Читать книгу Fürstenkinder Staffel 1 – Adelsroman - Helga Torsten - Страница 9
Оглавление»Fräulein… Fräulein… mein Gott, liebes Fräulein… so warten Sie doch nur einen Augenblick!«
Der Mann in der hellgrauen Livree des herrschaftlichen Dieners hob beschwörend die Hände gegen das junge Mädchen, mit dem er beinahe zusammengeprallt war.
»Bei dem Wetter warten? Ich bin doch keine Selbstmörderin!«
Des Mädchens schmale Gestalt mit dem bereits ein wenig abgetragenen Allwettermantel verhielt nun aber doch den Schritt.
Aus der Kapuze, die eng unterm Kinn zusammengeknöpft war, lugte ein beinahe kindlich zartes Gesichtchen hervor, das von riesigen dunklen Augen beherrscht war.
Man konnte die Farbe dieser Augen nicht angeben. Waren sie braun, waren sie schwarz wie Brombeeren, die ausgereift waren? In diesem Augenblick waren sie einfach nur dunkel und ein wenig ängstlich.
Denn hier draußen an der breiten offenen Strommündung, die wie ein Meer erschien, peitschte der Sturm nicht nur in den wenigen hochstehenden Bäumen, sondern versuchte sogar, die spärlichen herbstfahlen Gräser zu knicken. Was hatte der Wetterbericht gesagt?
Jasmine im Kapuzenmantel versuchte sich zu erinnern.
Sturmflutwarnung!
Seit Tagen tobte der Sturm an der Küste, peitschte seine Schrecken bis tief ins Land hinein. Im Hafen lagen hierher geflüchtete Schiffe aus aller Herren Länder. Und sogar zur Zeit der Ebbe stand das Wasser erschreckend hoch.
»Gleich kann hier alles überschwemmt sein!« sagte Jasmine und versuchte, den vor ihr stehenden vor Angst keuchenden Mann beiseite zu schieben.
»Fräulein… Fräulein… es geht um die Kinder! Haben Sie sie nicht gesehen?«
Der Fahrer Walter Waschkewitz fuhr sich über das nicht nur vom Regen, sondern auch vom Angstschweiß überperlte Gesicht.
Die Kinder!
Mein Gott, wie sollte er vor seinen Chef, Michail Fürst von Bassarow, den berühmten Kunsthändler, hintreten, wenn er ohne die Kinder zurückkehrte? Michail von Bassarow, der den ererbten Fürstentitel abgelegt hatte, den seine in der russischen Revolution geflüchteten Vorfahren getragen hatten, kümmerte sich zwar gar nicht um seine beiden Kinder Christopher, genannt Stoffel, und die kleine Vronli. Wenn aber die Kinder tot waren…
Weshalb habe ich sie nur mitgenommen? durchfuhr es den alten, treuen Waschkewitz.
Sie haben ihm leid getan, rechtfertigte er sich dann.
Der Stoffel und das Vronli spüren nicht sehr viel Liebe. Michail von Bassarow mag ein berühmter Antiquitätenhändler sein, er mag reich sein – aber für seine Kinder besitzt er weder Herz noch Zeit, und die Erzieherinnen wechseln sehr oft.
Na, und wenn sie dann zu mir in die Garage kommen…
Der Mann in der Livree schnaufte noch stärker. Ja, wenn sie mich dann bitten, mitgenommen zu werden, wer könnte dann nein sagen? Schließlich hat man ja auch ein Herz.
Vor allem für Kinder, die keine Mutter mehr haben.
Wie lange war sie schon tot, die Frau des Fürsten Bassarow?
Auf jeden Fall lebte Barbara Bassarow schon lange nicht mehr.
Lebenslustig war sie gewesen, hatte den Sport geliebt, hatte sich gern bewundern lassen. Keinem Flirt war sie abgeneigt gewesen, obgleich Fürst Michail zu einem der bestaussehendsten und begehrtesten, dabei reichsten Männern in der Gesellschaft gehörte.
Aber es gab eben solche Frauen, die eine Unzahl von Verehrern brauchten.
Und dieses Temperament, oh, dieses Temperament!
Das hatte sie das Leben gekostet. Damals, als sie das dritte Kind unter dem Herzen trug und in rasendem Tempo in ihrem Sportkabriolett mit weit über 200 Stundenkilometer in die Kurve ging.
Tot!
Der Fahrer Waschkewitz schob an diesem fürchterlichen Sturmnachmittag, der die Millionenstadt an der Elbe bedrohte, die Hände in die Taschen. Und seit der Zeit hatten der heute zehnjährige Stoffel und die siebenjährige Vronli keine Mutter mehr.
Und auch keinen Vater!
Er kümmerte sich nicht um sie!
Der Mann in der hellgrauen Livree begehrte innerlich wild auf.
Und deshalb kommen der Stoffel und das Vronli immer wieder in das Personalzimmer der großen Villa an der Elbchaussee. Und wir alle haben diese Kinder lieb. Die Haushälterin, die Köchin, das Stubenmädchen. Na, und ich ganz gewiß!
Ich hätte die beiden nicht mitnehmen sollen,als ich an diesem späten Nachmittag hierher fuhr, um die Statue einer kleinen holzgeschnitzten Madonna von einem Verkäufer abzuholen.
»Fräulein!« keuchte der Mann und sah wie ein Verzweifelnder dem Mädchen im Kapuzenmantel in das schmale Gesicht mit den riesigen dunklen Augen. »Fräulein, so helfen Sie mir doch! Ich bin ja nur ganz kurz im Haus Hollenberg gewesen. Nur um die hölzerne Madonna abzuholen. Und in dieser Zeit… ja, da sind sie verschwunden, der Stoffel und das Vronli. Und… und dieser Kater, dieser Julius, ohne den sie nicht leben können. Verschwunden sind sie, alle drei!«
Der Sturm pfiff jetzt nicht mehr, er raste, er versuchte, alles Aufrechtstehende zu Boden zu werfen.
Die kleine, schmale Jasmine klammerte sich plötzlich unbewußt an den Fahrer.
»Aber ich habe sie ja auch nicht gesehen, die Kinder, die Sie suchen!« schrie sie.
Der Sturm heulte jetzt so laut, daß man sich nur schreiend verständigen konnte. Das Schreien aber klang wie ein Flüstern.
Mehr aber noch als die Worte sprachen in Jasmines Gesicht die dunklen Augen. Die waren warm, herzlich. Und in ihnen spiegelte sich plötzlich auch die Fürsorge für zwei Kinder, die spurlos verschwunden waren.
Der nahende Abend war erfüllt von Schrecken, Angst, Furcht.
Sirenen begannen jetzt laut zu heulen.
»O Gott, die Flut!« Jasmine faltete die zarten Hände, die in einfachen roten Strickhandschuhen steckten.
»Die Flut!«
Der Fahrer Waschkewitz sank in sich zusammen. »Die Flut, Fräulein, und die Kinder…«
Da raffte sich die kleine Jasmine auf.
»Sagten Sie nicht, die Kinder hätten einen Kater bei sich gehabt?«
Waschkewitz nickte stumm.
»Julius!« schrie er dann jäh. Sein Schreien glich einem Flüstern.
»Ich werde Ihnen suchen helfen!« schrie Jasmine und beugte sich zum linken Ohr des hilflosen Mannes. »Man kann Kinder ja nicht diesem Chaos aussetzen.«
Jasmine strich sich übers Gesicht. Ihr glattes kastanienbraunes Haar war so kurz geschnitten, daß es aus der Kapuze hervorschaute. »Wie eine Kappe liegt es an!« hatte vor einer knappen Viertelstunde die Ballettmeisterin Curschmann geäußert, bei der sich Jasmine hatte melden sollen. »Und deshalb können Sie die Rolle besonders gut übernehmen.«
Oh, das Katzenballett im Kinderweihnachtsmärchen des Opernhauses.
Jede der Schülerinnen der Frau Curschmann träumte davon, in ihm auftreten zu dürfen.
Natürlich bestritt das Ballett der Oper diesen Tanz der Katzen. Aber bei den Tänzerinnen gab es Erkrankungen, Ausfälle. Die Oper hatte sich an die bewährte Ballettmeisterin gewandt, die seit etlichen Jahren nicht mehr selber auftrat, sondern nur Schülerinnen ausbildete.
»Und du bist meine begabteste Schülerin, Jasmine!« hatte die gütige grauhaarige Adela Curschmann vor einer halben Stunde geäußert. »Und du wirst tanzen, großes kleines Mädchen.«
»Auf der riesigen Bühne der Oper?«
»Ja, du«, hatte Adela Curschmann lächelnd bestätigt. »Und – das rate ich dir – Schande hast du mir nicht zu machen.«
»Mach’ ich nicht!« Jasmine hatte den Kopf mit dem bubenhaft kurzgeschnittenen Haar gesenkt. »Ich will ja, ich will…!«
»Primaballerina willst du werden wie alle!« Die grauhaarige Frau hatte gelächelt. »Also, einen Start hast du nun… Kätzchen, kleine Jasmine. Nimm ihn wahr, den Start!«
Wie lange lagen diese Worte nun schon zurück?
Jasmine fuhr sich mit den Handschuhen übers Gesicht, in das der einsetzende Regen peitschte.
Eine Ewigkeit! dachte das Mädchen.
Denn nun tritt die Gegenwart an mich heran. Eine Gegenwart, in der nicht getanzt wird, sondern in der zwei Kinder verschwunden sind.
Immer schauriger heulten die Sirenen.
Eine Millionenstadt war auf den Beinen. Mit Polizei. Mit Suchdienst. Mit Militär. Mit Rettungsmannschaften.
»Ich helfe Ihnen«, versprach Jasmine dem völlig ratlosen und verwirrten Fahrer Waschkewitz, der seine Gutherzigkeit tausendmal bereute.
»Also, dann auf!« Jasmine lachte plötzlich. »Heute habe ich meinen Katzentag.«
Graziös erhob sie sich auf den langschäftigen Stiefeln, die ihr ein wenig zu groß waren. Eine Bekannte hatte sie ihr zu diesem Weg geliehen. Wie der gestiefelte Kater komme ich mir vor! dachte Jasmine, während sie mit dem Fahrer Waschkewitz verabredete, sich pünktlich nach einer halben Stunde hier wieder zu treffen. Hier am Auto, das seine riesigen Scheinwerfer über die ganze Landschaft zu werfen schien.
Es sollte lieber dunkel sein! durchfuhr es Jasmine. Schön sieht’s hier nicht aus. –
Die Wohnung der Ballettmeisterin Curschmann lag in einer jener alten Villen, die einmal gute Zeiten mit immer stärker abblätternder Schäbigkeit vertauscht hatten.
Es gab hier bereits Schuppen, Fabrikhallen, Lagerräume, die sich in unentwirrbarem Durcheinander ausbreiteten.
Und es war so dunkel, daß man kaum die Hand vor den Augen sehen konnte.
Jasmine drehte die kleine Taschenlampe n, die sie für diesen Weg bei sich getragen hatte. Sie gab zwar keinen Lichtschein wie die Scheinwerfer des Wagens, aber man konnte mit ihm in die hintersten Ecken kriechen.
Und sich verirren!
Jasmine war es plötzlich nicht mehr ganz geheuer.
Draußen legte sich der Sturm immer mehr in die Riemen, preßte die Wolken beinahe bis auf den Strom hinab.
Er drängte auch die Flut unbarmherzig in die Flußmündung.
Gefahr – höchste Gefahr!
Sirenen begannen jetzt rundum zu heulen.
Vronli, Stoffel! Veronika, Christoph!
Jasmine rief die Namen der beiden Kinder, bis sie sich klarmachte, daß dies ein zweckloses Bemühen war.
Wer schon konnte in diesem Chaos eine Kinderstimme hören, die antwortete!
Und im übrigen: Hatte sie sich nicht in eine andere Richtung gedreht?
Jasmine spürte plötzlich hr Herz laut und heftig gegen die Rippen schlagen, von denen einmal ein Kommilitone gesagt hatte: »Kleines Fräulein Doktor in spe, lassen Sie sich nie in einen Kampf ein, sonst zerdrückt man Sie völlig!«
Jasmine lehnte sich einen Augenblick gegen eine Wand.
Der Kommilitone – es war schon lange her, daß er so zu ihr gesprochen hatte.
Das war damals noch, als die Eltern lebten. Papa, der große, international berühmte, aber auch höchst eigenwillige Dirigent Joachim Rasmussen. Und Mama. Ach, die zierlich mädchenhafte Mama, die einer bekannten französischen Professorenfamilie entstammte und die keinen sehnlicheren Wunsch gehabt hatte, als daß die einzige Tochter auch einmal Ärztin würde.
»Mache ich, Mama!« Jasmine hatte nach dem Abitur zu diesem Vorschlag genickt. »Kinderärztin. Das schaffe ich gewiß. Aber – das Tanzen – ja das brauche ich doch nicht aufzugeben?«
»Das will ich mir ausgebeten haben!« Das war Papas Stimme. Er schien bei diesen Worten gleichsam mit dem Taktstock zu klopfen. Er war es gewesen, der die noch ganz winzige, graziöse kleine Tochter, noch ehe sie lesen und schreiben konnte, zur Ballettschule gebracht hatte. Sie besaß ein Talent, das man ausbilden mußte, ganz gleich, welchen Berufsweg sie einmal einschlagen würde.
»Man läßt nichts verkümmern«, behauptete er. »Es wäre die größte Sünde.«
Und nun war heute die erste Möglichkeit zum Auftreten gekommen. Die große Möglichkeit. Denn in Kindermärchen einiger kleiner Bühnen war Jasmine schon aufgetreten.
Aber das Katzenballett an der großen Oper – ja, das war eine Chance, eine große Chance! Ich tanze in der ersten Reihe als größte Katze, als Katzenprinz sozusagen.
Ja, als Katerprinz.
In diesem Augenblick krachte es dröhnend hinter dem Mädchen, das in dieser Sturmnacht hier in einem alten Lagerschuppen verzweifelt nach den Kindern suchte.
Dumpf drohend begannen einige umgestürzte Fässer zu rollen.
Jasmine sprang noch rechtzeitig zur Seite. Die kleine Lampe in ihrer Hand flackerte wie ein Irrlicht, suchte sich selbst einen Weg, beleuchtet eine Ecke, aus der plötzlich das Miauen eines Katers an Jasmines Ohr klang.
Katzenballett… Katerprinz…
Waren das Träume?
Aber der große, wunderschöne graue Kater mit den schneeweißen Hängebacken unter den steil aufgerichteten Schnurrhaaren war Wirklichkeit, greifbare Wirklichkeit!
Na, um dich geht’s doch! Du bist doch wohl der Gesuchte!«
Jasmine hob jetzt die Lampe und leuchtete die ganze Ecke aus.
In diesem Schuppenwinkel hatte sich nicht nur der wie ein verzauberter Prinz aussehende Kater geflüchtet, sondern in ihm hockten auch zwei Kinder, eng aneinandergedrängt. Zerzaust fielen dem Jungen dunkle Haare in seine Stirn. Im Schein des Lichtes schimmerten daneben die seidenweichen Locken eines kleinen Mädchens.
»Da seid ihr ja«, sagte Jasmine erleichtert und stand nun ganz dicht vor der kleinen Gruppe. Sie zweifelte nicht daran, daß sie die Kinder gefunden hatte, die der Fahrer Waschkewitz suchte.
»Und was tut ihr hier?« fragte sie und gab ihrer Stimme einen ernsten Ton.
Schließlich gehörten die Kinder in diesen Sturmstunden nicht in diesen Lagerschuppen, der sich weit außerhalb des Hafengeländes befand.
»Julius«, versuchte jetzt der Junge zu erklären.
»Ja, Julius!« echote das blondlockige Mädchen, das eine Puppe fest an sich drückte.
»Julius wollte nicht mehr im Wagen bleiben und warten. Waschkewitz war auch so lange weg.«
Christoph, der sich niemals anders als Stoffel hatte nennen hören, rechtfertigte sich. Jasmine sah, daß er groß und kräftig gebaut war und sich ein wenig linkisch gab, im Gegensatz zu der sehr graziösen kleinen Schwester, die sich jetzt ganz eng an Jasmine drängte.
»Du«, das Kind schluckte ein paarmal, »weißt du, wie wir hier herauskommen?«
Jasmine legte den Arm um das Kind und zog es zärtlich an sich.
»Natürlich weiß ich das, Schätzchen. Ganz einfach durch die Tür, durch die wir schließlich alle gekommen sind.«
Das klang beruhigend.
»Wie kommst du hierher?« erkundigte sich Stoffel sehr nüchtern.
»Na, man sucht euch. Und ich traf gerade euren Fahrer.«
»Waschkewitz!« Nun weinte die kleine Vronli laut auf.
»Ja, Waschkewitz!« bestätigte Jasmine, die nun wußte, wie der verzweifelte Mann in der grauen Livree hieß, der seines Herrn Kinder verzweifelt suchte.
»Gut, daß wir Julius wiedergefunden haben«, erklärte jetzt Stoffel. »Denk mal, der lief einfach weg und war verschwunden!«
»Und ihr seid auch weggelaufen!« ergänzte Jasmine. »Und wenn ich eure Mutter wäre, würde ich euch die Hosen strammziehen.«
»Hahaha!« Nun lachte der kleine Bursche plötzlich. »Als ob du eine Mutter wärest. Du bist doch auch nur ein Mädchen, ein kleines Mädchen«,
betonte er und reckte sich hoch auf.
Ich habe einige Semester Medizinstudium hinter mir, ich tanze in der großen Oper den Katerprinzen in der ersten Reihe, wollte Jasmine sagen.
Aber es war wohl nicht der Augenblick, jetzt den Kindern zu beweisen, daß sie nicht ihresgleichen, sondern schon erwachsen war. »Los, kommt!« sagte sie nur. »Eure Mama wird schon wissen, was sie zu tun hat.«
»Sie lebt nicht mehr«, erklärte Stoffel nüchtern und ließ den schnurrenden Kater Julius auf seine Schulter springen.
»Na, dann der Papa!«
»Der weiß sicher nicht einmal, daß wir weg sind«, sagte Vronli mit einem traurigen Gesichtchen.
»Na, was sagst du nun? schienen die Blicke beider Kinder Jasmine zu fragen.
Die aber ließ sich in kein Streitgespräch ein.
Es galt allein, aus dieser Hölle herauszukommen.
»Los, schnell!« schrie sie, denn der Sturm war nun zum Orkan geworden.
Der winzige Lichtkegel der Taschenlampe zeigte den Weg zu der Tür. Sie war durch den Orkan so fest zugedrückt, daß es Jasmine fast unmöglich schien, sie aufzustoßen, um dann den Weg ins Freie zu gewinnen.
Gefangen – gefangen wie in einer Mausefalle! dachte das Mädchen, das sich mit aller Kraft gegen die Tür stemmte.
»Stark bist du wohl nicht«, behauptete Stoffel.
»Und du auch nicht!« verwies ihn Jasmine. Denn sie sah, daß nun auch der Junge sich vergeblich gegen das Holz stemmte.
»Was tun wir?« Vronlis Stimmchen wimmerte.
Ja, was tun?
Noch ehe Jasmine aber einen Gedanken fassen konnte, öffnete sich die Tür plötzlich wie von selbst. Doch sie gab keinen Weg ins Freie preis, sondern durch ihre Öffnung flutete Wasser, immer höher steigendes Wasser.
Lieber Gott – der Strom!
Jasmine faltete unwillkürlich die Hände.
Dann aber leuchtete sie mit dem blassen Schein ihrer Lampe die Halle aus. Fässer, hochgetürmte Säcke, teilweise gelagert wie eine Treppe. Man konnte gut hinaufsteigen bis unters Dach. Und das Dach hatte oben eine Öffnung, eine Luke.
»Dort hinauf!« befahl Jasmine. Sie versetzte Julius, dem Kater, dem sie diese mißliche Lange verdankte, einen unsanften Tritt.
»Bist du nicht tierfreundlich?« erkundigte sich Stoffel kritisch und runzelte die hohe Kinderstirn.
»Nein, gar nicht«, hätte Jasmine in diesem Augenblick am liebsten gesagt, obgleich es nicht der Wahrheit entsprach. Aber diesen Kater, der jetzt beinahe gravitätisch neben ihnen über Säcke und Fässer stieg, haßte sie beinahe. Denn die Situation war keineswegs angenehm.
Wasser – überall Wasser, auch als Jasmine endlich mit beiden Kindern und Julius auf dem Dach hockte, auf das sie sich durch die Öffnung gerettet hatten.
Wo war die breite Fahrstraße? Wo war der Wagen dieses herrschaftlichen Fahrers Waschkewitz?
Nichts war mehr, nur Wasser und Sturm, und in der Ferne geisterten Scheinwerfer.
Einen Augenblick schien Jasmine der Herzschlag zu stocken.
Beklemmende Situation, oben auf einem Lagerhausdach zu sitzen, rundum eine Wasserwüste. Neben sich zwei Kinder und einen Kater.
Eine feste Bubenfaust zerrte jetzt an ihrem schon völlig durchnäßten Kapuzenmantel.
»He, was machen wir?«
Und dann dieses zarte Stimmchen, zu dem ein ebenso zartes
Händchen gehörte, das sich zwischen Jasmines ein wenig magere Finger schob.
»Du, wollen wir nicht nach Hause?« Das war Vronli.
Wollen wir schon! dachte Jasmine, die sich verantwortlich für die beiden Kinder fühlte, aber erst können! Können ist immer etwas anderes als wollen.
»Wir warten!« erklärte sie, weil ihr ohnehin nichts anderes übrigblieb. Schließlich konnte sie sich nicht mit den Kindern in die scheußlich schmutzigen, sie rings umgebenden Fluten stürzen.
»Wir warten!« wiederholten Stoffel und Vronli ein wenig gedehnt. Denn angenehm war es hier oben keinesfalls.
»Ich hab’ den Freischwimmer«, piepste einmal die kleine Vronli und drängte das vor Kälte zitternde Körperchen noch enger an Jasmine.
»Ich auch«, echote Jasmine lakonisch.
Rundum sah man doch die Dächer anderer Lagerschuppen. Aber die waren nicht höher gelegen als das, auf dem man jetzt nebeneinanderhockte.
»Ja, warten wir!« erklärte Jasmine noch einmal.
»Du… du…!« In diesem Augenblick schrie Vronli laut auf und wäre beinahe durch den Sturm fortgeweht worden, weil sie Jasmine losließ. »Julius ist nicht mehr da. Julius!«
»Julius!« schrie nun auch Stoffel.
»Julius!« echote Jasmine. Sie hatte die kleine Taschenlampe, deren Batterie langsam zuckend die letzten Lebenszeichen gab, erneut eingeschaltet.
Da trieb er auf den schlammigen gelblichen Fluten: Julius, um den sich an diesem Tag anscheinend alles zu drehen schien.
»Bleibt sitzen! Ich hole ihn!«
Jasmine dachte jetzt nicht mehr an die Schneekönigin und ehrgeizige Ballettpläne. Sie sah nur die Kinder, die ein Lebewesen hergeben sollten, an dem ihre kleine Herzen zärtlich hingen.
Vronli weinte laut. Stoffel hatte Tränen in den Augen.
»Aber ihr dürft euch keinesfalls bewegen, versteht ihr? Schön festhalten hier an der Öffnung des
Daches. Und dann: dann will ich
mal sehen, wie ich Julius zurückangle.«
Julius aber ließ sich nicht angeln. Er schien sich im Wasser zu Tode zu fürchten. Er krallte sich auch nicht an ein ausgestrecktes Stück Latte, das Jasmine auf dem Dach gefunden hatte und ihm zuschob. Oh, Julius schien zu ertrinken.
»Julius!«
Das Mädchen zog sich jetzt den Kapuzenmantel aus, und legte ihn um die Kinder. Auch die hohen Schuhe zog sie aus.
»Was willst du?« fragte Stoffel. Er war nun doch ein wenig besorgt.
»Na, euren Julius holen!« erklärte Jasmine. »Der ertrinkt sonst noch vor unseren Augen.«
Jasmine war eine gute Schwimmerin. Aber das Wasser, in das sie jetzt hinabtauchte, war eisig. Es verschlug ihr fast den Atem.
»Julius, Julius!« keuchte sie und streckte eine Hand nach dem Tier aus.
»Julius!«
Dann wurde es plötzlich ganz schwarz vor ihren Augen.
Sicher war die Taschenlampe ausgegangen, die sie Stoffel zum Halten anvertraut hatte.
Oh, diese Dunkelheit… schwarz, alles schwarz! konnte Jasmine nur noch denken.
*
»Sie wäre mit dem Tier beinahe abgesackt!« sagte der junge Arzt Dr. Harald Brockdorff, der in dieser Unwetternacht in einem der Schlauchbote saß, die die Polizei zu Wasser gebracht hatte.
Der Katastropheneinsatz war aufgeboten. Das Wasser war sehr schnell gestiegen. In Bäumen, auf Hausdächer hatten sich verzweifelte Menschen geflüchtet. Überall schrie man nach der Hilfe der Retter.
Harald Brockdorff zog die ohnmächtige Jasmine, deren rechter Arm sich fest um den Kater Julius preßte, in das Boot.
Grell leuchtete das Licht der Sturmlaterne in des Mädchens Gesicht.
Einen Augenblick spürte Harald Brockdorff, daß er nicht nur Arzt im Katastropheneinsatz, sondern auch ein Mann war. Dieses süße, entzückende Gesichtchen, um das sich das dunkle Haar eng anschmiegte wie eine Kappe. Das einfache Strickkleidchen legte sich modellierend um die zarte, beinahe knabenhaft anmutende Figur. Modell für einen Bildhauer, der eine Psyche schaffen wollte, ein Mädchen, das noch an eine Knospe erinnerte, die erst die Liebe zur Blüte küssen mußte.
»He!« Der junge Wachtmeister Lemke hatte wenig Sinn für poetische Betrachtungen und auch nicht für die jähen Herzensregungen des jungen Arztes.
»He, da sitzen ja ein paar Kinder auf dem Dach!« erklärte der Wachmeister beinahe gemütlich, der nun auf das Dach stieg. »Ich denke, ihr solltet lieber im Bett liegen als auf diesem Dach sitzen. Oder macht euch das Spaß?«
Sekunden später hockten Stoffel und Vronli ebenfalls in dem Schlauchboot, auf dessen Boden lang ausgestreckt Jasmine lag, die ihr Leben für den von den Kindern so geliebten Kater Julius eingesetzt hatte.
»Ist das eure Schwester?« fragte Dr. Harald Brockdorff.
Stoffel schüttelte den Kopf.
»Leider nicht!«
»Wir kennen sie gar nicht«, fügte Vronli hinzu, die, in eine warme Decke gehüllt, neuen Lebensmut faßte.
»Ihr kennt das Mädchen nicht?« Der Mann wollte es nicht glauben.
Es war doch unwahrscheinlich, daß ein völlig fremdes junges Mädchen sein Leben für einen unbekannten Kater einsetzte.
Viele hielten Dr. Harald Brockdorff, der jetzt mit den Geretteten einem provisorischen Auffanglager für obdachlos Gewordene zustrebte, für sehr ehrgeizig. Er hatte sein Studium als Werkstudent finanziert. Er hatte jede Hürde genommen bis zu dem Tag, an dem er eine Assistentenstelle bei einem der berühmtesten Professoren an der Universitätsklinik erhielt, für die sich über zweihundert Bewerber gemeldet hatten. Harald Brockdorff aber hatte die Stelle erhalten. Himmel und Hölle hatte er dafür in Bewegung gesetzt. Und viele munkelten, daß er wochenlang vorher mit der berühmten oder vielmehr berüchtigten Eva Müller ausgegangen war, die als erste Sekretärin des Professors arbeitete. Ja, ganz böse Zungen wollten sogar wissen, daß er die schon ältere Eva nicht nur zum Tanz ausgeführt hatte, sondern ihr auch Geschenke machte, die seine schmale Börse so überschritten, daß er, als er endlich in die Universitätsklinik einzog, einen Berg Schulden hatte.
Aber ich habe es geschafft! dachte Harald Brockdorff in dem Augenblick, da das Schlauchboot von starken, hilfreichen Händen an Land gezogen wurde.
Was er geschafft hatte, das wußte er selbst nicht recht zu sagen.
*
»Die Kinder sind wohlbehalten. Das Mädchen ist…« Harald Brockdorff konnte nicht weitersprechen. Denn eine bezaubernde Stimme erklärte nicht nur bestimmt, sondern auch überzeugend: »Das Mädchen ist auch nicht mehr ohnmächtig. Es möchte aber gern ein paar trockene Kleider haben, sonst holt es sich eine Lungenentzündung!«
Mein Gott!
Der sonst so nüchterne Harald Brockdorff taumelte beinahe zurück.
Wie schön war das junge, grazile Geschöpf, dessen unwahrscheinlich große dunkle Augen er jetzt sah.
Er glaubte, noch niemals einem so anmutigen Mädchen begegnet zu sein.
Und nicht nur die Anmut, die Schönheit verzauberten.
Dieses Geschöpf besaß Esprit, es besaß Humor und…
»Träumen Sie, Doktor?« fragte in sein Sinnen hinein, Jasmine.
Sie trug jetzt ein viel zu großes Kleid, das sie sich aber mit Hilfe eines Schals anmutig um den zarten Körper drapiert hatte.
»Jetzt gibt’s nichts zu träumen. Es gibt hier vielerlei zu erledigen!« Jasmines Hand wies rundum.
Man stand in einem großen Schuppen, in den man von den verschiedensten Seiten hier vor dem Wasser geflüchtete Menschen geborgen hatte. Ein paar Rote-Kreuz-Schwestern hatten ihren Dienst aufgenommen.
»Wie kommen Sie denn dazu, daß Sie Doktor zu mir sagen?« fragte Harald Brockdorff.
»Na!« Jasmine lachte. »Sie sind doch schon ein paarmal mit Doktor angesprochen worden. Ich bin ja nicht taub. Und zudem«, Jasmine lachte nun ein wenig spitzbübisch, als sie sich leicht gegen Harald Brockdorff verneigte, »ich bin eine halbe Kollegin!«
»Wie? Was?«
Der Mann staunte.
»Haben Sie etwas dagegen, daß ich etliche Semester Medizin studiert habe?« Jasmine legte die kleine Hand auf des Mannes ein wenig knochige Finger.
Wie weich diese Männerhände waren, wie unbewußt zärtlich!
»Brockdorff!« stellte der Mann sich vor, aber nicht um einer gesellschaftlichen Pflicht nachzukommen, sondern um nun auch seinem Gegenüber den Namen zu entlocken.
»Jasmine Rasmussen!« Jasmine reagierte wie beabsichtigt. »Bestandenes Physikum und schon etwas weiter. Augenblicklich an einer Doktorarbeit festgebissen. Na, und nebenbei noch Tänzerin.«
Tänzerin!
Ah, daher diese unwiderstehliche Anmut.
»Ich habe noch nie…«
Harald Brockdorff wollte zu philosophieren beginnen.
Jasmine aber schnitt ihm das Wort ab.
»Später, alles später, lieber Doktor. Vorab sollten wir einmal den anderen helfen, die schlimmer weggekommen sind als mit einer Ohnmacht. Und dann… ein Telefon muß es doch geben. Die Kinder, der Kater…«
»Für den Sie Ihr Leben eingesetzt haben!« erklärte Dr. Harald Brockdorff mit einem unmißverständlichen Tadel in der Stimme.
»Die Kinder lieben ihn. Ja, wo sind sie überhaupt, der Stoffel und das Vronli? Ich muß unbedingt ihren Vater benachrichtigen.«
Jasmine schaute sich um.
Da hockten sie in einer Ecke des Schuppens dicht beisammen: Stoffel, den Arm um Julius geschlungen, und das Vronli, das in seinem Schoß eine Puppe mit einem sehr bunten Kleidchen wiegte. Oder war es ein Hampelmann?
Jasmine neigte sich über die Kinder.
»Schön, daß wir wieder im Trocknen sitzen nach all dem Schrecken, wie?« Sie streichelte Vroni über die golden schimmernden Locken.
»Du!« Stoffel zupfte Jasmine plötzlich am Ärmel des viel zu großen Kleides. »Du, das unser Julius lebt, das haben wir nur dir zu verdanken!«
Jasmine streichelte nun auch über das dunkle Haar des stämmigen Jungen.
»Schön, schön. Sag danke! Ich nehm’s an. Aber nun wollen wir dem Papa doch mal Nachricht zukommen lassen, wo ihr geblieben seid. Er wird sich Sorgen machen.«
»Papa macht sich keine Sorgen«, erklärte da Vronli sehr ernsthaft. »Papa macht sich Sorgen um seine holzgeschnitzten Madonnen und um diese… na, wie heißt das Zeug doch?«
»Um Ikone«, half Stoffel der Schwester.
»Um uns macht Papa sich keine Sorgen!«
Jasmines Hände zuckten unwillkürlich zurück. Nur ihre dunklen Augen, in denen jetzt wieder die gewohnten Lichtfunken zu tanzen schienen, streichelten die Kinder weiter; auch den Kater Julius, für den sie tatsächlich ihr Leben eingesetzt hatte, wie ihr erst jetzt bewußt wurde.
»Na, trotzdem! Anrufen müssen wir zu Hause. Schon wegen eures Fahrers!«
Jasmine erinnerte sich jäh des livrierten Mannes mit der furchtbaren Angst in den Augen.
»Ja, Waschkewitz, der hat sicher Angst um uns!«
»Na, also!« Jasmine atmete erleichtert auf.
Und dann stand sie wenige Minuten später mit Dr. Harald Brockdorff, den beiden Kindern und dem Kater, der sich jetzt wesentlich wohler fühlte als in den eiskalten, schlammigen Fluten, am Apparat.
Dr. Harald Brockdorff hatte es übernommen, das Telefongespräch zu führen.
»Ja, die Kinder!« sagte er am Apparat. »Sie sind geborgen. Es fehlt ihnen nichts. Eine junge Medizinstudentin hat sie gerettet. Ja, ich bin Arzt und werde die Kinder, wenn das Wasser sich etwas verlaufen hat, zu Ihnen bringen.«
Schluß.
Dr. Harald Brockdorff hängte den Hörer ein.
»Eine Frauenstimme«, sagte er, während er auf seine kleinen Schutzbefohlenen schaute.
»Frau Franzen«, erläuterte Stoffel. Er fühlte, daß man nun etliche Aufklärungen von ihm erwartete.
»Frau Franzen macht den Haushalt. Sie macht alles!« fügte Vronli hinzu.
»So, alles!« Jasmine räusperte sich. »Aber auf euch paßt sie doch wohl nicht ausreichend auf.«
»Wieso?« Stoffel stellte sich jetzt breitbeinig vor Jasmine auf.
»Na, mit eurem Waschkewitz hätte sie euch doch wohl heute nachmittag nicht wegfahren lassen sollen!«
»Hast du gewußt, daß die Flut so steigen würde?«
Jasmine gab sich geschlagen.
»Ich werde jetzt abgelöst«, erklärte in diesem Augenblick Dr. Harald Brockdorff. »Ich habe meinen Wagen hier in der Nähe. Ich denke, ich fahre euch nach Hause. Und Sie, Fräulein Kollegin in spe, natürlich auch!«
Der Mann lachte.
Jasmine schaute auf.
Das Haar des Mannes war jetzt getrocknet. Es leuchtete wie Gold. Fast ein Märchenprinz! durchfuhr es die kleine Jasmine, die tanzte und doch Menschen heilen wollte.
Vielleicht… mein Märchenprinz?
Sehr zart und dennoch fest und beherrschend fühlte sie sich in diesem Augenblick an der Schulter berührt.
»Jetzt träumen Sie, Fräulein Doktor in spe!«
War die Flut gesunken? Hatte der Sturm nachgelassen? Oder was war sonst geschehen?
Plötzlich fühlte Jasmine sich beschützt. Sie spürte, daß neben ihr ein Mann stand, der sein Ziel kannte und es erreichen würde.
*
Dr. Harald Brockdorffs dunkler Wagen hielt vor der schloßähnlichen Villa auf der Elbchaussee, in der Michail von Bassarow wohnte. Dieser Michail Bassarow, Vater von Stoffel und Vronli, ließ sich durch eine Hausdame vertreten.
»Ich bringe euch selber ins Haus!« Jasmine störte es nicht, daß sie noch immer das viel zu weite Kleid trug.
Weiß sie, daß nichts sie entstellen kann: durchfuhr es den Mann, der am Steuer zurückblieb, während das Mädchen mit den Kindern den großen Vorgarten durchquerte. Weiß diese kleine Doktorin in spe überhaupt, wie schön sie ist, wie sie die Sinne erregt? Ja, sogar meine Sinne, die ich bislang kaum gespürt habe. Denn ich habe immer nur daran gedacht, ein Ziel zu erreichen. Ein Ziel, dem ich alles opferte. Vor allem die Liebe.
Habe ich überhaupt schon jemals geliebt, ich, Dr. Harald Brockdorff, zweiunddreißig Jahre alt, Assistent des berühmtesten Professors der Universitätsklinik?
Harald Brockdorff starrte vor sich hin.
Weshalb habe ich noch niemals geliebt?
Weil ich so arm war! antwortete der Mann.
Ja, ich hatte keine Zeit für die Liebe. Das ist es.
Harald Brockdorff wußte nicht, daß ihn bisher aller Ehrgeiz rasch vorwärtszukommen, beherrscht hatte.
Liebe? Zur Liebe brauchte man Zeit.
Und auch Geld.
Zeit und Geld habe ich bisher nicht besessen.
Der Mann am Steuer starrte vor sich hin.
Zeit! Zeit…
Ich werde sie fragen, diese zauberhafte Tänzerin, Doktorin in spe, ob wir uns einmal treffen wollen, bald treffen wollen.
Ich möchte das Mädchen wiedersehen, das ihr Leben einsetzt für fremde Kinder, ja sogar für einen maunzenden Kater.
*
»He, Sie, Doktor!« In diesem Augenblick erklang Jasmines nun müde Stimme.
»Ich habe die Kinder abgeliefert. Und ich soll einmal wiederkommen. Der Herr Papa war nicht anwesend. Ich weiß nicht, wo er ist. Und die alte Dame, diese Hausdame, Frau Franzen, die Sie am Apparat sprachen, die war heilfroh, daß die Kinder wieder da sind.«
Nun stockte Jasmines Stimme. »Doktor, das war alles so traurig!«
»Traurig?« fragte Dr. Harald Brockdorff. »Traurig in diesem Schloß?«
»Auch Schlösser bewahren nicht vor Trauer«, behauptete Jasmine und dachte daran, wie diese hagere alte Dame die Kinder in Empfang genommen hatte. Kalt, frostig.
Und der Stoffel und das Vronli hatten immer wieder ihre Hände ergriffen.
»Du, du… geh nicht fort! Du kannst so schöne Geschichten erzählen!«
Zum Schluß hatte Vronli noch geweint, während sie die Puppe eng ans Herz drückte. –
»Kleines Mädchen!« sagte Harald Brockdorff. »Kleine Kollegin in spe, haben Sie nicht ein sehr weiches Herz?«
Jasmine schaute auf zu dem Mann, der neben ihr am Steuer seines Wagens saß und sie jetzt zu ihrer Wohnung fuhr.
»Weiches Herz?« Jasmine überlegte keinen Augenblick. »Muß man diese Kinder nicht liebhaben?«
Da löste Dr. Harald Brockdorff seine rechte Hand vom Lenkrad des Wagens und legte sie auf die zärtlichen, weichen Hände der kleinen Jasmine.
»Nicht jeder würde es tun, kleines Fräulein.«
Harald Brockdorff, der noch niemals ein Mädchen von Herzen geliebt hatte, weil er nie wußte, ob sie seinen ehrgeizigen Berufszielen nicht im Wege stehen würde, ja, eben dieser Harald Brockdorff vergaß allen Ehrgeiz, vergaß auch die ihm angebotene Kälte. So bezaubernd war dieses junge Geschöpf neben ihm!
Jasmine fröstelte jetzt. Die vergangene Nacht war doch sehr aufregend und anstrengend gewesen.
»Jasmine!« sagte Harald Brockdorff sehr leise, aber eindringlich. »Ich fahre dich jetzt nach Hause, kleine Jasmine. Aber wann… wann werden wir uns wiedersehen?«
»Wiedersehen?«
Jasmine starrte geradeaus.
Die Straße war hier draußen trocken, vom Sturm wie blankgefegt.
Will ich ihn wiedersehen, diesen Mann, der mich im Schlauchboot rettete?
»Ja, morgen, morgen im Alsterpavillon!« flüsterte Jasmine beim Abschiednehmen. »Und ich komme ganz bestimmt.«
»Ich auch!«
*
»Ausgeschlossen! Völlig ausgeschlossen!«
Michail von Bassarow schüttelte energisch den Kopf. Diese Zumutung konnte man doch wohl kaum ernst nehmen.
Er, der berühmte, international bekannte Antiquitätenhändler, sollte mit seinen beiden kleinen Kindern ein Weihnachtsmärchen besuchen? »Aber ich bin doch krank, wirklich krank!«
Die alte, grauhaarige Emma Franzen, nun schon seit Jahren Hausdame bei Bassarow, zitterte. Sie sah elend aus, als müsse sie sterben. Und solange die stets Pflichtbewußte dieses Gefühl nicht gehabt hatte, hatte sie kein Wort über eine nun seit Wochen anhaltende Unpäßlichkeit verloren.
Aber nun konnte sie sich wirklich kaum mehr auf den Beinen halten. Und das gerade an diesem Tag, an dem sie versprochen hatte, mit Stoffel und Vronli das Kindermärchen in der Staatsoper zu besuchen.
»Es kommt doch kein anderer als Sie in Frage!« stöhnte Emma Franzen.
Mein Gott, weshalb nur machte sie gerade heute schlapp. Sie war doch die letzte, die den mutterlosen Kindern ein Vergnügen verdarb.
»Gehen Sie doch mit den Kindern zur Aufführung!« beschwor sie den Mann, der ihr halb den Rücken zukehrte.
»Die Kinder haben doch keine Mutter mehr!«
Und auch keinen Vater! hätte die Frau gerne hinzugefügt.
Aber es ging jetzt nicht um Recht oder Unrecht. Es ging um die Kinder, um den schwarzlockigen Stoffel und die blondlockige Vronli.
»Ich kann wirklich nicht mitfahren. Und Stoffel und Vronli, die haben sich ja so gefreut. Und…«
Die Frau verhaspelte sich.
Es ist erst ein paar Tage her, daß ich gedacht habe, sie sind tot, ertrunken. Aber diese Angst haben Sie ja nicht durchgestanden, Fürst… ach nein, Herr von Bassarow, so wollen Sie doch genannt sein! schoß es der Frau durch den Kopf.
»Also geben Sie mir die Karten und benachrichtigen Sie Waschkewitz!« verlangte Michail von Bassarow plötzlich.
Was machte es schließlich, wenn er sich einmal einen Nachmittag lang in einem Theater langweilte? Seinen Kindern zuliebe.
Er hatte kein Verhältnis zu Stoffel und Vronli.
Wie überhaupt nicht zu Kindern.
Was bedeuteten schon Kinder?
Und gar die Kinder, die ihm seine Frau Barbara geschenkt hatte.
Geschenkt?
Der Mann lachte.
Zufallsgeschöpfe, Geschöpfe aus Leidenschaft und sinnlichem Rausch waren diese Kinder. Denn Barbara hatte sich niemals Kinder gewünscht. Gelitten hatte sie unter den Schwangerschaften.
Und ich? Was haben mir die Geburten schon bedeutet? fragte sich der Mann, den die Hausdame Emma Franzen allein gelassen hatte.
Sie leben eben! Dieser Christopher und diese Veronika, die begehren, daß ich sie, da Frau Franzen krank ist, ins Theater begleiten soll.
Also gut, gehen wir!
Michail von Bassarow reckte seine kraftvolle Gestalt noch höher. Seine Rechte fuhr lässig durch das dunkle Haar, das an das seines Sohnes erinnerte. Es war dunkel, nur nicht mehr lockig. Und es umrahmte ein hartes, schmales Antlitz, dessen Augen irgend etwas zu suchen schienen, was sie bisher noch niemals gefunden hatten.
Michail Fürst Bassarow klingelte.
Es wurde Zeit.
»Waschkewitz soll vorfahren!« befahl er dem eintretenden Diener.
Dann aber schien er alles vergessen zu haben. Denn auf seinem großen, wuchtigen Arbeitstisch mit den schweren geschnitzten Löwenklauen, Arbeit eines längst verstorbenen Meisters, lag noch unausgepackt ein Paket. Absender: ein Kunsthändler aus Amsterdam.
Nun – einmal sehen. Wahrscheinlich war es diese Ikone, die er ihm versprochen hatte. Das Paket war durch einen der jüngeren Kunsthändler in der Stadt vorhin abgegeben worden. Solche Wertgegenstände vertraute man nicht der Post an. Die Papierhüllen, die weiche Schutzlage, wurde abgelöst.
Ah!
Der Mann trat einen Schritt zurück.
Er war zwar an sich enttäuscht, daß es sich nicht um die erwartete Ikone handelte, aber dies kleine Bild – ja, das war große Kunst.
Ein unbekannter oberrheinischer Maler hatte es geschaffen. Nächtelang hatte er mit seinem Amsterdamer Freund über dieses Gemälde diskutiert, wem es zuzuschreiben sei. Einen unschätzbaren Wert besaß das Gemälde. Mancher Interessent hatte sich bereits gemeldet.
»Erst muß ich es ausstellen können!« hatte Michail Bassarow geäußert.
Ausstellen?
Der Mann vertiefte sich in die dargestellte Madonna, die sich in so vielem von anderen Darstellungen unterschied.
Sie besaß die süße Anmut oberrheinischer Madonnen. Sie war die herbe Königin ungezählter Heerscharen von Engeln. Eigentlich war diese Madonna wie ein junges Mädchen, das eben zur Liebe erwacht war. Auf eine ganz zarte, ja beinahe himmlische Weise, wie den Geliebten, und mochte er selbst dem Teufel verfallen sein, erlösen konnte.
Verrückte Ideen! schalt der Mann sich.
Ich werde noch zum romantischen Schwärmer!
Dabei bin ich doch sonst so nüchtern. Und Kunst bleibt für mich Kunst.
Er zwang sich dazu, die Maltechnik des Bildes zu prüfen. Er setzte die Lupe an. Vorsichtig fuhren seine Finger über das am unteren Bildrand bisher noch ungeklärte Signum des Meisters.
Oder streichelte die lange, schmale, aber nervige Hand diese mädchenhaft zarte Gestalt der Madonna, deren Gesicht dem Kind auf ihrem Schoß zulächelte.
»Papa!« In diesem Augenblick klang Stoffels Stimme, ein bißchen brüchig, weil er eigentlich Angst hatte, den Vater aus seiner Versunkenheit zu wecken. »Papa, Waschkewitz ist vorgefahren. Er wartet. Und… na, es ist schon spät!«
Unwillig wandte Michail von Bassarow sich um. Er dachte gerade an eine Ausstellung besonderer Art und auch daran, daß er dieses kleine Gemälde überhaupt nicht verkaufen wollte. – Der Junge aber mit dem dunklen Lockenkopf, der jetzt stämmig und wie unverrückbar vor ihm stand, hatte nur die Kinderaufführung im Kopf.
»Sie werden auf uns warten!« behauptete der Mann barsch, trennte sich dann aber doch von dem kleinen Gemälde.
Er sprach kein Wort mit den erwartungsfrohen Kindern. Er beachtete sie überhaupt nicht. Wahrhaftig, es war eine Zumutung, diese Vorstellung besuchen zu müssen.
Weil er über die Kinder hinwegsah, nahm er auch das nicht wahr, was Stoffel und Vronli stillschweigend vereinbart hatten. –
»Er soll auch mit!« hatte Stoffel vor einer Stunde behauptet.
»Es gibt ein Katzenballett, hat Frau Franzen gesagt. Na, und das muß Julius sich ansehen!«
Vronli hatte Beifall genickt.
Sie hatte ihre so heiß geliebte Puppe auch in ein Festkleid gehüllt. Harlekinchen begleitete sie selbstverständlich ins Theater. Harlekinchen war aber ein stilles, artiges Kind, ein geräuschloses Wesen, was man von Julius nicht immer sagen konnte.
»Und wenn Papa es merkt?« fragte sie angstvoll.
»Laß mich nur machen!« Stoffel liebte Julius wie die kleine Schwester ihre Puppe.
Stoffel fand ein großes Tuch, in das er Julius einpackte. Es gelang ihm, vor Waschkewitz in den Wagen zu steigen.
»Papa sieht uns ja nicht einmal!« behauptete Stoffel. »An Julius denkt er keinesfalls«
Nun fuhr der Kater Julius, der schon einmal Schicksal gespielt hatte, stolz mit in die große Oper. Er benahm sich wie auf Übereinkunft sehr manierlich, schnurrte nicht, bewegte sich kaum.
Und so kam Stoffel, an den sich Vronli ganz eng drängte, um mit ihrem Harlekinchen wenigstens ein bißchen Stoffels Last unter dem Arm zu verdecken, wirklich unangefochten in den riesigen Zuschauerraum der Oper. Keiner achtete auf den Inhalt des Tuches. Einmal erklärte der Junge nur wie zur Entschuldigung dem Vater gegenüber: »Ein Tuch, Papa, Frau Franzen hat gesagt, ich sollte es Vronli über die Knie legen. Im Theater sei es manchmal kalt.«
Die alte Frau Franzen wußte, wo Kinder im Theater am liebsten sitzen wollen, nämlich so nahe wie möglich an der Bühne.
So öffnete sich vor Fürst Michail Bassarow auch keine Logentür zu einem abgeschlossenen Raum, sondern er mußte sich durch die zweite Parkettreihe bis zur Mitte zwängen.
»Prima!« Vronli war zufrieden. »Alles werden wir sehen können!«
Seufzend ließ der Mann sich auf dem bequemen weinroten Polstersessel nieder.
Wenn die Vorstellung doch schon zu Ende gewesen wäre!
Noch heute wollte er mit einem Bekannten, einem Experten für oberrheinische Madonnen, über das ihm zugeleitete kleine Gemälde sprechen.
Ungeduldig schaute er auf seine Armbanduhr mit dem schlichten, aber sehr breiten Platinarmband.
Man schien sich auch noch zu verspäten mit der Aufführung.
*
»Fünf Minuten über die Zeit!«
Der alte Inspizient in den Räumen hinter der Bühne schrie es fast.
»Das habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht mitgemacht!«
»Aber das hat es ja auch noch niemals gegeben, daß eine Viertelstunde vor einer Aufführung eine Schneekönigin ohnmächtig wird, nicht auftreten kann, weil… na, weil sie ein Kind bekommt.«
Der Regisseur Immermann sprach kalt lächelnd, beinahe hohnvoll.
Die Ballettmeisterin Adela Curschmann betrachtete die Aufgeregten beinahe ein wenig überlegen. »Ich denke«, erklärte sie plötzlich und sah sich in der großen Garderobe um, »nun, ich denke, durch Geschrei ist nichts zu entscheiden. Und ohne Schneekönigin geht es nicht!«
»Geht es nicht!« erboste sich der Regisseur.
»Soll die Aufführung platzen?«
»Weshalb?« Adela Curschmann blieb auffällig ruhig.
Von allen Seiten schrie man jetzt aufgeregt auf sie ein, bestürmte sie. Schon die Kostümfrage sei nicht zu lösen. »Die Belinda ist so schmal und zierlich wie kaum ein anderes Mädchen. Jede platzt in ihrem Kleid aus den Nähten.«
»Immer Augen aufmachen!« Adela Curschmann lächelte jetzt. »Ich denke, ich habe einen Ersatz, dem auch das Kostüm der Schneekönigin paßt.«
»Und wer? Wer?«
Da streckte die alte Frau graziös die Hand aus, wies auf ein bereits angekleidetes Kätzchen, das gerade mit seinem Schwanz beschäftigt
war.
»Hier ist die Schneekönigin, die gleich auftreten wird!«
Das Kätzchen schrak zusammen und nahm völlig verwirrt die Maske vom Gesicht.
»Frau Curschmann!« Jasmine war ganz blaß.
»Ich…«
»Dau allein wirst die Vertretung schaffen!« bestimmte Frau Curschmann. »Du hast die Rolle der Schneekönigin oft bei mir geübt. Du besitzt die gleiche grazile Figur wie Belinda. Also: herunter mit dem Katzenkostüm. Und«, die alte Ballettmeisterin, die ihre Schule jetzt so vorzüglich leitete, drohte ein wenig mit dem Finger, »wenn du mir Schande machst, mein liebes Kind…«
Die Garderobieren aber ließen Jasmine nicht einmal Zeit zu einer Antwort.
Es war nun schon zehn Minuten über die Zeit. Das Orchester hatte, um die peinliche Pause zu überbrücken, Kinder- und Weihnachtslieder zu spielen begonnen. Es galt, keinen Augenblick zu verlieren.
Schneekönigin! Die Chance!
Jasmine schloß die Augen.
Ihr Puls flog.
Klopfte das Schicksal wieder an ihre Tür?
So schnell ging alles in letzter Zeit. –
Sie dachte an Harald Brockdorff, den Mann, der sie küßte, sie, die kleine Jasmine, die immer ein wenig spröde gewesen war.
Sein Haar war golden wie der Zauberhelm eines Märchenprinzen, und seine blauen Augen hatten Jasmine verzaubert.
Wie von der Sonne beschienene Eiskristalle aus nordischen Eishöhlen.«
Harald Brockdorff lachte manchmal, wenn Jasmine ihm das zuflüsterte.
»Du bist ein verträumtes kleines Mädchen, Kollegin in spe! Und mit Träumen kommt man nicht weiter auf dieser Erde. Hat dir das noch keiner gesagt?«
»Doch! Aber die Träume gehören zu unserem Leben!« hatte Jasmine zurückgeflüstert. »Wer schon kann ohne Träume leben?«
»Nur tragen die Träume verschiedene Gesichter«, hatte der Mann zu bedenken gegeben.
Jasmine schaute in dieser Sekunde nicht in die blauen Augen.
Sie wußte auch nicht, daß Harald Brockdorff die Erfüllung seines Traumes allein im Berufserfolg sah.
Nicht in der Liebe! Nicht im Gefühl, das sich dem anderen verschenkte.
Im Traum Harald Brockdorffs gab es für andere keinen Platz. Er allein stand im Mittelpunkt.
Jasmine hatte es nicht bemerkt. Ihr zärtliches junges Herz war aufgeblüht in diesen kurzen Wochen nach der entsetzlichen Sturmflut.
Sie tanzte so gut wie niemals zuvor. Und selbst wenn sie Abschnitt für Abschnitt ihrer Doktorarbeit büffelte, summte sie vor sich hin.
Ach, das Leben war schön!
*
Michail Fürst von Bassarow nutzte die Vorstellung, in der sich rings um ihn Kindergesichter erhitzten und Kinderaugen glühten, zu einem kleinen Schlaf.
Stoffel und Vronli warfen sich im dämmrigen Zuschauerraum Blicke zu.
Wirklich, sie hatten Glück! Frau Franzen hätte ganz gewiß den auf Stoffels Knien hochaufgerichteten Julius gesehen.
Papa aber merkte nichts.
Und Julius schien das Schauspiel auf der Bühne genauso zu genießen wie seine kleine Herrin. Hin und wieder rieb er seinen dicken Kopf mit den klugen grünen Augen an Stoffels Schulter, als wolle er ihm für das vermittelte Vergnügen danken.
Bis dann auf einmal…
Der Regisseur hatte sich als Verzauberung ein Winterbild ausgedacht, dessen Mittelpunkt eben jener Tanz der Schneekönigin mit ihren Schneeflocken bildete, dem auch Jasmine entgegenfieberte.
Glitzernd tanzten Schneeflocken – ganz echt, wie Vronli mit strahlenden Augen feststellte – vom Bühnenhimmel herab. Das Kuchenhaus der Hexe glich einem glitzernden Winterparadies.
Dieses Glitzern aber hatte es Julius angetan.
Noch ehe es die entsetzten Kinder verhindern konnten, sprang er mit einem gewaltigen Satz von Stoffels Knien mitten auf die Bühne.
Julius stellte sich auf die Hinterbeine.
Seine Pfoten griffen spielend in die tanzenden Schneesterne.
Ah – und nun glänzte es beinahe atemberaubend. Julius, dem grauen Kater, verschlug es beinahe ebenso den Atem wie Stoffel und Vronli, die sich auf ihren Sitzen vor Angst kaum zu bewegen wagten.
Da tanzte Jasmine aus den Kulissen hervor, zart, silbern glänzend, zerbrechlich wie ein Porzellanfigürchen: die Schneekönigin.
Jasmine hörte ihn raunzen und maunzen, den Kater Julius, dem sie einmal das Leben gerettet hatte.
In diesem Augenblick aber galt es nicht Julius’ Leben, sondern eine ohnehin schon gefährdete Aufführung zu retten.
»Julius!« lockte die dahinschwebende Jasmine.
»Julius!«
Der Kater kannte die Stimme, und mit der tänzerischen Anmut der Katzen folgte er der dahinschwebenden Jasmine.
Es sah aus, als sei diese Szene eingeplant, und im Zuschauerraum war man begeistert.
»Ein Kater, ein richtiger Kater!« jauchzten die Größeren.
Na, wenn sie das daheim erzählten, würde es ihnen ja gar keiner glauben, daß tatsächlich ein richtiger Kater auf der Bühne auftreten war.
Und wie er tanzte!
In den Kulissen brach nicht nur dem Inspizienten der Angstschweiß aus.
Einer nach dem anderen vom technischen Personal schaute sich diese ›Sondereinlage‹ mit Entsetzen an. Die Garderobieren schlugen ein Kreuz.
Das war ja heute ein Tag!
Ein Unglück kam eben selten allein!
Dieser Satz stimmte hundertprozentig.
Denn was konnte noch alles passieren bei diesem großen Tier, das sich der tanzenden Schneekönigin, die als Ersatz eingesprungen war, an die Fersen heftete.
Dem Dirigenten des Orchesters wäre beinahe vor Entsetzen der Taktstock aus der Hand gefallen.
Da aber lachten die Augen der zauberhaften Schneekönigin ihn von der Bühne her an. Solche Nerven möchte ich haben! dachte der weißhaarige Dirigent. Ja, die Jugend, die wird wirklich noch mit allem fertig!
Jasmine aber wußte nicht, daß sie eiserne Nerven hatte, weil sie jung war.
Sie wußte allein, daß sie diesen Kater Julius nun einmal in ihr Herz geschlossen hatte, schon wegen Stoffel und Vronli, die also heute im Theater sitzen mußten.
Nach der Katastrophennacht hatte sie sie nicht wiedergesehen.
Jasmine hatte ein sehr formelles Dankschreiben vom Vater der beiden Kinder erhalten, dazu eine wunderschöne Handtasche aus Krokodilleder. Einen persönlichen Kontakt hatte dieser ihr unbekannte Vater von Stoffel und Vronli nicht gesucht.
In seinem Brief schrieb er von beruflicher Anspannung, gerade jetzt in den Vorweihnachtswochen.
Nun – Jasmine achtete es, wenn andere in ihrem Beruf fleißig arbeiteten wie sie selbst.
Nur die Kinder hätte sie gern einmal wiedergesehen.
Und jetzt baute Julius ihr die Brücke dazu.
Jasmines zartes, kleines Gesicht strahlte, ihre Augen sprühten vor inneren Glücksgefühls.
Jetzt warf Jasmine dem Dirigenten einen Blick zu.
Und während sie den Kater Julius hochhob, ihr zartes Gesicht in seinem weichen Fell verbarg, schloß das Orchester mit einem gewaltigen Akkord.
In dem verdunkelten Zuschauerraum brauste jetzt Beifall auf, wie ihn das Opernhaus in seiner langen Theatergeschichte selten erlebt hatte.
Auch Stoffel und Vronli klatschten, daß ihre Hände schmerzten.
Davon wurde Michail von Bassarow aufgeschreckt.
»Ist es zu Ende?« Er fand sich nur langsam in die Wirklichkeit zurück.
»Papa! Papa! So sieh doch nur!«
Vronli legte das Händchen aufmunternd auf des Vaters Arm.
Stoffel beugte sich über das Vronli und zupfte den Vater sehr energisch am Ärmel.
»Papa, das ist doch Jasmine, unsere Jasmine, weißt du, aus der Sturmnacht. Und unser Julius hat mit ihr getanzt. Und wie er das gemacht hat! Julius! Julius!« schrie Stoffel begeistert mit seiner lautstarken Bubenstimme.
Von allen Seiten fiel das Echo ein:
»Julius! Julius!«
Die Kinder vom Parkett bis hinauf zu den obersten Rängen waren nicht mehr zu halten.
»Schneekönigin! Julius!«
Das Weiterspielen war einfach unmöglich.
»Julius?« fragte Michail Bassarow langsam. »Julius? Ist das denn nicht euer Kater? Wie kommt der denn auf die Bühne?«
»Oh, Papa!« Stoffel senkte ein wenig schuldbewußt den Kopf. »Ich habe ihn doch mitgenommen!«
»Den Kater?« Der Mann war plötzlich hellwach.
»Du wirst mir doch nicht weismachen, daß du einen ausgewachsenen Kater mit in die Oper genommen hast, ohne daß ich es gemerkt habe?«
»Ist aber so!« piepste Vronli und ließ ihr Harlekinchen auf ihrem Schoß tanzen.
»Du hast ja nirgendwo hingeguckt!« rechtfertigte sich Stoffel. »Na, und als es dunkel wurde, hast du doch geschlafen, Papa!«
Weil ich rechtschaffen müde war! verteidigte sich der Mann innerlich.
Und nun schien diese Aufführung einfach ein Ereignis zu sein.
Wenigstens dem rasenden Applaus nach.
Oder hörte Michail von Bassarow die Stimme des Kritikers der größten Tageszeitung neben sich sprechen: »Das ist einfach einmalig. Diese Schneekönigin ist ein Erlebnis. Und kurzfristig soll die Kleine eingesprungen sein. Nun, ich werde für eine Karriere sorgen.«
»Von wem?« fragte Michail von Bassarow.
»Von dieser jungen Jasmine Rasmussen. Wissen Sie nicht, daß sie Künstlerkreisen entstammt? Ihr Vater war ein berühmter Dirigent. Und die Tochter – Herrgott – dieses Geschöpfchen macht einen ja verrückt!«
»Unsere Jasmine!« flüsterte ganz zart die kleine Vronli jetzt. »Papa, das ist doch Jasmine, die uns damals gerettet hat, als das Wasser kam.«
Jasmine… Jasmine…
Michail Fürst von Bassarow wiederholte den Namen beinahe mechanisch.
Ja, natürlich, er hatte diesem Mädchen geschrieben, sich bedankt.
Hatte er ihr nicht auch eine Tasse zuschicken lassen? Er wußte es selbst nicht mehr.
Er hatte sie nie gesehen, die Lebensretterin seiner Kinder.
Erst jetzt, da das Orchester sich anschickte, erneut den letzten Teil des Balletts zu wiederholen, schaute er zur hellerleuchteten Bühne.
Wo nur war ihm dies süße, von innerer Wärme strahlende Antlitz schon einmal begegnet?
Plötzlich erinnerte sich der Mann des kleinen Gemäldes, das er kurz vor der Abfahrt in die Oper betrachtet hatte.
Ja, diese Schneekönigin auf der Bühne sah aus wie die mädchenhafte, beinahe etwas schalkhafte Madonna auf dem Bild, dessen Maler man noch nicht festgestellt hatte.
Ein Gemälde – ein Kunstwerk! urteilte der Mann, während sein Blick die anmutige Gestalt auf der Bühne umfing, die jetzt ihre Zugabe tanzte.
Und das alles mit dem wie zum Ballett gehörenden Kater Julius.
Michail Fürst von Bassarow war es, als habe sein Herz einen schmerzhaften Stich erhalten: Dieses Mädchen war kein anmutiges Gemälde, kein Kunstwerk; es war mehr, viel mehr!
Das Leben! dachte der Mann.
»Papa!« sagte Vronli zaghaft. Sie hatte den Vater beobachtet. »Papa, ist dir nicht gut? Du siehst so… so anders aus?«
»Wirklich?« Michail von Bassarow war es, als wache er aus einem Traum auf.
»Bist du böse wegen Julius?« forschte Vronli ängstlich.
»Aber Papa, alle haben sich über Julius gefreut!«
»Und wie der tanzt!« fügt Stoffel hinzu.
»Man nimmt keine Katzen mit ins Theater!« wehrte der Mann zaghaft ab.
»Sag’s nicht Frau Franzen!« bat Stoffel.
»Nichts sag’ ich!« Der Mann richtete die sportlich gestählte Gestalt, die nicht an einen Kunstgelehrten erinnerte, plötzlich straff auf. »Aber den Julius, euren Julius, den hole ich mir nach der Vorstellung selbst hinter der Bühne hervor.«
»Aber…«, Stoffel stammelte. »Du schimpfst nicht, Papa? Nicht mit Julius und nicht mit Jasmine.«
»Jasmine?« Wie verloren sprach der Mann diesen Namen.
»Ja, die Schneekönigin, Papa. Aber wenn du Jasmine siehst, sieht sie ganz anders aus. Die trägt einen schrecklich schäbigen Kapuzenmantel. Und sie hat auch keine silbernen Haare wie auf der Bühne. Sie hat ganz kurz geschnittenes Haar. Na, das sieht aus wie Kastanien.«
In Stoffel erwachte der Sohn seines Vaters, ein kleiner, noch unerweckter Kunstexperte.
»Tizianrot!« erläuterte er sehr stolz. »Nicht, so nennt man das doch?«
Michail von Bassarow nickte beinahe mechanisch.
Jasmine – Schneekönigin! Ein Mädchen, das tanzt, ein Mädchen, das an eine Madonna erinnerte, von der man den Blick nicht wenden kann – und auch nicht… das Herz!
Herrgott!
Weshalb aber fand er keine Ruhe?
Gab es keine Schneekönigin? Keinen Kater Julius?
*
»Kleines Fräulein«, sagte eine Stunde später der Fürst Bassarow in der Garderobe der Ballettmädchen. »Kleines Fräulein, ich wäre glücklich, wenn Sie…«
Mein Gott, weshalb fand er, der Redegewandte, der stets über allen Dingen Stehende, in diesem Augenblick nicht die passende Ausdrucksform? »Nun, wenn Sie meine Kinder einmal besuchen würden. Und im übrigen… ich bin Ihnen zutiefst verpflichtet.«
Jasmine, die erst halb abgeschminkt war und ein erhitztes Gesichtchen hatte, lachte laut und herzlich.
»Sie sind mir überhaupt nicht verpflichtet, Fürst oder Herr von Bassarow. Ich weiß nicht, was Sie hören wollen. Ich habe Ihre Kinder lieb. Und Julius, Stoffels Kater, hat mir einfach zu einem enormen Erfolg verholfen. – Nicht wahr, Julius?«
Jasmine beugte sich zu dem grauen Kater mit dem mächtigen Bart hinab, der sie jetzt auch in der Garderobe zärtlich umstrich.
»Dir habe ich überhaupt meinen großen Erfolg zu verdanken, ja, dir ganz allein!«
Jasmines strahlende Augen schauten zu dem Mann empor.
»Jasmine!« sagte Michail von Bassarow sehr eindringlich, sehr leise.
Er wiederholte diesen Namen noch einmal und auch die Aufforderung: »Bitte, besuchen Sie die Kinder und… mich, Schneekönigin!«
Und dann fügte der Mann hinzu: »Natürlich erwarte ich nicht, daß Sie Ihre Zeit opfern. Sinnlos opfern. Am nächsten Mittwoch muß ich einen vorweihnachtlichen Ball bei mir veranstalten. Geben Sie mir einen Korb, wenn ich Sie bitte, an diesem Tag zu kommen?«
»Jasmine! Schneekönigin!«
In diesem Augenblick meldeten sich Stoffel und Vronli, die auch zur Garderobe gefunden hatten. »Bitte, komm doch! Das wird ein ganz großes Fest. Aber… aber du mußt auch zu uns kommen!«
Jasmine saß jetzt vor dem Spiegel, sie schminkte sich ab. Sie war nun keine Schneekönigin mehr, sondern ein sehr kleines und beinahe hilfloses Mädchen, das nicht ganz genau wußte, wie es sich zu entscheiden hatte.
»Ich…« Nun stammelte die kleine Jasmine. »Ich weiß doch nicht… ich habe kein festliches Kleid…«
»Du bist immer schön!« Stoffel baute sich vor Jasmine auf; seine dunklen Augen begegneten denen des Vaters.
»Findest du das nicht auch, Papa?«
Michail Fürst von Bassarows Blick umfaßte die schmale, anmutige Gestalt vor dem Spiegel. »Ja, sie ist immer schön, eure Jasmine.«
Wieder aus den Träumen zurückgekehrt, erklärte er formell und sehr ruhig, wie es einem Mann seines Standes gebührte: »Fräulein Rasmussen, ich würde mich geehrt fühlen, wenn Sie meiner Einladung Folge leisteten.«
Da lächelte die kleine Jasmine. »Also, Fürst Bassarow, ich komme. Und den Stoffel und das Vronli will ich genauso wiedersehen wie den Kater Julius, der mir zu meinem heutigen Erfolg verholfen hat. Abgemacht?«
Der hochgewachsene dunkelhaarige Mann mit dem scharfgeschnittenen bräunlichen Antlitz neigte den Kopf.
»Abgemacht!« sagte er. Nichts weiter.
Ihm war, als träume er.
*
»Du bist zerfahren!« tadelte Dr. Harald Brockdorff. »Fühlst du dich nicht gut, kleines Mädchen?«
Die stahlblauen Augen des Mannes schauten hinab zu Jasmine, die neben ihm am Tisch saß.
Es hatte sich eingebürgert, daß der Mann allabendlich vorbeikam, wenn der Dienst im Krankenhaus beendet war.
»Ich muß meiner kleinen Frau Doktor in spe doch beim Vorwärtskommen helfen!« lachte er.
»F r a u Doktor?«
Jasmine dehnte dieses Wort bis ins Unendliche. »Wer sagt dir, daß ich je eine F r a u Doktor werde?«
»Meine Liebe!« lachte dann der große, siegesgewisse Harald Brockdorff, den nicht nur die Patientinnen, sondern auch die Krankenschwestern umschwärmten.
»Ich habe Stoffel und Vronli versprochen, heute am Ballabend ihres Vaters ein wenig früher zu kommen«, erklärte Jasmine jetzt, während sie die eng beschriebenen Manuskriptseiten der geplanten Doktorarbeit zurückschob.
»Stoffel! Vronli!« Der Mann lachte. Aber es war kein gutes Lachen.
Jasmine erschrak plötzlich.
Sie hatte noch niemals zuvor einen Mann so lachen hören, so ohne jede Wärme.
»Harald!«
Ihre kleine Hand legte den Kugelschreiber beiseite und fuhr zärtlich über Harald Brockdorffs Ärmel.
»Du mußt das doch verstehen! Die Kinder, ich habe sie wirklich lieb!«
»Fremde Kinder!« spottete der Mann. »Du verschwendest viel zu viele Gedanken an diese fremden Kinder.«
Da lachte die kleine Jasmine plötzlich silberhell auf.
»An eigene kann ich schließlich noch nicht denken!« erklärte ihre Stimme, die an die Melodie einer alten Spieldose erinnerte.
»Aber sie werden kommen – eines Tages!«
Harald Brockdorff verlor für Minuten etwas von seiner beherrschten Kälte.
Mein Gott – das Mädchen neben ihm besaß nichts, war nichts, aber…
Ich liebe die kleine Jasmine!
Harald Brockdorff legte den Arm um Jasmine.
»Du!« Seine Stimme gewann Leidenschaft. »Du, Jasmine. Du willst mir doch angehören?«
»Für den Bruchteil einer Sekunde stand Jasmine das Bild eines anderen Mannes vor Augen, dieses Mannes, dem sie in der Oper beim Kinderweihnachtsmärchen gegenübergestanden hatte.
Der hatte weiches dunkles Haar, mit einer kaum sichtbaren grauen Strähne an den Schläfen.
Klug war er – und man konnte ihn nicht vergessen.
Aber er schien wie ein unerreichbarer Stern!
Ein Traum war Stoffels und Vronlis Vater, ein Vater, der sich gar nicht um seine Kinder kümmerte.
Der ihr, der kleinen Tanzelevin, dem unbedeutenden Fräulein Dr. med in spe aber zum Vorweihnachtsball in seiner schloßähnlichen Villa eine Einladung geschickt hatte.
Langsam, stufenweise glitt die kleine Jasmine wieder auf diese Erde zurück.
»Harald!« flüsterte Jasmine. »Ich hab’ dich sehr lieb.«
Der junge Arzt legte den Arm um die schmalen Schultern des Mädchens.
»Jasmine! Willst du wirklich meine Frau werden?«
Jasmine schaute in die tiefblauen Augen des Mannes.
»Frag nicht so töricht!« erklärte sie dann.
»Oder willst du etwa, daß ich ganz feierlich mein Ja sage? du weißt doch, daß ich dich liebhabe, Harald!«
Einen Augenblick schlug das Herz des ehrgeizigen, nur auf sein Vorwärtskommen bedachten Harald Brockdorff stürmisch.
Jasmine – süße kleine Jasmine! Ich liebe dich so sehr, wie ich noch keine Frau liebte. Aber es ist im Grunde sinnlos, dich zu lieben. Du versprichst keinen Aufstieg, keine Karriere für mich, Dinge, an die ich unaufhörlich denke.
Zum erstenmal in meinem Leben denke ich jetzt an mein Gefühl, kleine bezaubernde Jasmine.
»Harald!«
Jasmines samtweiche zärtliche Hände streichelten plötzlich über des Mannes Antlitz. »Schau nicht so streng. Denk nur daran – heute abend… heute abend werden wir wunderbar tanzen. Oder glaubst du nicht, daß dieser Fürst Bassarow eine erstklassige Kapelle bestellt hat? Und – tanzt du gern einen Walzer, so einen richtigen Walzer, bei dem man über das Parkett fliegt…?«
Der Arzt Brockdorff erwiderte nichts.
Er ließ die kleine Jasmine plaudern und… träumen.
»Ich freue mich schon auf unseren Walzer. Und mein Kleid – das hat die Kostümschneiderin von der großen Oper so ganz unter der Hand in den Werkstätten der Oper genäht!«
Jasmine beugte ihr süßes Gesicht jetzt zu dem Mann hinab, der dachte, grübelte und sich keinem Gefühl verschenken mochte.
Harald legte den Arm um das grazile Geschöpf. »Jasmine!« sagte er leise, fast zärtlich.
Harald Brockdorff spürte den jungen zarten Körper des Mädchens neben sich.
Jetzt müßte ich sie an mich reißen. Sie liebt mich! Seine Hände zogen sich zurück.
Er umarmte die kleine Jasmine nicht.
Ich darf noch nicht heiraten! sagte sein Verstand.
Und ich müßte wohl heiraten, wenn dies süße, bezaubernde Geschöpf ein Kind von mir bekäme.
Ja, das müßte ich.
»Um zwanzig Uhr komme ich mit einer Taxe. Und ich denke, es wird ein schöner Abend werden.«
Jasmine antwortete nicht.
Vor das Bild des Mannes, den sie zu lieben glaubte, schob sich wie eine Vision das Bild des Mannes, der seine Kinder vernachlässigte, der genau wie Harald Brockdorff allein für seinen Beruf lebte und der doch…
Aber irgend etwas ist anders an Michail Fürst Bassarow, dachte Jasmine. Ein nachdenklicher Ausdruck lag auf ihrem zarten Gesicht, als sie das Zimmer verließ.
*
»Papas Feste stehen immer in der Zeitung!«
Vronli preßte die Nase gegen die Fensterscheibe des großen Kinderzimmers, dessen Sicht auf die breite Auffahrtstraße zu der Bassarowschen Villa führte.
»Heutzutage steht von vielen Leuten etwas in der Zeitung!« knurrte Stoffel.
Er knurrte heute überhaupt nur und war schlecht gelaunt. Sogar der Kater Julius hatte vorhin einen kleinen Fußtritt von seinem jungen Herrn hinnehmen müssen.
Das war noch niemals passiert.
»Herumtreiber!« schimpfte Stoffel. »Zwei Tage bist du weggewesen!«
»Aber das war doch schon vergangene Woche!« ermahnte die friedfertige Vronli. »Man soll nicht nachtragend sein.«
»Bin ich aber!« Stoffel bemühte sich gar nicht mehr, seine schlechte Laune zu verbergen, während er jetzt die vor dem Haus vorfahrenden Wagen zählte.
»Du hast sicher Hunger!« Vronli gab es nicht auf, versöhnlich zu sein. »Zu Abend hast du gar nichts gegessen.«
»Na und? Du hast ja auch kaum etwas gegessen.«
»Hat aber niemand gemerkt!« behauptete die kleine Schwester, die ihr Harlekinchen fest an sich gepreßt hatte.
Nein, es merkte niemand, daß die Kinder nichts gegessen hatten.
Stoffel trat nach Julius. »He!«
Der nahm diese ungewohnte Mißhandlung seinem jungen Herrn sehr übel und begann zu fauchen. Dann wandte er sich ab, lief mit gebuckeltem Rücken zur Tür, sprang hoch und… drückte die Klinke mit einer beinahe gravitätischen Würde nieder. Ja, dem grauen Kater Julius standen alle Türen offen, soweit man sie nicht abschloß. Und scheinbar fror er in diesem Winter gar nicht, denn er trieb sich tatsächlich öfter draußen herum.
»Waschkewitz hat ihn neulich in der Wiesengrundbaracke gefunden!« sagte Stoffel jetzt. »Und dort sind alle Kinder krank.«
»Meinst du, daß Julius krank ist?« sagte Stoffel jetzt. Vronlis Augen füllten sich mit Tränen.
»Heulsuse!« Stoffel wurde ausfallend. »Sieh lieber zu, daß Julius nicht unten in Papas Ball hineinplatzt. Dann ist was fällig. Das kann ich dir sagen.«
»Julius!« rief Vronli.
»Julius!« schrie Stoffel. »Nie mehr bringe ich dir abends noch ein Brot mit Hack, das ich mir vom Mund abgespart habe.«
Julius aber war froh, daß er durch die Tür hatte schlüpfen können. Er war nun einmal ein Kater, der die Freiheit liebte.
*
»Ein Kater! O mein Gott, welch entsetzliches Tier!«
Unten in der riesigen Empfangshalle schrie eine Frauenstimme entsetzt auf.
»Aber Kind!«
Professor Dr. Karl Ringling, Besitzer der angesehensten Klinik der Stadt, die einen medizinisch international berühmten Ruf besaß, legte der Tochter die Hand auf die Schulter.
Seine Stimme tadelte.
»Ein Kater, eine harmlose Katze!«
Charlotte ließ sich nicht beruhigen.
Vor ihr stand der fauchende Julius. Seine leuchtend grünen Augen starrten sie an.
Charlotte hatte niemals ein Herz für Tiere besessen. Und dieses kleine Ungeheuer rückte ihr jetzt ganz nahe, hob die Pfote und kratzte gegen den mit silbernen Pailletten bestickten Saum ihres meergrünen Seidenkleides.
Julius liebte nun einmal das Glitzernde, Blinkende. Das war seine Natur, eine Natur, die Charlotte wenig verstand.
»Hilfe! Hilfe!« schrie sie entsetzt.
In diesem Augenblick fühlte sich Julius ergriffen von zwei Händen, nicht hart und strafend, wie er es eigentlich verdient hatte, sondern beinahe streichelnd.
»Julius, sollst du dich hier herumtreiben?« Jasmine hob den Kater auf den Arm, ungeachtet ihres lichtblauen neuen Abendkleides.
»Findest du mich schön?« hatte sie Harald Brockdorff gefragt, so kindlich naiv und verlegen süß, daß selbst der kühle junge Arzt sie an sich gezogen hatten, sie küßte.
»Die allerschönste Frau werde ich haben!« flüsterte er dabei.
»Frau?«
Jasmine lachte ein wenig verlegen.
»Ein kleiner Vorgriff auf einen ordnungsgemäßen Antrag!« erklärte der Mann.
Ach ja, bei Harald Brockdorff mußte alles seine Ordnung haben.
Liebt er mich? Liebt er mich nicht?
Sie fragte es sich nach jedem Zusammensein. Es war längst so, daß dieser Mann zu ihrem Leben gehörte.
Aber in Jasmines Träume schlich sich trotz allem ungewollt auch eine andere Frage:
Liebe i c h ihn? Liebe i c h ihn vielleicht doch nicht?
Einmal fragte Jasmine die lebenserfahrene Ballettmeisterin Adela Curschmann, die ihr über das Haar strich und sagte: »Nun, gibt es nicht etwas zu erzählen?«
Adela Curschmann war selber ohne Eltern aufgewachsen. Sie wußte, daß ein junges Mädchen sich stets nach einer Mutter sehnte.
»Nein, nichts. Und eigentlich bin ich glücklich. Heute abend treffe ich mich mit Harald.«
Adela Curschmann hatte nichts weiter gesagt. Die alte Frau wußte genau, daß er kein Mann für die warmherzige Jasmine war. Genauso aber wußte sie, daß Jasmine zur Zeit glaubte, diesen Mann zu lieben. Vielleicht regte sich doch ein Widerspruch in des Mädchens Herz?
Aber Jasmine überspielte ihn einfach.
Ja, sie glaubte wohl wirklich, diesen Harald Brockdorff zu lieben.
Und eines Tages würde es Tränen geben, schmerzliche Tränen.
Aber so war es immer.
Und kein junges Mädchen ließ sich von einer lebenserfahrenen Frau warnen.
Selbst nicht ein so kluges Mädchen wie Jasmine Rasmussen.
Denn sie war eben nicht nur die Medizinstudentin, das Fräulein Doktor in spe, sie war auch die zerbrechliche Schneekönigin, von der alle Kritiken damals nach der ersten Aufführung in der Staatsoper begeistert geschrieben hatten.
Jasmine hob jetzt in der Eingangshalle der Bassarowschen Villa den Kopf und nickte der verstörten Charlotte Ringling zu.
»Den Julius, den kenne ich. Den schaffe ich schon weg. Na, und das Kleid, das bekommen wir auch wieder in Ordnung. Das kenne ich vom Tanzen her.«
»Vom Tanzen?« Charlotte schaute verwundert.
»Nun, das ist doch die Schneekönigin!« flüsterte ihr einer der eben eingetretenen Gäste zu.
»Die Schneekönigin?« Charlotte verstand dies alles nicht.
Jasmine lachte unbekümmert. – »Ich tanze doch die Schneekönigin in der Oper.«
»Eine Tänzerin?«
Jasmine nickte. Sie spürte nicht das ablehnende Urteil der anderen über sich.
»Eine Tänzerin!« wiederholte sie noch einmal. Ihr selbst unbewußt, bog sie den Kopf mit der kunstvollen Frisur, die mit einer perlengeschmückten Spange gehalten wurden.
Allen anderen entging diese Bewegung, mit der sich das Mädchen über die vor ihr stehende Jasmine erhob, die immer noch den jetzt zutraulicher werdenden Kater Julius auf dem Arm hielt. Nur einer sah es: Dr. Harald Brockdorff.
Er spürte sich selber verletzt durch Charlottes arrogante Bewegung. Er war als Bekannter Jasmines eingeladen; als Begleiter einer… Tänzerin.
Dr. Harald Brockdorffs Augen wurden ganz schmal.
Er sah nicht, wie die übrigen Gäste, die einer nach dem anderen die breite Freitreppe in die Empfangshalle heraufgekommen waren, sich um Jasmine scharten, die so anmutig und natürlich war.
»Das süßeste Geschöpf, das ich je sah!« erklärte die alte Gräfin Waldersee. Und sie mußte es wissen, denn sie war in allen Erdteilen herumgekommen. Aber sie kannte nicht nur die Menschen. Man konnte sich auf ihr Urteil verlassen. Niemand spielte ihr etwas Falsches vor.
»Kommen Sie, kleine Schneekönigin!« sagte die alte Dame jetzt. »Und von dem Kater trennen Sie sich vielleicht doch einmal heute abend, auch wenn es der berühmte Kater Julius ist, von dem damals die Pressestimmen ja hell begeistert waren. Aber jetzt sollten Sie einmal nicht an den Kater denken, sondern ganz allein an sich selbst. Ich versichere Ihnen, es gibt für ein junges Mädchen kaum etwas Schöneres als diese Bälle im Haus Bassarow. Sie haben doch auch Sinn für Schönheit, kleine Schneekönigin?«
Jasmine nickte.
Ihre Augen schienen jetzt nicht dunkel, sondern aus lauter Glanzlichtern zu bestehen. Ja, es war schön hier.
»Harald, entschuldige!« Jasmine wandte sich um, wollte Harald Brockdorff sagen, daß sie den Kater zu den Kindern hinaufbringen würde.
Aber der Mann stand nicht mehr neben ihr. Sie sah ihn in einer entfernten Nische stehen und mit dieser wunderschön gekleideten Frau sprechen, der Julius als ein furchtbares Ungeheuer erschienen war.
Ja, diese Frau war schön und paßte ganz in diesen Rahmen.
Einen Augenblick schaute Jasmine in den gegenüberliegenden Spiegel.
Bin ich auch schön? dachte sie. Eigentlich zum erstenmal in ihrem Leben.
Bisher hatte sie vor dem kleinen Spiegel in ihrer Mansarde nur gesagt: Ja, nett siehst du aus, Jasmine, und als Tänzerin auch gut.
Aber über ihre Schönheit, eine Schönheit, wie man sie pries, hatte sie sich noch niemals Rechenschaft abgelegt.
Nun sah sie sich daraufhin prüfend an.
Jasmine wußte nicht, welche jedes Herz verzaubernde Anmut sie besaß. Sie sah plötzlich nur, daß ihre Schultern ein wenig knochig waren.
Die Brust war nur ganz zart angedeutet und ihre großen Augen nahmen beinahe das ganze Gesicht ein.
Sie besaß auch keine hochgetürmten Locken, sondern nur ihr kastanienfarbenes, leicht rötlich schimmerndes glattes Haar, das wie ein Helm ihren Kopf umgab.
Und ihr Kleid? Hatte sie es wirklich einmal schön gefunden?
Hier in diesem Kreis sah es so einfach aus. Und all dies fand sie erst jetzt, erst in diesem Augenblick, in dem sie sah, wie Harald Brockdorff sich nicht nach ihr umwandte, sondern nun diesem fremden, schönen Mädchen mit dem meergrünen Kleid den Arm bot.
»Es ist die Tochter von Professor Ringling!« sagte ein Vorübergehender. »Wissen Sie, der Besitzer der berühmten Klinik, Fürst Bassarow schätzt ihn sehr.«
»Als Arzt?«
Der Plauderer lachte. »Nein, nicht als Arzt. Fürst Bassarow braucht wohl bei seiner bärenstarken Natur niemals einen Arzt. Aber Professor Ringling ist ebenfalls Kunstkenner. Und wahrscheinlich werden die beiden Herren jetzt den ganzen Abend vor Bassarows Neuerwerbung stehen, von der er sich angeblich nicht trennen kann. Nur ein kleines Gemälde, aber diese Madonna soll einen unerhörten Zauber ausströmen. Man könnte fromm vor ihr werden! hat Fürst Bassarow gesagt. Und das will bei ihm etwas heißen. Aber in diesem einen Fall…«
Man ging an Jasmine vorüber.
Sie behielt nichts von dem Gehörten außer dem einen: Professor Ringling, die Tochter von Professor Ringling! Sie stand beinahe wie erstarrt in der riesigen Empfangshalle mit ihren Spiegelwänden.
Es schritten nun keine Gäste mehr die Freitreppe hinauf.
Die Empfangshalle leerte sich. Jasmine stand allein, allein mit dem Kater Julius auf dem Arm, der sich immer zärtlicher schnurrend an ihre Schulter drängte.
»Harald!« flüsterte Jasmine. »Julius, er hat mich einfach stehenlassen. Weshalb hat er dies wohl getan?«
Wie aus weiter Ferne drang eine Stimme: »Weißt du nicht, kleine Jasmine, wie ehrgeizig dieser Dr. Harald Brockdorff ist? Er tanzt nicht mit einer Frau, die vielleicht nur schöner ist als du, kleine warmherzige Jasmine. Er tanzt allein mit der Tochter des berühmten Professors Ringling. Und wäre seine Tochter häßlich wie die Nacht, so würde er auch mit ihr tanzen. Denn er denkt allein an seine Karriere, dieser Harald Brockdorff!«
Hätte Adela Curschmann ihre begabteste Schülerin in diesem Augenblick gefragt, so hätte Jasmine geantwortet: Das glaube ich nicht, denn ich liebe ihn. Wir haben zusammen gearbeitet. Er hat mir geholfen. Er hat mir auch vieles gesagt: daß ich schöne Augen hätte, und daß er nicht ohne mich leben könne…
In diesem Augenblick hob der graue Kater Julius seine Pfote.
Er wollte Jasmine streicheln.
Aber er besaß nun einmal Krallen.
Und so vorsichtig er sie auch bewegte, sie streiften Jasmines Schläfen. Ein Kratzer mit einem kaum sichtbaren Blutrinnsal zeichnete sich an des Mädchens Schläfen ab.
Jasmine spürte nicht den Schmerz.
Durch die weitgeöffneten Flügeltüren zu den Gesellschaftsräumen sah sie jetzt, wie sich die Paare nach den Klängen einer weichen Walzermelodie bewegten.
Und Harald – Dr. Harald Brockdorff – hatte nicht Jasmine Rasmussen aufgefordert, sondern zu diesem ersten Tanz, den er ihr eigentlich schon versprochen hatte, die Tochter Professor Ringlings gebeten.
*
»So allein?«
In Jasmines Gedanken hinein klang plötzlich eine Stimme, eine selbstbewußte Männerstimme.
Als das Mädchen aufschaute, sah sie in Michail von Bassarows scharfgeschnittenes, kühnes Gesicht.
»Julius ist bei mir!« stammelte Jasmine hilflos.
»Daß Sie sich immer mit diesem Vieh abplagen!« spottete der Mann
Da aber fand Jasmine sich wieder.
Empört schaute sie dem Gastgeber ins Gesicht.
»Julius ist kein Vieh, Herr von Bassarow!« erklärte sie. »Stoffel und Vronli lieben ihn und…«
Der Mann wehrte ab.
»Ja, ja, ich weiß. Julius ist ihr Gespiele.«
»Ich werde ihn zu Stoffel und zu Vronli hinaufbringen«, sagte das Mädchen. »Und wenn Sie nett sind, zeigen Sie mir den Weg ins Kinderzimmer.«
»Schneekönigin!« Der Mann lächelte. »Schneekönigin, ist das nicht ein bißchen viel verlangt, daß ich mich an meinem Ballabend um Kater und Kinder kümmern soll?«
Jasmine sah den Mann an, der niemals an seine Kinder, sein eigen Fleisch und Blut, zu denken schien.
»Schließlich sind Sie der Vater!« erklärte die kleine Jasmine sehr beherzt.
Sie hatte in diesem Augenblick vergessen, wie weh ihr Herz tat.
Sie dachte allein an den Stoffel und das Vronli.
Wo steckten sie? Suchten sie wieder nach dem geliebten Kater Julius?
Jasmine hob die Augen zu dem vor ihr stehenden Mann, dessen Gedanken in die Vergangenheit schweiften.
Als er Barbara heiratete, war sie die schönste und reichste Frau in den Kreisen gewesen, in deren Fürst Bassarow verkehrte. Leidenschaft hatte diese Frau ausgelöst, aber niemals… Liebe. Ich liebe auch die Kinder nicht! durchfuhr es den Mann.
Was bedeutet eigentlich Liebe?
Sein sonst so hartes, männliches Gesicht erhielt plötzlich einen Abglanz seiner russischen Vorfahren, denen man reiche Gemütsbewegungen nachgesagt hatte. Es gab auch etliche Liebesgeschichten, sogar solche mit tödlichem Ausgang. Man hatte sich duelliert.
Lächerlich, sich wegen einer Frau zu duellieren! Das ist eine Frau nicht wert.
Oder… doch?
Michail Fürst von Bassarows dunkle Augen verloren in dieser Sekunde ihre kühle, beinahe berechnende Härte, denen man nichts vormachen konnte.
Liebe!
»Sie müssen meine Kinder schon sehr liebhaben, wenn Sie sogar das Tanzen ausschlagen.«
»Wenn Sie sich ein bißchen mehr um Stoffel und Vronli kümmern würden, dann hätten Sie sie gewiß auch lieb. Mit Bewußtsein.«
Jasmine wandte ihm das zarte, ganz leicht gerötete Gesichtchen zu.
»Sie wissen ja gar nicht, wie Ihre Kinder überhaupt leben.«
»Natürlich – ich beauftrage Frau Franzen, Erzieherinnen einzustellen. Und… ich bezahle Rechnungen.«
»Rechnungen!« sagte Jasmine und behauptete dann ganz einfach: »Sie brauchen Liebe und… ja, und jetzt ihren Kater Julius!«
Drüben aus dem Saal traten einige vom Tanzen erhitzte Paare.
Auch Harald Brockdorff. Mit der Tochter des berühmten Professors Ringling.
Die lehnte sich an ihn, wie man sich eigentlich nur auseinanderlehnte, wenn man sich sehr, sehr gut kannte.
Jasmine wurde blaß.
Jetzt hätte sie hingehen müssen, denn schließlich war sie in Haralds Begleitung gekommen. Eigentlich gehörte ihr dieser erste Tanz.
Aber Jasmine hatte Dr. Harald Brockdorff gegenüber ihre natürliche Naivität verloren, die selbstverständliche Dinge auch selbstverständlich aus dem Instinkt heraus tat.
Sie grübelte. Sie traute sich nicht, auf den Mann zuzugehen.
Ach, sie hatte ja auch noch Julius auf dem Arm! Den Kater Julius von Stoffel und Vronli.
Zum erstenmal in seinem Leben schloß dem Fürsten Michail von Bassarow die Liebe die Augen auf für das Gefühl eines Mitmenschen. Er kannte sonst allein nur sich.
Alles hatte sich um ihn, um seinen Beruf zu drehen.
Jetzt aber sah er Jasmines Gesichtchen nicht nur blaß werden. Schatten zogen über die sonst goldfunkelnden Augen.
Er folgte dem Weg ihrer Blicke.
Ah, dieser Dr. Brockdorff! Stoffel und Vronli hatten von ihm einmal erzählt. Er hatte kaum hingehört.
Irgendwie aber waren die Worte in des Mannes Hirn haften geblieben.
Harald Brockdorff, der Arzt aus jener Sturmflutnacht.
Und dieses Mädchen vor ihm hatte sich in ihn verliebt. Ganz scharf, beinahe unerbittlich ergründete der lebenserfahrene Michail von Bassarow Jasmines traurigen Blick.
Wie offen ihr Gesicht war!
Beinahe wie das eines Kindes noch. Dabei sollte sie doch schon etliche Semester Medizinstudium hinter sich gebracht haben. Kaum zu fassen.
Verletzlich noch wie ein Kind war dieses Mädchen, das jetzt sein Gesicht in Kater Julius’ dicken Winterpelz schmiegte.
Michail von Bassarows Augen bedurften keiner Lupe, um zu sehen, was sich abspielte.
Er kannte zudem die schöne Charlotte Ringling. Einen Tänzer wie diesen goldhaarigen Dr. Brockdorff schlug sie gewiß nicht aus.
Und dieser junge Arzt?
Michail von Bassarow war ein kühler, nüchterner Beobachter.
Er sah auch die aus den Tiefen der Augen aufsteigenden Tränen, die Jasmine nicht verbergen konnte.
»Darf ich um diesen Tanz bitten?«
Des Mannes Stimme war klangvoll. Eine nie gekannte Wärme schwang heute in ihr.
Da schaute Jasmine ihn voll an.
»Ich kann noch nicht tanzen. Zuerst muß ich doch Julius zu Stoffel und Vronli bringen.«
Teufel! Immer dieser Kater! Ärgerlich schritt er nun neben Jasmine die breiten Stufen von der Empfangsdiele zum ersten Stockwerk empor.
Und seltsam, bei jeder Stufe wurde des Mannes Gesinnung freundlicher dem graufelligen Kater gegenüber.
Gewiß hätte er jetzt die kleine Schneekönigin bei einem Walzer im Arm halten können. Aber rückten sie nicht viel näher aneinander, als der Mann die Tür zum Kinderzimmer öffnete und Jasmine eintreten ließ?
Eine seltsame, geheimnisvolle Bindung gab es plötzlich.
»Jasmine!« Vronli lief mit ausgebreiteten Armen auf Jasmine zu. »Du hättest uns viel früher besuchen sollen!«
Jasmine ließ den Kater vom Arm herabgleiten und zog das plötzlich laut aufweinende Kind an sich.
»Aber Vronli!«
»Er ist so böse, der Stoffel!« beklagte sich die Kleine.
»Bin ich gar nicht!« knurrte Stoffel. »Sie heult nur immer!«
Jasmine sah in die Gesichter der beiden Kinder, die so seltsam mißvergnügt schienen. Selbst Julius machte einen großen Bogen um Stoffel und Vronli.
Blaß waren die Kindergesichter. Seltsam blaß. Und dann wieder flog eine glühende Hitze über sie. Und die Augen schienen ganz trübe.
»Nun kommen Sie, Fräulein Rasmussen!« drängte der Mann. »Ihre Pflicht haben Sie ja nun getan. Julius ist wieder im Kinderzimmer.«
»Julius soll bleiben!« wimmerte Vronli jetzt. »Er soll nicht wieder in das Barackenlager zu den kranken Kindern.«
»Kranke Kinder?« Jasmine horchte auf.
»Na, die haben doch da alle Masern, hat Waschkewitz gesagt!« erklärte Stoffel und hustete heiser.
»Wir brauchen einen Arzt!« sagte da Jasmine plötzlich. »Und ich bleibe jetzt bei ihnen!«
»Aber es kann sich doch auch jemand anderes um die Kinder kümmern, wenn sie wirklich krank sein sollten.«
»Um kranke Kinder kümmert man sich selber!« verwies Jasmine und legte den Arm um Vronli und Stoffel.
»Aber es sind doch nicht Ihre eigenen!«
»Ich habe sie genauso lieb!« Jasmine beugte sich zu Stoffel und Vronli hinab.
Der Mann stand ganz still, wagte sich nicht mehr zu bewegen.
Gab es das überhaupt? Ein junges Mädchen, das wohl zum erstenmal einen solch festlichen Ball wie seinen besuchte, das fraglos gern tanzte – dieses Mädchen kniete jetzt im Ballkleid vor seinen kranken Kindern.
Ich habe sie lieb! klang es in Michail von Bassarows Ohren nach.
War das, was ihm hier im Kinderzimmer begegnete, die… Liebe, über die er so oft gespottet hatte?
»Bitte, Herr von Bassarow.« Jasmine richtete sich jetzt auf. »Holen Sie Harald… Dr. Brockdorff«, verbesserte sie sich schnell. »Gut, daß wir einen Arzt hier haben. Ich glaube, Stoffel und Vroni haben auch Masern.«
Jasmine blickte zu Julius.
»Verschwinde und sei froh, wenn ich dir jetzt nicht das Fell über die Ohren ziehe!«
Für Jasmine stand es fest, daß Stoffel und Vronli nur Julius die Krankheit zu verdanken hatten.
»Ich bringe sie rasch zu Bett!«
Michail von Bassarow fand sich plötzlich in der Situation eines Mannes, der zu gehorchen hatte.
Nachdenklich stieg er die Treppe herunter.
Er hörte den Festlärm, er hörte die Kapelle, die frohen durcheinanderschwingenden Stimmen.
Sektgläser stießen an.
Und er – suchte nach einem Arzt.
*
Ja, vieles war seltsam an diesem Abend, von dem manche in der Stadt später noch sprachen wie von jener furchtbaren Sturmflutnacht, die viele Menschen obdachlos gemacht hatte.
Und mancher erinnerte sich, daß der junge Dr. Harald Brockdorff ganz laut gesagt hatte: »Ich bin kein Kinderarzt, Fürst. Aber ich will Ihnen einen Kollegen nennen. Rufen Sie ihn an!«
Beinahe feindlich hatte er in Michails fast schwarze Augen geschaut.
Er hatte im Tanzen innegehalten, als Fürst Bassarow ihn ansprach. Seine Rechte lag noch um Charlotte Ringlings Schulter.
»Es ist doch nichts… nichts Ansteckendes?« fragte das schöne Mädchen beinahe angstvoll.
»Sicher Masern oder so etwas!« Michail von Bassarow war verletzend offen. Er hätte dem Mädchen am liebsten ins Gesicht gesagt: Und Sie haben auch schon Masern!
Er wußte nicht, weshalb er das Mädchen plötzlich haßte.
Charlotte klammerte sich an Harald Brockdorff. »Jaja! Sie haben völlig recht, Doktor, ein Kinderarzt…«
In diesem Augenblick trat der alte Professor Ringling zu der kleinen Gruppe, die allmählich der anderen Gäste Aufsehen erregte.
Er hörte nur ein paar Worte, schaute mit zusammengekniffenen Augen den jungen Kollegen an, der wieder mit seiner Tochter tanzen wollte.
In diesem Augenblick spürte Harald Brockdorff, daß er sich verrechnet hatte.
»Ich denke, ein Professor der Chirurgie genügt vielleicht auch!« erklärte der alte Mann mit dem buschigen weißen Haar. »Mal sehen, ob noch ein bißchen allgemeine Praxis an mir hängen geblieben ist.«
Und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Ist zwar schon lange her, daß ich mal Masern feststellte. Aber vielleicht reicht’s doch noch bei mir!«
Jedes Wort war wie ein Verdammungsurteil über den jungen Kollegen.
»Passen Sie schön auf meine Tochter auf!« knurrte er nur noch im Vorübergehen. »Sie hat zwar schon die Masern hinter sich. Aber man kann nie wissen…«
Charlotte, die sonst so stolz war, flüchtete sich eng in Harald Brockdorffs Arme.
»Bitte, bleiben Sie bei mir. Ich habe Angst vor Krankheiten. Vater versteht das nicht. Ich bin noch nie krank gewesen. Und…« Plötzlich lachte sie ein wenig herausfordernd: »Glauben Sie, daß mir Masern gut stehen würden?«
Es klang fast frivol.
Selbst der kühle Harald Brockdorff fühlte sich abgestoßen.
Wie kam er überhaupt dazu, nur noch Augen für Charlotte zu haben?
Weil sie die Tochter des berühmten Ringling ist, du Ehrgeiziger! flüsterte eine innere Stimme. Du versprachst dir viel davon.
Und jetzt… jetzt wird der berühmte Professor oben im Kinderzimmer an den Betten der kleinen Kranken stehen.
Neben ihm Jasmine, diese Jasmine, die ich doch eigentlich liebe.
Der Mann hätte weglaufen mögen.
Aber er legte dann doch den Arm erneut zum Tanzen um Charlottes Taille.
Wer konnte wissen?
Auf jeden Fall verscherzte er sich nicht die Gunst des schönen Mädchens, das einmal gut würde repräsentieren können.
Und Professor Ringling würde den Vorfall sicher bald vergessen.
»Sie tanzen wundervoll!« flüsterte Charlotte. »Und ich danke Ihnen, daß Sie nicht hinaufgegangen sind. Vater ist eben ein Kindernarr!«
*
Er war nicht nur ein Kindernarr, der alte Professor Ringling. Er war ein echter Kinderfreund.
Er hatte Stoffel und Vronli untersucht. »Sie haben ganz richtig festgestellt!« erklärte er. »Wie kommt das nur…«
Jasmine sagte nur kurz. »Ich habe ja auch bereits einige Semester Medizin studiert. Wenn ich da keine Masern feststellen könnte…«
»Sie sind doch Tänzerin?« Der Mann schaute fragend zu dem Mädchen hinab, das jetzt an Vronlis Bettkante saß.
»Nur nebenbei, solange ich jung bin!« Jasmine lachte ein bißchen. »Mir macht’s halt Spaß, Herr Professor!«
»Jasmine, Jasmine soll bei uns bleiben!« Vronli weinte schon wieder.
Professor Ringling schaute sich um.
Sein Blick begegnete dem Achselzucken des Fürsten von Bassarow. Professor Ringling kannte sich im Haus des Fürsten aus. Er war gewiß bereit, eine Pflegerin zu nehmen. Wer sonst sollte die Kinder pflegen?
Der Professor war ein Mann, der Unmögliches möglich machte.
»Ich will Ihnen etwas sagen!« Er wandte sich jetzt über die Köpfe von Jasmine und den Kindern hinweg zu Michail von Bassarow. »Vertrauen Sie mir die beiden an. Ich habe gerade ein hübsches Zimmer frei in meiner Klinik. Eine meiner Schwestern würde ich für Stoffel und Vronli abstellen. Privatpflege. Und unser Fräulein Doktor in spe verpflichtet sich, jeden Tag einmal hereinzuschauen?«
»Ins Krankenhaus?« Vronli weinte jetzt laut. Und der große Stoffel schluckte krampfhaft.
»Nein, nicht ins Krankenhaus. Da stirbt man!«
»Schöne Reklame für mich!« knurrte Professor Ringling.
»Habt ihr denn nicht gehört, daß ich euch besuchen darf?« fragte Jasmine.
»Aber du kommst nicht. Erwachsene sagen immer nur so!« Vronli erinnerte sich an unzählige Enttäuschungen in ihrem kleinen Leben.
»Ich bin noch nicht so erwachsen!« Jasmine streichelte des Kindes fieberheißes Köpfchen. »Ich halte, was ich verspreche!«
»Also, dann…« Professor Ringling stand schon an der Tür. »Ich werde den Krankenwagen bestellen. Er soll am Bedienstetenaufgang anfahren, damit keine allzu zarten Gemüter unten auf Ihrem Fest beunruhigt werden. An meiner eigenen Tochter habe ich bereits genug. Hoffentlich hat dieser Dr. Brockdorff sie inzwischen beruhigt. Jungen Männern gelingt das bei den Mädchen meist leichter, als es alte Väter schaffen.«
Der Mann sah nicht das erblassende Gesicht Jasmines.
Er hatte einen kleinen Scherz machen wollen, um die Stimmung ein wenig zu heben, und wußte nicht, wie weh er dem Mädchen getan hatte, das er seit dieser Stunde so sehr schätzte.
Nur Michail von Bassarow sah es.
»Schneekönigin!« sagte er leise.
»Bleib bei uns, Jasmine!« stöhnte Stoffel.
Und plötzlich sagte Vronli: »Papa, ich will eine Mama haben, eine, die immer bei mir bleibt! Andere Kinder haben eine Mama, wenn sie krank sind.«
»Deine Mama ist tot!« Michail von Bassarows Stimme war brüchig, während er das sagte. »Ihr habt doch Jasmine!« setzte er dann kurzentschlossen hinzu.
»Ja, Jasmine!« Vronli weinte noch immer.
Stoffel faßte sich an den schmerzenden Kopf. Jasmine sollte Vronli nicht streicheln, sondern wegen der Heulerei übers Knie legen. Man bekam ja gar keine Ruhe!
»Wir wollen Jasmine behalten, Papa!« Vronlis verschwollenes Gesichtchen hob sich dem Vater entgegen. »Bitte, Papa. Sie soll immer bei uns bleiben.«
»Sie wird sich schön hüten, bei euch zu bleiben, wenn ihr so unerträglich seid!«
Da aber griff Jasmine ein, und zwar nicht mit tröstender Stimme, sondern ganz nüchtern.
»Jetzt wird erst einmal der Koffer für Professor Ringlings Klinik gepackt. Na, wie ist’s? Hat Harlekinchen nicht auch Masern? Ich denke, sie geht mit. Und nachher, wenn sie desinfiziert wird, riecht sie ganz furchtbar schlecht. Dann müssen wir sie auf die Wäscheleine zum Lüften hängen.«
»Wäscheleine? Vronli fühlte sich abgelenkt durch Jasmines fröhlichen, aber energischen Ton.
»Na, wenn ihr nur eine Trockenschleuder habt, hängen wir Harlekinchen vor mein Fenster. Da habe ich eine Wäscheleine, und immer baumelt etwas daran herum. Gerade im Geschoß darunter ist ein ganz winziger Garten, eigentlich mehr ein großer Balkon. Da wohnt ein Mann, der Kakteen zieht. Die müßt ihr euch einmal ansehen.«
Michail von Bassarow durchfuhr es.
Man muß sie einfach liebhaben!
*
Der Krankenwagen war vorgefahren. Zwei geübte Pfleger trugen die beiden kleinen Patienten hinaus.
Jasmine folgte. Sie trug einen kleinen Koffer mit Wäsche und Waschutensilien.
Draußen tanzten die Schneeflocken immer stärker.
Merkt sie das gar nicht? dachte Michail von Bassarow. Sie hat ja nicht einmal einen Mantel übergezogen.
Er zog sein Frackjackett aus, legte es über Jasmines bloße Schultern.
Dann stieg auch er neben dem Mädchen in den Krankenwagen ein.
Es war plötzlich alles ganz selbstverständlich. Keiner dachte darüber nach.
Erst als die Oberschwester, die die kleinen Kranken in Empfang nahm, sagte: »Die Frau Gemahlin kann ja so lange bleiben, bis die Kinder eingeschlafen sind«, zuckten sowohl der Mann als auch Jasmine zusammen. Man hielt sie für die Eltern von Stoffel und Vronli.
Die Kinder aber hörten es schon nicht mehr. Sie waren eingeschlafen.
*
»Sie haben Verpflichtungen als Gastgeber!« hatte Jasmine gesagt, als Michail von Bassarow neben ihr noch zurückblieb. »Sie müssen zu Ihrem Fest zurück. Man wird Sie vermissen!« Der Mann aber hatte den Kopf geschüttelt. »Mich vermißt keiner!« sagte er auch jetzt betont langsam, als er neben Jasmine am Lenkrad seines Wagens saß. Dem Fahrer Waschkewitz, der dem Krankenwagen gefolgt war, hatte er freigegeben.
»Meine Kinder haben Sie um ein großes Vergnügen gebracht, kleine Schneekönigin«, sagte er leise. »Ich weiß gar nicht, wie ich dies wieder gutmachen soll.«
Jasmine starrte geradeaus.
Ihr fiel wieder Harald Brockdorff ein, der sich von ihr abgewandt und ausschließlich mit Professor Ringlings Tochter getanzt hatte.
»Vielleicht war es so ganz gut!« Jasmine senkte den Kopf.
»Sie denken an Brockdorff!« sagte der Mann am Lenkrad plötzlich laut, nachdrücklich und scharf.
»Ich weiß es nicht!« Jasmine würgte.
Irgend etwas saß ihr in der Kehle.
Weshalb nur wußte sie über sich selbst nicht Bescheid?
Ein kluges Mädchen! sagten früher ihre Kommilitonen.
Ach, was bedeutete Klugheit.
»Kann ich Ihnen helfen?« Michail hielt jetzt den Wagen an. Sie standen vor einem großen Schaufenster, in das man aus Kinderspielzeug einen Märchenwald gebaut hatte.
Da schluchzte Jasmine laut auf.
»Ich bin so müde!« entschuldigte sie sich.
»Ich kann mir nicht denken, daß ein Mann, der Sie wirklich von Herzen liebt, einer Charlotte Ringling nachschaut!« Michail von Bassarow starrte geradeaus.
Er wollte jetzt nicht in die feuchten Augen Jasmines sehen, weil er sie, die tapfer und klug von Natur aus war, nicht beschämen wollte. Es gab eben Dinge im Leben, die man übersehen mußte.
»Charlotte Ringling ist aber sehr schön«, sagte Jasmine und starrte gerade in das riesige Eckschaufenster mit dem Märchenwald.
»Und sie ist« – nun schluckte Jasmine – »nun, sie hat einen Vater, der Professor ist und eine Klinik besitzt. Und Harald…«
Der neben ihr Sitzende sagte nichts.
Er dachte nicht mehr, daß dieses Mädchen neben ihm töricht sei. Sie schien die Menschen ganz gut zu durchschauen.
»Nun, ich werde sehen. Ich kenne Professor Ringling sehr gut. Übrigens, glaube ich, daß auch Sie ihm gut gefallen.«
»Ich? Wieso denn ich?«
»Sie sollten sich einmal mehr um sich selbst kümmern!« sagte Michail nur kurz. »Und nun kommen Sie. Ein bißchen Fest wollen wir nachholen. Ich werde uns noch einen Drink mixen. Vielleicht gibt es ein paar späte Gäste. Und Sie schnuppern trotz der Müdigkeit noch ein wenig Ballseligkeit.«
Da wandte Jasmine den Kopf zu ihrem Begleiter.
Sie fuhr sich energisch mit der kleinen Hand über die noch immer mit Tränen gefüllten Augen.
»Herr von Bassarow«, sagte sie sehr nachdenklich – ihre Augen wanderten beinahe prüfend über des Mannes Antlitz – »Sie haben doch das Zeug zu einem guten Vater. Wirklich! Weshalb lassen Sie Stoffel und Vronli so allein aufwachsen?«
»Das Zeug zu einem guten Vater?«
Michail von Bassarow schien betroffen.
Einen Vater sah sie also in ihm, diese kleine Schneekönigin.
Bin ich schon so alt? Der Mann hob das Gesicht und blickte in den Rückspiegel.
Tatsächlich, er hatte graue Schläfen. Aber das hatten dunkelhaarige Menschen meist sehr früh. War er am Leben, am wirklichen Leben vorübergegangen?
Entzog sich ihm jetzt das Leben, weil er selbst nicht mitgelebt hatte?
Waren diese Worte des Mädchens neben ihm, das zum ersten Male ein Gefühl der tiefen Liebe in ihm geweckt hatte, die Quittung für all das, was er trotz seines berühmten Namens, trotz der großen Anerkennung auf seinem Fachgebiet versäumt hatte?
»Sie meinen wohl, ich könnte auch Ihnen als guter Vater helfen, wie?«
Er sprach es so barsch, daß Jasmine ganz verschüchtert in sich hineinkroch.
»Sie sagten doch so etwas… und Harald…«
Des Mannes Stimme wurde nicht freundlicher.
»Zwingen kann man keinen zur Liebe. Aber immerhin – ich versprach Ihnen ja schon, mit Professor Ringling zu sprechen. Er könnte die zur Zeit offenstehende Stelle an Dr. Brockdorff vergeben, weil er tüchtig ist. Und weil diese Stelle eine gesunde wirtschaftliche Basis für… für eine Ehe wäre! Ich glaube ohnehin nicht, daß Professor Ringling einen fremden Arzt vorzöge.«
»Meinen Sie?«
Jasmine fragte das ein wenig ungläubig.
»Ja!« Michail Bassarows Stimme war jetzt grimmig, wie die alter Kutscher aus dem vorigen Jahrhundert.
»Und jetzt nennen Sie Ihre Straße und die Hausnummer!«
»Sie sagten doch…«
Als der Mann wieder hart die Stimme erheben wollte, legte ihm Jasmine die Hand auf den Arm.
»Ich muß noch einmal zu Ihnen. Nicht wegen des Drinks.« Nun schlug Jasmine die Augen zu dem Mann auf, ganz groß und leuchtend.
Der Glanz einer unendlichen Liebe zu seinen Kindern lag in ihnen. »Ich habe Vronli versprochen, ihr das Harlekinchen morgen mitzubringen. Es ist doch bei Ihnen im Kinderzimmer zurückgeblieben.«
»Also!« Der Mann senkte beinahe ergeben den Kopf.
Diesem Mädchen konnte man einfach nicht widerstehen.
Michail war unzufrieden mit sich selbst, während er die kleine Jasmine seiner großen Villa zufuhr.
*
Es war so spät, daß keiner der Gäste zurückgeblieben war. Nur in den Personalräumen war noch Betrieb.
»Man suchte Sie, Fürst!« erklärte die völlig übermüdete Hausdame Frau Franzen.
»Kann ich etwas dafür, wenn meine Kinder plötzlich Masern bekommen? Ich denke, es ist alles in meiner Abwesenheit gut verlaufen?«
Frau Franzen nickte.
Michail von Bassarow wußte, daß er sich in allem auf sie verlassen konnte.
»Also dann, gute Nacht!« Er nickte der Frau zu, die seit Jahren seinem großen Hauswesen vorstand.
»Soll ich nicht noch… ich meine…«
Frau Franzens Augen deuteten auf Jasmine.
»Ach so! Nein! Fräulein Rasmussen will nur noch Vronlis Puppe holen, um sie ihr morgen mit ins Krankenhaus zu nehmen. Ich bringe Fräulein Rasmussen selber nach Hause.«
»Sehr wohl!« Frau Franzen nickte. Sie sagte dann nur noch: »Marie wird das Harlekinchen herunterbringen.«
Wenige Minuten später gab das Mädchen Jasmine die Puppe in die Hand.
Michail von Bassarow hatte Jasmine in das Arbeitszimmer geführt, an dessen Wand das Bild hing, das ihm unverkäuflich war.
Er schaltete das Licht hell ein.
»Einen Drink?« fragte er und schob der müden und frierenden Jasmine schon ein Glas hin.
Dann fühlte sie plötzlich des Mannes Hände auf ihren Schultern.
Noch ehe sie abwehren konnte, hatte er sie herumgedreht, so daß sie sich selber und auch das Gemälde der Madonna von unbekannter Künstlerhand nebeneinander im Spiegel sah.
Die Ähnlichkeit war so überwältigend, daß Jasmine erschrocken zurückzuckte.
»Sie müssen schon einmal durch ein früheres Jahrhundert gegangen sein, kleine Jasmine! Dem Maler dieses Bildes sind Sie auf jeden Fall begegnet. Die Ähnlichkeit ist überraschend.«
Jasmine starrte noch immer in den Spiegel.
Ich bin verhext, einfach verhext! dachte sie.
Jasmine war so blaß, daß sie vor sich selbst erschrak.
Was hatte dieser Abend gebracht?
Da war Harald Brockdorff, der sich der Tochter eines einflußreichen Professors zuwandte.
Da war dieser Kunsthändler Bassarow, dem sie das Double zu einem wertvollen Bild war.
Ja, er war fasziniert von der Ähnlichkeit.
Jasmine spürte nicht, daß dieser Mann mit den grauen Schläfen in dieser Stunde nur ein törichter und ungeschickter Liebhaber war.
»Ja, es war wirklich überraschend, wie Sie dem Bild ähnlich sehen!« betonte er noch einmal.
Dann erst sah er, wie blaß das Mädchen war.
»Sie sollten noch einen Schluck trinken. Es war eine sehr anstrengende Nacht, Schneekönigin!« sagte er und schob ihr das noch nicht geleerte Glas zu. »Oder lieber einen kleinen Schluck Sekt? Kommen Sie, vielleicht finden wir noch etwas!«
Er legte den Arm um Jasmine, die steif, beinahe wie erfroren vor dem Bild stand. Einem Bild unter den vielen Gemälden und Kunstgegenständen, denen der Mann, wie man überall erzählte, sein Leben verschrieben hatte.
Für etwas anderes sollte er nie Zeit haben.
Nicht einmal für seine Kinder.
Und das hatte ihr niemand erzählt, das hatte sie selbst erlebt.
Die großen Gesellschaftsräume waren verlassen, die Fenster standen trotz der Nachtkühle einen Spalt offen.
Jasmine zitterte.
Ich bin wirklich sehr übermüdet und friere deshalb bei jeder Gelegenheit, dachte sie.
»Also – wirklich – doch noch eine vergessene Flasche Sekt. Wollen mal schauen…«
Michail von Bassarow trieb mit dem knallenden Sektpropfen das Spiel, das so viele Männer liebten; es gab einen kleinen Schreck.
Jasmine lehnte sich unwillkürlich an ihn. »Und für das Glas Sekt – es war roter Krimsekt – bekomme ich als Belohnung noch einen Tanz!«
»Als Belohnung?« Jasmine starrte den Mann ungläubig an.
Sie verstand alles nicht mehr.
Sie war wohl eben doch sehr müde.
»Nun – faß es auf, wie du willst, kleine Schneekönigin!«
Du! sagte er. Aber…
Jasmine schaute ängstlich auf zu dem Mann.
Er hatte einen Plattenspieler eingeschaltet, und leise erklang ein Walzer.
G’schichten aus dem Wienerwald!
Und das in einer Winternacht, mitten in einer norddeutschen Millionenstadt.
Aber der Walzer verzauberte.
Jasmine fragte nichts mehr.
Sie spürte den Arm des Mannes um ihre Taille gelegt. Und sie spürte auch, welch guter, einzigartiger Tänzer er war.
Waren die G’schichten wirklich noch aus dem fernen Wienerwald?
Erzählten sie nicht vielmehr von den großen, von allen Gästen verlassenen Festräumen der Bassarowschen Villa?
Aber es waren Geschichten ohne Worte; sie bestanden allein aus süßen, bezaubernden Tönen.
Einmal nur sagte der Mann: »Madonna!«
Und er meinte damit nicht das Bild über seinem Schreibtisch, sondern die Frau, die er in seinen Armen hielt.
Jasmine aber dachte nur an das Bild und an einen Mann, dem Bilder über alles gingen.
»Ich bin müde«, sagte sie, und sie war wieder blaß wie vor diesem beseligenden Walzer.
»Ich werde dich nach Hause fahren.« Michail von Bassarow hielt das Mädchen noch einen Augenblick lang fest, dicht an sich geschmiegt.
Jasmine spürte es.
Weshalb nur? fragte sie sich.
Sie zitterte.
Schade, daß sie sich selbst nicht recht verstand.
»Also, fahren wir jetzt?«
Der Mann schritt voran und holte Jasmines Mantel.
»Und hier die Puppe. Das… ja, das Harlekinchen«, sagte er, als Jasmine schon auf der Schwelle zu der großen Freitreppe stand.
Zum erstenmal in seinem Leben hatte der Mann an ein geliebtes Spielzeug seiner Kinder gedacht.
»Harlekinchen«, flüsterte Jasmine und streichelte die Puppe, die gerade noch des Mannes Hand gehalten hatte.
Gleich wird sie mich wieder einen vorzüglich veranlagten Vater nennen! durchfuhr es den Mann.
Da drängte er dem Wagen zu, der von einer Schneehaube überzogen war. Ganz leise rieselte der Schnee auch jetzt noch herab.
»Kommen Sie, steigen Sie ein!«
Dann fuhr er Jasmine zu ihrer Wohnung, schloß ihr die Haustür auf.
»Ich denke«, sagte er dann leise, »ich kann meinen Dank noch einmal mit der Tat abstatten.«
Jasmine wollte noch etwas sagen.
Sie stand völlig übermüdet in der Haustür. Im Treppenhaus vor ihr war schon das Licht angegangen.
In ihrer Hand pendelte das Harlekinchen.
Draußen auf der Straße war der Motor der schweren Limousine angesprungen.
Schnee knirschte.
Hoffentlich ist es nicht glatt, dachte Jasmine.
Hoffentlich… hoffentlich?
Was eigentlich hoffte sie?
In ihrem Zimmer zog sie das Ballkleid aus und die Schuhe. Dann warf sie sich aufs Bett.
Im Arm hielt sie das Harlekinchen.
Jasmine weinte sich an diesem frühen Morgen in den Schlaf.
*
Prima fand Stoffel es, daß er und Vronli noch ein wenig in der Klinik von Professor Ringling bleiben durften. Noch niemals war Weihnachten so schön gewesen wie hier.
»Die haben sich richtig um uns gekümmert«, behauptete Stoffel, der noch ein bißchen blaß war, aber sonst in nichts an einen Patienten erinnerte.
Der gütige Professor Ringling hatte in diesen Wochen nicht nur als Freund des Hauses Bassarow Masern behandelt, sondern er hatte auch einen sehr guten Einblick in manches aus diesem Haus erhalten.
Wahrhaftig – diese reichen Kinder waren zu bedauern.
An diesem Heiligabend aber gab es auch Menschen um sie. Nicht nur der gütige Professor Ringling saß plaudernd eine volle Stunde bei den kleinen Patienten, sondern, als es dunkel wurde, kam auch die so geliebte Jasmine.
Sie war ein bißchen außer Atem, weil sie in der Kinderaufführung am Mittag noch hatte tanzen müssen. Aber sie hatte etwas Herrliches mitgebracht: ein kunterbuntes Kleid für das Harlekinchen.
Aus vielerlei wirkungsvoll glitzernden Fetzchen hatte Jasmine es genäht, und daneben noch ein Kleidchen, das ganz genau nach dem Kostüm der Schneekönigin gearbeitet war.
»Das hab’ ich aber nicht selbst genäht«, erklärte Jasmine ehrlich. »Das hat die Kostümbildnerin von der großen Oper gemacht.«
Vronli war selig über die Bereicherung der Garderobe von Harlekinchen.
Ganz stumm aber war Stoffel.
Auf seinem Platz lag ein von Jasmin gearbeitetes Halsband für den Kater Julius.
Es schloß ab mit ein paar Glöckchen, aber beileibe keine beliebigen Glöckchen, sondern einem richtigen kleinen in sich abgestimmten Glockenspiel.
»Damit ihn jeder schon von weitem hört«, hatte Jasmine erklärt.
»Du«, erklärte Stoffel am Heiligabend, der nun schon etliche Zeit zurücklag, »du, bleib immer bei uns!«
Dabei hatte Stoffel mit seinen dunklen Augen den Vater sehr ernsthaft angesehen, als ob dieser darüber zu bestimmen habe.
Michail von Bassarow hatte mit den Schultern gezuckt.
Seit Jahren feierte er den Heiligabend zum erstenmal mit seinen Kindern.
Und es war seltsam – er fühlte sich innerlich von dieser Stunde auch berührt.
Er spottete nicht über die Puppenkleider und das Kater-Halsband. Vielleicht, so dachte der Mann, sehe ich nur die strahlenden Augen von Jasmine.
Ich habe ihr erzählt, daß ich mit Professor Ringling gesprochen habe und daß eine gewisse Aussicht bestehe, diesem Dr. Harald Brockdorff die ausgeschriebene Stelle in der Ringling-Klinik zu vermitteln.
An diesem Heiligabend mußte Michail von Bassarow es hinnehmen, daß auch Dr. Harald Brockdorff anwesend war.
Er merkte zwar, daß Stoffel und Vronli ihn ablehnten.
Aber er merkte auch, daß Jasmines Gesichtchen sich verklärte, als sie dem jungen ehrgeizigen Arzt zuflüsterte, daß seine Bewerbung wahrscheinlich nicht ohne Erfolg sein würde.
Ja, so war der Heiligabend verlaufen, der nun schon lange zurücklag. Jasmine erinnerte sich vor allem an Harald Brockdorffs glückliches Gesicht.
Eine Stelle in der Ringling-Klinik! Wem fiel schon ein solches Glück in den Schoß?
Wem er die Fürsprache zu verdanken hatte, wußte er allerdings nicht. Er glaubte, die schöne Charlotte Ringling habe ein gutes Wort für ihn bei ihrem Vater eingelegt.
Beziehungen – ja Beziehungen waren eben alles.
Und sie selber ist auch schön und begehrenswert! dachte der junge Arzt. Ich werde die kleine Jasmine vergessen können, mit der mich einmal für ein paar Wochen so viel verband.
Aber ist das Vorwärtskommen im Beruf nicht viel wichtiger als die Liebe?
Harald Brockdorff stellte diese Frage keinem anderen.
Ja, er wollte Karriere machen! Viel, sehr viel hatte er dafür eingesetzt, hatte auf vieles verzichtet, vieles geopfert.
Er würde auch noch Jasmine opfern können.
*
»Du, Jasmine!« An diesem Wintertag, an dem draußen überall Rutschbahnen von emsigen Kinderfüßen poliert wurden, tippte Stoffel sehr nachdrücklich auf Jasmines Arm, die auf einen Sprung in das Krankenzimmer der kleinen Bassarows gehuscht war.
Einmal hatte der gütige Professor Ringling sie gefragt: »Geldsorgen sollte man während der Doktorarbeit nicht haben, kleine Kollegin in spe. Ich suche zur Zeit eine Hilfskraft in meinem Labor. Übrigens wäre das gut für Ihre Doktorarbeit. Und nebenbei ist es eine Art Aushilfsstellung. Drei Stunden täglich. Ob das wohl etwas für Sie wäre?«
Jasmine hatte nicht gezögert.
Mein Gott, ich habe ja Glück! Du hast mir Glück geschenkt. Ich brauche wirklich noch die Praxis im Labor. Und nun…
»Ich habe bereits alles veranlaßt«, hatte Professor Ringling gesagt. »Die Geschäftsstelle weiß Bescheid. Also, Fräulein Rasmussen, alles Gute!«
Dieses Mädchen müßte man als Tochter haben, dachte der gütige alte Mann, der schon frühzeitig seine Frau verloren hatte. Aber man kann vom Schicksal eben nichts fordern.
*
»Jasmine, was hat Onkel Ringling gesagt?«
In diesem Augenblick hörte Jasmine Vronlis zartes Stimmchen an ihr Ohr schlagen.
»Was soll er gesagt haben?« Jasmine zuckte ein wenig mit den Achseln.
»Nun, Vronlis große Augen verdunkelten sich plötzlich, »wann wir nach Hause zurück müssen?«
Zurück müssen!
Es gab Jasmine einen Stich.
Alle anderen Kinder in der Klinik drängten nach Hause.
Aber Stoffel und Vronli liebten eine Klinik mehr als ihr Elternhaus.
»Ich werde mal mit Onkel Professor sprechen«, sagte Jasmine und streichelte über Vronlis goldenen Lockenschopf. »Aber einmal müßt ihr hier doch fort. Seht mal, es gibt ja noch so viele andere kranke Kinder. Ich verspreche: Jeden Tag besuche ich euch!«
»Wirklich jeden Tag?« forschte Stoffel.
Er hatte es trotz des Widerspruchs der Oberschwester Alma erreicht, daß Julius, der Kater, auch »Patient« sein durfte.
Julius lebte ein sehr erfreuliches Leben in der Privatklinik. Nicht nur, daß er von Stoffel und Vronli verwöhnt wurde.
In der Küche liebte man ihn, gab ihm das beste Futter. Und eine Reihe von Patienten konnten sich ihren Klinikaufenthalt nicht ohne den wunderschönen, seidenfelligen Kater Julius vorstellen, der oft in die Krankenzimmer huschte, weil er auch in der Ringling-Klinik mit Kraft und Grazie die Türdrücker zu handhaben verstand.
Ja, Julius war ein außergewöhnlicher Kater!
Das fanden alle.
Stoffel kraulte Julius’ graues seidiges Fell.
»Jasmine, was hat Onkel Ringling gesagt?«
Jasmine fühlte den Blick der beinahe angstvollen Kinderaugen auf sich gerichtet.
»Er wirft euch nicht hinaus«, erklärte sie lachend, obgleich sie genau wußte, daß die Kinder nicht mehr in ein Krankenhaus gehörten.
»Na, warten wir mal ab.«
»Hat Onkel Harald etwas dabei zu sagen?« Vronli schaute Jasmine sehr ernsthaft an.
Onkel Harald!
Seit wenigen Tagen arbeitete Dr. Harald Brockdorff auf Probe in der Ringling-Klinik.
»Ich weiß nicht«, wich Jasmine aus.
In diesem Augenblick klopfte es an der Tür.
»Visite!« sagte die nun schon ganz im Klinikwesen erfahrene Vronli.
Die »Visite« bestand aber heute nicht aus dem so geliebten Onkel Professor und einer großen Begleitung.
»Harald, ganz allein?« fragte Jasmine, als sie den Mann eintreten sah.
»Professor Ringling fühlt sich nicht gut«, erklärte der Arzt. »Nun, und so krank sind Stoffel und Vronli ja gewiß nicht mehr!«
»Zunge ’rausstrecken?« erkundigte sich Stoffel.
»Nein, heute nicht.« Jasmine griff Harald Brockdorff vor. »Ihr seid wirklich nur noch Gäste hier.«
»Aber wir bleiben doch?« Stoffel prüfte die beiden Erwachsenen sehr kritisch.
»Wir werden sehen«, beruhigte Jasmine. »Auf jeden Fall werde ich euch immer besuchen, gleich wo ihr Spatzenvolk mit eurem Kater Julius bleibt. Denn ich bin euch ja schrecklich dankbar, besonders eurem Julius.«
Jasmines kleine Hände streichelten das seidige Fell des Katers, der sich eng an ihre Knie preßte.
Kater Julius! Du bist wahrhaftig mein Schicksalstier. Und ich habe auch dich in mein Herz geschlossen.
Julius schnurrte und zog sich dann maunzend zurück.
Stoffel und Vronli jauchzten laut auf, als der Kater an ihnen hinaufsprang. Sie lagen ja nicht mehr im Bett, sondern durften bereits auf den ihrem Zimmer vorgelagerten Balkon.
»Kalt!« schnupperte Vronli, während sie die Balkontür öffnete.
»Na, nur für kleine Mädchen kalt«, behauptete Stoffel.
Das ließ Vronli sich nicht zum zweitenmal sagen. In Sekundenschnelle stand sie neben Stoffel und dem Kater Julius auf dem Balkon, schaute auf die weit angelegten, immer noch verschneiten Rasenflächen der Privatklinik hinab.
Zurück blieben im Zimmer Jasmine und der junge Arzt Dr. Harald Brockdorff.
»Ob du mir heute abend noch einmal bei meiner Arbeit hilfst?« Jasmine sah fragend in das Gesicht des Mannes.
»Gerade heute abend?« Harald wich aus. »Ich wollte heute abend…«
Er dachte an die wunderschöne Charlotte Ringling, die ihm versprochen hatte, heute abend in einem exklusiven Lokal mit ihm zu tanzen.
»Harald!« Jasmines große dunkle Augen hatten in dieser Sekunde keine hellen Lichter aufgesetzt. Sie waren nur dunkel, tiefdunkel, beinahe erschreckend dunkel. »Weshalb weichst du mir jetzt immer aus?«
Der Mann wurde nervös.
»Jasmine… ich weiß nicht, weshalb du immerzu fragst. Du mußt doch verstehen… meine Karriere.«
Harald Brockdorff sprach nicht von seinem ihn ausfüllenden Beruf, er sprach von Ehrgeiz, von Karriere. »Man muß eben einmal mit der Tochter seines Professors ausgehen. Man muß etwas für die Karriere tun.«
Jasmine schaute in das blaßgewordene Gesicht des Mannes, von dem sie nicht wußte, ob er ihr nicht trotz allem vom Schicksal bestimmt war. »Du, Harald…« Jasmine zögerte einen Augenblick, bevor sie weitersprach. »Liebst du Charlotte Ringling?«
Es war eine direkte Frage.
Der Mann aber mochte sie nicht in der gleichen direkten Weise beantworten.
»Liebe… Liebe…« Dr. Harald Brockdorff wehrte ab. »Du machst viel zuviel große Worte darum«, behauptete er.
»Liebe ist das Größte, Heiligste auf dieser Erde«, sagte Jasmine. »Man muß auch einmal darüber sprechen.«
»Jasmine!« Dr. Harald Brockdorffs Worte überschlugen sich. »Du fragst wirklich zuviel. »Du weißt, Charlotte…«
Der Mann, der sich sonst so wenig von seinem Gefühl beherrschen ließ, sah die kleine Jasmine vor sich stehen, die so viel zu geben vermochte.
Sie war klug, sie besaß Haltung. Sie war kein Durchschnittsmädchen mit Durchschnittswünschen.
Sie war mehr. Aber sie forderte auch mehr.
»Jasmine!« Dr. Harald Brockdorff wich aus. »Wir wollen dies alles nicht dramatisieren. Wir sind schließlich nicht verlobt.«
»Du liebst also Charlotte Ringling?«
Jasmines dunkle Augen flackerten erregt.
»Herrgott… frag mich nicht so direkt. Charlotte…«
»Du denkst an sie?« bohrte Jasmine weiter, obgleich sie selber jedes Wort so schmerzte, als würde ihr Herz aufgerissen.
Der Mann wich aus. »Wenn ich einmal mit einem Mädchen tanzen gehe…«
»Mit der Tochter des Professors Ringling!« verbesserte Jasmine.
»Ja, nun gut!« Dr. Harald Brockdorff schrie plötzlich. Er kannte sich selbst nicht mehr.
»Charlotte wäre eine Bindung…«
Weiter kam er nicht, weil Jasmine sich sehr kalt, sehr hoheitsvoll aufrichtete.
Sie sagte nichts anderes als: »Ich bin mit meiner Doktorarbeit jetzt soweit, daß ich deine Hilfe nicht mehr nötig habe. Bitte, opfere mir keine Zeit mehr. Ich schaffe es auch ohne dich.«
»Auf Wiedersehen!« sagte der Mann, der schon auf der Schwelle des Krankenzimmers der kleinen Bassarows stand.
»Wann!?« fragte Jasmine nur. Ihre dunklen Augen folgten jeder der so nervösen Bewegungen des Mannes.
»Ich rufe an«, wich er aus.
Dann schlug die Tür hinter ihm zu. Er hatte noch einmal den Kopf zurückgewandt, bevor die Tür ins Schloß schnappte.
Er ist unglücklich, schrecklich unglücklich, dachte Jasmine.
Wie kann ich ihm helfen?
*
Das Wartezimmer, an dem Jasmine soeben vorüberging, war noch leer. Die Tür stand halb geöffnet.
Professor Ringling, der gegen den späten Nachmittag, wenn Stoffel und Vronli bereits ihr Abendbrot gegessen hatten, noch eine kurze Sprechstunde für besondere Fälle abhielt, schien noch nicht anwesend.
Schade!
Jasmine hätte gern einen Augenblick mit ihm gesprochen.
Der berühmte Professor war ihr wie zu einem Vater geworden. Es tat sogar gut, irgend etwas ganz Belangloses für ein paar Minuten zu besprechen.
Ich könnte noch etwas wegen meiner Doktorarbeit fragen!
Jasmine stand schon auf der Schwelle des leeren Wartezimmers.
Als sie aufschaute, sah sie in den kleinen Spiegel, der an der Wand hing, um den Patienten beim An- und Ablegen der Garderobe zu dienen.
Bin ich das eigentlich noch?
Jasmine erschrak, weil sie auch heute abend so blaß ausschaute.
Ich lasse mich von allem umwerfen – ich müßte mich über mich selbst schämen.
Da! Jetzt klangen Stimmen aus Professor Ringlings Sprechzimmer, er war also schon da. Die Tür stand noch immer einen Spalt offen. Jasmine raffte sich auf.
Sie wollte schon auf die Tür zugehen, als sie nicht des Professors gütige, aufmunternde Stimme hörte, sondern die seiner Tochter Charlotte.
Und Harald Brockdorffs Stimme. Wie abgewürgt klang sie, obgleich sie einen beherzten Ton anschlug.
Und dann wieder girrendes Lachen von Charlotte.
»Harald Brockdorff, kleiner Doktor…«
Der Rest des Satzes ging unter.
Sie küssen sich! dachte Jasmine und schämte sich, daß sie sich nicht sofort umwandte, um den Raum zu verlassen.
Aber eine geheime Macht bannte sie auf die Stelle, auf der ihre Füße standen.
Gut, daß ich sie nicht zu sehen brauche!
»Kleiner Doktor«, erklärte Charlotte drinnen im Sprechzimmer ihres Vaters. »Ich glaube, Sie wollen Sterne vom Himmel herunterholen. Und Sterne, die gehören nicht auf die Erde. Von fern darf man sie betrachten.«
»Aber«, das war nun wieder Harald Brockdorffs Stimme, »du hast mir doch Hoffnung gemacht, Charlotte. Ich habe doch…«
»Nichts Außergewöhnliches habe ich getan, um dich zu solchen Schlüssen zu bringen, kleiner goldhaariger Doktor!«
Oh, wie kalt war die Stimme der schönen Charlotte.
Sie fuhr auch der lauschenden Jasmine wie Eis übers Herz.
»Aber du bist doch…«
Harald Brockdorff sprach etwas von Bars, von Partys.
Er war in diesem Augenblick wieder der bettelarme Werkstudent, der vorwärtskommen wollte um jeden Preis.
»Wir sind doch miteinander ausgegangen.«
»Wenn ich alle Männer heiraten sollte, mit denen ich einmal ausgegangen bin, hätte ich viel zu tun. Und zudem werde ich mich mit einem anderen verloben.«
Einen Augenblick war es so still, daß die wie erstarrte Jasmine das qualvolle Keuchen des Mannes im Nebenzimmer hörte.
»Du bist ein dummer, kleiner goldhaariger Assistenzarzt«, sagte Charlotte. »Von Augenheilkunde hältst du wohl nicht viel. Such also einmal einen in dieser Hinsicht berühmteren Kollegen auf; du bist wirklich blind. Taub vielleicht auch? Oder weißt du nicht, was die Leute erzählen?«
»Was die Leute erzählen?« stammelte der junge Arzt.
»Das enthält manchmal auch ein Fünkchen Wahrheit!« Charlotte schien dem Geräusch nach jetzt ein scharf schnappendes Handtäschchen zu öffnen.
Wahrscheinlich hat Harald ihr doch einen Kuß gegeben und ihr das Lippenrot verwischt, das nun nachgezogen werden muß!
Jasmines Gedanken erinnerten an einen registrierenden Automaten.
Kuß – Harald – Lippenstift…
Irgend etwas setzte in der atemlosen Zuhörerin aus.
»Die Leute klatschen manchmal auch ganz vernünftige Dinge«, erklärte im Nebenzimmer Charlotte Ringling. »Und daß Fürst Bassarow und ich… nun, es ist ja auch nicht verwunderlich. Vater und er sind gute Freunde. Mich langweilt das zwar alles mit den Gemälden, mit den komischen Antiquitäten. Und wenn Michail mich einmal heiratet, muß erst die ganze Villa modernisiert werden. Ich mag es nicht, wenn man auf Schritt und Tritt über alte Ikonen und uralte Weihwasserkesselchen stolpert.«
Charlotte lachte wieder.
Ihr Spott wurde immer beißender.
Er klang jetzt fast unecht, als wolle sie sich selbst betäuben.
Jasmine aber hörte es nicht.
Sie verstand nur: Michail und Charlotte.
Weshalb eigentlich nicht?
Dann aber durchfuhr es das einsame Mädchen:
Charlotte als Mutter von Stoffel und Vronli, im Kinderzimmer mit dem Kater Julius und der geliebten Puppe Harlekinchen?
Das war etwas, was man sich nicht vorstellen konnte.
Die armen Kinder!
»Ja, die armen Kinder«, flüsterte Jasmine vor sich hin.
Sie wußte aber sehr genau, daß nur diese Worte die Kinder berührten. Im Grunde bohrte tief in ihrem Herzen etwas anderes.
Michail und Charlotte!
Weshalb eigentlich nicht… weshalb?
Da hörte Jasmine Schritte im Nebenzimmer, die sich der Tür näherten.
Sie trat schnell ans Fenster, hob eine der Zeitschriften vor die Augen und tat, als sei sie darin vertieft.
Aber auch so hätte Charlotte Ringling die schmale, am Fenster stehende Gestalt nicht bemerkt.
Sie war vollauf beschäftigt mit ihrer kleinen Krokodilhandtasche, deren Verschluß allem Anschein nach nicht mehr funktionierte.
Laut fiel die Tür hinter ihnen zu.
Da erst wandte Jasmine sich um.
Auf der Schwelle zum Sprechzimmer sah sie Dr. Harald Brockdorff stehen.
War es der Mann überhaupt noch, dem sie einmal ihr Herz geschenkt hatte?
Das schöne, immer so gepflegte goldene Haar hing in wirren Strähnen in die Stirn. Die harten blauen Augen schienen einem längst Gestorbenen zu gehören.
»Harald!« Jasmine sprang auf den Taumelnden zu. »Harald, mein Gott, setz dich!«
Der Mann fragte nicht, wieso Jasmine hier im Wartezimmer war.
Er fragte auch nicht, ob sie vielleicht das mit Charlotte geführte Gespräch angehört hatte.
Er war so betäubt, daß er sich von Jasmine aus dem Raum führen ließ.
Ganz am Ende des schier endlos dünkenden Ganges gab es ein kleines Zimmer, in dem man Rollstühle, Tragbahren und sonstige Geräte untergebracht hatte.
Hierhin führte Jasmine den Mann.
Und als er auf eine der Tragen niedergesunken war, nahm Jasmine ihr Herz in beide Hände und versuchte, ihrer Stimme einen ganz nüchternen Klang zu geben.
»Ich habe euer Gespräch mit angehört«, sagte sie leise, aber fest, obgleich ihr selbst alles vor Augen tanzte.
Sie setzte sich neben den Zusammengebrochenen und schlang die Arm um ihn.
»Harald, begreife doch, daß du diese Charlotte Ringling nie wirklich geliebt hast. Sie sollte doch eigentlich nur ein Sprungbrett für dich bedeuten. Nicht gerade schön von dir gehandelt, aber…« Jasmine schluckte tapfer. »Viele Männer unternehmen solche Schritte um ihrer Karriere willen.«
Der Mann schwieg.
»Er spürte nur die Nähe dieses Mädchens, das ihm jetzt ganz zart, wenn auch nicht zärtlich wie früher, übers Haar strich.
»Aber glaube mir« – Jasmines Stimme hob sich jetzt – »ich bin fest davon überzeugt, daß du deine Probezeit, auch ohne Charlotte Ringling zu heiraten, erfolgreich beenden wirst. Professor Ringling ist kein Mann, der Stellen wegen seiner Tochter vergibt. Er ist ein ganzer Mann. Und ein gütiger, verständnisvoller Mann.«
»Ich…« Der Mann stöhnte. Die vergangenen Wochen hatten ihn völlig aufgerieben.
Sein Ehrgeiz! dachte Jasmine. Er kommt nicht über seinen Ehrgeiz hinweg. Er kann es nicht ertragen, daß er sich einen Korb geholt hat.
»Es geht im Leben nicht immer so, wie man will!«
Harald Brockdorff schaute auf. Blickte mitten hinein in die dunklen Augen Jasmines, in denen sich viele Glanzlichter spiegelten.
Er wußte in diesem Augenblick, was er Jasmine angetan hatte.
Und trotzdem harrte sie in dieser Stunde bei ihm aus.
»Verzeih«, flüsterte er. »Verzeih!«
»Es gibt gar nichts zu verzeihen!« Jasmine hauchte die Worte nur. »Du hilfst mir wieder bei meiner Arbeit. Und ich« – Jasmine versuchte ein krampfhaftes Lachen – »und ich werde versuchen, eine tüchtige F r a u Doktor zu werden!«
»M e i n e Frau Doktor?« Ungewiß schaute der Mann auf.
Jasmine nickte.
Sie konnte kein Wort mehr herausbringen, weil sie sonst zusammengebrochen wäre.
Denn eines wußte sie von dieser Stunde an sehr genau: Sie liebte nur einen einzigen Mann – Michail von Bassarow! Diesen Mann, der sich mit einer Charlotte Ringling… begnügen wollte. Ja, begnügen. Denn Charlotte konnte einem Mann niemals eine Liebe geben, die zu einer echten Ehegemeinschaft gehörte.
Von irgendwoher tickte eine Uhr. Minute um Minute verrann.
»Jasmine?«
Der Mann schaute plötzlich zu dem schweigsamen Mädchen neben sich.
»Jasmine, weshalb ist dies alles so? Weshalb kann man nicht durchsetzen, was man will?«
Jasmine zuckte nur mit den Schultern.
»Leben ist eben ein Geschenk, Glück eine Gnade!«
»Daß Charlotte Michail von Bassarow heiraten wird…« Der Mann starrte lange vor sich hin.
Jasmine merkte, daß er sich keineswegs beruhigt hatte.
»Findest du, daß sie zueinander passen?«
»Sie sind beide reich«, sagte Jasmine härter, als sie wollte. Sie konnte ja selber all dies nicht verstehen.
Ein Spielzeug, ein kleines unbedeutendes Spielzeug bin ich dem großen Kunsthändler Bassarow gewesen. Weiter nichts.
Vielleicht nur das Vergnügen, daß ich einem seiner Madonnenbilder so überraschend ähnele. Er soll ja ein Mensch sein, der nur von und für seine wertvollen Antiquitäten lebt.
Er hat kein Gefühl für seine Kinder und auch keines… nein, auch keines für Liebe.
Er ist ein genialer Schauspieler.
Ja, das ist er, der große Michail Fürst von Bassarow!
Jasmines Stimme flüchtete sich hinter ein vernichtendes Urteil. Das gab ihr Kraft.
»Komm!« sagte sie jetzt zu dem Mann. »Trink einen Schluck starken Tee. Den gibt es ja immer hier in der Klinik. Dann fahr nach Hause, nimm eine Schlaftablette. Und morgen, morgen sieht die Welt wieder anders aus.«
»Ich danke dir«, sagte er. »Du bist ein wundervoller Mensch, Jasmine. Ich bin deiner gar nicht wert.«
Zum erstenmal in seinem Leben gab Dr. Harald Brockdorff ein solches Eingeständnis, er, der verbissen Ehrgeizige, der genau wußte, daß er klug und geschickt war.
Ganz instinktiv aber spürte er in diesem Augenblick, daß es wirklich noch mehr gab als Berufstüchtigkeit und Karriere, der zu opfern er alles bereit gewesen war. Ein ganzes Leben lang.
»Auf Wiedersehen!« Jasmine brachte den Mann noch bis zum Parkplatz der Klinik.
Dort stand auch Harald Brockdorffs Wagen.
Er winkte Jasmine noch einmal zu, aber mit einem so abwesenden Gesicht, daß das Mädchen sich beunruhigt fühlte.
Autofahren war gewiß jetzt nicht richtig.
Da aber fuhr der Wagen Harald Brockdorffs schon langsam durch das Eingangstor.
Aber – wie fuhr er?
Jasmine erschrak.
Er darf nicht fahren! sagte sie sich plötzlich. Ich muß ihn daran hindern.
Das Mädchen sah nach einer Taxe, die immer vor der Klinik zum Fahren bereitstand.
Es geht vielleicht um ein Menschenleben! hämmerte es in Jasmines Herzen.
»Folgen Sie bitte dem kleinen grauen Wagen«, bat sie den Taxifahrer. »Ich habe meinem Kollegen noch etwas von einem wichtigen Fall zu sagen. Es geht um sehr Dringendes; ein Medikament…« Jasmine flüsterte nur noch.
Der Fahrer in seiner dicken, pelzgefütterten Lederjacke nickte nur und gab schon Gas.
Er hatte so manches erlebt.
Ärzte – Kranke – Schwestern.
Sie saß neben dem Fahrer und ließ genau wie er den vor ihnen fahrenden Wagen nicht aus den Augen.
Da – jetzt – die kleine, durch Warnzeichen kenntlich gemachte bergige Anhebung der Straße. Hier lag noch Schnee. Es war auch glatt. Selbst der schwere Mercedes des Taxifahrers schlidderte ein wenig.
Der graue Volkswagen aber…
»Nein… nein… nein!« schrie Jasmine in diesem Augenblick auf. »Das nicht! Nein!«
Bremsen durfte man nicht auf diesem Stück Straße; man wäre sonst selber verunglückt. Der Fahrer konnte erst eine ganze Strecke hinter der Stelle halten, an der der kleine graue Wagen sich überschlagen hatte, und dann die Böschung hinabgestürzt war.
»Ich werde den Unfallwagen bestellen, Fräulein«, sagte der Mann bedrückt.
Er mochte sich nicht weiter äußern.
Das Mädchen rannte schon auf die Unfallstelle zu.
»Harald!« Jasmine beugte sich über den Verunglückten. »Harald, so hör doch. Harald, weshalb bist du so schnell gefahren, Harald!«
Jasmine legte ihre Lippen ganz fest auf die eiskalten des Mannes.
Ihren Atem wollte sie ihm schenken. Aber es schien dafür schon zu spät.
Einmal noch schlug Harald Brockdorff die Augen auf.
Sein letzter Blick traf Jasmine.
»Die Liebe«, sagte er leise, »die Liebe zu den Menschen. Ich habe nie daran glauben wollen!«
»Und das ist töricht!« Jasmines jetzt auch eiskaltes kleines Gesicht schmiegte sich an das des Mannes, über welches ein kleines Blutrinnsaal strömte.
»Die Liebe ist alles auf dieser Erde. Die Liebe zum Nächsten!«
»Ja?« fragte Harald Brockdorff sehr erstaunt. Seine sonst immer so harten blauen Augen schienen jäh ein wärmeres Leuchten zu bekommen. Aber dieses Leuchten kam schon aus einer anderen Welt, nicht mehr von der, in der ein bis zum Wahnsinn ehrgeiziger junger Mann für eine glanzvolle Karriere alles aufs Spiel gesetzt hatte.
Langsam fielen seine Augen zu.
Als Jasmine sich über des Mannes Brust beugte, vernahm sie keinen Herzschlag mehr.
»Tot!« flüsterte Jasmine.
Man kann ihm nicht mehr helfen.
*
»Also, nun setzt mal andere Gesichter auf! Sonst wird mir das Benzin noch sauer im Tank!«
Der Fahrer Waschkewitz nickte den beiden kleinen Gestalten aufmunternd, aber auch ein wenig tadelnd zu.
Er hatte sie heute am letzten Tag vor den Osterferien wie gewohnt von der Schule abgeholt. Na, und das mit der Schule, das hatte eben nicht ganz geklappt.
»Mir ist auch alles sauer!« knurrte Stoffel. Er warf den dunklen seidigen Lockenschopf zurück und zeigte ein sehr ernstes Gesicht. »Oder glaubst du, das macht Spaß, kleben zu bleiben?«
»Und dann noch alle beide!« Vronli fuhr sich jetzt mit der kleinen Hand über die Augen, die sehr feucht waren. Ein paar Tränen liefen über die Wangen.
»Überschwemmung! Wie immer bei den Mädchen!« Stoffel mußte seinem gequälten Jungenherzen Luft machen.
Aber das kam auch wirklich nicht häufig vor, daß gleich zwei Kinder aus einer einzigen Familie nicht versetzt wurden.
»Ihr könnt doch gar nichts dazu«, lenkte Waschkewitz ein. »Erstens ward ihr krank. Und dann konnte Frau Franzen keine passende Erzieherin für euch finden.«
»Meinst du, alle Kinder hätten bei uns in der Schule Erzieherinnen?« fragte Stoffel. »Aber dafür haben sie eins: Eltern! Eltern, die zu Hause sind. Und ich möchte lieber mal von Papa eine Ohrfeige bekommen, als daß er nie da ist.«
Stoffel sprach diesen Satz nicht sentimental aus. Aber den Fahrer Waschkewitz erschütterte es schwer.
Noch ehe er irgendeine Antwort finden konnte oder ein Wort des Bedauerns, flüsterte Vronli unter Tränen: »Warum kommt Jasmine nicht mehr zu uns? Wenn Jasmine bei uns wäre… Ach, das war schön, damals im Krankenhaus!«
Vronlis kleines, zartes Gesicht leuchtete plötzlich auf. Ja, diese Krankheitswochen in der Klinik bei Onkel Professor waren beinahe die schönsten in ihrem ganzen Leben.
»Krank möchte ich noch mal werden«, sagte sie beinahe träumerisch.
»Ne, krank nicht!« Stoffel wehrte ab. »Aber Papa soll Jasmine sagen, daß sie zu uns kommen soll. Das ist doch sehr einfach. Papa hat keine Frau. Jasmine hat keinen Mann. Weshalb heiraten sie sich nicht einfach?«
»Fräulein Jasmine studiert doch.« Dem Fahrer Waschkewitz war nicht ganz wohl bei dieser Ansprache.
Er wollte sich nicht zu voreiligen Äußerungen hinreißen lassen. Aber er stimmte innerlich Stoffels Vorschlag durchaus zu.
»Studieren!« Stoffel pfiff verächtlich durch die Zähne. »Es müssen ja nicht alle studieren. Man muß ja auch eine Mutter haben. Und Jasmine – na, die wäre schon prima, wenn sie immer bei uns bliebe.«
Vronli nickte nur.
»Du hörst doch immer alles, Waschkewitz!« Stoffel legte jetzt sein kleines Gesicht auf die Rückseite des Vordersitzes. »Na, hast du nie gehört, daß Papa und Jasmine… sich liebhaben. Das wäre doch denkbar, denn jeder Mensch muß Jasmine liebhaben.«
Der Fahrer nickte, während er starr geradeaus blickte. Nicht wegen einer drohenden Gefahr auf der Straße, sondern weil er einfach diesen Kinderaugen nicht begegnen mochte.
Was verstanden die Kinder schon davon, daß es auf dieser Erde nicht nach Zweckmäßigkeit und Vernunft ging.
»Vielleicht mag Fräulein Jasmine euren Papa nicht«, erklärte er, um nur irgend etwas zu sagen. Da schwieg Stoffel.
Bedeutsam schaute er die kleine Schwester an.
Natürlich – daran hatte er noch gar nicht gedacht.
Ein Mann, der immer auf Reisen war, der selten daheim war und dann meist auch nur, um prominente Gäste zu empfangen oder bei Kunstauktionen mitzuwirken – den konnte man wohl nicht so besonders gern haben.
»Du, Waschkewitz?« Der unermüdliche und selten um einen Ausweg verlegene Stoffel tippte dem Fahrer jetzt spürbar fest auf die Schulter. »Jasmine braucht ja gar nicht an Papa zu denken. Denn mit dem, da würde sie vielleicht nicht glücklich werden. Aber, Waschkewitz, mit Vronli und mir, uns hat sie ganz gewiß lieb. Du« – der Junge schob die geballte rechte Faust jetzt auf die Lehne des Vordersitzes –, »dafür würd ich alles verwetten. Sogar meinen Julius!«
Waschkewitz schaute weiterhin geradeaus.
Die Kinder durften nicht sehen, daß seine Augen tatsächlich ein wenig feucht geworden waren.
Der Fahrer Waschkewitz fuhr heute besonders langsam und wählte auch noch einen Umweg.
»Einmal aber kommen wir doch zu Hause an, Waschkewitz«, erklärte plötzlich der nüchterne Stoffel. »Es ist lieb von dir, daß du uns noch spazierenfährst. Aber die Zeugnisse gehen nicht fort davon. Und wenn Frau Franzen sieht, daß wir alle beide kleben geblieben sind, dann sagt sie es sicher auch Papa.«
»Muß sie wohl!« Waschkewitz nickte. »Aber euer Papa hat euch eigentlich doch noch niemals richtig ausgeschimpft, geschweige denn, daß auf einem strammgezogenen Hosenboden…«
»Ich wollte, Frau Franzen zöge mir lieber die Hosen stramm!« Stoffel hatte sich jetzt mit aufgestützten Armen auf die Lehne des Vordersitzes gelegt. »Die Franzen, weißt du, Waschkewitz, die hat so’n ganzes System von Strafen. Die sind viel schlimmer als Schläge.«
»Na, wollen erst mal abwarten, was kommt. Und ich bin den ganzen Tag heute in der Garage, muß Papas Reisewagen in Ordnung bringen und diesen hier waschen.«
Der Mann schaute den beiden Kindern nach, die langsam Schritt für Schritt die Freitreppe zu der großen Villa hinaufstiegen.
Jedes einen Ranzen auf dem Rücken.
Und in jedem Ranzen lauerte ein schrecklicher, nicht gutzumachender Urteilsspruch.
Ja, diese Jasmine, durchfuhr es den Mann.
Und… Kinder und Narren sprechen oft die Wahrheit.
Schön ist sie auch! verteidigte der Fahrer plötzlich vor sich selbst seine Wünsche, die er mit den Kindern teilte.
Ja, die sollte er mal nehmen, unser Chef.
Weshalb nur kommt er nicht darauf?
*
Frau Franzen erregte sich nie, zum mindesten nicht äußerlich.
Sie sprach auch sehr selten ein lautes Wort. Sie war und blieb stets Dame, die einem anspruchsvollen großen Haushalt vorzustehen hatte und mit der der Hausherr stets zufrieden war.
Sie sagte auch jetzt nicht viel, als sie die Zeugnisse der Kinder in den Händen hielt.
»Also, nicht versetzt! Ich weiß nicht, ob ihr manchmal nicht daran denkt, daß ihr einem uralten Namen Ehre zu machen habt. Kinder aus dem Fürstenhaus Bassarow haben nicht sitzenzubleiben. Und ihr seid auch keinesfalls dumm. Nur« – jetzt hob die Frau ein wenig die Stimme – »nur habt ihr immer andere Dinge im Kopf als Schule und Schularbeiten.
Ich habe auch gedacht, daß ihr so verständig geworden seid, daß ihr keine Erzieherin mehr braucht. Aber nun werde ich erneut eine entsprechende Dame suchen. Und, daß ihr es wißt, ihr habt jetzt feste Arbeitsstunden einzuhalten.«
Stoffel und Vronli schluckten. Natürlich, Strafe mußte sein.
Dann aber fuhr Frau Franzen fort: »Der Hauptgrund eurer Unbeständigkeit und Nachlässigkeit bei den Schularbeiten ist sicher dieses Tier, dieser Kater Julius. Und deshalb wird er verschwinden; er stört euch nur. Zudem machen Katzen Schmutz im Haus.«
»Aber doch nicht Julius?« Vronlis Augen waren weit aufgerissen.
Die hellen Locken fielen in ihr blasses Gesichtchen.
»Gleichviel, ob er Schmutz verursacht oder nicht. Fraglos ist er ein Herumtreiber, was er schon öfter bewiesen hat. Und er lenkt euch ab. Es bleibt dabei: Julius wird fortgegeben.«
»Nein!« Nun brauste Stoffel auf. »Nein, er bleibt!« Seine stämmige kleine Gestalt baute sich breitbeinig vor Frau Franzen auf.
»Ohne Julius können wir nicht leben. Wenn Sie Julius weggeben, gehe ich auch. Und« – Stoffe glaubte sich berechtigt, auch für die kleine Schwester zu sprechen – »Vronli kommt mit.«
»Ja!« Vronli schob die zierliche Gestalt neben die kräftige des Bruders.
Frau Franzen erwiderte nicht viel.
Sie sagte nur: »Ihr wißt genau, daß das geschieht, was ich bestimme. Und ihr werdet euch damit abfinden. Zu dummen Redensarten seid ihr doch wohl schon ein bißchen alt. Das tun Kindergartenkinder, wenn sie trotzig sind.«
Das war alles.
Frau Franzen wandte sich zur Tür im Kinderzimmer, öffnete sie, schloß sie angemessen leise.
Die Kinder blieben allein zurück.
Durch den leichten Zug von der Tür her waren die Zeugnisse mit dem vernichtenden Vermerk von der Tischplatte zu Boden geflattert.
Und ehe die Kinder es verhindern konnten, hatte sich Julius, der graufellige Kater, darauf gestürzt. Einen Augenblick betrachtete er mit seinen schrägen grünen Augen die bösen Schreiben.
Dann schlug er mit den Pfoten nach ihnen und… zerfetzte eines nach dem anderen. Dann blickte er auf, als wollte er sagen: Na, gibt es einen Weg, dies Ungemach aus der Welt zu räumen? Man muß es nur richtig anfassen.
»Julius!« Stoffel kniete neben dem geliebten Tier nieder. »Du bringst uns ja noch weiter ins Unglück. Wenn das Frau Franzen sieht… na!«
Julius aber schnurrte zufrieden, putzte sich die Barthaare und blinzelte mit den grünen Augen, als wolle er sagen: Was man nicht sieht, meine Lieben, ist einfach nicht da. Ich halte auch nur etwas von Hackfleisch, das ich in einer Schüssel vor mir sehe. Und ist das Hackfleisch verschlungen und die Schüssel leer, so spricht kein Mensch und auch kein Kater mehr davon.
Also, lernt mal von mir!
Stoffel und Vroni verstanden natürlich nicht, was Julius vor sich hinschnurrte. Aber sie wußten eins: Er liebte sie genauso wie sie ihn.
Und deshalb mußte er bleiben. Sie gehörten alle drei unlöslich zusammen.
Was aber sollte man tun?
Wohin nur sollte man?
Den Kater zwischen sich, hockten die beiden Kinder am Boden, die Augen ein wenig starr auf die unseligen Schulzeugnisse gerichtet, die nun fast zerfetzt waren.
Was würde mit der morgigen Unterschrift werden?
Ach, es schien keinen Ausweg zu geben.
Da plötzlich bückte sich Julius hoch auf, kratzte einmal ganz leicht über Stoffels, dann über Vronlis Gesicht.
»Jetzt fällt der Groschen!« Stoffel sprang jäh auf, als er sich die winzige Blutspur abwischte, die sich an seiner Backe durch Julius’ Liebkosung gebildet hatte.
»Wir werden krank!«
»Wieso?« Fragend schaute Vronli auf.
»Ganz klar: Wir gehen wieder in Onkel Professors Klinik. Da kann uns keiner etwas!«
»Für immer?« Vronli war zaghaft und ungläubig.
»Erst mal vorübergehend!« verteidigte Stoffel sein Rückzugsgefecht. »Weißt du, dort ist ja Jasmine. Die hilft uns bestimmt. Und klug ist sie auch. Sie wird doch jetzt bald ein Fräulein Doktor!«
*
In der großen Villa an der Elbchaussee war es mittags still.
Das Personal arbeitete in den unteren Räumen oder legte auch eine Ruhepause ein.
Frau Franzen zog sich immer bis zur Teestunde zurück.
Vorsichtig gingen die Kinder die breiten teppichbelegten Stufen zum Treppenhaus hinunter. Noch leiser aber schlich der Kater Julius, der bei jedem Vorsetzen seiner Pfoten beinahe würdevoll mit dem Kopf nickte.
Mußte man erst den Stoffel ein bißchen kratzen, bevor er darauf verfiel, daß man manchmal vielleicht sogar mit Kranksein weiterkam, obgleich Kranksein sonst alles andere als beliebt bei den Kindern war?
Aber die Zeit in der Ringling-Klinik war wirklich ganz herrlich gewesen.
Unten in der großen Empfangshalle nahm Stoffel das Taschentuch und suchte nach der Nummer.
»Deine Finger kleben ja fest!« behauptete Vronli, die andächtig, wenn auch nicht ganz unkritisch, neben dem Bruder stand.
»Na, such du doch mal in solch dicken Wälzer eine Nummer. Und jeden Augenblick kann jemand kommen!«
Stoffel verteidigte seine immer heißer und klebriger werdenden Finger.
Man konnte gewiß ein Held sein, aber auch Helden schwitzen gewiß mal vor Angst. Man durfte die Angst nur nicht zeigen. Sonst war man eben kein Held.
Stoffel nahm den Hörer ab.
»Hallo!«
Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine freundliche Stimme.
»Den Herrn Professor? Ja, wer…«
»Christopher von Bassarow«, meldete sich Stoffel jetzt mit ganz energischer Stimme.
»Einen Augenblick, bitte!«
Und dann meldete sich die etwas überraschte Stimme Professor Ringlings.
Er hatte gerade sein Arbeitszimmer verlassen wollen, als der Anruf kam
Christopher? Christopher Bassarow? War da etwas geschehen?
»Was gibt’s?« Der gütige alte Herr hatte selbst durch das Telefon eine beruhigende Stimme, die Stimme, von der seine Patienten behaupteten, man würde schon bei ihrem Klang gesund.
»Wir sind krank!« ertönte es jetzt aus der Villa Bassarow, aber gar nicht kläglich, sondern recht kraftvoll, wenn auch mit einer verhaltenen Angst.
»Krank seid ihr? Was fehlt euch denn?«
Aus dem Apparat murmelte eine Kinderstimme, als Jasmine jetzt den Raum betrat.
Sie wollte noch das schriftlich niedergelegte Ergebnis eines Laborversuches abgeben. Eigentlich hatte sie den Professor gar nicht mehr erwartet.
»Bleiben Sie mal hier!« Der Mann deckte für einen Augenblick den Apparat mit der Hand ab. »Da sind die kleinen Bassarows.«
Christopher und Vronli! Jasmine erschrak. Aber seit dem entsetzlichen Unglück mit Harald Brockdorff hatte sie sie nicht mehr besucht, ihnen nur gelegentlich einmal eine Postkarte geschrieben. Sie habe so sehr viel zu tun, schrieb sie, das war alles gewesen.
Wie durfte sie nur das Haus von Michail von Bassarow betreten, der sich gewiß in ganz absehbarer Zeit mit Charlotte Ringling verloben würde?
Charlotte Ringling, die Tochter des von Jasmine so sehr verehrten Professors.
Lautlos mußte sie aus diesem Kreis verschwinden, um nicht irgendwelches Unheil heraufzubeschwören.
Professor Ringling betrachtete des Mädchens Mienenspiel.
Sie konnte so schlecht ihr Gesichtchen beherrschen. Man las den Widerstreit jetzt im kommenden und gehenden Blut, das Jasmine einmal totenblaß, einmal hochrot werden ließ.
Ein süßes kleines Geschöpf!
Es ist eigentlich gar nicht zu verstehen, daß Bassarow nicht endlich zugreift und dieses Mädchen, das auch die beste Mutter für seine Kinder wäre, an sich bindet, dachte Professor Ringling.
Na ja – wir Männer!
»Also«, sprach er jetzt wieder in den Hörer.
Jasmine stand dicht vor seinem Schreibtisch, streichelte nervös über die soeben hingelegten, eng mit Formeln bedeckten Blätter. »Also, ihr seid krank? Da werde ich wohl mal am besten selbst bei euch hereinschauen. Habe dem Papa ohnehin versprochen, ihn heute nachmittag zu besuchen. Dann bis nachher.«
Professor Ringling schien ein erleichtertes Aufatmen durch den Apparat gehört zu haben. Aber er hörte auch, daß Jasmine ein wenig schmerzlich aufseufzte.
»Na, und Sie, Kind, gehen natürlich mit!«
Der alte, gütige Herr hatte sich nun erhoben.
»Oder paßt es Ihnen heute nicht? Haben Sie etwas anderes vor?«
Professor Ringling schaute in Jasmines bleiches Gesicht.
»Ich möchte nicht mit, Herr Professor«, erklärte sie dann leise, aber sehr fest.
Professor Ringling schüttelte den Kopf.
»Sie lieben die Kinder doch so sehr, Jasmine!«
»Ja, aber…« Jasmine stotterte. »Ich… ich will nicht in die Villa Bassarow.«
Professor Ringling stand jetzt ganz dicht vor dem Mädchen.
Seine schlanken Hände umspannten ihre zarten Schultern, die plötzlich in einem inneren Weinen zu zucken begannen.
»Da ist doch etwas nicht in Ordnung«, sagte er sehr langsam und zwang Jasmine, ihn anzuschauen, ohne auch nur einen Herzschlag lang ausweichen zu können.
»Fürst Bassarow und Ihre Tochter…«
Wie hypnotisiert flüsterte es das Mädchen.
»Charlotte und Michail Bassarow?« Professor Ringlein lachte laut auf. »Das möchte sie wohl, meine gute Charlotte. Aber die Trauben hängen ihr ganz gewiß zu hoch.«
Der Mann fühlte, wie das Mädchen plötzlich in sich zusammensank.
Hätte er sie nicht gestützt, sie wäre wohl zu Boden gesunken.
»Na, mal Platz genommen, kleine Patientin. Ich glaube, bei Ihnen hat da irgend etwas ausgesetzt, wie?«
Nun schluchzte Jasmine wirklich laut auf.
Verliebt, rettungslos verliebt! stellte der erfahrene Menschenkenner fest. Und nicht nur das, sie legte sich selbst tausend Hindernisse in den Weg.
Welche törichten Gedanken geisterten durch diesen kleinen, sonst so klugen Kopf?
Professor Ringling hatte Jasmine sehr genau nach dem tragischen Unfall Harald Brockdorffs beobachtet.
Und wenn er damals glaubte, es habe sich etwas zwischen diesen beiden Menschen angesponnen, so hielt er es in der Folgezeit nicht mehr für möglich. Er kannte die genauen inneren Zusammenhänge nicht, fragte aber auch nicht.
Aber eins wußte er in dieser Stunde: Jasmine liebte nicht nur den Stoffel und das Vronli, sondern auch deren Vater.
Ich werde ihm mal die Augen öffnen, diesem Mann, der immer nur Bilder sieht statt Menschen. Den Marsch werde ich ihm blasen, und das nicht zu knapp!
Der alte Herr redete sich förmlich innerlich in Eifer.
Nach außenhin aber sagte er ganz ruhig: »Jetzt gehen Sie, waschen sich das Gesicht, legen alles auf, was Frauen für ihre Schönheit nötig haben, nur nicht im Übermaß wie meine gute Charlotte. Und dann fahren wir gemeinsam zu den beiden allem Anschein nach völlig durchgedrehten Bassarowschen Hascherln hinaus. Das ist der Befehl eines Vorgesetzten, Fräulein stud. med. oder Fräulein Doktor in spe. oder was Sie auf diesem Gebiet sonst noch hören wollen.«
Während der ein wenig barschen Worte streichelte der Mann ganz zart über das tizianfarbene, seidige Haar des Mädchens.
*
»Er kommt!« meldete Stoffel von seinem Beobachtungsplatz am Kinderzimmerfenster. Er sah die ihm bekannte Limousine die breite Einfahrtsstraße auf das Haus zufahren.
»Dann sind wir gerettet«, seufzte Vronli erleichtert auf. »Aber, wie ist das mit unserem Kranksein?«
»Es gibt innere Krankheiten, die man gar nicht zu sehen braucht«, belehrte Stoffel. »Manchmal sieht einer ganz gesund aus, fällt plötzlich um und ist tot.«
»Ich möchte aber nicht umfallen und tot sein!«
Vronlis Augen wurden übergroß und sehr angstvoll.
»Brauchst ja nicht gleich tot zu sein«, beschwichtigte Stoffel. »Hauptsache, wir kommen in die Klinik!«
So sehr die Kinder aber auch lauschten – sie hörten keine Schritte auf der Treppe. Nur fern schlug eine Tür.
»Papas Arbeitszimmer!«
Wieder weinte Vronli.
Stoffel aber schüttelte den Kopf, daß die dunklen Locken nur so flogen.
»Der verrät uns nicht, der Onkel Professor. Und Jasmine ist auch bei ihm. Kannst du dir etwas Schlechtes von ihr vorstellen?«
»Sie hat uns nie mehr besucht.« Vronlis Stimmchen klang ein wenig vorwurfsvoll.
»Na, Erwachsene müssen doch arbeiten. Die können nicht den ganzen Tag mit Puppen spielen«, sagte Stoffel angriffslustig.
Vronli saß wortlos vor dem kleinen Schreibpult, an dem sie immer die Schularbeiten machte.
Und vor ihr saß Julius. Er war ganz Würde und schien maunzend zu sagen: Nun geduldet euch doch nur. Es geht nun einmal nicht alles so schnell, wie man sich das wünscht!
Die Tür des Kinderzimmers stand einen Spalt offen.
Stimmen klangen aus dem unteren Stockwerk hinauf. Und die schienen dem graufelligen Kater Julius bekannt zu sein. Dennoch, mit einem plötzlichen Satz räumte er plötzlich das mit Tinte verschmierte Schulpult, schlüpfte zur Tür hinaus und verschwand.
»Julius, Julius!« Stoffel sprengte seine Stimme gewaltig an.
Das hatte noch gefehlt, daß nun auch Julius Scherereien machte, da er schließlich doch schon bei Frau Franzen abgeschrieben war.
Wenn er sich jetzt noch etwas zuschulden kommen ließ, dann ist’s wirklich aus mit ihm, dachte Stoffel und jagte dann hinter dem Entflohenen her.
Vronli folgte ihm. Das Harlekinchen zog sie hinter sich her.
*
Da erklang vor den außer Atem geratenen Kindern plötzlich Jasmines geliebte Stimme: »Aber, aber, das Harlekinchen wird ja ganz schmutzig.«
»Jasmine!« Stoffel umarmte das Mädchen beinahe so stürmisch, daß er sie zu Boden warf. »Bist du mit dem Onkel Professor gekommen?«
»Ich meinte, ihr seid krank?«
Jasmine schaute in die Gesichter der beiden Kinder, die heiß und rot von Laufen waren.
»Gott sei Dank, daß ihr gesund seid, ihr kleinen Schätze!« Jasmine legte die Arme um die Kinder.
»Pst!« Stoffel legte den Finger an die Lippen. »Das hat doch alles seine Bedeutung!«
Und dann flüsterte er Jasmine ins rechte und Vronli ins linke Ohr, was sich zugetragen hatte: Beide sitzengeblieben. Und die Zeugnisse waren zerfetzt. Und Julius sollte das Haus verlassen! Na, wenn das nicht genüge, um krank zu sein!
»Krank zu spielen«, lächelte Jasmine und streichelte über den dunklen und den goldhellen Lockenkopf. »Eigentlich seid ihr ein bißchen feige!«
Da schüttelte Stoffel ganz energisch den Kopf. »Auch für Helden kann’s mal zuviel werden. Und wir wissen doch, daß Onkel Professor… na, der ist eben prima. Und wir haben doch gewußt, daß auch du bei ihm bist.«
»Jasmine?« Vronlis Silberstimmchen war ganz vorwurfsvoll. »Jasmine, weshalb hast du uns nie mehr besucht?«
»Ach!« Jasmine zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war ich auch feige. Man kann nicht immer ein Held sein«, wiederholte sie Stoffels Worte.
Der Junge hielt plötzlich erneut den Finger auf den Mund.
»Still. Da hör’?ich Julius. Lieber Gott, mach ihn unsichtbar!« Stoffel faltete die kleinen Bubenfäuste. »Julius ist in Papas Arbeitszimmer gelaufen.«
»Na, dann wollen wir mal sehen.« Jasmine steckte das Taschentüchlein ein, das sie sich noch aus der Manteltasche geholt hatte.
»Aber leise!« Vronli wisperte. »Leise. Wer weiß, was Julius nun schon wieder tut. Vielleicht bittet er Papa, daß er bleiben kann.«
»Hast du schon mal Papas gesehen, die die Katzensprache verstehen?« meinte Stoffel altklug.
Nun verhielt Jasmine den Schritt.
»Aus dem Arbeitsraum, dessen Türklinke der geschickte Julius in alter Gewohnheit heruntergedrückt haben mußte, um hineinzuschlüpfen, hörte man jetzt die Stimmen von Professor Ringling und Michail von Bassarow.
»Nein«, erklärte der Fürst. »Für den Preis ist mir das Gemälde der kleinen Madonna nicht feil.«
»Bassarow, alter Kunstfreund!« Das war des Professors Stimme. »Das Bild ist meiner Ansicht nach mehr als überbezahlt. Mein Bekannter ist nun einmal ein Liebhaber oberrheinischer Madonnen.«
»Ich auch«, lächelte der Fürst. »Und wer sagt Ihnen überhaupt, daß mir diese Madonna feil ist?«
»Nun, als Mittelsmann meines Interessenten darf ich Ihnen auch noch einen höheren Preis bieten.« Das war wieder Professor Ringling. »Bassarow – er bietet Ihnen wahrhaftig ein Vermögen!«
Die Tür war jetzt so weit geöffnet, daß Jasmine sah, wie Michail von Bassarow mit den Schultern zuckte.
»Ja, für Bilder, dafür gibt Papa alles«, stellte Stoffel fest. »Die sind ihm mehr wert als wir!« setzte er trotzig hinzu.
»Das darfst du nicht sagen, Stoffel!« verwies ihn Jasmine.
Doch noch ehe sie Weiteres sagen oder sich melden konnte, um nicht etwa eine unfreiwillige Lauscherin weiterer Gespräch zu werden, geschah etwas, was selbst dem alten Professor Ringling den Atem stocken ließ.
Die Kinder aber waren schneeweiß, auch Jasmine.
Nur dem Fürsten Bassarow stieg das Blut lodernd bis in die Stirn.
Ja, da jagte er unter einem der Sessel hervor, unter dem er sich bisher verborgen hatte, der Kater Julius!
Er sprang mitten auf den großen Arbeitstisch des Fürsten. Einen Augenblick verharrte er ganz still vor dem Madonnenbild.
Dann verzauberte ihn der Goldglanz des Hintergrundes derart, daß er die Pfoten danach ausstreckte. Und nicht nur die Pfoten, auch die Krallen. Die Madonna blutete nicht, aber scharfe Risse zogen sich über ihr lächelndes, bezauberndes Gesicht.
»Tot schlage ich dich, Vieh, abscheuliches!«
Michail von Bassarow griff zum nächstbesten Gegenstand. Ein schwerer, vergoldeter Leuchter sauste hernieder.
Julius aber hatte das Unheil kommen sehen. Mit einem blitzschnellen Satz verließ er die Stätte seiner Untat und flitzte zur Tür hinaus.
Papa! wollte Stoffel noch schreien.
Aber dann gab er doch lieber Fersengeld. Er hielt in diesem Augenblick nichts von einem standhaften Heldentum.
Fort, nur fort!
Jasmine riß die Tür zur Freitreppe auf. Genau wie die Kinder hatte sie kein anderes Bestreben, als zu entfliehen.
Fort – in Sekundenschnelle waren sie verschwunden: Jasmine, Stoffel, Vronli und natürlich auch der Kater Julius.
In seinem Arbeitszimmer sank Michail von Bassarow wie gebrochen vor dem zerstörten Bild nieder.
»Es ist schrecklich«, sagte der alte Professor Ringling beinahe hilflos.
Was sollte er schon sagen im Anblick eines zerstörten Gemäldes, das dem Fürsten Bassarow nicht für ein Vermögen feil gewesen war.
Dessen Augen waren völlig starr.
Immer wieder streichelten seine Hände über die Risse und Schramme, die Julius hinterlassen hatte.
Seltsamerweise aber sprach er nicht mehr vom Wert des Gemäldes, er flüsterte nur immer wieder einen Namen: »Schneekönigin… Jasmine… Jasmine!«
Professor Ringlings Blick wanderte zwischen dem erstarrten Mann und dem Gemälde hin und her.
Und plötzlich ahnte er den Zusammenhang.
Diese kleine oberrheinische Madonna ähnelte auf eine geradezu überraschende Weise der kleinen Jasmine.
Michail Fürst von Bassarow liebte nicht das Bild. Zum ersten Male liebte er über jedes Maß hinaus einen Menschen, dessen Abbild er in dem zerstörten Gemälde gesehen hatte.
»Sie sollten sich an die menschliche und irdische Wirklichkeit halten, Bassarow«, erklärte da der alte Mann mit einem beinahe nachsichtigen Lächeln.
»An die Wirklichkeit?«
»Ja. Nicht an die Madonna auf Goldgrund, sondern an das Mädchen mit den dunklen Goldaugen, an das Mädchen, das Ihre Kinder lieben und das auch Stoffel und Vronli liebt.«
Jetzt räusperte sich der alte Herr. Seine Stimme klang ganz trocken: »Und das wahrscheinlich auch Sie selbst von Herzen liebt.«
»Mich?« Michail schaute auf wie sein Stoffel, wenn der Lehrer lateinische Vokabeln abhörte.
»Mich liebt Jasmine doch nicht! Sie liebt diesen… den Dr. Brockdorff!«
»Vielleicht früher einmal, wie junge Mädchen sich eben töricht verlieben können«, meinte Professor Ringling. »Dann aber hat Ihre Schneekönigin gedacht… na, sie hat auf den Klatsch gehört, der ja immer Sie mit meiner Tochter Charlotte zusammenbringen will, wovon in Wahrheit niemals die Rede sein kann. Von Charlottes Seite schon, aber wir beiden Männer, wir haben doch immer gewußt, daß auch das nur eine törichte Mädchenträumerei war.
Denn sie paßt nicht zu Ihnen. Und auch nicht zu Vronli und Stoffel und dem verflixten Kater Julius! Darüber waren wir beide uns doch wohl immer klar.«
»Ja.« Der andere nickte gedankenverloren.
»Aber wie… wo finde ich sie denn nun?«
»Na, die sind zunächst mal vor lauter Angst ausgerückt«, erklärte Professor Ringling bedächtig.
»Da soll es ja auch noch eine Geschichte mit nicht eben erfreulichen Schulzeugnissen geben. Das ganze Nest ist sitzengeblieben!«
»Sitzengeblieben? Meine Kinder? Aber die sind doch nicht dumm.« Michail von Bassarow hatte sich jetzt erhoben.
»Nein, dumm sind sie wohl nicht. Aber es fehlt ihnen eine liebevolle Hand, die mal ein bißchen nachhilft.«
»Mir fehlt sie eigentlich auch«, räumte da der berühmte Kunstexperte Michail Fürst von Bassarow ein.
Trotz seiner grauen Schläfen schien er jetzt unwahrscheinlich jung.
Seine Unruhe aber wuchs von Minute zu Minute.
»Ich werde sie finden, ganz gewiß. Und ich weiß auch schon, wo!«
»Dann alles Gute!« Professor Ringling verneigte sich leicht gegen den Freund. »Und ich, na, ich werde wohl kein Bett für Stoffel und Vronli freizuhalten brauchen. Ihre Krankheit heilt wohl am besten mein Fräulein Doktor in spe.«
*
Michail von Bassarow winkte Waschkewitz ab, als er am Steuer des vorgefahrenen Wagens sitzen blieb.
»Ich fahre selber«, erklärte er.
Und dann fuhr Michail von Bassarow die Straßen entlang, die er schon einmal gefahren war, damals, als er mit Jasmine von der Klinik Professor Ringlings zurückkam.
Damals hatte es geschneit in den Straßen, die zu Jasmines Wohnung führten.
Heute lachte die Sonne. Überall blühte es. Selbst in dem bescheidenen Streifen Vorgarten des großen Mietshauses, in dem Jasmine im Dachgeschoß wohnte, wiegten sich leuchtende goldgelbe Osterglocken und verströmten ihren starken Duft.
Auf all dies aber achtete der Mann nicht.
Er sprang aus dem Wagen, orientierte sich an den Namensschildern und jagte dann die Treppen hinauf, immer zwei Stufen auf einmal, genau wie sein Sohn Stoffel es zum Ärger von Frau Franzen zu tun pflegte. Und dann klingelte er ganz oben im fünften Stock.
Er keuchte ein wenig.
Aber er fühlte sich so jung wie noch niemals zuvor in seinem Leben.
Ich liebe! Ich liebe! Und ich darf hoffen, daß ich wiedergeliebt werde! Sein Blut sang und rauschte.
Ganz vorsichtig wurde die Tür geöffnet.
»Oh!« sagte Jasmine nur. Das klang nicht wie ein freudiger Empfang, sondern wie ein tiefes Erschrecken.
Sie hatte sich tatsächlich nach einer Taxifahrt mit den Kindern und dem Unheilstifter Julius in ihre kleine, bescheidene Wohnung geflüchtet, die eigentlich nur aus einem einzigen Raum bestand. Hinter einem Vorhang gab es eine winzige Küche und auch eine Dusche.
Stoffel und Vronli hatten sich hinter einer großen Standvase versteckt, Kater Julius zwischen sich.
Was würde jetzt geschehen?
Das Maß war wohl wahrhaftig voll. Davon war sogar der sonst für sich immer sehr optimistische Stoffel überzeugt.
Papa aber schalt nicht, wenn er auch noch so stürmisch ins Zimmer eingedrungen war.
Er schien auch weder die Kinder noch den grauen Kater zu sehen. Er hatte wohl überhaupt nur Augen für Jasmine.
Und wie er sie in die Arme zog!
Ob er böse mit ihr war?
Aber einen, dem man böse war, den küßte man doch nicht einfach so… so immerzu.
Einen anderen Ausdruck fand Stoffel nicht für seinen Vater.
»Du!« Michail von Bassarow preßte Jasmine so fest an sich, daß Stoffel nun doch aus seinem Versteck mahnend sagte: »Du zerbrichst sie ja, unsere Jasmine, Papa!«
»M e i n e Jasmine«, erklärte da Michail Fürst von Bassarow sehr laut und deutlich. Er schaute in die dunklen Augen des Mädchens, in denen plötzlich helle Goldfunken zu tanzen schienen.
»Oder… widersprichst du, Schneekönigin?«
Jasmine schwankte ein wenig.
»Aber… aber ich bin doch kein Bild. Und von Kunst verstehe ich überhaupt nicht viel!«
Da lachte der Mann und küßte den süßen jungen Mund noch einmal, aber nicht mit der Leidenschaft männlicher Forderung, sondern unsagbar innig und beinahe zärtlich behutsam.
»Ich will ja auch kein Bild mehr, kleine Jasmine, nur dich habe ich lieb, sehr lange schon.«
»Na, und wir schon viel länger!«
Jetzt wagten sich Stoffel und Vronli auch hinter der riesigen Vase mit den goldschimmernden Blüten hervor. »Wir haben Jasmine zuerst liebgehabt, Papa. Das kannst du glauben. Und überhaupt: Wer hat Jasmine nicht lieb?«
In diesem Augenblick drängte sich etwas Maunzendes, Warmes, Seidenfelliges an Jasmines rechten Fuß.
»Julius!«
»Der hat dich auch lieb«, behauptete Stoffel, aber mit etwas kleinlauterer Stimme.
Denn was wurde nun mit Julius?
Schließlich hatte er ein kostbares Gemälde zerstört, und Frau Franzen behauptete, Julius trage die Schuld an ihrem Sitzenbleiben in der Schule.
All das legte man Julius nun zur Last.
»Julius!« Wie aus einem Mund sprachen es plötzlich Jasmine und die beiden Kinder.
»Julius«, wiederholte der Mann, der des Katers Sündenregister kannte.
Aber seltsam: Papa sprach gar nicht böse.
Er beugte sich sogar zu dem wunderschönen Tier hinab und streichelte es.
»Darf… Julius bei uns bleiben?« fragte Vronli.
»Und ob! Er bekommt doppelte Portionen Hack von mir höchste eigenhändig serviert!«
Die Kinder schauten sich an.
Sie verstanden Papa nun wirklich nicht mehr. Kenne sich einer bei Erwachsenen aus!
»Ja, aber…«
Auch Jasmine wagte noch einmal ein Aber einzuwenden.
Da zog der Mann sie ganz fest in seine Arme, so, als wolle er sie niemals wieder loslassen.
»Jasmine, kleine Jasmine, weißt du überhaupt, weshalb ich das Bild der zerkratzten Madonna so geliebt habe, es nicht verkaufen wollte? Es ist ganz einfach dein Ebenbild! Doch nun brauche ich kein Abbild mehr von dir. Jetzt habe ich dich, in Fleisch und Blut.«
»Du, Papa?« In diesem Augenblick zupfte Vronli den Vater am Ärmel. »Meinst du das wirklich ernst mit Julius? Und Frau Franzen…«
»In Zukunft werdet ihr ja eine Mama haben, die euch einmal auf die Finger klopft, wenn ihr faulenzt.«
»Eine Mama?« Vronli verstand die Zusammenhänge noch immer nicht ganz.
»Na, meine Frau wird doch eure Mama«, erläuterte Michail von Bassarow.
»Endlich!« Stoffel stieß einen Stoßseufzer aus, um dann aufzutrumpfen: »Na, die Franzen, die Frau Franzen«, verbesserte er sich schnell, »die wird Augen machen.«
»Sie hat immer viel Gutes für euch getan«, nahm Jasmine die Angegriffene in Schutz.
»Aber eine Mama, eine Mama ist besser, viel besser!«
»Das meine ich auch!« Michail von Bassarow schloß sie jetzt alle drei in seine Arme: die Schneekönigin aus dem Kinderweihnachtsmärchen, den Stoffel und das Vronli.
Vor ihnen auf dem Tisch aber saß plötzlich mit einem Satz Julius, der seidenfellige graue Kater. Seine grünen Augen mit den schmalen schrägen Pupillen leuchteten.
Na, schien er zu sagen – na, wäret ihr alle so glücklich, wenn ich nicht existiere? Eigentlich bin ich doch die Hauptperson heute!