Читать книгу Mörderjagd mit Elwetritsch - Helge Weichmann - Страница 7

FREITAG

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Am nächsten Morgen schrak Bleibier aus unruhigen Träumen hoch. Rufe erklangen, etwas klirrte.

»Wassnjetztschunwiddalos?«, knurrte er, während er auf einem Bein hüpfend in seine Hose schlüpfte und gleichzeitig versuchte, die Zähne zu putzen. Draußen empfing ihn das warme Licht der Südpfalz, das sich wie eine Lieblingsdecke auf die Haut legte. Eine Sekunde gönnte er sich den Genuss, die Berührung der Sonnenfinger bewusst wahrzunehmen. Dann raffte er sich auf und eilte die Straße nach oben. Dass der Lärm vom Stullwerk kam, war ihm klar. Seit Wochen schon ging es in der alten Holzfabrik hoch her, nirgendwo sonst in Grumberg wurde so viel und so lautstark gestritten.

»Hauen ab mit eierm Griezeich!« Metzger Bertl Bopp, wie immer in weißer, nicht ganz sauberer Schürze, schüttelte die Faust drohend in Richtung des Backsteingebäudes.

Auch Frau Krawehl, die Wirtin der Dorfwirtschaft, gestikulierte wild. »Verräderpack! Eiern Biokram kennena sunschtwo mache, awwer net bei uns!« Ein Dutzend Grumberger hatte sich vor dem rostigen Tor der Fabrik versammelt, ihre Stimmen wogten hin und her. Etwas abseits stand ein Grüppchen Leute, einige mit Bärten, viele mit langen Haaren, die Frauen trugen sackförmige Gewänder, die Männer Sandalen.

»Kein Fleisch! Gar kein Fleisch! Auch kein Pseudofleisch!«, riefen sie durcheinander. Ihr Unmut galt ebenfalls dem gedrungenen Gebäude. Einer hielt ein Plakat in die Höhe, auf dem etwas ungelenk eine glückliche Kuh unter einer lachenden Sonne prangte.

Beide Parteien wurden lauter, als drei Gestalten aus der Fabrik traten, zwei Männer, eine junge Frau. Sie entluden in aller Ruhe einen Lieferwagen, Säcke und Pakete fanden ihren Weg ins Innere des Gebäudes. Die Grumberger und die Langhaarigen krakeelten, es wurde am Tor gerüttelt. Die drei am Wagen reagierten nicht auf die Beschimpfungen, schließlich wandten sich die beiden Gruppen gegeneinander.

»Hier, langhooriches Gsindl, gehen doch emol was schaffe!«, brüllte Ansgar, der Winzer, mit hochrotem Gesicht. »Audonomepack, grienes!«

»Fleischfresser! Mörder!« Die Plakatfraktion schrie zurück, dass die Bärte wehten. »Ihr stopft euch voll mit Tierleichen, ihr seid so widerlich!«

»Eich ghört die Zung gschaabt ghört eich!«, echauffierte sich die Wirtin, die Grumberger nickten zustimmend. Schon wurden die Ärmel hochgeschoben, da ging Bleibier dazwischen.

»So, jetzt beruhigen wir uns alle mal wieder.« Sein Tonfall war entspannt, aber mit einer gewissen Schärfe.

»Ach endlich, die Bolizei!«, polterte Metzger Bopp. »Mach ebbes, Maazl, sperr die Urustifter weg! Des Xox!«

»Die haben uns bedroht! Fast angegriffen! Das ist … das ist Körperverletzung!« Anklagend zeigten die Langhaarigen auf ihre Kontrahenten.

»Hier wird niemand weggesperrt und auch niemand angegriffen. Leut’, macht mal langsam.« Bleibier wusste, dass sein Wort galt, zumindest unter den Alteingesessenen. Schließlich war er mit ihnen groß geworden. Über die Bio-Aktivisten machte er sich ebenso wenig Sorgen, sie waren so schlaksig, dass sie es wohl nicht auf eine Keilerei ankommen lassen würden.

Das sahen die Kampfhähne und -hennen wohl genauso, schnell einigte man sich wieder auf den gemeinsamen Feind – die drei Leute in der Fabrik.

»Unn iwwerhaupt, mach doch emol was gege die Vaterlandsverräder do drin!« Die dralle Wirtin zeigte anklagend durch das Tor. »Die tretn’s pälzische Erbe mit de Fieß, unn nix bassiert!«

Wie auf Stichwort nahm die andere Gruppe ihren Singsang wieder auf. »Kein Fleisch! Auch kein Pseudofleisch!«

Bleibier verdrehte die Augen. Seit Wochen ging dieser Kleinkrieg nun schon hin und her, und es war kein Ende in Sicht. Gerade wollte er ein ernstes Wörtchen mit den beiden Parteien reden, da erklang eine hohe, leicht näselnde Stimme hinter ihm.

»O je, Herr Kommissar, das sieht ja nicht gerade nach Pfälzer Gemütlichkeit aus. Was ist los, soll hier eine neue Startbahn West gebaut werden?«

Der Sprecher, ein Mann um die sechzig, sah aus wie ein Waldschrat: schlammige Stiefel, robuste Kleidung mit deutlichen Gebrauchsspuren, ein grauer Dreitagebart, dazu ein Fedora, dem die Jahre Form und Farbe geraubt hatten.

»Ooch, wir brauchen keine Startbahn West, um uns in die Wolle zu kriegen. Es reicht schon Hamlet, sehr frei interpretiert: Fleisch oder nicht Fleisch, das ist hier die Frage.«

Der Schrat schaute interessiert auf das Fabrikgebäude und die zwei Streitgruppen. Er war Professor für Geografie, kam aus Mainz und hieß mit bürgerlichem Namen Wendelin Wagenburck. Mit einer Handvoll Studenten führte er eine Projektarbeit im Pfälzerwald durch, es ging um den früheren Holzschlag und die verarbeitende Industrie, so viel hatte der Dorfklatsch verraten.

»Fleisch oder nicht Fleisch? Klären Sie mich auf, Herr Kommissar.«

Mit einer vagen Bewegung zeigte Bleibier auf das Backsteingebäude. Es stand an einer Anhöhe, der Hang und die Bäume wuchsen dahinter in den Himmel. Mehrere Gebäude aus schmutzig roten Ziegelsteinen machten einen verwahrlosten Eindruck, auf den umgebenden Freiflächen rosteten Greifer und Förderbänder vor sich hin.

»Ist eine ehemalige Holzfabrik, das Stullwerk, so heißt sie hier. Na gut, das wissen Sie wahrscheinlich schon, ist ja Ihr Thema.«

Der Schrat nickte eifrig und gab ihm ein Zeichen fortzufahren.

»Steht seit zig Jahren leer, aber jetzt ist ein neu gegründetes Unternehmen eingezogen. Ein Start-up, so nennt man das heute wohl, die VMG, Vegane Manufaktur Grumberg. Die stellen Pfälzer Spezialitäten her, Lewwerworscht, Grieweworscht, Broodworscht, Saumage, so was halt, aber alles vegan. Ohne Fleisch. Ohne tierische Bestandteile.«

»Oha«, meinte Professor Wagenburck, »das dürfte so manch eingefleischtem Pfälzer nicht schmecken.« Er lachte meckernd über sein Wortspiel.

»Ganz recht. Viele hier finden das ziemlich daneben, sie sagen, Fleisch ist Teil der pfälzischen Esskultur. Am liebsten würden sie die VMG auf den Mond schießen. Deshalb stehen sie jeden Tag am Tor und machen Stunk.«

»Und die anderen?« Wagenburck zeigte auf die zweite Gruppe, die ihr Kuhplakat schwang. »Die sehen doch aus wie Öko-Aktivisten. Wieso sind die denn gegen ein veganes Start-up?«

Bleibier seufzte. »Weil sie der Meinung sind, der Mensch soll komplett weg von der Wurst, auch vom Äußeren her. Die VMG-Leute machen richtige Dosen, wie für normale Wurst eben, und den Saumagen gibt’s im Kunstdarm, sieht aus wie echt. Das passt den Ökos nicht. Sie sagen, das ist eine Mogelpackung, denn damit bleibt in den Köpfen das ›Wurstprinzip‹ erhalten.« Er malte die Gänsefüßchen mit den Fingern in die Luft und zuckte die Achseln. »Tja, den einen geht die Veganerei zu weit, den anderen nicht weit genug. Und das sorgt momentan für Stimmung im Ort.«

Der Schratprofessor schaute interessiert zu, wie aus einem der Fabrikfenster ein Transparent gehängt wurde. Das Logo der VMG wehte im Wind, eine Zickzacklinie, die die Buchstaben V und M verschmelzen ließ, daneben der Schriftzug »Vegane Manufaktur Grumberg – alles, was die Worscht braucht«. Sowohl die Grumberger Traditionalisten als auch die Hardcore-Veggies brachen in Geheul aus und gestikulierten wütend zum Gebäude hin.

Bleibier merkte, wie seine Verstimmung wuchs. Nicht nur, dass er schlecht geschlafen hatte. Nicht nur, dass ihm bei der letzten Schorle das Trugbild eines bunten Pelzvogels erschienen war. Nicht nur, dass der Lärm ihn heute früh von null auf hundert aus dem Bett gerissen hatte. Nein, es gab bei dem VMG-Gehampel ein weiteres Detail, das er jemandem von auswärts nicht auf die Nase binden wollte: Die junge Frau in der Fabrik, Annalena Fuchs, war die Tochter des Grumberger Bürgermeisters. Sie stand voll und ganz hinter dem VMG-Projekt, was das politische Miteinander im Ort zu einem wahren Eiertanz werden ließ. Egal, für welche Seite Bleibier in seiner Eigenschaft als Polizist Partei ergriff – es gab stets jemanden, dem er damit auf die Füße trat.

Eine Autohupe riss ihn aus seinen Gedanken. Vor dem Fabriktor hielt ein steinalter Kleinbus, eine eckige Toyota-Kiste. Der ehemals weiße Lack hatte sich ins Gelbliche verfärbt, auf den Seiten prangte der Schriftzug »Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Institut für Geowissenschaften«. Fünf junge Leute kletterten heraus, zusammengerollte Karten ragten aus ihren Rucksäcken, einer hielt einen GPS-Empfänger in der Hand. Aha, die Schützlinge von Wendelin Wagenburck.

»Wie läuft’s denn bei Ihnen?«, wandte Bleibier sich an den Professor. »Was erforschen Sie eigentlich genau?«

Der Schrat lächelte erfreut und zeigte schiefe Zähne. »Oh, gut, sehr gut läuft’s. Wir untersuchen, inwieweit die ehemals exzessive Holzwirtschaft im Pfälzerwald sichtbare Spuren im natur- und kulturräumlichen Kontext hinterlassen hat. Anthropogene Überprägung mit reziproker Beeinflussung.«

Bleibier bedauerte seine Frage bereits. Er hätte wissen müssen, dass Wagenburck wie jeder Wissenschaftler sofort auf Fachgeschwurbel umschaltete, sobald man sich nach seiner Forschung erkundigte. Er nickte mit Scheininteresse, während der Professor von Woogflächen, Quellhorizonten und Meilerplätzen redete und die Studenten weitere Fachausdrücke einstreuten. Erst als eine Pause folgte, merkte der Kommissar, dass ihm sein Gegenüber wohl eine Frage gestellt hatte.

»Äh, was bitte, ich … äh«, stotterte er.

»Ich habe gefragt, ob Sie auch schon einmal in die alten Kirchenlisten geschaut haben. Die sind in Grumberg nämlich bis ins späte 17. Jahrhundert erhalten, durchaus selten.«

»Mh, nein, das, äh, ist bis jetzt noch nie nötig gewesen.« Er merkte, wie flügellahm seine Ausrede klang. Ein Euphemismus für »Ich habe keine Ahnung, was an alten Kirchenlisten so außergewöhnlich sein soll«.

»Für uns sehr interessant«, erklärte Wagenburck und stieg in den Kleinbus. »Denn in den alten Registern sind oft Besitzverhältnisse und Ortsangaben verzeichnet. Pfarrer Münch hat uns erlaubt, heute Nachmittag die Kirchenbücher einzusehen, und wer weiß, vielleicht finden wir dort weitere Hinweise zu unserem Forschungsgegenstand, dem historischen Holzschlag.« Pathos erfüllte seine Stimme, als würde er vom Verbleib des Heiligen Grals reden. Bleibier nickte unbestimmt und schaute zu, wie die Schratgruppe davonfuhr. Ihn plagten weiß Gott andere Probleme als Kirchenbücher und der historische Holzschlag.

Die aufgeheizte Atmosphäre hatte sich etwas beruhigt, einige der Grumberger gingen davon. Das sollte Bleibier nur recht sein, er machte sich auf zur Polizeiwache. Auf dem Weg durchs Dorf grüßte er hier und dort, die allermeisten Gesichter kannte er, Fremde gab es hier oben selten.

Das lag daran, dass Grumberg kein fachwerkgesäumtes Vorzeigeörtchen war wie Rhodt, Maikammer oder Deidesheim. Sicher, auch hier standen alte Häuser, schmucke Höfe und eine Kirche, die die Last der Jahrhunderte zusammengestaucht hatte wie einen uralten Mann. Doch die Grumberger blieben lieber unter sich, es gab keine Pension und kein Hotel, nur die Krawehlin vermietete einige Zimmer über ihrer Wirtschaft. Momentan hatten die Studenten dort ihre Unterkunft. Bleibier mochte diese kleine Welt. Für ihn war sie die Heimat, hier war er aufgewachsen, am Waldrand zwischen Weyher und Burrweiler. Der Gang durchs Dorf gab ihm jedes Mal ein wohlig warmes Gefühl in der Herzgegend. Seine Tochter Susanne nannte den Ort »Grumbeer«, sie hatte es kaum erwarten können wegzukommen. Inzwischen lebte sie in Mannheim, hatte einen guten Job bei den Reiss-Engelhorn-Museen und wurde nicht müde, ihren Papa zum Wegzug aus dem »Waldkaff mit Winzerzombies« zu bewegen. »Mach doch was aus deinem Leben, Babba«, versuchte sie es immer wieder, »es gibt doch noch mehr als den Haardtrand und Wingert und die immergleichen Gesichter.« Was aber, wenn er gar nichts anderes wollte als den Haardt­rand und Wingert und die immergleichen Gesichter? Trotzdem freute er sich jedes Mal, wenn Susi zu Besuch kam mit Geschichten und Handyfotos aus der großen Stadt, von denen Bleibier schwindelig wurde.

Er erreichte die Wache. Schon auf dem Trottoir hörte er eine keifende Frauenstimme. Das klang nach der Bickel Elfriede, die mit ebendieser Stimme seit fast vierzig Jahren die Grundschüler von Grumberg beschallte. Elfi war Dauergast in der Polizeistube, ständig gab es etwas, was sie unbedingt zur Anzeige bringen musste.

»Unn alle leer newedroo! Wonnichsdirsaach, leer newedroo!« Ihre Stimme verursachte bei Bleibier einen Schoppenreflex, das sägende Jammern ließ sich am besten mit einer Rieslingschorle ertragen. Das kam aber nicht infrage, im Dienst trank er nicht. Oder zumindest selten.

Der Kommissar betrat das, was offiziell »Polizeiwache 1« hieß. Nicht, dass es eine Wache 2 oder gar 3 gegeben hätte. Nein, die Wache, ihre Einrichtung und sogar die beiden Beamten waren einmalig in der Gegend, keines der anderen Dörfer besaß eine eigene Dienststelle. Und auch die Grumberger Wache wäre nach dem Willen der Bezirksdirektion Neustadt schon vor Jahren aufgelöst worden. Doch das ging nicht, und hinter dieser Tatsache steckte eine interessante Geschichte.

»Gmoje, Elfi. Was issn los?«, begrüßte Bleibier die ältliche Dame mit zementierter Frisur, die am Schreibtisch seines Kollegen Manfred Blümlein stand.

»Achgottachgott, Maazl, do bischt jo! En Diebstahl vor meiner Deer, mit Sachbeschädigung unn mit Mundraub!«

Bleibier hob eine Augenbraue. »Mundraub.«

»Mund…raub«, murmelte Manne und tippte das Wort ein. Er saß am Rechner, dem einzigen in der Wache, und suchte mit zwei Zeigefingern Buchstabe für Buchstabe auf der Tastatur.

»Ajoh, wonn ich’s doch saach! Vier Kischde Woi, direkt vor meiner Deer!«

Während Bleibier seine Jacke auszog, hörte er sich die Geschichte der Bickel Elfi an. Winzer Ansgar hatte ihr gestern Abend vier Kartons Wein vor die Tür gestellt, weil er spät vom Wingert gekommen war und nicht mehr schellen wollte. Heute früh waren die Pappkisten durcheinandergewürfelt, die Flaschen lagen daneben, allesamt leer.

»Vierezwonsich Flasche Woi, alle ausgedrunge! Riesling, Weißburgunder, Dornfelder unn St. Laurent«, klagte Elfriede.

»Lau…rent.« Manne zog die Silben in die Länge, bis er die passenden Buchstaben gefunden hatte.

Die Studenten!, war Bleibiers erster Gedanke. Er verwarf ihn augenblicklich. Die Geografentruppe um Professor Wagenburck machte nicht den Eindruck, als würde sie nachts durch den Ort marodieren und sich an fremdem Alkohol vergreifen.

»Aufgerissen, die Kartons?«

»Ewe net!« Elfi machte Augen, als würde sie von einem Weinwunder sprechen. »Uffgschnidde, ganz sorgfältich. Abber net owwe, sondern an de Seite. E richtiches Derle noigschnidde, wie mim Lineal. In jeden Kaddong!«

Manne tippte die letzten Worte, die Zungenspitze im Mundwinkel. Mit zusammengekniffenen Augen überprüfte der Polizeimeister sein Protokoll auf dem 15-Zoll-Röhrenmonitor, der wie ein grauer Felsbrocken auf dem Schreibtisch thronte. Dann legte er schwarzes Durchschlagpapier zwischen zwei leere Blätter und schob alles sorgfältig in den Tintenstrahldrucker.

Bleibier schloss die Augen. Es war unmöglich, Manne auch nur das Basiswissen zum Thema IT beizubringen. Dass ein Tintenstrahldrucker keine Durchschläge machen konnte wie früher die Schreibmaschine – hoffnungslos. Dass man einen Computer herunterfuhr und nicht einfach den Stecker zog – vergebliche Liebesmüh. Unterordner, Formatvorlagen, rechte Maustaste – böhmische Dörfer. Manne hatte anfänglich sogar E-Mails ausgedruckt, die Antworten handschriftlich daruntergeschrieben und alles in einem frankierten Kuvert an den Absender zurückgeschickt. Inzwischen hatte Bleibier ihm beigebracht, den Antworten-Button zu nutzen, doch alle übrigen Finessen beim »Mehlverkehr« blieben ein Buch mit sieben Siegeln für den stämmigen Polizeimeister.

»So, guggemol, Elfi, do unnerschreibscht jetzt.« Manne hatte eine zweite Durchschlagpapier-Kombi ausgedruckt, nahm das obere Blatt und legte es Elfriede vor. Die Lehrerin korrigierte mit beruflichem Automatismus zwei Rechtschreib- und einen Kommafehler, bevor sie das Protokoll unterschrieb.

»Unn jetzt, Maazl, was machena? Spuresicherung? Kummt jemand vunn Neistadt?« Ihre Augen glitzerten gierig, als erwarte sie ein Ermittlungsaufgebot à la »Tatort«. Bleibier machte eine beruhigende Handbewegung.

»Erstmal hör ich mich um im Ort, ob jemand was aufgefallen ist. Dann gucken wir weiter.« Enttäuscht zog die Bickel Elfi von dannen.

Manne lehnte sich zurück, das Uniformhemd spannte über seinem Bauch.

»Weinraub. Das gefällt mir nicht«, meinte er mit unheilverkündendem Unterton. Der Polizeimeister neigte dazu, aus jedem Vorfall ein Drama zu machen. Bleibier wollte gerade antworten, da läutete das Telefon. Der Tastenapparat mit Spiralkabel stammte ebenso wie der Rest der Ausstattung aus den 1990ern und besaß kein Display, deshalb war jeder Anruf eine Überraschung. Manne räusperte sich und meldete sich im Behördentonfall.

»Polizeiwacheeinsgrumbergblümleinamapparat?«

Er hörte stumm zu und wuchs mit jeder Sekunde. Es musste etwas Wichtiges sein, das ihn dermaßen mit Amtswürde füllte. Nachdem er aufgelegt hatte, wandte er sich Bleibier zu und hatte denselben »Tatort«-Glanz in den Augen wie gerade Elfriede.

»Das ist Neustadt gewesen. Ein Toter. Im Wald. Mord in Grumberg!«

Eichen- und Kastanienbäume umrahmten die drei Menschen wie die Säulen einer Kathedrale. Bleibier genoss das Dämmerdunkel des Pfälzerwaldes, er schloss beim Gehen die Augen und ließ die Sonnenstrahlen zwischen den Zweigen auf seine Lider zucken. Die Luft roch erdig, prall und voll, nach Waldboden, nach einer immerfeuchten Fruchtbarkeit, die vor Leben nur so strotzte. Tief atmete er ein und aus.

»Da. Da vorne sind sie.« Manne lief ein Dutzend Schritte voraus und zeigte auf weiße und orangefarbene Flecken im gescheckten Grün. Der sonst so behäbige Polizeimeister war ein Wandersmann und konnte im Wald Strecke machen, dass Bleibier nur so staunte.

»Achgottachgott, en Dode!«, murmelte Bürgermeister Ludwig Fuchs, den alle nur den Fuchselouis nannten. Er hatte auf geheimnisvollen Wegen von dem Vorfall erfahren und sich den Polizisten angeschlossen.

Sie erreichten eine Lichtung, bevölkert von der Spurensicherung in weißen Overalls. Uniformierte Beamte standen am Rand und rauchten, Sanitäter langweilten sich. Zwei Männer in Zivil reckten ihre Handys in die Höhe, liefen im Kreis und sahen dabei aus wie Trottel.

Da könnt ihr lange nach Empfang suchen, dachte Bleibier gehässig. Das ist der Pfälzerwald und nicht die Fußgängerzone von Neustadt. Er mochte die Kollegen von der Kripo Neustadt nicht, sie trugen die Nase zu weit oben.

»Ach, guggemol, das Dorf kommt«, kommentierte einer der Männer prompt. Bleibier nickte ihm höflich zu und deutete zu einem der Bäume am Rand der Lichtung.

»Dort drüben, Eichenrinde hilft.« Als der Kripomann ihn verständnislos anschaute, deutete er auf das Handy. »Empfangsverstärkung. Eichenrinde hat viele Wasseradern, die leiten Mobilfunksignale weiter. Das Telefon fest an den Baum drücken, vielleicht ein paar Stellen ausprobieren, dann klappt’s mit dem Empfang.«

Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Kripomänner an eine Eiche herantraten und anfingen, ihre Handys an die Rinde zu drücken. Schmunzelnd ging er zur Spurensicherung. Wie weiße Würmer umlagerten die Spezialisten etwas Dunkles, das inmitten von Buschwerk und Gräsern lag.

»Was ist los, was haben wir denn?«, fragte er einen mausgrauen Schopf, der unter einer weißen Haube hervorlugte. Die Person stand auf und offenbarte magere Züge, schwere Augen und einen von senkrechten Falten gekerbten Mund. Die Rechtsmedizinerin Frau Dr. Kesselwirth-Schergmann war bekannt für ihren Mangel an jeder Art von Humor. Niemand hatte sie jemals lachen sehen, sie nahm jeden Spruch für bare Münze und wusste wahrscheinlich nicht einmal, wie Ironie überhaupt geschrieben wurde. Bleibier machte sich einen Spaß daraus, sie in schöner Regelmäßigkeit auf den Arm zu nehmen, ohne dass sie es kapierte.

Der doktorale Blick besaß die Herzlichkeit eines toten Fischs.

»Von Wanderern gefunden. Männliche Leiche zwischen vierzig und fünfzig, letale Schussverletzungen im Rücken. Liegezeit zwölf Stunden plus/minus vier, mehr nach der Obduktion.«

Bleibier legte ein bezauberndes Lächeln auf. »Aus Ihrem Mund klingt selbst das wie Poesie, Frau Doktor.« Sie schaute ihn unverwandt an, als hätte er in einer fremden Sprache geredet. Er schickte ein Zwinkern hinterher und trat an den Toten heran. Der Mann lag in verkrümmter Haltung auf dem Bauch, er trug dunkle sportive Kleidung und schwarze All-Terrain-Schuhe. Fünf rote Rosen blühten auf seinem Rücken. Fünf Schüsse. Eine Tat im Affekt? Beziehungsprobleme? Bleibier ging in die Knie, um das Gesicht zu sehen. Aufgerissene Augen, blau, erstarrt in ewigem Schrecken. Eine Nase, die wohl einmal gebrochen worden war und nun schief stand. Er kannte den Mann nicht, der hier im Wald lag wie ein Fremdkörper. Sein Kinn und die linke Schläfe zeigten Abschürfungen, die offensichtlich vom Sturz stammten. Sah nach Schwung aus. Also hatte man ihn nicht aus dem Hinterhalt erschossen, sondern auf der Flucht. Aus welcher Richtung mochte das Opfer gekommen sein? Die grüne Fläche um ihn herum trug so üppigen Bewuchs, dass keine Spuren zu sehen waren. Und auf einer Waldlichtung, die von geschätzten hundert Wildtieren passiert wurde, konnten auch Suchhunde die Fährte des Mannes nicht mehr aufnehmen, da brauchte Bleibier nicht lange nachzudenken. Plötzlich fing sein Nacken an zu kribbeln, er hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Unauffällig schaute er sich um, doch keiner nahm Notiz von ihm. Nur der Wald umrahmte die Lichtung, stumm und grün.

Bürgermeister Fuchs, ein spindeldürrer, groß gewachsener Mann mit Platte und abstehenden Ohren, drängte sich in den Vordergrund und riss Bleibier aus seinen Gedanken.

»Maazl, wer isses donn? Doch niemand aus’m Dorf, oder?« Er zwinkerte nervös, auf seiner Oberlippe hatten sich Schweißperlen gebildet. Bleibier konnte es ihm nicht verdenken. Ein Mord war etwas, was wohl kein Bürgermeister der Welt gerne in seinem Reich sah. Stumm schüttelte er den Kopf. Er wollte sich den Toten gerne näher anschauen, wusste aber, dass die Neustadter Kripokollegen das nicht dulden würden. Gerade beendeten sie ihre Eichenversuche und machten Anstalten herüberzukommen.

»Klappt nicht? Dann fehlt der Wasserkontakt«, rief Bleibier in ihre Richtung. »Das Handy muss ein bisschen nass sein, wenn ihr’s an die Rinde drückt. Einfach mal drüberlecken.« Er nickte aufmunternd und amüsierte sich köstlich über den Anblick der beiden Kripobeamten, die ihre Mobiltelefone abschleckten und an den Baum pressten. Während die Sanitäter kichernd Handyfotos von den beiden machten, ließ sich Bleibier von der Rechtsmedizinerin Untersuchungshandschuhe geben und tastete die Taschen der Leiche ab. Nichts, kein Portemonnaie, kein Ausweis, noch nicht einmal ein Schlüssel. Entweder hatten der oder die Mörder den Mann durchsucht und alles an sich genommen, oder er war in den Wald gegangen, ohne etwas bei sich zu tragen. Bleibier rechnete zurück. Vor zwölf Stunden, also mitten in der Nacht. Was machte jemand nachts im Wald, ohne auch nur seinen Hausschlüssel dabei zu haben?

»Das ist ja wohl der blödeste Tipp, den ich je gehört hab. An eine Eiche drücken, um das Signal zu verstärken. Pfff.« Einer der Kripo-Neustadter schob sich heran und putzte sein Telefon mit einem Taschentuch. Sein Kollege kam hinterher, beide sahen nicht erbaut aus. Ihre Mienen wurden noch finsterer, als sie Bleibier neben der Leiche entdeckten.

»Hier, weg vom Tatort! Das ist unser Fall, Mordkommission, da ist die interne Vergabe vom Kriminalrat längst schon geregelt worden!«

Dass Kriminalrat Eugen Keilhauer den Toten im Wald sofort an die Neustadter weitergegeben hatte, wunderte Bleibier kein bisschen. Schließlich war es Keilhauers erklärtes Ziel, die Grumberger Wache 1 bis zur Bedeutungslosigkeit schrumpfen zu lassen, um sie endlich wegrationalisieren zu können. Er stand auf und lächelte entwaffnend.

»Aber nicht doch! Keine Angst, die Frau Doktor und ich, wir sind mit Samthandschuhen rangegangen.«

»Ich arbeite nicht mit Samthandschuhen, sondern mit Einmalhandschuhen aus Vinyl«, erklärte Frau Dr. Kesselwirth-Schergmann. Die Kripoleute zeigten mit ungeduldigen Bewegungen zum Rand der Lichtung. Manne und Bürgermeister Fuchs traten den Rückzug an, Bleibier strapazierte die Nerven der Neustadter noch etwas weiter, indem er sich umständlich den Schuh schnürte. Dann verzog er sich.

»Griff ins Klo, tät ich sagen.« Manne wischte sich den Nacken mit einem gewaltigen Stofftaschentuch ab. »Keine Spuren, keine Hinweise, gar nix.«

Bleibier trödelte, bis der Bürgermeister ein paar Schritte Vorsprung hatte. »Ganz ohne was gehen wir nicht, Manne«, antwortete er leise und ließ ein zerknittertes Stück Papier in seiner Hand erscheinen. »Das hier hat halb unter dem Toten gelegen, vielleicht ist’s aus seiner Tasche gerutscht. Ich hab den Fuß draufgestellt und beim Schuhbinden zugegriffen.«

Der Zettel war per Hand beschrieben und in der Mitte zerrissen. »…inoa«, konnten die beiden Polizisten entziffern.

»Inoa.« Manne sprach das Wort so vorsichtig aus, als könnte er damit einen Fluch heraufbeschwören. »Was soll das denn heißen?«

Bleibier blieb stehen und warf einen Blick zurück zur Lichtung und zu den dunklen Bäumen, die dahinter standen wie eine stumme Armee. Schon wieder hatte er das Gefühl, verborgene Augen würden ihn beobachten.

»Keine Ahnung, was das für ein Wort ist. Aber jemand hat dafür sterben müssen, also werden wir’s rauskriegen.«

Seit seine Frau Thea ausgezogen war, herrschte in Bleibiers Küche nicht gerade kulinarische Kreativität. Er ging oft in die Palzstubb, die Weinschenke von Grumberg. Die Krawehl Ingeborg mochte zwar ein Ratschweib sein, aber kochen konnte sie, da gab es nichts zu meckern. Ihre Gebredelde waren Legende, die Lewwerknepp hatten Biss, die Würste und der Saumagen öffneten das Himmelreich. Zu Hause hielt Bleibier sich an die einfachen Sachen: eine Dose Wurst, ein paar Scheiben Brot, zwei Gurken, Senf und einen Schoppen, das galt im pfälzischen Verständnis als ausgewogenes Nachtmahl. Ebendiese Kombination balancierte er auf die Terrasse, wo sich die Sonne anschickte, ihre milden Abendstrahlen über den Haardtrand zu gießen. Der Himmel leuchtete so blau, dass man ein eigenes Wort dafür erfinden müsste, zur Ebene hin färbte er sich königlich violett. Die Luft konnte man trinken.

Neben dem Broodworschtebrot klappte Bleibier sein Notebook auf. Es hatte zwar schon einige Jahre auf dem Buckel, doch im Vergleich zur IT-Ausstattung auf der Wache kam es fast aus der Weltraumforschung. Der dortige 486er verband sich über eine ISDN-Leitung mit dem Internet, deshalb bestanden Online-Recherchen in allererster Linie aus Ladebalken und Sanduhren. Zu Hause surfte Bleibier immerhin mit DSL – ein Umstand, der ursprünglich auf Susannes Nörgeln zurückging, für den er inzwischen aber dankbar war.

Das merkwürdige halbe Wort ließ ihm keine Ruhe. …inoa. Er googelte. Eine Tönung von L’Oreal. Ein philippinischer Familienname. Ein kanadischer Rapper. Nicht gerade eine heiße Spur zum Toten im Pfälzerwald. Wie wohl der Anfang des Wortes auf der anderen Hälfte des zerrissenen Zettels lautete? Er versuchte es mit »???inoa«, aber Google verstand nicht, was er meinte. Beliebige Buchstabenkombinationen brachten genauso wenig, schließlich driftete Bleibier ab in die Tiefen des WWW. Müßig klickte er sich durch Fotos und Artikel, bis ihn eine unsichtbare Hand zur Homepage von Grumberg führte. Wie immer schloss er innerlich eine Wette ab, und wie immer gewann er sie: »Letzte Aktualisierung: 26. März 2016«, stand in der Fußzeile. An diesem Datum hatte sich seit nunmehr vier Jahren nichts geändert. So, wie die Zeit im Dorf stillstand, war sie auch im Internet eingefroren.

Ein Grußwort vom Fuchselouis zierte die Seite, Bilder der Höfe und der Straßen fügten sich an. Bleibier gab sich bittersüßen Erinnerungen hin. Seine Kindheit, sein Vater mit dem struppigen Schnauzbart, seine Mutter in der Kittelschürze, der Geruch nach Dampfnudeln. Später seine eigene Familie, die Jahre, die sie hier gemeinsam verbracht hatten. Doch Thea war mit dem Herzen nie wirklich angekommen. Sie stammte aus Heidelberg, für sie fühlte es sich an, als hätte man einen Baum verpflanzt und die Wurzeln vergessen. Das Dorf nahm ihr die Luft zum Atmen. Das Kleinbürgerliche, der enge Kontakt der Menschen, die Alten, die auf den Bänken vor ihren Häusern saßen – was er liebte, engte sie ein. Sie vermisste die Stadt und den Trubel und die Anonymität, in die man, wenn man wollte, eintauchen konnte. Über die Jahre wurde aus dem Unwohlsein eine ausgewachsene Depression, der Bleibier nichts entgegenzusetzen hatte. Mit Trauer im Herzen, aber ohne Groll ließ er Thea ziehen. Inzwischen wohnte sie wieder in Heidelberg, hatte ihre Lebenslust zurückgewonnen und schrieb dann und wann eine Karte, auf der ihr alter Schalk durchblitzte und die Bleibier jedes Mal in wilde Wehmut stürzte.

Als er aus der Vergangenheit auftauchte, war die Weinflasche ausgetrunken und die Sterne sprenkelten den dunklen Himmel.

»Hat’s geschmeckt?« Die amüsierte, etwas kieksige Stimme ließ ihn mit leichter Verzögerung herumfahren. Seine Augen stellten scharf. Die Terrasse … der Garten mit der Colt-Seavers-Wanne … niemand da.

»Hallo?«, fragte er, und weil ihm nichts Schlaueres einfiel, schob er gleich noch mal ein »Hallo!?« hinterher. Zwischen den Blumenkübeln raschelte etwas, plötzlich kam die Stimme von der anderen Seite. »Aber Senf auf Broodworscht, das ist nicht dein Ernst, oder?«

Mit dem Wattegefühl im Kopf, das sich nach einem Liter Riesling unvermeidlich einstellte, fuhr Bleibier erneut herum. »Will mich jemand verarschen hier?«

Nach wie vor war er allein. Er blinzelte und überlegte, was nun zu tun sei. Spontan kam ihm die Idee, die Polizei zu rufen, bis ihm einfiel, dass er sich dann ja selbst rufen müsste. Eben wollte er sich erheben, da traf ihn fast der Schlag. Vor ihm, in der Mitte der Terrasse, hockte der Pelzvogel.

Wie ein Fisch auf dem Trockenen machte Bleibier den Mund auf und zu. Genau wie gestern rührte sich das Wesen nicht, es hielt den Kopf schräg und fixierte ihn. Im schwachen Licht, das von innen durch die Terrassentür fiel, sah er das farbige Pulsieren der Federn, die kleinen Geweihspitzen und den grotesk großen grünen Schnabel. Nach einigen Sekunden, die Bleibier wie Stunden vorkamen, öffnete sich der Schnabel. Die Stimme von eben erklang, kieksig, etwas knarrig und irgendwie fremd: »Aber ihr Menschen habt eh komische Angewohnheiten. Ich sag nur: Wein mit Sprudel mischen. Hallo? Geht’s noch?« Mit einem missbilligenden Schnaufen schüttelte das Geschöpf den Kopf.

Bleibiers Gedanken wussten nicht, in welche Richtung sie laufen sollten, deshalb fiel seine Antwort eher unaufgeregt aus: »Na ja, im Sommer ist das schon okay so. Soll ja den Durst löschen und nicht gleich vollmachen.«

Das Vogelwesen kniff die Stielaugen zusammen und bog den Schnabel nach unten. Offensichtlich konnte es ihn bewegen wie einen kleinen Rüssel.

»Durst löschen. Mit Wasser. Was für ein Quatsch. Durst löscht man mit Wein, zumindest bei uns.«

Dafür, dass sich in Bleibiers Kopf ein Karussell drehte, gestaltete sich das Gespräch einigermaßen normal, das musste er zugeben. Vorsichtig tastete er sich einen Schritt weiter: »Bei euch, soso. Wer seid ihr denn, oder, ich sag mal: Was bist du denn?«

Das Geschöpf plusterte sich auf, spreizte die Flügel und sortierte mit seinem beweglichen Grünschnabel die Pelzfedern auf der Brust. Dann schaute es Bleibier listig an.

»Hm, lass uns mal überlegen. Wir beide, wir sind mitten an der Weinstraße, direkt da hinten fängt der Pfälzerwald an. Jetzt schauen wir genauer hin: Ich habe Flügel, komische Federn, platte Füße und Löffelohren, hinten sitzt ein Puschelschwanz und oben ein kleines Geweih. Na, was glaubst du, was ich wohl sein könnte?«

Mit einer Mischung aus Resignation und Fatalismus ließ Bleibier sich zurücksinken. Jetzt war eh alles egal, der Wahn hatte ihn gepackt. Er zuckte die Achseln.

»Tja, ich tät sagen: ganz klar eine Elwetritsch.«

Sein nächtlicher Besucher wackelte erfreut mit den Ohren.

»Hui, jetzt aber! Beim Jauch wärst du damit eine Gewinnstufe höher. Und das ohne Joker!«

In seinem rieslinggedämpften Zustand wunderte es Bleibier kein bisschen, dass eine Elwetritsch über Günther Jauch und »Wer wird Millionär« Bescheid wusste. Klar, warum auch nicht. Die bernsteinfarbenen Augen fixierten ihn, wieder spürte er das Kribbeln im Nacken wie auf der Lichtung. Er holte Luft.

»Sag mal, kann es sein, dass du heute Nachmittag im Wald gewesen bist, irgendwo zwischen den Bäumen?«

»Blitzmerker. Ich beobachte dich schon eine ganze Weile.«

Sein Zeitlupenhirn brauchte etwas Anlauf, bis die nächste Frage kam.

»Und, äh, warum? Was, äh, machst du jetzt hier? Also, hier bei mir?«

Der Flügel des Vogelwesens war so beweglich, dass es sich damit am Kopf kratzen konnte.

»Ja, gute Frage, was mache ich hier? Pass auf, ich verrat’s dir!« Verschwörerisch beugte es sich nach vorne, Bleibier machte die Bewegung unwillkürlich mit.

»Und zwar: Ich bleibe von heute an bei dir, für eine ziemlich lange Zeit. Ich schaue mir deine Welt an, wie ihr lebt und wie ihr drauf seid. Ich lerne euch kennen, und du, du bist ab jetzt mein Mensch!«

Die Worte hingen noch in der Luft, da raschelte es, der Besucher war verschwunden. Bleibier hing in seinem Stuhl und glotzte auf die Stelle, an der eben noch ein Vogelding mit Entenfüßen und Geweih gehockt hatte. Ich bleibe von heute an bei dir. Du bist ab jetzt mein Mensch.

Er konnte ein Kichern nicht zurückhalten. Sonnenklar, er hatte gerade eine astreine Halluzination gehabt, und was für eine. Vielleicht waren ihm heute im Wald ein paar Pilzsporen in die Nase geweht, oder er entwickelte eine Allergie gegen Broodworschtebrot. Egal, die Show war toll gewesen. Entgegen jeder Vernunft entschloss Bleibier sich, eine weitere Flasche Riesling zu entkorken. Auch wenn es nur im Kopf stattgefunden hatte: Ein Zwiegespräch mit einer waschechten Elwetritsch musste auf jeden Fall begossen werden!

Mörderjagd mit Elwetritsch

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