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Kapitel 2

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Eisiger Sturm aus Nordost trieb den feinen Schnee waagerecht vor sich her. Es war stockdunkel und die Schneeflocken tauchten als eine Unmenge schwarzer Punkte vor dem Scheinwerferlicht auf und prallten gegen die Windschutzscheibe. Lüftung und Scheibenwischer liefen auf Hochtouren, dennoch war die Sicht schlecht. Im dichten Feierabendverkehr fuhr Sophie auf der Bundesstraße stadtauswärts.

Bei Kollegen und Patienten gleichermaßen beliebt, hatte sie doch in den letzten Monaten gemerkt, dass ihre freundlichen und tröstenden Worte nicht mehr so recht aus dem Herzen kamen. Sie fühlte sich müde und ausgebrannt als Folge der strapaziösen letzten Jahre.

Sie hatte ihre Familie zuletzt im April gesehen. Selbst zum 65. Geburtstag ihres Vaters im September hatten sich dienstliche Gründe ergeben, die im letzten Moment ihren Besuch verhindert hatten. Sie hatte ihren Vater dann nur anrufen können, um ihm zu gratulieren. Bei der Gelegenheit hatte er sie mal wieder gefragt, ob sie seine Arztpraxis übernehmen wolle. Bisher hatte sie dies immer abgelehnt, aber diesmal war er schon froh gewesen, dass sie sich Bedenkzeit erbeten hatte. Der Gedanke daran hatte sie nicht mehr losgelassen.

Die Autos vor ihr gerieten vor einer Ampel ins Stocken. Vorsichtig bremste Sophie ihren brandneuen Opel Vectra. Das Autofahren stresste sie. Während ihrer Zeit in Hamburg in den letzten achtzehn Jahren hatte sie kein Auto gebraucht. Nur noch ein paar Kilometer, dann würde sie auf die Landstraße abbiegen können.

Ihre Gedanken schweiften zurück zu einem Abend Ende Oktober. Oma Birnbaum lag im Sterben. Sophie hatte den ältesten Sohn informiert. Es war ruhig gewesen auf der Station und so war sie zu der alten Frau gegangen, um ihr Gesellschaft zu leisten, bis ihre Verwandten kommen würden. Im abgedunkelten Raum verbreitete eine Wandlampe ihren warmen Schein und enthüllte Oma Birnbaums Magerkeit, die sich unter der dünnen Bettdecke abzeichnete. Sophie setzte sich zu ihr und hielt ihre knochige, gichtknotige Hand.

Sophie grübelte darüber nach, dass man ganz schön allein sein kann, auch wenn man wie Oma Birnbaum fünf Kinder und dreizehn Enkelkinder hat. Als hätte Oma Birnbaum ihre Gedanken erraten, suchten ihre trüben, blaugrauen Augen Sophies Blick und sie sagte langsam und mühsam atmend:

„Meine Söhne sind gute Männer. Nehmen Sie es Ihnen nicht übel, dass sie mich so selten besucht haben. Sie haben es nicht leicht, sie sorgen für ihre Familien und mühen sich ab. Sie werden bald kommen.“

Verlegen senkte Sophie den Kopf, sah wieder auf, als die flüsternde Stimme fortfuhr:

„Frau Doktor, Sie dürfen nicht mehr trauern. Das ändert nichts und der Herrgott im Himmel hat das nicht gern. Beten Sie und bitten Sie ihn um Hilfe. Haben Sie ein bisschen Vertrauen zu ihm. Alles wird sein, wie es sein muss. Sie sollten sich ihres Lebens freuen. Das Leben ist zu kostbar.“ Güte und Lebensweisheit klangen aus diesen Worten und Sophie sah auf. „Woher …“

„Ich bin alt genug und habe eine Menge gesehen im Leben, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Ich weiß nicht, was Sie quält. Aber es wird dem Herrgott nicht gefallen, dass Sie so mit ihm hadern.“

Die Worte schwebten im Raum, drangen in Sophies Gehirn und setzten sich darin fest. Es war still im halbdunklen Krankenzimmer, nur der Tropf gluckerte leise.

Kurz darauf waren alle fünf Söhne von Oma Birnbaum gekommen, um Nachtwache bei ihrer sterbenden Mutter zu halten. Sophie hatte der alten Frau die Hände gestreichelt, war aufgestanden und ins Stationszimmer gegangen, nachdem sie den Söhnen gesagt hatte, dass sie die ganze Nacht da sein würde, und sie sollten keine Scheu haben, sie zu rufen, wenn sie Hilfe brauchten.

Es war schon spät gewesen, als Sophie den Hörer abgenommen und ihren Vater angerufen hatte. Die Entscheidung war gefallen, sie würde wieder nach Hause gehen. Der Weg zurück war unendlich lang gewesen, lang und schmerzvoll. Das schlimmste Ereignis in ihrem Leben vor fast neunzehn Jahren hatte sie beinahe zerstört. Sie hatte es nur ihrem Vater zu verdanken, dass sie sich von diesem Schicksalsschlag halbwegs erholt hatte. Sie hatte das vor der Geburt ihres Sohnes abgebrochene Medizinstudium wieder aufgenommen und sich regelrecht in die Arbeit gestürzt. In der Studienzeit und auch später hatte sie nur selten Zeit für kurze Besuche zu Hause gehabt. Aber nun spürte Sophie Freude, wie schon sehr lange nicht mehr.

Kurz vor Buxtehude wurde der Verkehr flüssiger. Sophie verließ die Bundesstraße und gelangte nach kurzer Fahrt durch die Randlage von Buxtehude auf die Landstraße nach Nindorf, die kaum befahren war. Es schneite ununterbrochen und Sophie musste sehen, dass sie in der Fahrspur blieb. Es könnte nicht schaden, wenn die Straße mal wieder geräumt werden würde, dachte Sophie.

Weit hinten näherten sich Scheinwerfer und kamen beängstigend rasch näher. Nun muss der auch noch drängeln, dachte Sophie. Sie wurde nervös und klappte hektisch den Rückspiegel um, weil sie geblendet wurde. Unweigerlich gab sie mehr Gas. Das hätte sie lieber nicht tun sollen, denn in der langen und sehr engen Kurve geriet sie gefährlich ins schlingern, bekam das Fahrzeug aber wieder in ihre Gewalt.

Das ist ja noch mal gut gegangen, dachte sie. Der Schreck war ihr in die Glieder gefahren, ihr Herz pochte und ihre Beine zitterten. Als sie wieder in den Rückspiegel sah, lag hinter ihr nur schwarze Dunkelheit. Keine Scheinwerfer mehr. Hier war doch keine Abfahrt, kein Haus oder Weg, in den der Wagen hätte einbiegen können, überlegte sie. Sophie hielt an, schaltete die Warnblinkanlage ein, packte automatisch ihre Arzttasche und stieg aus. Sie ließ ihr Auto mitten in der Fahrspur stehen, da die Seitenräume so hoch voll Schnee waren, dass sie dort stecken geblieben wäre. Mit wütigem Angriff stach der Schnee wie mit eisigen Nadelspitzen auf sie ein. Sie zog die Kapuze über den Kopf, stellte das Warndreieck auf und marschierte zurück. In der Kurve stieß sie auf eine frische Reifenspur, die quer über beide Fahrbahnen zog und an der Seite verschwand. Sophie lief dorthin und entdeckte, dass die Leitplanke durchbrochen war. Das Auto war einen tiefen Abhang hinunter gestürzt und lag im Grund. Kein Ton drang durch das Heulen des Sturms herauf. Der Motor war aus, die Scheinwerfer leuchteten noch.

Gerade wollte sie das Handy aus der Jackentasche ziehen, als ihr einfiel, dass sie ihr Diensthandy im Krankenhaus wieder abgegeben hatte. „Verflucht, was mach ich denn jetzt“, murmelte sie vor sich hin.

Da kein Auto weit und breit in Sicht war, entschied sie, zunächst nach dem Fahrer zu sehen. Sie kletterte, stolperte und rutschte den Abhang hinunter. Die aufgewühlten Spuren am Abhang ließen darauf schließen, dass das Auto mehrfach aufgeprallt war oder sich gar einmal überschlagen hatte. Offensichtlich war das Auto beim Absturz gegen mehrere Bäume und einen großen Felsen gestoßen, der am Abhang lag. Der Fahrer war eingeklemmt und rührte sich nicht. Die Tür war total verbeult und ließ sich nicht öffnen. Sie hastete um das Auto herum und stieg auf der anderen Seite ein. Der Mann war bleich und kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Sophie hielt seinen Kopf, klopfte mit der flachen Hand gegen seine Wange und sagte: „Hallo, bleiben sie wach! Haben Sie keine Angst, ich bin Ärztin und werde Ihnen helfen.“ Der Mann sah sie an und blinzelte, er hatte verstanden. Sophie leuchtete mit der Taschenlampe und sah, dass der Mann über der Schulter von dem Seitenholm eingeklemmt war, außerdem war Metall der zerfetzten Tür in sein Bein gedrungen. Das Hosenbein war bereits blutdurchtränkt.

Zuerst das Bein, überlegte Sophie, sonst verblutet er, ehe Hilfe eintrifft.

Sie beugte sich über ihn. „Ich ziehe ihr Bein jetzt vorsichtig zu mir herüber.“ Er nickte und stöhnte, als sie das Bein vorsichtig von dem zerfransten Blech befreite. Während sie versuchte, das Blut zu stillen, hörte sie durch den heulenden Sturm, dass oben an der Straße jemand rief. Hastig kletterte sie aus dem Auto und schrie: „Alarmieren Sie bitte die Rettungsleitstelle. Ein Mann ist im Auto eingeklemmt und schwer verletzt.“ „ Mach ich.“ „Bitte, schnell, es eilt sehr.“ „Alles klar.“

Sophie fühlte sich ein bisschen erleichtert, und legte eine Druckkompresse an, während sie beruhigend auf den Mann einredete. Es wurde immer kälter im Auto. Sie fand auf dem Rücksitz eine Wolldecke, in die sie den Mann so gut es ging einhüllte. Nach einer Zeit, die ihr endlos vorkam, hörte sie das mehrstimmige Heulen von Martinshörnern und sah über sich auf der Straße Blaulicht kreisen. Die Feuerwehr war mit mehreren Einsatzwagen eingetroffen. Unmittelbar danach kamen auch der Rettungswagen und der Notarzt. Sie hörte Türen knallen, Stimmen und dann kamen Feuerwehrmänner mit Schneidbrennern und Rettungsscheren den Hang herunter gerutscht, gefolgt vom Notarzt und den Sanitätern.

Sophie stellte sich den Männern vor und sagte: „Ich vermute eine Halswirbelverletzung, Brüche der linken Schulter, des Arms und einiger Rippen. Die Wunde am Bein blutet noch, ich habe einen Druckverband angelegt.“

Der Arzt hörte ihr aufmerksam zu und nickte. „Ich übernehme jetzt“, sagte er und nahm ihren Platz auf dem Beifahrersitz ein.

„Brauchen Sie mich noch?“

„Nein, eigentlich nicht. Wäre gut, wenn wir Ihren Namen hätten, falls noch Fragen auftauchen.“

Sophie gab dem Notarzt ihre Visitenkarte und notierte seinen Namen und den des Verletzten, Hans Gollmann, dessen Papiere sie im Handschuhfach gefunden hatte.

Sie beugte sich in den Wagen und blickte den Verletzten an. „Alles Gute. Sie werden wieder gesund. Ich werde Sie im Krankenhaus besuchen.“

„Danke“, hauchte er.

Zitternd vor Kälte kletterte Sophie den Abhang hinauf, oben reichte ihr ein Feuerwehrmann die Hand und zog sie auf die Straße.

„Das da vorn ist wohl Ihr Auto? Ich hab ein paar von meinen Jungs hingeschickt, damit da keiner rein fährt.“ Sophie spähte zu ihrem Auto. Ein Feuerwehrwagen mit Blaulicht stand dahinter. Sie schmunzelte. „Danke, seid Ihr von der Feuerwehr Nindorf?“

„Nein, Apensen. Nur die Feuerwehr Apensen hat die Ausrüstung für schweres Rettungsgerät. Äh, ich hab gehört, Sie sind die neue Ärztin in Nindorf?“

„Ja, das ist wahr. Ich bin Sophie Winterberg und übernehme die Praxis von meinem Vater.“

„Da hatten Sie ja gleich einen aufregenden Einstand.“

„Das kann man so sagen. Ich muss los, der Verletzte ist in guten Händen. Sie wissen ja, wo Sie mich erreichen können“, sagte Sophie und gab ihm die Hand. „Danke, dass ihr so schnell gekommen seid.“

Sophie eilte zu ihrem Auto, winkte den Männern im Feuerwehrauto kurz zu und fuhr nach Hause.

Das alte Haus im Schneesturm

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