Читать книгу Die Nacht des heiligen Markus - Helle Stangerup - Страница 3
1. Kapitel
ОглавлениеIde Munk gebar ihr Kind bei einer Explosion. In dem Augenblick, als die Hebamme Kopf und Schultern des Neugeborenen faßte und daran zog, ertönte der Knall. Die Mauern bebten, Scheiben zersprangen, und die Nordwand bekam einen Riß von oben bis unten. Putz und Kalk rieselten auf das Himmelbett und die Wäschetruhe, über die Frauen und Dienstmädchen, und der Kalenderstab fiel vom Tisch und kullerte zum Funkenregen des Kamins.
Die Hebamme blieb vorgebeugt am Gebärstuhl stehen, das Kind zwischen den Händen, und drehte langsam den Kopf nach oben. Die Augen sahen aus wie graue Knöpfe auf das flache Gesicht genäht und starrten Ide voller Entsetzen an.
Dann ließ sie das Kind los. Sie ließ es fallen wie ein Stück heißes Eisen. Ein kurzer Schrei entfuhr dem zahnlückigen Gebiß. Die schaufelähnlichen, großen blutigen Hände griffen nach den Rökken, und sie rannte los.
Die andern folgten ihr. Sie purzelten übereinander, stießen an der Tür wie ein Stoffballen zusammen und kämpften sich frei. Die Schritte huschten wie Ratten in panischer Flucht die Wendeltreppe hinunter, und Ide saß allein da.
Ihr Kleid war bis zum Bauch hochgezogen. Sie stellte die Füße zu beiden Seiten des stummen, bewegungslosen Kindes fest auf den Boden. Vom unteren Stockwerk vermischte sich das Kreischen der Frauen mit dem Brüllen der Männer, und das Geräusch neuer Schritte folgte. Es kam von draußen. Der ganze Schwarm lief über den Hofplatz und die Zugbrücke. Es ertönte ein Klappern. Das war sicher Ane. Sie war zwölf Jahre alt, erst eine Woche im Dienst und hatte noch nicht gemerkt, daß die östlichste Brückenplanke lose war, was sonst jeder vom Gesinde wußte.
Ide wunderte sich. Sie verstand ihre Verwunderung nicht. Sie hätte von Schrecken erfüllt sein müssen. Nur das Kind des Satans persönlich konnte auf diese Weise geboren werden.
Zwischen jeder Wehe hatte sie gefleht: »Mutter Maria, leihe mir deine Schlüssel, damit ich meine Lenden öffnen kann«, und alles auf dem Hof war eilends gelöst worden. Die Gurte der Pferde und die Halsbänder der Hunde, die Kette über dem Kessel und die Fäden in ihrem Webstück. Jeder Knoten war aufgeknüpft und jeder Pflock in Haus, Stall, Scheune und Pferch um der Bitte willen herausgezogen worden. An die Allerseligste Jungfrau um Hilfe gegen Schmerz und Tod. Und das für ein Kind des Teufels.
Wieder diese merkwürdige Verwunderung. Der Teufel herrschte über alle Dämonen und die Flammen der Hölle und marterte die Seelen der Verdammten. Der Teufel war Herr über alles Böse, über Hexerei und Schwarze Magie. Doch seine eigene Brut ließ er in einer beliebigen Aprilnacht wie einen nassen Lumpen auf dem Boden in einem beliebigen Hof in Seeland liegen.
Ides Körper war schwer, und die Brüste spannten. Nur die Gedanken flogen so leicht dahin wie die weißen Flocken des Löwenzahns im Sommerwind.
Sie war eine Sünderin. Wenn auch keine große. Jedenfalls keine zu große Sünderin. Nicht so schwarz wie Maria weiß. Sie hatte ihrer Schwester Kirschen gestohlen. Sie hatte sich durch angebliches Kranksein vor vielen Stickstunden gedrückt und insgeheim ihren Onkel verabscheut, den Bischof von Ribe, der ihr nicht die Hostie vor dem Hochaltar auf die Zunge legen konnte, ohne seine dicken Finger wie heimtückische Nattern um ihren Hals zu legen.
Drei Kinder hatte er nach dem Ablegen des heiligen Gelübdes gezeugt, zwei sogar mit einer Dame adeliger Herkunft. Aber ein Bischof war ein Bischof und Hassen eine Sünde.
Die Kälte von den zerborstenen Fenstern strömte wie in Spiralen um ihre Beine, während Ide grübelte, warum sie vom Bösen persönlich ausgewählt worden war. Sie tat es nüchtern und ruhig, so wie sie oft nach dem Grund gesucht hatte, warum Gott der Allmächtige vom Nachtfrost im Mai alle Blüten auf den Zweigen verzehren ließ und damit im September die süßen Früchte des Herbstes vernichtete.
Ides Eltern waren fromme Leute. Die Mutter stets mit beiden Beinen auf der Erde, groß, hager und grau wie ein erloschener Leuchtturm in der Finsternis, eine ständige Warnung vor unbekannten Riffen und kommenden Zeiten. Das heimliche Lachen des Vaters klang immer wie ein bullerndes Feuer im Schornstein, trotz seines harten Schicksals. Eines Tages am Kirchenportal von Hjerm versprach er Herrn Oluf die Hand seiner Tochter.
Ide hatte sich auf den Tag gefreut. Zwei Jahre früher hatte sie mit ihrem Vetter Holger auf Koldinghus getanzt. Sie hatte seine verstohlenen Blicke genossen. Ihr wurde ganz heiß. Er flüsterte, daß die Farbe ihrer Haare wie Nüsse im September seien und ihre Augen wie Kornblumen im Juli, und als er sie küßte, meinte sie mit den Elfen zu schweben. Holger heiratete dann eine andere, und hier wartete der Mann, der sie betrachten, bewundern und liebkosen sollte, damit das Leben zu einem schwebenden Rausch wurde.
Doch Oluf war nur groß und ernst und blickte zu Boden. Ide hatte nach ihm geschielt, aber er hielt stur den Blick gesenkt. Die Augenbrauen wölbten sich wie Kuppeln. Durch den Bart sah sie ein Grübchen in seinem Kinn. Die Nase war lang und gekrümmt, in seinem Haar befand sich direkt über dem linken Ohr ein Wirbel, und er ging auf die Vierzig zu.
Um all das Wunderbare, das geschehen sollte, gleichsam zu wecken, streckte Ide ihm die Hand hin. Sie tat es unwillkürlich. Sie tat es als erste. Die Mutter schnappte nach Luft vor Entsetzen. Die Finger hingen nur da, in die Luft gespreizt, und Ide überlegte, wie sie sie zurückziehen könnte, als Oluf endlich und ganz langsam seine Hand hob und in ihre legte.
Seine Haut fühlte sich rauh an. Ungewohnt. Sie fand Stärke in dem Bewußtsein, daß so gute Eltern sie nur mit dem besten Mann, den es gab, verheirateten.
Bei der kirchlichen Einsegung gebot ihr der Pfarrer, zu lieben wie Rachel, klug zu sein wie Rebekka und treu wie Sara. Und Oluf war gut. Er war edel. Mit dem Blick zu Gott gewandt und den Fingern in ihrer Wäsche, drang er in einer hellen Walpurgisnacht in ihren Schoß. Er nahm verständnisvoll die Nachricht auf, daß das erste Kind, Birgitte, eine Tochter war und kein Sohn. Er half den Schwachen und den Armen. Wie ein Sankt Martin teilte er seinen Mantel und gab die eine Hälfte dem Frierenden. Frauen, die in Sünde empfangen hatten, unterstützte er, und das Begräbnis eines blaugefrorenen Säuglings, der wie ein Robbenbaby auf einer Eisscholle vor Mariä Unbefleckte Empfängnis an Land gespült worden war, wurde bezahlt.
Aber Ide vergaß das Gefühl, zu den Elfenwesen des Waldes zu gehören. Um sie war nur Olufs Gebot, fest und mit Vergebung. Oluf auf ewiger Wallfahrt nach den heiligen Quellen. Unablässig lesend saß er über seiner Bibel gebeugt, über die heiligen Schriften und das kleine Betbüchlein. Seine Hände fuhren in das struppige, ergrauende Haar, daß es in Büscheln abstand, und er quälte sich wegen des Treueeides für Christian II., den er brach.
Aber hatte Mutter Sigbrit ihn etwa nicht verleumdet? Und hatte dieser Christian etwa nicht der Familie Vallø weggenommen und bald als Ketzer, bald als Rechtgläubiger das Land in Schwierigkeiten gebracht? Wie sehr Ide auch tröstete, brannten doch ständig neue Kerzen in der Kirche.
Oluf reiste nach Nyborg und wurde Hofmeister für den jungen Herzog Hans, den die katholische Partei des Rates als nächsten König haben wollte. Sogar nachdem er den Eid auf den zehnjährigen Prinz abgelegt hatte und Christian II. auf Sønderborg hinter Schloß und Riegel saß, kam es vor, daß sich Oluf bei seinen Besuchen zu Hause wand und drehte und murmelte, ein Eid sei ein Eid und dürfe nicht gebrochen werden.
Ide hatte sich geärgert, als die Bilanz gemacht wurde. Es kostete Unsummen, gut zu sein. Sie hatte gesündigt, indem sie an das Ergebnis dachte, indem sie den Blick auf das Irdische richtete, indem sie ausrechnete, was hereinkam und was nach draußen verschwand, und Habgier war eine Todsünde.
Trotzdem konnte sich der Teufel geirrt haben. Die Erde war rund. Eine riesige Kugel. So groß, daß sogar der Böse sich verlaufen konnte. Sie war immerhin die Nichte eines Bischofs und auch die Schwester eines Bischofs, und als sie neun war, ließ Gott sie das Wunder in der Kirche von Karup erleben.
Vielleicht hatte der Teufel Maren unten aus dem Dorf im Sinn gehabt. Sie hatte jedenfalls drei Kinder zu Tode gedrückt, und weil das mehr war, als der Pfarrer vergeben konnte, wurde sie mit nacktem Rücken und barfuß zum Bischof zur öffentlichen Beichte geschickt. Aber glücklich heimgekehrt, hielt sie fest am Brettspiel, Saufen und Prügeln und erzählte den anderen Tagelöhnern, was es für ein Gefühl war, der Länge nach auf dem Boden der Domkirche zu liegen und zusammen mit drei Kirchenräubern, einem Gewaltverbrecher und einigen, die mit Klosterleuten Unzucht getrieben hatten, die Litanei vorgelesen zu bekommen.
Auf das Urteil des Bischofs pfiff Maren, denn sie hatte schon lange freitags Fleisch gegessen. Bei Sonnenaufgang saß das Weib umgekehrt und rittlings auf einem Ochsen, das eine Ohr abgebissen. Das Blut lief ihr den Hals hinunter, und sie schleuderte johlend eine nach der anderen von den fünfundfünfzig Perlen des Rosenkranzes in den stinkenden Sumpf des Dunghaufens.
Maren war eine Ketzerin und Gotteslästerin. War nur eine von vielen Ketzern und Gotteslästerern. Es wimmelte in diesen dunklen Zeiten von neuen Predigern, weggelaufenen Mönchen, vagabundierenden Pfaffen und der Brut der geweihten Pfarrer.
Ide kehrte in die Gegenwart zurück. Sie schaute in den Spiegel an der Wand. Er war rund, gewölbt und aus blankpoliertem Metall und spiegelte wie ein gewaltiges Auge den ganzen Raum.
Dieser sah mit all dem Kalk, der von den Wänden und der Decke gerieselt war, wie nach einem Schneesturm aus. Der Riß in der Mauer glich einem Blitzschlag. Die Instandsetzung würde einiges kosten, und all die Kerzen, die das verschwenderische Gesinde angezündet hatte, waren teuer.
Plötzlich ein Laut. Ide blickte sich um. Seit den laufenden Schritten über die Zugbrücke war es vollkommen still gewesen. Nicht ein Windhauch rührte sich in dieser klaren Mondnacht.
Wieder dieser Laut. Sie schaute für einen Augenblick direkt vor sich auf den Boden und beugte sich langsam vor, um zu sehen, was da zwischen ihren Füßen lag. Sie betrachtete das Kind.
Es bewegte sich ein wenig. Es war ein Mädchen. Lang und schmal und ohne Klauen oder Hörner auf der Stirn. Gesprenkelt von Blut und Kalk lag sie da und schaute sich um in der Welt, wo sie dazu ausersehen war, ihre bösen Taten zu vollbringen.
Aber noch hatte das Kind nichts Böses getan, stellte Ide fest, legte die Ellbogen stützend auf die Oberschenkel und umfaßte es. Vielleicht war es nur ein gewöhnliches Hexenbalg, und seine Teufelsaustreibung und das Besprengen mit Weihwasser würden das Böse wegnehmen. Das Kind war feucht und warm, und Ide wickelte ihre wollenen Röcke um die Kleine, denn jeder weiß, daß kleine Kinder frieren, wo sogar Butter zerläuft.
Wie schön sie war mit großen Augen und die Ohren schön am Kopf. Und die Hände waren länglich und schmal. Viel feiner als die von Birgitte. Und ihre.
Plötzlich schloß es die Augen. War eingeschlafen. Vielleicht schlief sie hinein in den Tod, um einen Platz im schmerzlosen Himmel der ungetauften Kinder zu bekommen.
Die Allerseligste Jungfrau mußte verstehen, daß Ide ihr Kind nur schützte, um ihm irdische Kälte zu ersparen. Das Mädchen würde sicher nicht leben. Je kürzer die Schwangerschaft, um so kürzer das Leben, und die Geburt erfolgte zwanzig Tage zu früh. Deshalb waren keine edlen Frauen anwesend, nur unzuverlässige Weibsleute und Gesinde. Obwohl Boten in die nächsten Nachbarhöfe geschickt worden waren, erschien niemand vor Einbruch der Dunkelheit, in der Räuber, Mörder und Wölfe unterwegs waren und ein Fortgehen lebensgefährlich machten.
Birgittes Geburt dauerte drei Nächte und zwei Tage. Diesmal vergingen nur ein paar Stunden seit dem Beginn der Wehen in dem geheimen Labor im Keller.
Ide hatte mit ihrem Brenner und den Kolben mit Pyrit, Quecksilber und Arsensulfat gearbeitet, mit Kalium und Nitrat, dem Urin eines Wolfes und der kleinen Flasche grünen Drachenblutes, das sie einige Tage vorher von einem spanischen Franziskanermönch mit Hasenscharte gekauft hatte, der auf heimlicher Durchreise nach Vadstena war.
Sie hatte den Mönch in Køge an der Ecke zur Nørregade getroffen. Ein Umhang verbarg seine Kutte, doch er hatte seine wahre Identität offenbart und geschworen, daß sie in der Nacht des Schwertes reinstes Gold herstellen würde. Sie bezahlte eine ganze Mark für das Fläschchen, weil Drachenblut der beste Ersatz war, den es für das einzig sichere Mittel in dem Prozeß gab: ein konzentrierter Absud von der Leiche eines gesalbten Königs.
Ide hatte die Anweisungen des Mönches befolgt, als sie die kostbaren Tropfen, die angeblich von Ameisen stammten, beimischte und gewaltige Dämpfe vor ihrem dicken Bauch aufstiegen.
Oluf hielt Alchemie für ausgemachten Schwindel, aber sie wollte das Gegenteil beweisen. Sie wollte Gold herstellen. Als Ersatz für das, was Oluf an Silber und Edelsteinen als Bezahlung für seine eingebildeten Sünden verschenkte. Und wenn sie ihm das Gold überreichte, würde dessen Glanz in seinen Augen widerstrahlen. Und zum Dank würde sie die Glut der Liebe empfangen. Von dem Augenblick an würde er sie lieben und anbeten, wie er immer die Allerseligste Jungfrau geliebt und angebetet hatte.
Plötzlich verstand Ide alles. Gott hatte eingegriffen. Gott hatte die Geburt in Gang gebracht, um das Kind zu töten. Es war trotzdem die Tochter des Teufels persönlich. Und unten in der Tiefe, umgeben von den Schreien der Gemarterten, saß der Teufel und ärgerte sich, denn er hatte endlich die richtige Braut gefunden. Er hatte die Frau gefunden, die das Ungeheure wagte. Sie hatte der Himmelskönigin Olufs Liebe mißgönnt. In all ihrer Jungfräulichkeit besaß Maria mehr belebende Wärme als Olufs irdische Gattin.
Ide war verdammt. Sie und das Kind würden beide in dieser Nacht sterben. Gemeinsam würden sie auf direktem Weg in das gigantische Flammenmeer kommen, wo Schlangen die Körper von hinten und von vorne auffraßen, von innen und von außen.
Es wurde dunkel um sie. Das Schwert des Kalenderstabes zeigte die Sankt-Markus-Nacht des Jahres 1533 an. Sie hörte Hufgetrappel auf der Zugbrücke. Sie war eine hochgeborene Frau und sollte als letztes Zeichen der Würde ihre letzte Reise zu Pferd antreten.
Kommandorufe. Unterteufel, die die armen Seelen musterten. Ihre körperlose Seele wurde von den Dämonen dem endgültigen Urteil zugeführt, gepeinigt und gequält, bis sie wieder mit ihrem Körper vereinigt wurde und die Tortur ernsthaft begann.
Doch Ide empfand keinen Schmerz. Sie hörte auch kein Wehklagen anderer Seelen, und sie kannte die Stimme.
Es war Anne Meinstrup, Holgers Mutter. Ide öffnete die Augen. Sie lag in ihrem Bett, mit Decken über und unter ihrem Körper. Der völlig am Leben war. Von oben bis unten. Sie wackelte mit den Zehen, beugte Ellbogen und Knie.
Sie hob vorsichtig einen Finger bis zum Gesicht. Guckte ihn an. Versuchte hineinzubeißen. Er war weder tot noch kalt. Um sie war der gelbe Stoff des Himmelbettes und die geschnitzte Truhe und der runde Spiegel an der Wand und Anne, die mit dem harten, präzisen Schlag eines Dreschflegels die Köpfe von drei Dienstmägden herumdrehte. Sie fegte durchs Zimmer und griff nach einem Weib, das das Kind in ein Tuch wickelte, als drehe sie die Handkurbel einer Senfmühle.
Annes Stimme klang wie der sanfte Engelschor des Himmels, als sie das verdutzte Gesinde anbrüllte, daß es sich hier um ein gesundes, normales Kind handle, so sicher, wie ein Hund ein Hund sei und eine Katze eine Katze. Das graue Haar stand strähnig unter dem Witwenschleier hervor, und die Wangen waren noch rot von der Kälte, als sie in ihren Lederbeutel mit der mitgebrachten Medizin griff.
Die Schlüssel. Ide sah sie vor sich, wie sie im Türschloß des Labors steckten. Sie hatte sie dort vergessen, obwohl noch Feuer unter dem Schmelzofen brannte. Sie hatte ihre Schlüssel um einiger Wehen willen im Stich gelassen. Und das Drachenblut. Und das Gold für Oluf. Nun bekam er statt dessen noch eine Tochter und einen Keller, der in die Luft geflogen war, und Anne Meinstrup als Langzeitgast.
Eine Stunde später hielt Ide ihr Kind in den Armen. Bottiche mit warmem, mit Essig und Wein versetztem Wasser hatten die geschwollenen Beine kuriert. Die Brüste waren mit Annes Absud aus der Zwiebel des Märzbechers eingeschmiert, um die Spannung wegzunehmen, und Ide hatte zerriebenen, trockenen Rhabarber gegen die gefährliche Verstopfung geschluckt.
Draußen graute der Tag, von dem sie nicht mehr geglaubt hatte, daß sie ihn erleben würde. Ein grünlicher Schein fiel durch die kleinen, zerbrochenen Scheiben. Der Kalk war zusammengekehrt, der Boden gewischt worden, die Wiege stand bereit, und das hysterische Gesinde war, nachdem es nichts mehr zu tun gab, hinausgeworfen worden. Nur die rasch herbeigerufene Amme, eine Frau und Anne saßen im Zimmer.
Anne schlummerte auf einem Stuhl. Der Kopf hing herunter bis zur Brust unter dem gestärkten Leinen, und die Wangen waren die eines Bluthundes. Zwei Ehemänner hatte sie zu Grabe getragen, und von den Söhnen lebte nur noch Holger. Sie hatte wohl die Erfahrung gemacht, daß alles, was man nicht selbst machte, ungetan bliebe, daher ihr derbes Mundwerk.
Mit ihren ätzenden Kommentaren, daß die Salzlake zu dünn, das Bier zu bitter, die Würste zu mager und das Gesinde zu verfressen sei, war Anne Meinstrups Einzug auf dem Hof stets ein Vorgeschmack auf das tausendjährige Rösten im Fegefeuer gewesen.
Vor Jahren sagte Anne König Christian II. ins Gesicht, er sei das Flittchen der Dyveke, und sie büßte mit einem Leben im Exil. In dieser Nacht hatte sie als einzige ein Pferd satteln lassen und einen vierstündigen gefährlichen Ritt auf sich genommen, um ihrer jungen Verwandten zu Hilfe zu kommen.
Irgendwo begann eine Taube ihr monotones Gurren. Ide hatte diesen Laut nie gemocht. Ein Vogel mit so wenig Phantasie in der Stimmführung mußte von Natur aus dumm sein.
Ide wandte ihre Aufmerksamkeit dem Kind in ihren Armen zu. Die Kleine war gesegnet und bekreuzigt, jede Teufelei war ausgetrieben, und sie schlief ordentlich gewickelt mit dem Mützchen auf dem Kopf, wie sie auch während Annes Herumkommandieren geschlafen hatte.
Die Haut des Mädchens war noch rot, weil sie nach altem Brauch mit Salz abgerieben worden war. Aber so zart. So fein. So ganz anders als sie selbst. Und als Oluf. Was wird er beim Anblick dieses Kindes sagen, wenn er von Nyborg zurückkommt? Was wird seine fromme Seele denken bei der Vorstellung, daß der trockene Schoß seiner Frau nie das brachte, was er erhoffte, als er ihr am Kirchenportal von Hjerm seine Hand reichte? Zwei Töchter kamen zustande und für sie langweilige Nächte unter mächtigen, mit Entenfedern und Gänsedaunen gefüllten Säcken.
Es war jetzt ganz hell. Die Sonne flimmerte durch einen Eichenwipfel und warf Flecken auf den Boden und die Wiege. Ein einzelner Sonnenstrahl traf Ides Auge. Sie verschob das Gesicht ein wenig. Drehte den Kopf und schaute wieder hinunter auf ihr Kind.
Das war keine Satansbrut, gewiß nicht, und kam nur zufällig gerade in dem Augenblick zur Welt, als es den Ofen zerriß.
Die Kleine erwachte plötzlich und begann zu weinen. Nicht kreischend wie andere Kinder, sondern ganz leise. Ein stilles, rufendes Weinen, als wollte sie etwas erzählen.
Ide hatte noch nie ein Neugeborenes gesehen, das mit Tränen weinte. Sie schaute sich erschrocken um. Die Amme hatte nichts bemerkt. Anne schlief noch. Ide legte rasch das Kind hinunter in die Wiege.
Drei Fässer Speiseöl, vier Fässer Salz, davon eines mit dem weißen Hubertussalz, sechzehn Vollmilchkäse und ein Teil des Hopfens und des Malzes waren der Explosion zum Opfer gefallen, außerdem Töpfe mit Honig und die letzten getrockneten Erbsen. Dazu kam ein verbrannter Kellerbursche, der rundweg abstritt, auch nur in der Nähe des Labors gewesen zu sein. Der Kerl schwor bei der Seligkeit seiner verstorbenen Mutter. Er legte schluchzend einen Eid darauf ab, daß er sich dem Teufel verschreiben wolle, wenn er jemals einen Kolben oder eine der Chemikalien der Herrin berührt habe, die für ihn zeit seines Lebens die reine Teufelei gewesen seien.
Oluf kehrte von Nyborg zurück. Mit einem ganzen Stapel neuer Ablaßbriefe steuerte seine schwarze Gestalt direkt zur Schlafkammer, und er beugte sich über die Wiege, während Ide voller Schreck die Finger in die Decke bohrte, bis sie die Federn unter ihren Nägeln spürte. Nicht wegen seines Zornes. Nicht wegen der Vorwürfe über den wirtschaftlichen Schaden oder das verkehrte Geschlecht des Kindes. Oluf machte nie jemandem irgendwelche Vorwürfe. Ide fürchtete die Enttäuschung, gegen die er kämpfen würde, um sie nicht zu zeigen. Dieses Lächeln, das stets nur ein Ziehen war und das sie verschonen sollte vor dem Wissen um sein Leiden.
Doch in dem Moment, in dem Oluf die Kleine erblickte, gab er einen Laut von sich, als wäre er selbst ein Säugling, eine Art Wimmern. Immer noch mit den Ablaßbriefen in der einen Hand, nahm er das Kind und hob es hoch und hielt es, als sei es eine vom Himmel gefallene und im Flug aufgefangene Frucht. Die kostbaren Papiere flatterten auf den Boden, sein Nacken streckte sich, und er hob die Schultern.
Der verlorengegangene Vorrat war ihm gleichgültig und was es kostete, Wände und Decke zu reparieren, daß Töpfe und Fässer ersetzt werden mußten und man gezwungen war, für klingende Münze auf dem Markt einzukaufen, was das Feuer vernichtet hatte.
Begleitet von jungen Rittern und einer Horde von Knechten, der Amme und der zweijährigen Birgitte, die auf ihren kleinen, dicken Beinchen wie eine Nachhut hinterhertrippelte, führte Oluf sein Neugeborenes hinaus in die Welt. Nur wenige Tage alt, wurde dem Kind der blühende Obstgarten gezeigt und der Kohlgarten bei der Pflanzung, die sprießende Frühjahrssaat und übermütige Fohlen auf der Weide. Der Säugling befand sich unablässig auf dem Arm des Vaters, und wenn er nach Hause kam, hingen die Windeln in nassen Lappen herunter, die Gesellen warfen sich Blicke zu, die Amme jammerte, und Birgitte heulte laut vor Eifersucht. Nur Oluf selbst strahlte und war vollgepackt mit Erlebnissen, als hätte man ihm seine eigene Kindheit wiedergegeben.
Ide begriff nichts. Es war ja nur ein Mädchen. Oluf hätte doch enttäuscht sein müssen. Und woher kam die Freude und das Lachen?
Mitten in dem ganzen Durcheinander kamen Ides Mutter, die Schwester und die Nachbarsfrauen an und zogen ein wie die selbstverständlichen Helfer bei einer Geburt, die bereits stattgefunden hatte. Sie gruppierten sich im Halbkreis um das Bett, die Mutter als Zentralfigur direkt bei Ides Füßen, eingerahmt von dem gelben Damast. Die alternde Dame hielt die Hände straff gefaltet unter der flachen Brust, und die wenigen Sätze, die sie von sich gab, wurden einfach in die Luft gesagt, als hätte sie nie erlebt, jemals auf irgend etwas eine Antwort zu bekommen.
Die anderen Frauen legten los. Sie jagten das Gesinde durch die Gegend. Sie kommandierten und kritisierten, und ihr Eingreifen verhinderte, daß das Neugeborene auch an Fronleichnam den neunmaligen Umgang um die Felder mit der auf einem Kissen vorangetragenen Reliquie mitmachen mußte, das Sprengen des Weihwassers, das Schwingen des Weihrauchfasses und das darauf folgende Trinkgelage, bei dem aus dem Gebrauten im Keller des Hausherrn gezapft wurde.
Mette sollte das Kind heißen. Das bestimmte Oluf souverän. Das ist Mette, sagte er, als sei damit ein höherer Sinn verbunden. Dazu Rosenkrantz, das hatte Oluf gewählt, als einige Jahre vorher die Verordnung kam, daß alle Adeligen einen Geschlechtsnamen haben mußten. Damit war sie eine Mette Rosenkrantz und keine Mette Olufstochter, die Pater Niels taufte, als er sein feierliches: In Nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti sprach und den nackten Kinderkörper bis auf den Grund in das Taufbecken senkte.
Das kleine Mädchen stieß bei der Berührung mit dem kalten Wasser einen Schreckensschrei aus, beruhigte sich aber sofort, als Oluf – nachdem der Weg des Kindes zur Seligkeit gesichert war – zufaßte und mit einem schnellen Ruck seine Tochter aus dem Schoß der Mutter Gottes in seinen beförderte.
Die Frauen im Halbkreis schwatzten. Über Olufs ungehöriges Benehmen in der Kirche. Über die Verrücktheit, die den sonst so besonnenen Mann gepackt hatte, und sein völliges Desinteresse am Tode des Königs. Oluf war schließlich Reichsrat, die Regierung des Reiches lag in den Händen des Rates, und am Tag der zehntausend Märtyrer sollte in Kopenhagen Reichstag gehalten werden. Aber es war offenbar wichtiger, der erst einige Tage alten Mette zu zeigen, wie ein Baum an zwei Stellen durchgesägt wurde, um einen Bienenstock heimzubringen.
Die Amme wurde fortgeschickt, nachdem sowohl Ides Schwester, Anne Meinstrup und ihre beiden Töchter davon überzeugt waren, daß das Haar der Frau einen roten Schimmer aufwies – ein sicheres Zeichen dafür, daß die Milch schlecht schmeckte. Die schwarzen Flecken auf den Zähnen hielt man für ansteckend, und außerdem war sie Mutter eines Knaben, was die zarte Mette männlich machen konnte.
Eine neue Amme wurde geholt. Die Brüste strotzten nach der Geburt eines toten Mädchens, und nach gründlicher Betrachtung im scharfen Sonnenlicht wurde sie akzeptiert.
Währenddessen lag Ide im Bett und dachte an den toten König. Nicht daß sie ihm jemals begegnet wäre. Oder sich für ihn interessiert hätte. Er war nur der Mann, den ihr Vater in Viborg ernannt hatte, und seine Seele befand sich nun dort, wohin ihn seine Taten geführt hatten. Aber als Ide mit den Füßen die Decken lüpfte, um etwas Kühlung zu bekommen, erinnerte sie sich ganz genau, wie teuer sich der spanische Mönch für die kleine Flasche grünes Drachenblut bezahlen ließ, das doch nur als ein Ersatz für die bessere Ware galt.
Es war so weit nach Holsten. Die königliche Leiche lag sicher schon in einem versiegelten Sarg, bis der Sarkophag fertig war. Und dort blieb sie in alle Ewigkeit, völlig nutzlos.
Oluf war auf die verrückte Idee verfallen, daß das erst einige Wochen alte Kind die Bewegungen des Pferdes kennenlernen müsse. Erst bei Sonnenuntergang kehrte er zurück. Seine Haarbüschel waren verschwitzt, aus Mettes Windel tropfte es, und sie schrie aus vollem Halse, die Amme hielt sich jammernd ihre schmerzenden Brüste und ging breitbeinig durchs Zimmer, als hätte sie immer noch das Pferd zwischen den Beinen.
Obwohl Anne umgehend dafür sorgte, daß zusätzliche Mägde sich um die Kleine kümmerten, war das zuviel für die Selbstbeherrschung von Ides Mutter. Sie deutete auf die Wiege mit einem Finger, der den Arm zu einer Linie von endlosen Anklagen verlängerte:
»Und was soll daraus werden?« fragte sie und schnappte nach Luft, als hätte sie ihre ganze Kraft in dieser Frage verbraucht.
»Ein ganz gewöhnliches Kind«, erwiderte Oluf lächelnd, und mit einer hilflosen Drehung des Kopfes gab Ides Mutter ihren Mägden den Befehl, zu packen.
Als die Mutter am nächsten Morgen aufsaß, hingen die Füße und die steifen Beine wie Eimer und Seile eines Jochs an den Flanken des Pferdes herunter. Sie nickte kühl ihrer Tochter und dem Schwiegersohn zu und reichte versteckt unter der Hand eine kleine Tüte mit kandierten Früchten ihrer Enkelin Birgitte, die mit ihrem Schatz ins Haus rannte. Oben im Sattel schüttelte sie sich einen Moment bei dieser Offenbarung von Gefühlen. Sie gab dem Pferd die Sporen, und gefolgt von bewaffneten Männern und bedienenden Mägden, begann der Heimritt nach Viborg.
Die übrigen Geburtshelferinnen verließen Vallø am selben Tag, und Oluf weilte nun stundenlang in der Schlafkammer. Er streichelte Ides Hand. Manchmal auch ihre Wange. Aber von der Seite, wie damals, als er mit dem Blick auf die Erde geheftet dastand. Er hätte genausogut den Bettpfosten oder den Vorhang streicheln können. Mette bekam sein Lächeln und seinen Blick, und wenn er das Kind vor den Spiegel hob und dem stummen Wesen jeden Gegenstand darin erklärte, griff Ide nach ihrem Stundenbuch, um das zu ertragen.
Außerdem lag sie hier müßig herum. Das Vieh war längst auf die Allmende und in den Wald getrieben. Doch die Kälber, die Lämmer und die Ferkel – hatte man sie auch mit dem Eisen gekennzeichnet? Und wie stand es mit dem kleinen Acker und dem empfindlichen Weizen? Ohne ihn gab es für die Feiern im nächsten Winter kein weißes Brot.
Über alles machte sie sich Sorgen. Olufs Schwermütigkeit war wie weggeblasen und hatte sich ihres Körpers und ihrer Seele bemächtigt. Sein Lachen, selbst sein Lächeln ließ sie zusammenzucken. Das Summen der Dienstmädchen hielt sie ebensowenig aus. Die monotonen Laute erinnerten sie an etwas Böses, längst vergessen, aber trotzdem aufgehoben, wie die Vorratstonnen des letzten Jahres, die nicht richtig leer gemacht worden waren.
Olufs Welt war so groß. Sie erstreckte sich vom Königsbach im Südwesten bis zur Hallandhöhe im Nordosten. Sie beinhaltete die Regierung des Reiches, den Kampf gegen den Verfall des Glaubens und die schwere Verantwortung für Herzog Hans.
Ide verstand wenig von Politik oder davon, warum dieser Luther alle Dämonen loslassen wollte. Aber sie konnte fast auf einen Fuß genau jeden Feldrain in den sieben Pfarrbezirken bestimmen. Sie wußte, daß ein heißer Mai die Ernte mager ausfallen ließ, und wenn der Rabe nordwärts flog, würde die Hitze bis Mittsommer andauern. Und an dem Tag, an dem ein reisender Prediger im Dorf das Abendmahl in beiden Gestalten austeilte, war die schlimme Lehre Vallø zu nahe gekommen.
Sie mußten etwas tun für den armen Pater Niels. Natürlich nahm er drei Schluck Wein, wo einer reichen würde. Natürlich haperte es, wenn es darum ging, die Himmelfahrt Christi und die heilige Auferstehung zu unterscheiden. Aber er war trotzdem ein guter und gottesfürchtiger Mann, der stets die liturgische Ordnung genau beachtete, der nie den Abendmahlskelch mit dem Daumen säuberte und nie mit ausgefranstem Rock herumlief. Er hatte wegen der billigen Begräbnisangebote der Bettelmönche große Einbußen hinnehmen müssen, doch jetzt, nachdem sie endlich vertrieben waren, unterließ es die Gemeinde, den Zehnten zu geben, denn davon stand nichts in der Bibel.
Oluf mußte zurück nach Nyborg und von dort weiter zum Reichstag nach Kopenhagen. Trotzdem fand er Zeit, dem armen Pfarrer zu helfen. Das war selbstverständlich. Er warf das Barett auf einen Stuhl, schleuderte die vielen Ellen Stoff des Glockenärmels über die Truhe und stellte sich seitlich zum Licht, so daß sich sein Bart zur Brust hin krümmte. Aber er betete nicht. Er schaute hinunter auf sein Kind, als wollte er sich an jedes Detail des kleinen eingepackten Gesichts erinnern, denn es war nicht möglich, Mette mitzunehmen auf den Reichtstag in eine Stadt, mit Epidemien verseucht und voller Ansteckungsgefahr.
Von ferne hörte man den Lärm der schwatzenden Mägde, das Rumoren im Unterstock und wieder dieses nervtötende Summen. Unablässig dieselbe Melodie. Weit weg bellte ein Hund, und Olufs Körper schwankte hin und her – wie die Saat auf dem Feld an einem luftigen Augustabend. Hätte sie nur das Gold hergestellt, und er würde sie lieben als Wohltäterin. Jetzt liebte er statt dessen das Kind und vergaß die Mutter. Ide sehnte sich zurück zu der Zeit, als er büßend und um Vergebung der Sünden flehend kniete und sie mit ausgestreckten Fingern eine tröstende Hand auf seinen Nacken legte. Damals hatte er sie selbstverständlich gebeten, mitzukommen zu den Festlichkeiten des Reichstages in Kopenhagen. Und damals war nur einige Wochen her.
Eine Geburt verändert vieles. Mettes Geburt veränderte alles. Bei Sonnenuntergang hatte Ide Listen gemacht, was in der Stadt mit den vielen fremdartigen Waren gekauft werden mußte. Sie selbst blieb und erfüllte ihre Pflichten auf Vallø.
Ide hielt das eine Kind auf dem Arm und das andere an der Hand, als Oluf bei Tagesanbruch Abschied nahm. Ein kühler Morgenwind von Osten brachte den Geruch nach Tang auf den Hofplatz, wo Leder knirschte und Metall klapperte, als die Ritter und Burschen nacheinander zwischen flatternden Hühnern, schnatternden Gänsen und verwirrtem Gesinde aufsaßen.
Fast wie bei einem Ritual fragte Oluf sie, ob man sich in Kopenhagen treffe. Sie sagte ihr Nein. Obwohl das keine Reaktion hervorrief oder nur Verwunderung, enthielt das Wort Stärke. Es war gleichsam die Festigkeit einer senkrechten Lanze im Rücken.
Oluf wandte sich ein letztes Mal im Sattel um. Er schaute Mette an, und über seine Wange lief die Träne, die er nicht einmal über die Leiden der Allerseligsten Jungfrau vergossen hatte, die den entseelten Leib ihres Sohnes in den Armen hielt.
Die Sonne stieg auf, doch nach der langen Trockenheit brachte die Erde keine Frucht hervor. Die Bäume warfen Schatten über das mit Pech bestrichene Fachwerk der Scheune und des Stalles. Das Licht streifte die gelben Punkte der Ringelblumen entlang der Mauer, und die vielen Pferdehufe wirbelten Staub auf, der in die Augen und den Rachen drang.
Ide hustete einen Augenblick. Sie hielt sich mit dem um Mette geschlungenen Arm den Mund zu und murmelte bei sich:
»Gebe Gott, daß Oluf an die Puppe für Birgitte denkt.«
Und als sich die Staubwolke über den Hügeln erhoben, nahm der nächste Gedanke in ihrem Kopf Gestalt an:
»Möge Gott verhüten, daß dieser Ketzer Herzog Christian zum König von Dänemark gewählt wird.«
Als die Ritter außer Sichtweite waren, drehte sich Ide um, überließ Birgitte der Amme und begab sich in die Schlafkammer. Sie schob den Riegel vor, drehte den Schlüssel um und stellte den Tisch so, daß ein Streifen der Sonne vom offenen Fenster darauffiel. Gewohnheitsgemäß wanderte Ides Blick über den Horizont auf der Suche nach dem Schleier, aus dem Wolken entstehen konnten, die möglicherweise Regen brachten.
Der Himmel war strahlend blau, und Ide legte die schlafende Mette auf ein Kissen auf den Tisch und machte die ganze Windel ab. Häubchen, Tücher und Nabelbinde wurden entfernt und ebenso das trockene Moos zum Aufsaugen der Flüssigkeit. Sie beugte sich über das nackte Kind, betrachtete eingehend seine Stirn und tastete mit den Fingern nach dem geringsten Hinweis, daß da etwas herauswuchs. Sie untersuchte sorgfältig jeden einzelnen der kleinen Nägel an Händen und Füßen, um festzutellen, ob sie die Form von Klauen annahmen.
Ide drehte Mette auf den Bauch, verscheuchte die Fliegen und drückte ganz unten auf das Rückgrat, wo ein Schwanz seinen Anfang nehmen müßte. Es war weder etwas zu sehen noch zu spüren. Noch nicht. Doch der Teufel war gerissen. Vielleicht wartete er mit der Offenbarung der Beweise seiner Vaterschaft, bis ihr Muttergefühl so stark war, daß sie das Entsetzliche aushalten konnte.
Mette sollte versorgt und gepflegt werden wie Birgitte. Sie sollte weder hungern noch frieren, noch standesmäßige Kleidung entbehren oder von Büchern ferngehalten werden, wenn die Zeit kam und falls sie so lange lebte. Doch Ide wollte auf das kleinste Zeichen einer Teufelei an Mettes Körper und in ihren Handlungen achten. Sollte sich eine Neigung zeigen, auf Ziegen zu reiten, oder sollte sie nur ein einziges Mal das Kruzifix in der Kinderkammer auf den Kopf stellen, wollte Ide ohne lange zu zögern an den Bischof schreiben und ihm die grauenhafte Wahrheit mit allem, was sie beinhaltete, berichten.
Das Kind war so schön geschaffen und schlief so friedlich. Aber Ide ließ sich nicht täuschen, denn woher rührte bei einem so schwermütigen Mann wie Oluf dieser Sinneswandel?
Gehörte Mette der Hölle an, mußte sie hinunterfahren. Und das ohne Begleitung ihrer irdischen Mutter, Ide Munk.
Der große eiserne Kronleuchter der Sommerstube wurde heruntergelassen. Ide überwachte, wie zwei Gesellen das Seil vom Mauerhaken lösten. Langsam senkten sie ihn herunter zu den Mägden, die mit steifen Hauben auf dem Kopf bereitstanden, die Spinnweben zu entfernen und den Talg aus den Schalen zu kratzen, um daraus neue Kerzen zu ziehen.
Unten auf dem Boden glich der Kronleuchter eher einem halbverrosteten Monstrum, aber es war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, an kostbare Bronze zu denken. Die Nachbarn hatten jahrelang eine Menge Vieh verkauft, um roten Stoff für die Wände, flämische Spitzen für die Kleider und eine goldene Beleuchtung für die Decke zu kaufen. Doch Vallø war befestigt. Das hatte viel gekostet. Und eine Mark war eine Mark und ein Schilling ein Schilling und konnte nur einmal ausgegeben werden.
Ide gab trotzdem den Gedanken an diese schimmernden Leuchter nicht ganz auf. Der Glanz würde die Wirkung der Flammen an langen Winterabenden verstärken, an denen sie verschwenderisch sein und alle sechs oder sieben Talglichter auf einmal anzünden wollte. Mit so einem Leuchter würde man meinen, die Sonne in der Stube zu haben, und vielleicht konnte sie sogar nach Einbruch der Dunkelheit lesen und nähen.
Die Luft war drückend, und Ide ging zum Fenster, öffnete es und hielt Ausschau nach der Amme und den Kindern unter den abgeblühten Obstbäumen. Sie sah Birgitte nach einem Zweig greifen. Die Amme saß an einen Baumstamm gelehnt, Mette in einem geflochtenen Korb neben sich. Die Schatten waren scharf. Die Erde war grau. Das Gras hatte einzelne gelbe Flecken. Und plötzlich dieses Summen. Ganz leise. Aber deutlicher werdend. Kräftig und laut.
Ide stützte sich mit den Händen an den Fensterrahmen und spürte die Wärme am Körper. Sie blieb stehen. Sie wollte den vergessenen Text zu dieser einfachen Melodie haben, beugte sich vor und tat, als blicke sie hinauf zum Himmel. Sie sollten Zeit haben und Mut. Die Worte kamen. Zuerst zögernd. Dann taktfest: »Und bis wir den Schatz verteilen, darf kein Mann dem Ting enteilen. Und in Sønder Herred stehen die Bauern zusammen im Ring.«
Ein Reiher flog über den Hof. Der Eisvogel stieß wie ein blauer Blitz hinunter auf den dichten Teppich der Ampferblätter, während die Singstimme wuchs und sich entfaltete wie ein plötzlich aus dem Boden sprießender Pilz:
»In Sønder Herred stehen die Bauern zusammen im Ring, Herr Tidmann darf nicht lebendig verlassen das Ting. Der erste Schlag den Alten traf.«
Ide wurde jetzt von ihrer alten Kindheitsangst gepackt. Ihr Vater, ihre Mutter in einer Blutlache. Sie erinnerte sich an das ganze Lied. An jedes Wort:
»Der erste Schlag den Alten traf. Herr Tidmann zu Boden warf. Er liegt in seinem Blute.«
Nur eine hatte es gewagt, die letzte Strophe zu singen. Laut und gellend, und Ide fuhr herum.
Die Mägde standen im Kreis. Jede hatte etwas in der Hand. Einen Besen. Einen Eimer. Eine Schale. Eine Bürste. Ein Messer. Sie sah die Augen unter dem Kreis der Hauben um den Eisenleuchter.
Ide steuerte direkt auf Schuhmachers Karen zu mit dem hellblonden Haar, den leuchtenden blauen Augen und dem ewig besserwissenden Lächeln. Ide schlug ihr mit einer Kraft mitten ins Gesicht, als könnte sie eine zwanzigjährige Angst aus ihrem Bewußtsein prügeln.
Dann kontrollierte sie die Talgschalen, befahl, den Leuchter wieder hochzuziehen, und stieg langsam die Treppe hinauf.
Bei der Turmtür blieb sie stehen und lehnte sich an den Rahmen. Es war nicht nur die Wärme. Selbst nach dem harten Schlag hatte Karen ihr sicheres Lächeln und ihre stolze Haltung nicht verloren. Sie lachte beinahe; es war, als hätte diese Dienstmagd ein eigenes inneres Wissen von den Zeiten, die kommen würden.
Keine noch so kräftige Ohrfeige vermochte die Erinnerung an den Aufruhr in Tofte Marked aus Ides Bewußtsein zu tilgen. Das war kein Traum gewesen und Ide kein Kind mehr, als die Bauern nur einige Zoll vor den Füßen ihrer Mutter eine Lanze in die Erde rammten und damit drohten, sie auf zwanzig andere Lanzen gespießt durch die Straßen und Gassen zu tragen. Und das, weil der Vater sein gesetzliches Recht auf Zollabgaben sowie die Buß- und Strafgelder der Stadt Viborg geltend gemacht hatte, und wäre der Ketzer Mogens Gøye nicht gewesen, der mit seiner besonderen Art die Bauern zur Ruhe gemahnt hatte, würden sie jetzt alle einen Klafter unter der Erde liegen.
Über die Zugbrücke trabten drei Zinsbauern mit der Mütze in der einen und der Pacht in der anderen Hand. Aber in letzter Zeit wurden mehr faule Eier und verdorbene Hühner abgeliefert als je zuvor. Die Holzschuhe des Schusters spalteten sich schon nach einer Woche, und die Häute für die Strümpfe hatten Messerspuren und zerrissen beim Gerben.
Das alles wegen der Sache mit dem gefangenen Christian II. Für den Adler, der seine Schwingen ausbreitete und die kleinen Vögel vor dem gierigen Habicht schützte. Aber die kleinen Vögel vergaßen offenbar völlig, daß sich der Adler wie ein Aasfresser gebärdete. Bloß das Töten überließ er den anderen.
Nach Ides Einschätzung waren drei Bauern mit Spaten, Lanze und Heugabel genauso gefährlich wie ein feindlicher gepanzerter Ritter, und beim Obstgarten schaute sie zurück.
Das Haus war nicht groß. Es war nicht wie die Prachtbauten, die es, wie sie wußte, im Ausland gab. Aber das rote Mauerwerk war beinahe vier Ellen dick. Die Schießscharten bildeten einen schönen Kranz um das untere Stockwerk. Sie zeigten nach Norden. Nach Osten. Nach Süden. Nach Westen. Der Burggraben war tief, und er war breit. Die Zugbrücke konnte hochgezogen und ein Fallgitter herabgesenkt werden, und ganz unten im Keller, unter einem geheimen Deckel, lag die Brunnenbohrung, die bei einer Belagerung die Versorgung mit Wasser sicherte. Ide freute sich, daß das Geld nicht für Schmuck und Flitter benutzt worden war.
Birgitte lief ihr unter dem frisch sprießenden Laub entgegen. Ide fing ihr kleines Mädchen auf und dachte, wenn Gott einen jeden Menschen in seinem Stand zur Welt kommen ließ, mußte man die Himmelsmächte auch um Hilfe bitten dürfen, wenn diese Ordnung gebrochen wurde.
Sobald sie Birgitte von der heiligen Dorothea erzählt hatte, von dem Korb mit Blumen und Früchten, die ihr Christus im Februar zur Richtstätte gesandt hatte, wollte Ide zur heiligen Anna beten.
Die Mutter Gottes war so sehr beschäftigt, den vielen gebärenden Frauen zu helfen. Anna hatte mehr Zeit, sich eine Bitte um Erhaltung der von Gott gestifteten Ordnung anzuhören. Wie Gott die Sprachverwirrung einführte, weil ihm der Turm von Babel zu nahe kam, mußte er den Bauern auch ihre gefährliche Fähigkeit des Singens nehmen können.
Birgitte begeisterte sich nicht sonderlich für die Bekehrung von Theophilius zum christlichen Glauben, erkundigte sich aber vorsichtig, ob wilde Erdbeeren in dem Korb waren, die der himmlische Bräutigam Dorothea sandte. Und Kirschen. Und obwohl es in Wirklichkeit Rosen und duftende Äpfel waren, durfte Birgitte selbst den Korb ausstatten. Der Glaube war schließlich für so ein kleines Kind wichtiger als die Flora. Die Rosen wurden ersetzt durch einen Strauß blauer Veilchen und die Äpfel durch Beeren des Waldes, während die Schwalben tief über die Wiesen flogen und Regen ankündigten.
Doch gegen Abend verteilte sich die kreuzförmige Wolkendecke. Das Quaken der Laubfrösche hörte auf, und beim Läuten der Kirchenglocken ging die Sonne in roten Streifen hinter den Linden unter.
Aus dem Untergeschoß ertönte kein Gesang mehr. Die Mägde und Weibsleute scheuerten die Töpfe mit geschlossenem Mund, und das Einsalzen des letzten Lammfleischs verlief schweigend. Vielleicht schwiegen sie, weil die heilige Anna ihr Flehen erhört und Gott gebeten hatte, ihnen Schweigen aufzuerlegen.
Wenn die Kirche verschwinden sollte, wem fielen dann die Ländereien der Kirche zu? Und wenn der Adel tot war, wer wurde dann Herr über die Ländereien des Adels?
Vielleicht schwiegen sie, weil alle Vögel schwiegen, bevor ein Unwetter losbrach.
Die Bauern feierten Sankt Zwiebel. Im besten Sonntagsstaat mit Hut, Silberknöpfen und Kuhmaulschuhen und um die Knöchel gebundenen Zwiebeln. Sie liefen herum und traten sich gegenseitig darauf. Dasselbe wurde gemacht, wenn die ersten Ladungen des fetten Herbstherings an Land kamen, und der Spaß hieß Sankt Hering.
Diese Feste pflegte man auf der Gemeindewiese zu feiern. Nicht in der Kurve direkt vor der Kirche. Ide hielt das Pferd an. Mehrere Burschen und Mägde sprangen bereits zwischen den Grabsteinen herum. Der Pfarrer stand in der Tür der Vorhalle, seine kurzen Arme ausgebreitet wie der Gekreuzigte, und es erklang lautes, rohes Gelächter, als jemand grölte, daß es sicher ein Milchzahn Jesu sei, den er in dem Reliquienschrein aufbewahre.
Es wurde getrampelt und getreten, gejohlt und geschrien. Leere Bierkannen häuften sich an der Kirchenmauer, und der Dorftrottel, Lange Lars, stolperte über zwei Spanferkel und landete kreischend auf dem Bratrost und verrenkte sich die Schulter.
Ide betrachtete sie. Wer war gesetzestreu? Wer war aufrührerisch? Wer war rechtgläubig? Wer war ein Ketzer? Katrines großer, weißer Körper produzierte sich, vollbusig und mit Hohlkreuz, als präsentierte sie eine üppige Schale mit den Früchten des Jahres. Sie lebte in der Kate, kannte weder Kalk noch ein gedecktes Dach und hatte nie Getreide auf dem Speicher. An Mariä Verkündigung verlor sie bei einer Prügelei mit Äxten fünf Finger, und ihr Bruder wurde am Abend des Ambrosiustages gehenkt, weil er die Münzen gestohlen hatte, die die Gemeinde am Karfreitag unter das Kruzifix gelegt hatte.
Lahme Janus schnarchte im Schatten des Kirchturmes, die spitze Nase in die Luft gestreckt und das kranke Bein im Feuerlöschteich. Morten der Riese verprügelte seine schweigsame, blasse Frau mit einem toten Aal, während sich der Küster im Schatten eines dreirädrigen Karrens die Finger leckte und vor Glück kicherte beim Zählen der Ablaßbriefe, von denen jeder wußte, daß er sie beim nächtlichen Würfelspiel mit einem stockbesoffenen Dominikaner gewonnen hatte.
Ein Grasbüschel kam geflogen und machte Ides Pferd unruhig, und ein Huhn stakste mit einem dreijährigen Knaben hinter sich vor ihr über den Weg. Das war Katrines Zweitjüngster, ein verdreckter, rundlicher Bursche. Er fing das arme Tier und lachte; es war ein Grübchen in seinem Kinn. Als die kleinen Finger in die Federn griffen und das Tier hoch in die Luft hoben, wurde Ide an irgend etwas erinnert.
Aber sie wollte nach Hause. Alle Zwiebeln waren platt getreten. Der Pfarrer stand immer noch mit ausgebreiteten Armen da, um sein Heiligtum zu schützen. Der Knabe stand immer noch mit dem Huhn in der Luft mitten in der Wagenspur, als Mikkel der Schmied die Trense ihres Pferdes packte, auf den Kleinen deutete und mit der Zunge halb aus dem Mund rief:
»Diese Vaterschaft kann der Herr nicht verleugnen.«
Ide schlug mit der Reitpeitsche nach ihm. Doch obwohl betrunken, war Mikkel zu schnell, er duckte sich und rief:
»Es gibt noch mehr von der Art. Schau sie nur den Haarwirbel an.«
»Mein Jüngster gehört dazu«, grinste Maren.
Ide ritt im Galopp über die Hügel, aber die Worte klebten an ihrem Rücken wie ein großes, giftiges Insekt, und sie schob instinktiv die Schulterblätter zurück.
Das war gelogen. Gemein gelogen wie das mit dem Milchzahn Jesu. Es gab gar keinen Wirbel in dem Haar des Buben.
Doch sie hatte ihn nur von rechts gesehen. Olufs Wirbel saß über dem linken Ohr. Einen Augenblick dachte sie daran, umzukehren und sich den Knaben gründlicher anzuschauen. Davon konnte aber keine Rede sein. Außerdem war ein Wirbel keinerlei Beweis, ebensowenig wie ein Grübchen im Kinn. Und Birgittes Haar war ja völlig normal.
Ide trat nach einer Ratte und ging in die Kinderkammer, um nach Mette zu sehen.
Die Amme nahm die wöchentliche Überprüfung als Ausdruck der besonderen Sorge einer Mutter für die Gesundheit ihres Kindes und stand gerührt mit schräggelegtem Kopf da, als Ide, da nichts festzustellen war, sie bat, das Kind wieder zu wickeln.
Oluf schickte Briefe. Er erkundigte sich eifrig nach Mette und berichtete, daß die Wahl des Königs um ein Jahr verschoben worden war, weil Einigkeit herrschen mußte mit den norwegischen Bischöfen.
Ide war dreizehn, als Christian II. mit seiner Königin und seinen drei Kindern aus Land und Reich floh. Die Mutter war gerade damit beschäftigt, Tüten mit getrocknetem Lavendel gegen die Motten herzurichten, als die Botschaft kam. Ihre Hände fielen schwer in den Schoß, und sie lächelte. Es war das erste Mal, daß Ide das Lächeln ihrer Mutter sah. Es war das erste Mal, daß sie ihre Zähne sah. Sie waren breit und weiß. Es fehlte einer im Oberkiefer und einer im Unterkiefer, aber das war nicht viel nach neun Geburten.
Seitdem verband Ide immer die Flucht des Königs mit dem Geruch nach getrocknetem Lavendel und dem Anblick der Zähne ihrer Mutter, die sie nie wieder sah. Auch nicht, als sich Kopenhagen endlich König Frederik ergab. Sie lächelte auch nicht, als Christian II. zurückkehrte und als Gefangener nach Sønderborg gebracht wurde.
Beim Tode König Frederiks sagte sie, alle Sehnen ihres Halses gespannt:
»Er lebt immer noch, und seine Töchter sind am Leben, und die sind gefährlich.«
Politik war etwas für Männer. Nicht für Frauen, nicht einmal fürstliche. Doch wenn der Führerwolf stirbt, beginnt der Kampf im Rudel, und wenn es keinen König gibt, tauchen leicht sehr viele Könige auf. Ide schüttelte sich und legte Olufs Brief halb gelesen beiseite und schickte statt dessen nach der Person, die ganz genau wußte, wer der Vater von wem war und was im Dorf Valløby der Wahrheit entsprach und was nicht.
Auch wenn sie den Keller von allem Gebräu und allem Wein leerte, würde es nicht möglich sein, Pater Niels eine einzige Beichte zu entlocken. Aber es gab andere Wege, etwas in Erfahrung zu bringen. Wenn der Geistliche zum Gutshof gebeten wurde, kam er stets mit schlingernden Wagenrädern und fliegender Kutte, froh, seiner aufmüpfigen Gemeinde, der mürrischen Haushälterin, dem dünnen Bier und den trockenen Schinken zu entkommen, und er hatte gewiß jedes Wort, das gesagt wurde, gehört.
Ide wartete am offenen Fenster, um genau die Haltung des Mannes zu sehen, wenn der Karren über das Pflaster rollte. Aber das dauerte offenbar seine Zeit. Hinter den langen Streifen der Felder wurde der Horizont dunkel und die ganze Landschaft nach unten gedrückt. Das Licht über der mageren Saat verlöschte abrupt, als würde sich der Himmel der Erde bemächtigen, und ein Rauschen fuhr durch die gewaltigen Baumkronen, wie eine Meldung von Baum zu Baum, daß es nun geschehen würde.
Der erste Donnerschlag erklang draußen im Westen, als der Pfarrer endlich in Sicht kam. Er rumpelte zum Scheunentor. Er schirrte ab. Er hatte offenbar keine Eile, unter Dach zu kommen. Bei der Zugbrücke schlurfte er dahin, als müsse er einen Pflug durch ausgedörrte Erde ziehen. Ide beugte sich noch weiter vor.
Der Pfarrer blieb direkt unter ihr drei Schritte von der Tür stehen, so daß sie den tonsurierten Scheitel sehen konnte, und als er mit zitternder Hand das Zeichen des Kreuzes schlug, wußte sie ausreichend Bescheid über die vielen Beichten des frommen Oluf.
Ide schlug heftig das Fenster zu, gab Anweisung, von einem Faß mit Klarett zu zapfen, und bereitete sich auf einen freundlichen Empfang vor.
Ide erwachte beim ersten Morgengrauen. Draußen sangen die Vögel mit einer Kraft, als seien allein ihre Stimmen imstande, die Sonne über den Horizont zu ziehen. Sie hatte von dem Knaben geträumt, der hinter dem braunen Huhn herrannte. Er hatte Grübchen im Kinn und Wirbel im Haar, und in einer Ecke stand Katrine und lachte, während sie selbst eine Bilanz nach der anderen durchging und aufschloß und zuschloß. Schüsseln mit Ablaßbriefen und Wannen voller guter Taten hatten sich angehäuft, höher und höher, zusammen mit ihrer Mitgift an Leinen, Silberbechern und Besitzdokumenten von reichen Ländereien auf Tommerupsholm.
Sie erhob sich im Bett. Oluf war nicht mit im Traum. Aber er gehörte in die Wirklichkeit. Er mußte einfach hineingehören. Die Ehe war ein Sakrament. Das war heilig. Es war unverbrüchlich und von Gott im Himmel eingesetzt, der in diesem Augenblick den Keim zu einer Liebe legte, die von Tag zu Tag wachsen und zum schönsten Baum des Gartens werden sollte. Das hatte ihr Beichtvater gesagt. Und die Eltern. Aber sie hatte diesen Baum der Liebe nie gesehen. Auch nicht bei ihnen.
Fünf Jahre nacheinander gebar die Mutter zur Säzeit einen Knaben und ging hinter seiner Leiche zum Grab, ehe die Sicheln im September die Ähren des Strohs schnitten. Ides Kindheit war eine Angst vor allem Fremden gewesen. Gebete mit den Knien auf kaltem Boden. Schweigend eingenommene Mahlzeiten. Und dann das Familienporträt mit den zwei lebenden Brüdern, der Schwester und ihr selbst im ersten Schnürleibchen und die fünf mondbleichen Säuglinge auf einem finsteren Himmel schwebend, jeder einzeln gemalt, ehe der Sargdeckel zuschlug.
Die Eltern feierten nie ein Fest. Das Lachen des Vaters wurde nur in Abwesenheit der Mutter freigelassen. Doch Ide hatte selbst auch nie ein Fest gefeiert. Sie hatte sich vor dem Lärm und den groben Geräuschen gefürchtet, vor dem Ungezähmten, dem Berauschten, davor, sich selbst zu verlieren. Und was würde Oluf zu soviel Ausgelassenheit sagen.
Ide stand auf, zog sich rasch ein Hemd über den Kopf und öffnete das Fenster. Es lag ein Lichtgeflimmer über dem Wallgraben, und die Wasserpfützen glitzerten. Noch hatte die Erde nicht ihre Farben. Sowohl das Gras als auch die Bäume waren grau. Aber Gott hatte es regnen lassen. Gott hatte die Ernte gerettet. Gott hatte ihr Freude geschenkt. Sie atmete sie ein, und vielleicht war Mette auch als Freude gekommen. Vielleicht war Oluf deshalb so angetan von ihr. Und von Katrine, die immer lachte.
Die Frau, die die Nachttöpfe holte, kam herein. Sie schleifte die Füße hinterher, ging zur einen Tür hinein und zur anderen hinaus. Ide sah an sich hinunter. Die Hände waren direkt unter der Brust fest gefaltet, als preßten sie etwas, das schmerzte. Sie erschrak bei diesem Anblick, zwang die Finger auseinander und schaute auf. Draußen kamen allmählich die Farben zum Vorschein, Schatten und Gebäude bekamen Linien und Umrisse. Ihr wurde plötzlich klar, daß sie eigentlich nie gedacht hatte. Sie hatte nur gelernt. Gebete, Bibelworte und Sternendeutung für den Hausgebrauch. Lesen, Rechnen und Sticken und sämtliche Ahnen von der Seite des Vaters und der Mutter her aufzählen. Alle die Toten. Sie hatte nie ihre Hände und Füße benutzt. Sie bewegte sich wie eine Maschine. In der Nacht, in der Mette geboren wurde, hatte sie zum ersten Mal über mehr nachgedacht als über die Ursachen des widerspenstigen Wetters.
Sie mußte etwas unternehmen. Sie konnte nicht einfach in der morgendlichen Kühle dastehen und nichts tun. Sie hatte geschworen, daß sie lieben wollte und klug sein und treu sein. Das erforderte Großmut und Vergebung. Sie war dreiundzwanzig Jahre alt, hatte zwei Geburten überlebt und hatte vielleicht noch viele Jahre vor sich.
Es sollte ein Fest gefeiert werden. Das kam wie eine plötzliche Eingebung. Ide kroch unter die Decke und merkte erst jetzt, wie kalt ihre Beine geworden waren, und sie rieb sie warm.
Alle sechzehn Kerzen auf dem Kronleuchter sollten angezündet werden, und der Glanz würde die Erinnerung an fünf tote Kinder und einen Knaben mit braunem Huhn aus ihrem Gedächtnis verscheuchen. Die Silberbecher sollten aus dem Silberschrank geholt werden und aus dem Pretiosenschrank die kostbaren Bankettdecken und das silberbestickte Gedecktuch mit den Wappen der Munks und der Rosenkrantz’ aus Goldfäden. Die Zinnkannen sollten mit echtem spanischen Alicantewein gefüllt werden, schwer und süß, mit etwas Glück in der Stadt Køge zu kriegen.
Über die Zugbrücke rumpelten die ersten Karren und übertönten den morgendlichen Gesang der Vögel, während sich in Ides Kopf das Menü zusammenstellte. Suppe aus Zuckererbsen gekocht, Lamm mit Soße aus Senf, Honig und Zwiebeln gerührt, dazu ein Glas Rheinwein, vermengt mit Waldsauerklee und Portulak für den saueren Geschmack. Danach eine frisch gesalzene Speckseite mit Meerrettich und Liebstöckel. Die Tauben brauchten den mit Anis und Zimt angesetzten Senf. Pfefferminze und Brunnenkresse zur Wildpastete und Waldbeeren und Mandeln für die Kuchen. Südländische Früchte sollten bei den Händlern am Hafen gekauft werden und schließlich die gesäuerten Käse.
Seitdem man die Bettelmönche aus dem Køge-Kloster vertrieben hatte, war es unmöglich gewesen, Salat, Radieschen und Kürbisse aufzutreiben. Offenbar war für das Gedeihen der fremdartigen Gewächse sowohl die Enthaltsamkeit des Zölibats als auch eine Hand von oben nötig.
Es gab aber noch andere exotische Herrlichkeiten. Ide erinnerte sich an Feste bei ihrem Onkel, dem Bischof von Ribe, und den prachtvollen Anblick eines Pfaus mit entfaltetem Rad mitten auf der Tafel. Zuerst wurde er gebraten, dann stülpte man das Federkleid wieder darauf. Ein Genuß für Augen und Gaumen.
Auf Vallø hatte man keinen Pfau, und einen zu kaufen war unglaublich teuer. Aber bei einem ordentlichen Fest mußte geschlemmt werden und galt kein Knausern, weder mit Talern noch mit Mark oder Schillingen. Ide bekam Herzklopfen bei dem Gedanken an diesen Überfluß. Das sollte ihre richtige Hochzeit werden. Alles von vorne anfangen. Immer wieder. Das Bisherige war nicht geschehen.
Oluf wollte am Lucina-Tag nach Hause kommen, genau dann waren ihre sechsundsechzig unreinen Tage vorbei. Wenn er eintraf, hatte sie wieder die flüsternden Worte des Kanons gehört und war wie benommen von dem Weihrauch, und das Credo war gelesen worden. Sie hatte gebeichtet und war rein, geläutert und gereinigt.
Eine Dienstmagd ging mit einer Brotsuppe durch die Kammer. Die Sonne war inzwischen aufgegangen. Es war heller Tag, und vom Wallgraben ertönte das Geschwätz von Weibsleuten, die ihr Tagwerk damit begannen, Leinen mit Aschenlauge zu behandeln. Es roch nach feuchtem Gras, und Ide hörte drei Zimmer weiter Birgittes Stimme.
Am Abend vorher war der Pfarrer deutlich erleichtert gewesen, nicht über seine Beichten ausgefragt zu werden. Er trank mit gespitzten Lippen von dem Klarett und erzählte nur über das aufrührerische Benehmen der Bauern den geistlichen und weltlichen Herren gegenüber. Aber als er aufbrechen wollte, starrte er – geblendet vom Feuerschein – Richtung Herfølge und erinnerte an Maria Magdalena. Sie verstehe, worum es gehe, sagte er leise, klappte den Kragen hoch und ging hinaus in den Regen, zu seinem Wagen beim Schuppentor.
Ide sprang aus dem Bett. Es war nur noch eine Woche bis zum Lucina-Tag. Gewaltige Vorbereitungen standen bevor. Und eine gewaltige Aufgabe. Eine Seele sollte gerettet werden.
Ide hatte ihr kostbares, tief ausgeschnittenes, goldenes Gewand aus der Truhe nehmen lassen. Die Röcke warfen Falten um ihre Beine. Die Goldketten wurden hervorgeholt. Das Haar war mit frisch geschnittenen Rosen hochgesteckt worden. Sie spiegelte sich und sah das Erröten ihrer Wangen und ihre breiten, weißen Zähne. Die hatte sie von der Mutter, und sie waren noch alle gesund. Sie wurde plötzlich schön. Beinahe hübsch. Ihr Haar hatte wirklich die braune Farbe der Nüsse, und die Augen waren so blau wie Kornblumen. Sie schwebte – wie einst über den Tanzboden auf Koldinghus.
Der langgezogene Raum der Sommerstube bot einen prächtigen Anblick. Obwohl die Sonne noch am Himmel stand, waren alle Kerzen angezündet. Es funkelte in der Goldstickerei der Tischdecke, und Ide berührte mit einem Finger den Balken am Wappen der Rosenkrantz. Das Silber war geputzt, daß es blitzte. Das hatte ihr Vater zur Mitgift dazugegeben, nachdem die Verlobungsverhandlungen schon abgeschlossen waren. Vielleicht tat er es in der Hoffnung, daß seine jüngste Tochter die Freude finden möge, nur lebenstüchtige Kinder gebären würde und alle Gebete ein Dank über das Glück des Lebens wären. Daß sie lachen würde.
Die Gesellen standen bereit, mit neuen Mützen in der gleichen Farbe wie der exotische Prachtvogel mitten auf der Tafel, und Ide hatte sämtliche Fingernägel kontrolliert und jedes hervorstehende Haarbüschel abgeschnitten.
Die Gäste würden bald eintreffen. Alle Nachbarhöfe waren eingeladen. Die von Glob und von Bille und die Bjørns, die Familien Krognos und Basse waren ebenfalls unterwegs. Ide griff nach einem Löffel mit einer Inschrift. »Löffle langsam. Verbrenne dich nicht«, stand da. Sie lächelte, legte ihn dann aber entschlossen an Olufs Platz.
Einen Augenblick wurde ihr schwindlig, sie spürte eine Hitze und Ohnmacht. Sie mußte sich beherrschen, um ihre Hände nicht auf den Punkt direkt unter der Brust zu heben. Im selben Moment ertönte Pferdegetrappel und Wiehern. Stimmen. Das Geklirr von Waffen. Rasche Schritte die Treppe herauf und hin zur Kammer der Kinder. Sie wußte, daß Oluf es tun würde. Birgitte kam mit einer Puppe im Arm angelaufen. Jetzt war es soweit.
Oluf schritt herein, gefolgt von Rittern und Gesellen. Er trug immer noch eine Harnischbrust. Er lächelte breit und trug Mette in den Armen, hielt sie fest wie eine kostbare Kriegsbeute.
Da blieb er mit einem Mal stehen, mitten in einem Schritt, das eine Bein vor dem anderen. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht wie eine Pflanze, die sich zusammenrollt und in Sekunden verwelkt. Seine Augen zuckten vom Pfau zum Silber, hinauf zu den sechzehn brennenden Talglichtern, hinüber zu den Schaugerichten und den Weinkannen. Seine Wangen wurden hohl. Er gab langsam Mette weiter an die Amme, faltete die Hände, beugte das Haupt und rief Gott den Allmächtigen an, gnädig herabzusehen auf die sündige, gotteslästerliche Verschwendungssucht und Prasserei seiner Gemahlin.
Das Gesinde stand mit offenem Mund da. Man hörte keinen Laut.
Es begann mit einem schwachen Kribbeln an Ides Fußsohlen. Daraus wurde ein Stechen. Das breitete sich über den ganzen Körper aus. Bis in die Fingerspitzen. Bis in die Haarwurzeln. Das pochte und das hämmerte. Als würden ihre Adern in diesem Augenblick mit dem grünen, dampfenden, brodelnden, maurischen Drachenblut gefüllt.
Er, Oluf, betete um ihre Seele. Das wagte er. Das unterstand er sich. Vier Jahre hatte er sich durch ihre Ehe gequält, als sei sein Inneres wie das zerrissene Gewand. Hatte sich ins Ehebett gelegt, als sei es der kalte Stein Golgathas. Hatte ihre Lippen geküßt, als seien sie der mit Essig getränkte Schwamm. Hatte ihren Leib umarmt, als würde er ans Kreuz genagelt. Fünfzehn Vaterunser am Tag. Ave Maria – und das einhundertfünfzigmal am Tag. Beten, Flehen und Wallfahrten und bei den Mahlzeiten das demütigende Grünfutter, Kohl und Rüben. Aber für die Horde der wirbelhaarigen Hurenbälger und das nächtliche Gelüst nach breitarschigen Weibern, nach der fünffingrigen Katrine und der einohrigen Maren, hatte er in der Kirche mehr Kerzen aufgestellt als für die fünftausendvierhundertsechsundsechzig blutig klaffenden, nässenden Wunden des gemarterten entseelten Leibes Jesu. Jetzt betete er also für ihre Seele!
Es war ein saugendes Geräusch, als Ide das Schwert aus Olufs Scheide zog. Sie ging damit rückwärts, Schritt für Schritt, hob es dann mit beiden Händen und zerschnitt mit einem Hieb das Seil für den Kronleuchter genau an der Stelle, wo es am Mauerhaken befestigt war.
Mit sechzehn wie senkrecht herabsausenden flammenden Kometen stürzte der Leuchter vom Deckenbalken. Knallte mit einer Gewalt auf den Tisch, daß alle Böcke zusammenbrachen. Eine rotgetigerte Katze fuhr kreischend unter dem Tischtuch hervor. Der Pfau wurde in seiner ganzen Pracht zwanzig Ellen hoch in die Luft geschleudert, um gleich darauf von den Hunden apportiert zu werden. Das Gesinde schrie auf vor Schreck, und die Amme verschwand eilig mit Mette und zog Birgitte hinter sich her.
Ide empfand eine tiefe, leidenschaftliche Befriedigung, als sie den Schwertschaft zwischen ihren Händen spürte und die auf den Boden gekrachte Tischplatte erblickte. Sie genoß jedes Detail. Die Silberbecher waren verbeult. Messer und Löffel verbogen und zerbrochen und nach allen Seiten verstreut. Das goldbestickte Geschlechtswappen der Munks schwamm im kostbaren roten Alicantewein, der aus den umgekippten Zinnkannen gluckerte, und das andere Ende des Tischtuches hatte Feuer gefangen und fraß sich hinein in das Wappen der Rosenkrantz’ mit seinen Balken, Fahnen und Federbüscheln.
Ide drehte sich um. Sie schmiß triumphierend Oluf das schwere Schwert vor die Füße. Es schlitterte über die Steinfliesen und durch Seen aus Honig und Senfsoße. Wieder hatte sie zuerst die Hand ausgestreckt. Doch diesmal zog sie sie rechtzeitig zurück.
Oluf stand noch genau dort, wo er das Haupt zum Gebet neigte. Er war keinen Zoll vom Platz gewichen. Das verklebte und besudelte Schwert zu seinen Füßen ließ er liegen und starrte Ide an.
Es waren helle Ringe um seine Pupillen, und um seine Nasenlöcher zuckte es. Diesen Ausdruck in seinen Augen hatte sie noch nie gesehen.
»Aufräumen!« herrschte er das Gesinde an, ohne den Blick abzuwenden, und um sie begann ein hastiges Gerenne.
»Reitet den Gästen entgegen, und sagt ihnen, sie mögen umkehren«, befahl er, trat vor und umfaßte Ides Schulter. Die Fingerspitzen tasteten zu ihrem Ausschnitt und um den Hals. Ide blieb stumm und bewegungslos stehen, während Oluf eine einzelne Rose aus ihrem Haar zog und damit eine Locke löste. Sowohl die Locke wie die Rose führte er an seine Lippen und küßte beide, bevor er sie zur Tür geleitete.
Am nächsten Morgen erwachte Ide in einer Wolke aus Federn und Daunen. Es regnete sie förmlich. Sie lagen überall – im Bett, auf dem Fußboden und auf den geschnitzten Rändern der Möbel. Oluf schnarchte laut an ihrer Seite, und jedesmal, wenn er ausatmete, stoben erneut Daunen hinauf zum mit Damast verkleideten Betthimmel.
Ide schob das zerfetzte Plumeau aus dem Bett, streckte sich und stellte fest, daß der eine Vorhang halb abgerissen war. Das war nun aber nicht sie, die das gemacht hatte.
Das goldene Kleid lag über dem einen Stuhl, und die ersten Sonnenstrahlen blitzten im Harnisch, der auf der Truhe stand.
Hätte Oluf ihn nicht angehabt, hätte Ide ihm ebensogut das Schwert quer durch sein Herz bohren können. Damit wäre seine Reise hinunter ins Fegefeuer beschleunigt worden, wo der Schmerz eines Tages schlimmer war als das, was man einem menschlichen Körper in einem Jahr an Peinigungen zufügen kann. Falls Olufs Weg nicht direkt in die Hölle führte.
»Was er verdient hätte«, dachte Ide. Sie faltete die Hände um die Nachthaube und grübelte, woher sie die Kraft genommen hatte, das Schwert hochzuheben. Es wog soviel wie ein Ochse.
Als sie als Kind einmal schreiend auf einem wilden Hengst saß, hatte der Vater gerufen:
»Laß die Finger von Dingen, die du nicht kannst!« Sie wurde damals fertig mit dem Pferd. Gestern schwang sie ein Schwert. Und sie wünschte sich, es wieder zu tun.
Der Wirbel über Olufs Ohr war vom langen Schlafen plattgedrückt worden und glich einer Spirale. Eine graue Entenfeder schwebte aus der Draperie herunter. Ide folgte ihr mit den Augen, blies sie an und fühlte sich selbst so leicht wie die zu Hunderten herumfliegenden Daunen.
Sie war von einer unmenschlichen Bürde befreit. Auch wenn sie den Stein der Weisen fand und im geheimnisvollen Prozeß der Alchemie kostbares Gold herstellte, auch wenn sie acht rotwangige, lebenstüchtige Söhne gebären und Gerichte auf den Tisch bringen würde, die sogar den extravaganten Hunger des Lucullus befriedigen könnten, so ließ sich Olufs Lebensbahn auf seinem Weg zum Jüngsten Gericht nicht ändern.
Gott im Himmel bestimmte, wann Oluf diese Erde zu verlassen hatte. Erst im Jenseits fand der Kampf statt mit schwankenden Ölzweigen und zugespitzten Holzgabeln, der Kampf der göttlichen Gnade gegen die heimtückische Bosheit des Teufels, der Kampf um diese schmutzige, besudelte Seele.
Bis dahin sollte sich Olufs fleischlicher Körper genau da aufhalten, wo sie sich befand. Zu ihrem Vergnügen. Zur Freude vieler Nächte, und wenn er in fünf Tagen nach Nyborg aufbrach, beabsichtigte sie, auf die Frage nach ihrer Begleitung ja zu sagen.