

Aber was hatte sie sich soeben selbst eingestanden? Ihre Augen glänzten wie im Fieber. Ihr Mund wurde auf einmal trocken und spröde.

Sie liebte ihn! Ja, sie liebte den Fürsten. O Gott! Sie atmete hastig und gepreßt.

Er durfte das nie erfahren! Nie! Er durfte ihr das niemals anmerken, sie wurde sich zu Tode schämen, denn er würde sich nur über sie lustig machen.

Sie mußte fort! Jetzt gleich – sofort!

Sie nahm das Kind, das sie ängstlich beobachtete, zärtlich in die Arme.

»Wölfchen, ich muß dir etwas sagen, aber du darfst nicht traurig sein.«

»Ja?«

Die Stimme des Kindes zitterte, als ahne es, was die geliebte Tante ihm zu sagen hatte.

»Wölfchen, ich muß abreisen. Sofort! Gleich! Ich kann nicht länger hierbleiben. Es geht nicht. Wirklich nicht!«

Tränen schossen in Sybills Augen. Sie flossen langsam die bleichen Wangen herunter und netzten die Stirn des Kindes, das sie ratlos ansah.

»Warum nicht, Tante Sybill? Warum kannst du nicht bleiben? Der Vater hat doch gesagt…«

Jetzt weinte auch er. Bitterlich schluchzend preßte er sich an das junge Mädchen. »Ach bitte, geh doch nicht fort, bitte, bitte! Ich hab’ dich doch so lieb. Warum bleibst du nicht bei mir?«

Sie drückte ihn an sich und küßte ihn zärtlich.

»Es geht nicht, mein Liebling. Es geht wirklich nicht«, flüsterte sie mit bebenden Lippen.

Dann eilte sie in ihr Zimmer, um mit fliegenden Händen zu packen.

Wölfchen sah traurig zu. Als sie ins Bad ging und gleich darauf in einem grauen Reisekostüm wiederkam, wurde sein Schluchzen stärker.

Sie kniete bei ihm nieder und streichelte ihn tröstend.

»Weine doch nicht, Liebling. Bitte, bitte, weine nicht! Ich kann es nicht ertragen. Es macht mich krank.«

Sie wischte ihm mit einem ihrer zarten Batisttüchlein die Tränen fort. Dann nahm sie ihn bei der Hand.

»Ich bringe dich jetzt zu Lina. Sie wird auf dich achtgeben.«

Lina nahm erschrocken das weinende Kind in Empfang.

»Was ist denn geschehen, um Himmels willen? Warum weint er denn so sehr?«

Sie musterte das junge Mädchen im Reisekostüm und sah auch Sybills verweinte Augen. »Müssen Sie denn wirklich schon fort?«

Sybill nickte. Von ihren langen dunklen Wimpern perlten langsam zwei Tränen.

»Ja, Lina. Ich muß fort. Bitte, achten Sie auf den Kleinen. Ich werde mich schriftlich beim Fürsten verabschieden und mich bei ihm bedanken. Wenn Sie Seiner Durchlaucht das bitte ausrichten wollen?«

Die Tränen wollten ihre Stimme ersticken, aber sie beherrschte sich mühsam.

»Es war schön auf Schloß Degencamp. Ich war sehr gern hier.«

Sie küßte das Kind, schüttelte Lina die Hand. Dann lief sie davon, ohne sich noch einmal umzusehen.

Lina war ratlos.

»So was! Was hat es da bloß gegeben? Und ich hoffte…« Sie murmelte etwas, was der Kleine nicht verstand. Er versuchte, sich von ihrer Hand zu befreien, aber es gelang ihm nicht. Lina hielt, was sie der Baronesse versprochen hatte. Sie paßte gut auf den kleinen Prinzen auf.

*

Der Fürst begleitete den Baron liebenswürdig bis an die Tür. Er hatte dem alten Mann aus einer finanziellen Notlage helfen können.

Langsam schlenderte er in die Bibliothek zurück. Da klopfte es, und Lina trat mit dem schluchzenden Prinzen ein.

»Was ist denn geschehen?«

Er sah erstaunt und erschrocken auf die beiden.

Lina erklärte ihm stockend, was sich ereignet hatte.

»Sie ist abgereist? Die Baronesse ist abgereist? Aber warum denn? Aus welchem Grunde so plötzlich? Hat sie Ihnen das nicht gesagt?«

Der Fürst war zornig. Man sah es. Er war zornig und enttäuscht zugleich. Was hatte das zu bedeuten?

Er verstand die Zusammenhänge nicht.

Als die Mamsell ihm ausrichtete, was die Baronesse ihr aufgetragen hatte, schickte der Fürst sie wieder in die Küche zurück.

Er nahm seinen weinenden Sohn auf den Schoß und begann, ihn vorsichtig auszufragen.

»Und sie hat auch geweint!« hörte er seinen Sohn erzählen.

»Wirklich?«

»Ja, ebenso wie Tante Diana. Mir ist auch ganz schrecklich traurig zumute. Bist du auch traurig, Vater?«

Der Fürst nickte langsam. »Ja, ich bin auch sehr traurig, mein Sohn. Warum hat denn die Tante Diana geweint?«

Er wunderte sich. Die Baronesse und Diana kannten einander doch kaum.

»Hat sie geweint, als die Tante Sybill sich von ihr verabschiedet hat?«

Das Kind schüttelte den Kopf.

»Nein. Tante Sybill war nicht bei ihr. Wir sind nur am Zimmer von Tante Diana vorbeigegangen. Wir wollten mit meiner Eisenbahn spielen. Und dann hat die Tante Irene ganz laut mit der Tante Diana geschimpft. Sie hat gesagt, sie soll doch nun bald Fürstin Degencamp werden und noch anderes, aber ich habe nicht alles verstanden. Und da hat es angefangen«, schloß er seufzend.

»Was hat da angefangen?« horchte der Fürst auf, der staunend zuhörte.

»Na, daß Tante Sybill so traurig wurde. Sie wurde plötzlich ganz blaß, und dann hat sie auch gleich gesagt, nun müsse sie abreisen. Sie könnte nicht mehr länger bleiben. Es ginge nicht!«

Wieder flossen Wolframs Tränen, aber zu seinem Erstaunen hob der Vater ihn plötzlich vom Schoß herunter und sagte lachend:

»Was meinst du, wenn wir die Tante Sybill wieder zurückholen, mein Junge? Ich glaube, ich weiß jetzt, warum sie fortgelaufen ist. Dieses dumme kleine Mädchen«, flüsterte er zärtlich.

»O ja, Vater. Wir wollen sie zurückholen! Bitte ja?«

Wölfchen umfaßte die Knie des Vaters und war ganz aufgeregt.

Der Fürst erhob sich. Wenn das so war, wie er es sich vorstellte, dann bedeutete das, daß Sybill ihn liebte. Es konnte nichts anderes bedeuten!

Er schritt erregt im Zimmer auf und ab. Dann hatte er einen Entschluß gefaßt.

Er hielt diese Ungewißheit keine Sekunde länger aus. Er mußte es wissen, jetzt gleich! Er würde versuchen, sie am Bahnhof einzuholen!

Er nahm seinen Sohn an die Hand und eilte zur Tür und die Treppe hinunter. In der großen Halle kehrte er noch einmal um. Wohin mußte er fahren, um sie wiederzusehen? Wo war sie zu Hause?

Er fragte eines der Stubenmädchen, wo die Studenten seien. Als man ihm mitteilte, sie machten einen Ausflug, brummte er unwillig.

Was nun? Er drückte Wölfchen in einen Sessel und lief wieder nach oben. Er suchte und fand Sybills Zimmer und trat ein. Dort stülpte er einfach den Papierkorb um und breitete dessen Inhalt einfach auf dem Teppich aus.

Und da fand er, was er suchte. Einen Briefumschlag mit dem Absender von Sybills Mutter. Er steckte ihn ein und lief eilig wieder zurück.

Der Fürst nahm den Jungen an die Hand und befahl einem der Diener, seinen schnellsten Wagen aus der Garage zu fahren.

In mörderischem Tempo ging es zum Bahnhof. Aber der Zug fuhr gerade aus der Halle.

Er starrte ihm enttäuscht nach. Da kam ihm ein Gedanke. Ja! So würde er es machen! Er lächelte erleichtert. Dann fuhr er in schnellem Tempo weiter, überholte den stampfenden und brausenden Zug, und war ihm bald schon weit voraus.

*

Sybill saß still in eine Ecke gedrückt und sah zum Fenster des Abteils hinaus.

Äcker und Wiesen flogen an ihren verweinten Augen vorbei.

Sybill nahm kaum etwas wahr. All ihre Gedanken und Wünsche waren auf Schloß Degencamp zurückgeblieben.

Ein Lied kam ihr in den Sinn, das die Mutter früher oft gesungen hatte: All meine Gedanken, die ich hab’, die sind bei dir!

Sie tupfte vorsichtig zwei Tränen von den Wimpern. Eine ältere Dame, die ihr gegenübersaß, fragte sie etwas. Sybill antwortete höflich, aber geistesabwesend.

Die Dame betrachtete sie mitleidig. Wahrscheinlich hat sie Liebeskummer, dachte sie mitfühlend.

Aber sie ist ja noch jung. Sie wird vergessen.

Als der Zug im Bahnhof einlief, hob Sybill ihren sandfarbenen Koffer aus dem Gepäcknetz und stieg langsam aus. Niemand holte sie ab. Die Mutter wußte ja gar nicht, daß sie schon kam.

Sie winkte ein Taxi heran und ließ sich heimfahren.

Hoffentlich ist Mama überhaupt da, dachte sie, als sie den Fahrer entlohnte. Auf ihr Klingeln öffnete zunächst niemand. Erst nach einer ganzen Weile hörte sie, daß der Schlüssel im Schloß herumgedreht wurde.

»Gott sei Dank, Mama! Ich fürchtete schon, du seiest nicht daheim.«

Sie fiel der Mutter um den Hals und küßte sie zärtlich. »Ach, Mama!«

»Was ist denn, Kind? Hast du Kummer?«

Die Baronin nahm der Tochter den Koffer ab und steilte ihn beiseite. »Ich mache uns schnell einen Kaffee, einverstanden?«

»Nein, bitte nicht, Mama!«

Sybill seufzte schwer. Ihre schönen dunklen Augen füllten sich langsam mit Tränen. Sie schlang die Arme um den Hals der Mutter und weinte, wie sie als kleines Mädchen geweint hatte, herzzerbrechend und untröstlich.

»Aber Kind! Liebes!«

Die Baronin streichelte zärtlich den Rücken der Tochter.

»Du hast Kummer? Willst du mir nicht sagen, was es ist?«

»Du wirst mit mir schelten, Mama. Ich weiß es genau.«

Sie schluchzte noch heftiger.

»Aber warum denn?«

»Ich war so dumm, Mama, so grenzenlos dumm.«

Die Baronin lächelte weise. »Willst du mir nicht doch alles sagen?«

»Ach, Mama, ich habe mich verliebt.« Das Schluchzen wurde stärker. »Aber der Mann, in den ich mich verliebt habe, ist unerreichbar für mich. Ich hätte es wissen müssen, Mama, es ist so schrecklich.«

Die Baronin streichelte sie immer noch, zärtlich und beruhigend.

»Und wer ist dieser Mann, mein Kind?« fragte sie leise.

»Es ist der Fürst. Bitte verzeih, Mama, ich – ich weiß ja…«

Sie kam nicht weiter. Die Mutter schob sie sanft, aber bestimmt, von sich. Sie trat etwas zurück. Und da sah Sybill den Mann, der in der geöffneten Salontür stand und ihr zärtlich zulächelte.

Jetzt trat er auf sie zu und nahm sie in die Arme.

»Sybill, Liebling. Verzeih mir, daß ich gelauscht habe. Aber die Worte, die ich soeben vernahm, haben mich zum glücklichsten Mann der Welt gemacht! Warum bist du davongelaufen, Sybill? Ahntest du nicht – wußtest du denn wirklich nicht, daß ich dich liebe?«

Sie sah zu ihm auf, und in ihren dunklen Augen lagen Freude und alles Glück der Erde. Sie konnte es immer noch nicht fassen, daß Hasso, Fürst von und zu Degencamp, ihr soeben gesagt hatte, daß er sie liebe.

»Fürst, ich…«, stammelte sie verwirrt.

»Ich heiße Hasso«, flüsterte er dicht an ihrem Ohr und verschloß ihre Lippen mit einem nicht endenwollenden Kuß.

»Wie kommst du hierher?« fragte Sybill den geliebten Mann. »Woher wußtest du – und wie hast du das nur so schnell geschafft?«

Er lächelte zärtlich.

»Einiges hat mir Wölfchen verraten. Anderes habe ich mir zusammengereimt. Und dann – mein Wagen ist ein bißchen schneller als die gute alte Eisenbahn. Ich dachte mir, es wäre vielleicht richtiger, zuerst bei deiner Mutter um deine Hand anzuhalten, bevor ich mir dein Jawort hole. Und das bekomme ich doch, nicht wahr?«

Sie nickte selig. Dann fanden sich ihre Lippen zu einem neuen zärtlichen Kuß.

Plötzlich ging die große Flügeltür weit auf, und eine kleine Gestalt wirbelte herein und auf Sybill zu.

»Tante Sybill, liebe Tante Sybill! Kommst du nun doch wieder mit zu uns?«

»Wölfchen, mein keiner Liebling!«

Sie hob den Kleinen zu sich empor und küßte ihn glücklich.

»Ja, mein kleiner Schatz. Ich komme bald. Du mußt dich nur noch ein ganz klein wenig gedulden, ja?«

Die eben noch strahlenden Kinderaugen verloren ihren Glanz.

»Aber ich dachte«, murmelte er enttäuscht. »Du hast doch gesagt, Vater…« Er sah den Fürsten hoffnungsvoll an.

Hasso nahm die beiden liebsten Menschen, die er besaß, mit einem einzigen zärtlichen Griff in die Arme.

»Du hörst doch, was Tante Sybill sagt: sie kommt wieder. Aber du mußt ein kleines bißchen Geduld haben. Wir werden gemeinsam auf sie warten, du und ich. Was meinst du dazu?«

Da sah das Kind von einem zum andern und lächelte glücklich.

»Ja, Vater«, sagte Wolfram ernst. »Wir wollen auf sie warten. Und wenn sie dann kommt, dann wird es ganz schön sein, nicht wahr?«

»Ja, mein Liebling«, lächelte der Vater ihm zu. »Dann wird es ganz, ganz schön sein.«

*

Jürgen Bentloh saß mit seinem Gipsbein im Schloßpark und wartete auf Komteß Diana, mit der er zum Stelldichein verabredet war.

Glücklich darüber, daß er schon wieder laufen konnte, wenn auch das Bein noch in Gips steckte, genoß er den Sonnenschein. Süß dufteten die dunkelroten Rosen, die der Schloßgärtner gerade beschnitt.

Vom Turm schlug es zehn. Der Student begann unruhig zu werden. Diana hatte versprochen, gleich nach dem Frühstück zu kommen. Er wartete nun schon seit einer halben Stunde vergeblich.

Er sah auf die schmale goldene Uhr an seinem Handgelenk, aber sie zeigte die gleiche Zeit wie die Schloßuhr.

Er wollte sich gerade erheben und im Schloß nach ihr fragen, als er eines der Stubenmädchen mit geheimnisvollem Gesicht heranhuschen sah.

»Herr Bentloh?«

»Ja?«

Er sah sie erwartungsvoll an.

Das Mädchen zog einen Zettel aus seinem Schürzchen.

»Die Komteß hat ihn unter der Tür durchgeschoben. Die Frau Gräfin hat sie nämlich eingesperrt.«

»Was? Sie hat sie eingesperrt? Was sind denn das für Sitten? Die Komteß ist doch kein unartiges Kind, das man einfach in sein Zimmer schließt!«

Er war sehr böse.

Das Mädchen fragte schüchtern, ob es auf Antwort warten solle.

»Ja. Warten Sie.«

Er faltete die kleine Botschaft auseinander und las.

»Lieber Jürgen, ich habe Mama alles gesagt. Sie ist außer sich und hat mich in mein Zimmer eingesperrt. Bitte, sprich noch nicht mit ihr. Es hätte im Augenblick keinen Sinn. Ich lasse Dir wieder Nachricht zukommen, wenn sie sich einigermaßen beruhigt hat.

Deine Diana.«

Er kritzelte rasch ein paar Antwortzeilen auf einen Zettel und gab sie dem Mädchen, das eilig davonlief.

Das war ja eine nette Bescherung. Was tat man in einem solchen Fall? Wenn die Gräfin Diana nun bis zum Tag seiner Abreise eingeschlossen hielt, was konnte er tun?

Er sprang erregt auf, sank aber mit einem Wehlaut wieder auf die Bank zurück. Er hatte sein gebrochenes Bein völlig vergessen.

Während er erschrocken die Zähne aufeinanderbiß, kam ihm ein Gedanke, der ihn gleich wieder den heftigen Schmerz vergessen ließ: Entführung – jawohl! Er würde Diana entführen und sie zu seinem Vater bringen. Vielleicht würde die Gräfin dann zur Besinnung kommen.

Aber würde Diana seinen Plan gutheißen? War sie nicht doch zu konventionell erzogen worden für ein solches Unternehmen, das sie ihren guten Ruf kosten konnte?

Er hätte sich gern mit irgend jemanden besprochen, hielt es dann aber doch für klüger, lieber zu schweigen. Wo es einen Mitwisser gab, war die Gefahr einer Entdeckung stets größer.

*

Diana war früher als sonst zu Bett gegangen.

Die Mutter, mit der sie im Salon gesessen hatte, war nicht sehr gesprächig in der letzten Zeit, und seit die Studenten abgefahren waren, fand sie es öde und langweilig auf dem Schloß.

Der Vetter war ebenfalls nicht zu Hause. Er war in die Stadt zu seiner Verlobten gefahren. Zwischen ihm und der Mutter herrschte ohnehin eine recht gespannte Stimmung seit seiner Verlobung mit der Baronesse.

Diana wälzte sich unruhig hin und her in dem großen, von einem zartblauen Baldachin überdachten Himmelbett.

Sie wollte schlafen und an nichts mehr denken, auch nicht an Jürgen, der sie längst vergessen zu haben schien.

Da vernahm sie ein leises Knistern neben sich.

Erschrocken fuhr sie hoch und sah zum Fenster. Aber sie konnte nichts erkennen, denn jetzt, da sie die Vorhänge zugezogen hatte, war es stockdunkel im Zimmer.

Sie fürchtete sich und knipste die Nachttischlampe an.

Auch jetzt vernahm sie nur ein Knistern.

Es schien vom Fußboden herzukommen. Das Schloß war alt, und so ein altes Gemäuer knisterte und krachte schon mal, das war schließlich nichts Verblüffendes und auch nichts Beängstigendes.

Sie legte sich wieder in die Kissen zurück und knipste die Lampe aus.

Aber sie fürchtete sich trotzdem. Es war einfach zu dunkel im Zimmer. Sie konnte auf keinen Fall einschlafen, wenn diese Dunkelheit um sie war, die sie belastete und seltsam einzuengen schien.

Diana sprang auf und öffnete die Vorhänge.

Als sie sich ein bißchen außer Atem in die weichen Daunenkissen zurücksinken ließ, war es ihr, als riefe jemand leise ihren Namen.

Sie richtete sich auf und lauschte, aber natürlich war nichts zu hören außer dem leisen Rauschen des Windes und dem heiseren Schrei eines Käuzchens im Park.

Es schien windiger zu sein als sie gedacht hatte, denn die Zweige der alten Ulme vor ihrem Fenster schlugen gegen die Scheiben und kratzten daran.

Sie sorgte sich, ob das Fenster auch richtig verschlossen war, denn bei dem letzten Sturm hatte sie das versäumt. Es war mitten in der Nacht aufgesprungen, so daß sie sich furchtbar erschrak.

Sie wollte gerade nachsehen, als es heftig gegen die Scheiben trommelte, als schlüge jemand dagegen.

Sie erschrak und starrte angstvoll zum Fenster hin.

Und dann sah sie es. Ein langer Zweig kam aus der Krone der Ulme herausgeflogen und kratzte gegen ihre Scheibe, einmal und noch einmal. Es gab einen lauten Knall und dann noch einen.

Sie verkroch sich furchtsam in ihren Kissen und wagte kaum zu atmen. Sie glaubte nicht an Gespenster, und daß es hier im Schloß spukte, hatte sie noch niemand sagen hören.

Aber ganz geheuer schien ihr die Sache doch nicht zu sein.

Sie lauschte ängstlich, und da vernahm sie es wieder – laut und deutlich rief jemand ihren Namen, viel lauter als vorhin, und jetzt glaubte sie auch die Stimme zu erkennen.

Trotz ihrer Angst sprang sie mit einem Satz aus dem Bett und lief zum Fenster.

Sie starrte hinaus in den vom Mondlicht silberhell erleuchteten Park, und da entdeckte sie die dunkle Gestalt, die auf einem der riesigen Äste der Ulme hockte und ihr eifrig Zeichen gab.

Jetzt wußte sie, daß das kein Spuk war, der sie zum Narren hielt. Da draußen saß jemand im Baum und versuchte, sie auf sich aufmerksam zu machen.

Und dieser Jemand war niemand anders als ihr Jürgen!

Sie öffnete das Fenster und lehnte sich weit hinaus.

»Jürgen!« rief sie mit vor Freude und Furcht bebender Stimme. »Mein Gott, Jürgen! Du wirst herunterfallen. Lieber Himmel, was bedeutet das alles?«

»Wie soll ich denn anders zu dir kommen, du kleines Dummchen«, flüsterte er zärtlich. »Aber mm mußt du mir ein bißchen helfen. Halt dich am Fensterkreuz fest und reich mir deine Hand.«

»Was hast du vor?« fragte sie entsetzt. »Du willst doch nicht…«

»Natürlich!« scholl es zurück. Er streckte den Arm aus, und sie versuchte, seine Hand zu fassen, aber es gelang ihr nicht. Er war zu weit vom Fenster entfernt.

»Es geht nicht«, flüsterte sie angstvoll. »Laß es lieber. Ich habe entsetzliche Angst um dich.«

»Das höre ich sehr gern«, kam es zurück. »Aber sorg dich nicht. Irgendwie schaffe ich es schon.«

Jetzt kam ein großer, dicker Ast zu ihr herüber.

»Kannst du ihn halten?«

»Ich glaube schon.«

Er machte sich ganz lang und kroch auf allen vieren zu ihr hin. Dann griff er zum Fensterbrett herüber und zog sich daran zu ihr herein.

Einmal rutschte er ab, und sie schrie auf und packte gleichzeitig seine Arme.

Kurz darauf war er bei ihr im Zimmer.

»Lieber Himmel«, jammerte sie. »Das hätte schiefgehen können. Mein Gott, ich habe mich so entsetzlich gefürchtet.«

Er antwortete nicht, sondern zog sie stürmisch in die Arme und bedeckte ihren Mund, ihren Hals, ihre Arme mit heißen, verlangenden Küssen.

»Ich habe mich so sehr nach dir gesehnt«, flüsterte er heiser. »Ich habe es kaum noch ertragen.«

Sie ließ seine Zärtlichkeiten, atemlos vor Glück und Seligkeit, über sich ergehen. Nur als seine Hände fordernder wurden, wies sie sie energisch und furchtsam zugleich zurück.

»Nein, Jürgen. Bitte nicht!«

Sofort schien er zur Besinnung zu kommen.

»Verzeih, mein Liebling«, bat er reumütig. »Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten. Ich werde dir nichts antun.«

Sie war wieder beruhigt und streichelte sein Gesicht, sein Haar, seine Hände.

»Ich dachte, du hättest mich vergessen. Ich war so traurig, so furchtbar traurig. Ich habe viel geweint.«

»Aber du weißt doch, daß ich dich liebe«, erschrak er. »Du hättest mehr Vertrauen zu mir haben sollen. Ich wollte deine Mutter nicht mißtrauisch machen. Außerdem habe ich zu Hause alles ­vorbereitet. Mein Vater erwartet dich schon. Wirst du mit mir kommen?«

»Ich begreife nicht…«

Sie sah ihn erstaunt an.

»Ich werde dich entführen«, lachte er und setzte sich auf ihren Bettrand, sie auf seinen Schoß ziehend. »Wie gefällt dir meine Idee?«

»Entführen?« staunte sie. »Oh, das ist wunderbar! Das ist herrlich romantisch! Das werde ich später all meinen Freundinnen erzählen! Himmel, wie spannend!«

Sie zitterte vor Erregung am ganzen Körper.

»Meinst du, daß wir ungesehen zum Schloß hinauskommen?«

»Doch, das denke ich schon. Ich kenne einen kleinen Seitenausgang, der nur hin und wieder von den Dienstboten benutzt wird. Ich glaube, er ist unverschlossen.«

»Großartig! Dann haben wir keine Zeit zu verlieren. Nimm deine Sachen und zieh dich an. Ich warte solange. Ich habe meinen Ottokar in einem Seitenweg der Allee stehen. Hoffentlich hat ihn niemand entdeckt.«

Diana lief ins Nebenzimmer. Minuten später stand sie fix und fertig angezogen vor ihm.

»Na, so was!« staunte er. »Ich hätte nicht gedacht, daß es eine Frau gibt, die sich in Sekundenschnelle anzieht! Du bist ja ein richtiges kleines Wunder!«

Er küßte sie zärtlich, dann schlichen sie zur Tür und öffneten sie leise.

Draußen auf dem Gang brannten nur ein paar hohe Kerzen an den Wänden.

Es war niemand zu sehen oder zu hören. Sie schlichen hinaus und die Treppe hinunter, die unter ihren Füßen leise knarrte.

Diana zögerte ängstlich. Aber es rührte sich nichts.

Sie kamen ungehindert über einen finsteren Gang und auf einer kleinen schmalen Wendeltreppe zu der Seitenpforte, von der Diana gesprochen hatte.

Sie war zwar verschlossen, aber der Schlüssel steckte und ließ sich quietschend und knarrend im Schloß drehen.

Sie liefen Hand in Hand durch den Park.

Jürgen, dessen Bein wieder in Ordnung war, fand schnell das Loch in der Hecke wieder, durch das er vorhin geschlüpft war.

Wenig später saßen sie im Wagen, und der getreue Ottokar sprang sofort an, als ahne er, daß es auf jede Minute Vorsprung ankam.

Als sie schon geraume Zeit auf der Landstraße entlangfuhren, meinte Diana plötzlich kleinlaut:

»Und Mama? Sie wird sich doch furchtbar ängstigen. Ich habe ihr nicht einmal ein paar Zeilen zurückgelassen.«

»Ich werde sie morgen früh anrufen. Wenn sie vernünftig ist, gibt sie nach. Sonst erfährt sie nicht, wo du bist.« Er lachte verschmitzt.

»Und wo werde ich sein? Wo bringst du mich eigentlich hin?«

»Dorthin, wo du zunächst wohnen wirst: natürlich nach Hause, zu meinem Vater. Er freut sich schon auf dich.«

»Du hast ihn eingeweiht?«

»Ja, natürlich! Er war ganz begeistert von meinem Plan. Er hat ein paar Zimmer für dich herrichten lassen. Ich sagte dir doch, es ist alles vorbereitet.«

»Hm!«

Sie schwieg nachdenklich.

Ein paar Zimmer, hatte er gesagt. Dann konnte es dem Vater also nicht schlechtgehen. Sie hatte sich nie erkundigt, in welchen Verhältnissen Jürgen lebte.

Sie liebte ihn, das war ihr genug. Sie würde sich schon anpassen. Wenn man liebte, konnte man alles, davon war sie fest überzeugt.

Der Wagen tuckerte und zuckelte auf der Landstraße dahin.

Die Lichter der Straßenbeleuchtung flogen vorbei. Endlos schimmerte das Band der betonierten Straße im Mondlicht.

Diana spürte plötzlich bleierne Müdigkeit.

Ihr Kopf sank zur Seite und fand Halt auf der Schulter des jungen Mannes neben ihr, der ihn zärtlich dicht an seinem Hals zurechtrückte und mit einem frohen Lächeln weiterfuhr, um sein Glück und seine Liebe in Sicherheit zu bringen.

*

Die Gräfin Kingsbird war verärgert, weil ihre Tochter nicht am Frühstückstisch erschienen war.

»Wie spät ist es, Jerome?« fragte sie den alten Diener.

»Zehn Uhr, Frau Gräfin.«

»Um diese Zeit kann man doch ausgeschlafen haben, denken Sie nicht, Jerome?«

»Wie Frau Gräfin meinen«, antwortete der alte Diener mit unbewegtem Gesicht.

Er schätzte die Gräfin Kingsbird nicht sonderlich. Sie war knauserig und pflegte an allem herumzunörgeln.

»Bitte, schicken Sie eins der Stubenmädchen zu meiner Tochter nach oben und lassen Sie ihr ausrichten, daß ich sie umgehend hier erwarte«, befahl die Gräfin mit ärgerlicher Stimme.

»Sehr wohl, Frau Gräfin.«

Der Diener entfernte sich, um den Befehl auszuführen.

Die Gräfin hatte noch nie Spaß daran gehabt, allein zu essen. Und da ihr Vetter Hasso ein Frühaufsteher und längst mit dem Essen fertig war, wenn sie herunterkam, war sie auf die Gesellschaft ihrer Tochter angewiesen.

Es war also eine Rücksichtslosigkeit von Diana, sich derartig zu verspäten.

»Die gnädigste Komteß ist nicht auf ihrem Zimmer«, meldete der Diener nach einer Weile.

»Ist nicht… Was soll das hei­ßen?« fuhr die Gräfin ihn zornig an. »Wo ist sie denn?«

»Das ist mir leider nicht bekannt«, antwortete der alte Diener gemessen. »Vielleicht haben Seine Durchlaucht die Komteß zum Reiten mitgenommen. Aber das ist natürlich nur eine Vermutung.«

»Zum Reiten! Unglaublich! Vor dem Frühstück!« erregte sich die Gräfin.

Aber Fürst Hasso, der wenig später zurückkehrte, wußte nichts von Diana.

Allmählich begann die Fürstin, sich zu ängstigen.

»Es wird doch nichts passiert sein?« fragte sie zaghaft. Dem Fürsten erschien die Sache ebenfalls rätselhaft.

Da klingelte das Telefon.

Die Gräfin wurde am Apparat verlangt Sie eilte hin und meldete sich mit ängstlicher Stimme.

Der Fürst, der neben ihr stand, sah plötzlich, wie ihr Gesicht sich rötete. Sie griff zum Herzen und sank in den nächsten Sessel. Die Worte, die sie in den Apparat sprach, klangen zornig und vorwurfsvoll.

Schließlich legte sie den Hörer auf und starrte den erschrockenen Fürsten seltsam an.

»Er hat sie entführt! Dieser unverschämte Lümmel hat sie entführt! Was sagst du dazu?«

Fürst Hassos Gesicht verzog sich zu einem amüsierten Lächeln.

»Der Junge gefällt mir!« lachte er. »Welch romantischer Einfall. Und nun?«

»Er will in einer halben Stunde wieder anrufen. Wenn ich den beiden mein Jawort gebe, will er mir sagen, wo sie ist.«

»Na, und was wirst du tun?«

»Was soll ich schon tun? Ich werde nachgeben müssen«, resignierte die Gräfin grollend. »Inzwischen ist natürlich alles mögliche geschehen. Wer wird Diana jetzt noch nehmen, nach dieser Geschichte? Sie hat sich die Sache eingebrockt, nun soll sie sie auch auslöffeln.«

»Sehr richtig«, sagte der Fürst ruhig. »Ich bin ganz deiner Meinung.«

Das Telefon schrillte zur angegebenen Zeit.

Als die Gräfin den Hörer nach kurzem Gespräch wieder aufgelegt hatte, wußte sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.

»Mittags wird mich ein Wagen abholen und zu Diana bringen«, sagte sie leise. »Sie ist bei dem Vater des Jungen und läßt mich grüßen. Sie sei sehr glücklich.«

Nun weinte sie tatsächlich. Es war einfach zuviel gewesen. Der Fürst tröstete sie ein wenig.

Er konnte sich insgeheim gut vorstellen, daß der kleinen Diana diese höchst romantische Affäre Spaß machte.

Der Wagen stand pünktlich vor dem Schloßtor.

Es war ein riesiger amerikanischer Superwagen mit einem liv­rierten Chauffeur am Steuer.

»Der Vater des Jungen scheint andere Wagen als den Ottokar zu lieben«, lachte der Fürst und half seiner staunenden Kusine beim Einsteigen.

Aber die Gräfin sollte noch mehr staunen.

Der Superwagen brauste mit großer Geschwindigkeit dahin. Der höfliche Fahrer bat, sich der Bequemlichkeit des Wagens bedienen zu wollen, die in einer eingebauten Bar, einem Fernsehgerät und einem eingelassenen Tischchen mit allerlei Leckereien darauf bestand.

Nach einer mehrstündigen Fahrt verließen sie die Autobahn und bogen in einen breiten Waldweg ein, der bergan führte. Er schlängelte sich unter hohen Tannen und dicken Eichen hindurch und an einem zauberhaften kleinen Waldsee vorbei.

Dann führte er überraschend aus dem Wald heraus und mündete in eine breite Pappelallee, die vor einem gewaltigen Burgtor endete.

Der Chauffeur hupte ein paarmal nachdrücklich. Daraufhin schwan­gen die breiten schmiedeeisernen Flügel des Tores auseinander, und sie fuhren weiter über eine kleine Zugbrücke, die über einen tiefen Burggraben führte, in dessen grasbewachsener Tiefe einige Hirsche mit gewaltigen Geweihen friedlich ästen.

Sie kamen nun in einen malerischen Innenhof, der von einem Palast im romanischen Stil, hohen gotischen Bauwerken und zwei riesigen Wehrtürmen umgeben war.

Die Gräfin wußte ihr Staunen kaum noch zu verbergen.

Hatte Jürgen Bentloh nicht gesagt, er ließe sie zu seinem Vater bringen, wo Diana sich aufhalte? War der Vater ein Angestellter des Burgherrn, der vielleicht gar ein Bekannter von ihr war? Wie peinlich konnte das werden.

»Wem gehört diese Burg und wie heißt sie?« fragte sie den Fahrer, der ihr beim Aussteigen behilflich war.

»Dies ist Burg Sturmegg, und der Eigentümer ist Herr Bentloh. Wir fahren schon seit über einer Stunde durch seinen Besitz. Die riesigen Ländereien um die Burg gehören ihm alle. Frau Gräfin haben doch sicher schon von den Bentloh-Werken gehört.«

Die Bentloh-Werke! Dieser riesige Konzern! Natürlich hatte sie davon gehört.

Der alte Bentloh war mehrfacher Millionär. Sie erinnerte sich dunkel, daß er ihr auf einem Empfang schon einmal vorgestellt worden war.

Das also war Dianas zukünftiger Schwiegervater!

Eine große Erleichterung überkam die Gräfin.

Als jetzt Diana Hand in Hand mit dem jungen Bentloh quer über den Burghof auf sie zugelaufen kam, fing sie die beiden in ihren weitgeöffneten Armen auf.

»Ihr habt mir ja einen schönen Schrecken eingejagt, Kinder«, sagte sie herzlich. »Aber ich verzeihe euch.« Und sie fügte hinzu: »Um ganz ehrlich zu sein: Ich sehe jetzt, daß Diana keine allzu schlechte Partie machen wird. Das ist für mich als ihre Mutter von sehr großer Wichtigkeit. Erst wenn ihr selbst einmal Kinder habt, werdet ihr mich vielleicht verstehen.«

Diana errötete und schmiegte sich zärtlich an den Geliebten, der die Mutter seiner Braut liebenswürdig begrüßte und sie über eine kleine Rampe zum schmiedeeisernen Eingangstor hinaufgeleitete, wo der alte Bentloh die zukünftige Schwiegermutter seines Sohnes voll größter Hochachtung begrüßte.

»Gott sei Dank«, flüsterte Jürgen seiner überglücklichen Braut zu. »Nun wird doch noch alles gut.«

*

Hochzeit auf Schloß Degencamp.

Wagen auf Wagen rollt vor der großen Freitreppe vor. Eilig hinzuspringende Bedienstete öffnen die Wagentüren und helfen den erlauchten Gästen beim Aussteigen.

Fast der gesamte Hochadel ist erschienen. Nur einige wenige haben abgesagt.

Die Damen in hocheleganten, kostbaren Roben lassen sich von Herren im Frack oder ordensgeschmückten Offiziersuniformen die Treppe hinaufgeleiten in das Vestibül vor dem großen Marmorsaal, wo Fürst Degencamp die Honneurs macht. Perlen schimmern matt auf großzügigen Dekolletés, Brillanten, Rubine und Smaragde blitzen und funkeln.

Lakaien in samtenen Livreen reichen Sekt und kleine Erfrischungen auf riesigen Silbertabletts herum.

Man lacht und scherzt, begrüßt Bekannte und Verwandte. Die Damen flüstern sich gegenseitig den neuesten Klatsch zu.

Um elf Uhr geht alles hinüber in die kleine, über und über mit Tausenden von dunkelroten Rosen geschmückte Schloßkapelle, wo die Trauung stattfindet.

Der Prinz von Carthertown führt die in einem schneeweißen Brautkleid, dessen Saum mit Saphiren und Rubinen bestickt ist, märchenhaft schön aussehende Braut dem Fürsten zu, der sie strahlend vor Glück in Empfang nimmt.

Der Bischof selbst nimmt die Trauung vor.

Das feierliche Zeremoniell ist ergreifend und rührt manche der anwesenden Damen zu Tränen.

Der kleine Prinz, den die Gäste ebenfalls zum ersten Male sehen, streut zarte Rosenknospen auf den kostbaren Teppich, über den das Brautpaar schreitet.

Sybills Märchenaugen leuchten vor Glück. Ihre Wangen sind gerötet, die zartgeschwungenen Lippen glühen. Das fürstliche Diadem mit dem taubengroßen Rubin funkelt und strahlt in ihrem Haar. Sie ist zauberhaft schön und wunschlos glücklich.

Vor der Kapelle wartet ein Knappe in weißen Seidenstrümpfen und schwarzer Samtlivree. Er hält einen unruhig tänzelnden, festlich geschmückten Hengst am Zaum, das Hochzeitsgeschenk des Fürsten.

Der Fürst selbst hebt die glückstrahlende Sybill auf das Pferd und führt es zum Schloß hinüber, wo er seine überglückliche Braut wieder herunterhebt und in das Schloß geleitet, das zukünftig ihr Heim sein wird.

An diesem Abend sind alle Räume in Schloß Degencamp erleuchtet.

In dem großen Marmorsaal mit seinen herrlichen Fresken von Rottmayer und den riesigen Säulen und Pilastern in rotem Stuckmarmor führen die Herren die Damen zum Tanz über das aus kostbaren Edelhölzern bestehende Parkett Die riesigen Kristall-Lüster verströmen gleißende Helligkeit.

»Von nun an wird Schloß Degencamp wieder öfter zu Gast bitten«, sagt der Fürst lächelnd zu Sybill, die in seinen starken Armen selig durch den Saal schwebt. »Wo eine so schöne Herrin waltet, finden sich die Gäste gern ein.«

Sybill schmiegt sich scheu an den Gatten. In ihren schönen dunklen Augen schimmert Zärtlichkeit.

»Ich danke dir«, flüstert sie so leise, daß er sie kaum versteht. »Ich danke dir für alles! Ich habe nicht gewußt, daß man so glücklich sein kann, Liebster!«

Der Fürst druckt die geliebte Frau zärtlich an sich.

»Dich glücklich zu machen, das wird von nun an die Hauptaufgabe meines Lebens sein«, sagt er liebevoll. Seine starken Arme umfassen sie ganz behutsam. Sie schmiegt sich fest hinein und weiß sich in ihrem Schutz unendlich geborgen und glücklich.

Fürstenkinder Staffel 1 – Adelsroman

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