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2. Kapitel

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An einem Novembertag auf Schloß Nyborg entdeckte Ide den Wirbel in Mettes Haar. Die Dienstmagd hatte ein Fenster geöffnet, um eine Katze hinauszujagen. Die Sonne hing herbstmüde hinter einer ausgefransten Wolke, als die Strahlen durchbrachen und in einer blitzschnellen Drehung die Spirale über das linke Ohr des Kindes zeichneten.

Es war nur eine winzige Andeutung in den Haarspitzen, und alles wurde wieder grau. Aber es genügte. Das war kein Kind des Teufels. Es stammte von keinem anderen als von Oluf.

Als Mutter hätte Ide überirdische Erleichterung empfinden müssen. Sie hätte auf die Knie fallen müssen, hätte den Rosenkranz nehmen und Perle um Perle durch die Finger laufen lassen müssen, ein Mariengebet nach dem anderen, ein Vaterunser nach dem anderen in tränenreicher Danksagung an Gott den Allmächtigen, ob seiner unsäglichen Gnade. Statt dessen streckte sie die Hand nach einem Kamm aus.

Ide kämmte den Wirbel aus, wo sie ihn gesehen hatte. Das Haar sollte begradigt werden. Behutsam natürlich. Aber wie von selbst wurde der Griff bestimmter. Die Hand packte fester und fester zu und kämmte gegen die Richtung der Spirale. Mettes Augenfarbe wechselte zwischen blau und braun. Jetzt wurde der Blick dunkel wie bei einem Eichhörnchen, und plötzlich schrie sie, wie sie nicht geschrien hatte, seit sie zum ersten Mal bei stundenlangen Ritten die harten Stöße eines Pferdes spürte. Mette riß ihr den Kamm aus der Hand und schleuderte ihn auf den Boden.

Erst sieben Monate und wagte sich gegen ihre Mutter aufzulehnen. Ide hob wütend den Kamm auf. Aber Mette saß auf dem Tisch und war sogar heulend das entzückendste Kind, das Ide je gesehen hatte. Ide entdeckte nichts von sich. Nicht einmal die Form der Ohrläppchen. Nicht einmal die Linie der Lippen besaß eine Spur von Ähnlichkeit, und kein Kämmen, weder mit Wasser noch mit Ölen, würde den Wirbel aus dem Haar der Kleinen entfernen können.

Die Zinken des Kammes in ihre Finger gebohrt, dachte Ide an die vielen Male, wenn sie ihre Ringe und Halsketten angestarrt hatte, um ihre chemische Zusammensetzung zu sehen, die sie zu echtem Gold machten, während alles, was sie zusammenschmolz, nie dazu wurde. Sie warf den Kamm zur Seite und überließ Mette der Amme.

Mette war Olufs Tochter. Jeden freien Augenblick trug er sie herum. Der große Mann formte seine Arme wie ein offenes Boot, und da lag das Kind und ließ es sich gutgehn. Sie hielt sich am Brustharnisch ihres Vaters fest, zupfte an den Streifen der geschlitzten Ärmel und drehte den Kopf mit ihrer pelzgefütterten Mütze, um die Enten in dem um das Schloß aufgestauten Teich zu betrachten. Oluf erklärte ihr umständlich den Avernakkedamm und warum der eine Wasserstand höher war als der andere und daß der Festungsturm »Die Weiße Jungfrau« gebaut wurde, um den Feind daran zu hindern, das Wasser wegzusprengen.

Er nahm Mette mit zur Abrichtung der Falken, und allein ihr zu Ehren wurde eine der Kanonen mit schwarzem Pulver gestopft und abgefeuert. Während die Offiziere und Soldaten mit gezogenen Schwertern angerannt kamen in dem Glauben, die Lübecker stünden vor den Toren, klatschte Mette mitten in dem Pulverdampf und dem Gedröhne nur begeistert in die Hände, denn sie war natürlich von Geburt an Lärm und Spektakel gewöhnt.

Birgitte stopfte sich voll mit Würsten und Pasteten. Jedesmal wenn sie ihre Schwester sah, fing sie zu betteln an. Die Backen wurden dick, und als Ide ihre Portionen bei Tisch rationierte, legte sich Birgitte heimlich Vorräte an Nüssen und Wurzeln an, sammelte Zweige und stibitzte im Keller Hühnerbeine. Selbst wenn sie nichts im Mund hatte, bewegten sich ihre Kiefer, sobald Mette in die Nähe kam. Sie schnappten, als bissen sie in Speck. Eines Tages fand man Birgittes Puppe im obersten Schloßteich schwimmend, in jedem Auge sieben Nadeln, und das Mädchen heulte und bekam Krämpfe, als sie ihr Spielzeug wiedersah.

Ide konnte sich mitten in der Hektik des Schlachtmonats kaum um die Kinder kümmern. Mehr als hundertfünfzig Münder warteten täglich auf etwas zu essen. Es war genug abzuzählen, genug einzukellern. Abgesehen von den Osterlämmern des Vorjahres und vereinzeltem zusätzlichem Wild, mußten die Fleischvorräte reichen, bis das Geflügel und das übrige Vieh wieder für ein Jahr gemästet waren.

Es wurde gerupft und enthäutet. Geteilt und zerhackt. Gesalzen und geräuchert. Brennholz und Fässer lagen stapelweise im großen Vierkant des Schlosses zusammen mit Tierkörpern, deren Beine steif in die Luft ragten, und haufenweise Hühner, Enten und Gänse, denen man den Hals umgedreht hatte. Es dröhnte, wenn die Wagen durch das Tor fuhren, die Räder knirschten in dem trockenen Laub, und Fuhre um Fuhre wurde von den Bauern, die sich Bänder mit den Farben der Oldenburger um ihre Peitschen gewickelt hatten, abgeladen.

Hier wohnte Herzog Hans. Auch ein Oldenburger, aber nicht der Oldenburger, den sie im Sinne hatten, wenn sie im Ostwind und bei nebliger See mit der Peitsche knallten und die rotgelben Fähnchen wehen ließen, wie eine persönliche Kriegserklärung an das Pulver, die Kugeln, den Stahl und die Kanonen des Gutsherrn.

Schloß Nyborg war die stärkste Festung auf Fünen und außerdem der Ort, wo Christian II. geboren wurde. Als er Säugling war, rettete ihm während eines Brandes ein Affe das Leben, indem er ihn auf dem Dach in Sicherheit brachte.

Möge diesen Affen der Teufel holen, dachte Ide beim Anblick eines weiteren Bauern im Hof, der sich zur Abwechslung die Bänder an seine Mütze gebunden hatte. Ihre Erbitterung wurde nie in gleicher Weise zur Gewohnheit, wie die Rufe der Offiziere auf den Bastionen, das ewige Heulen des Windes an den Mauerekken oder die Freude, in der modernen Wohnung des Lehnsmannes zu wohnen.

Ide war an einem sonnigen Augustabend mit dem Schiff in Nyborg angekommen. Vom Schiff aus konnte sie die aneinandergebauten Häuser im Norden sehen, eine Ansammlung niedriger senkrechter Linien unter den Rauchsäulen der Feuerstellen, und die Spitze der Frauenkirche. Hier wohnten Handwerker, Kaufleute und Krämer. Direkt vor ihr erhoben sich die erdig roten Mauern der Festung lotrecht aus dem Wasser. Sie reichten bis zum Himmel und boten Wohnung für Herzöge und Gutsherren. Die Stände waren dazu da, das Volk einzuteilen. Die einen sollten gebieten, die anderen gehorchen. Ide mochte es, wenn die Dinge sichtbar gemacht wurden, und schritt leicht und beschwingt auf ihr neues Zuhause zu.

Oluf zeigte den Weg zur Wohnung des Lehnsmannes im östlichen Flügel. Er machte es mit weit ausholender Handbewegung. Ide ahnte seinen Stolz über all das Neue, Elegante und Moderne, aber sie wollte schon selber bestimmen, was ein imponiertes Staunen verdiente. Wenn überhaupt. Die Wände waren mit Kalkmalereien verziert. Das war schön. Ein Söller zog sich am oberen Stockwerk entlang, so daß man das Gesinde an den Räumen, in denen es nichts zu schaffen hatte, vorbeischicken konnte. Eine ausgezeichnete Idee.

Nach zwei Schritten in der Sommerstube blieb Ide stehen. Geblendet und entzückt. Die Fenster nach Westen waren nicht die üblichen niedrigen Öffnungen im Mauerwerk. Es waren richtige Nischen. Ein Erwachsener konnte aufrecht darin stehen, und das Licht schlug ihr in großzügiger Helle entgegen. Ide wurde es heiß. Die Hitze kam von innen. Eine hemmungslose Freude, allein Gegenstand für die Aufmerksamkeit der Sonne zu sein. Ihre Hände griffen an den Hals und glitten langsam nach unten. Die Sonnenstrahlen waren wie ein Bad in goldenen florentinischen Ölen, sie rieb ihre Haut, und sie legte den Kopf in den Nacken und verharrte, die Augen halb geschlossen, in dem bisher völlig unbekannten Genuß.

Plötzlich bemerkte sie Oluf. Unter den Augenlidern nahm sie die Umrisse seiner Gestalt wahr. Die schrägen Linien des Baretts, des Wamses und der weiten Beutelärmel über den langen dünnen Beinen im Gegenlicht, etwas links vom mittleren Fenster. Ide trat rasch aus dem Licht und begegnete Olufs Lächeln. Er amüsierte sich. Vielleicht lachte er. In einem Reflex riß sie die Hände hoch und wollte sich decken. Ihren Gesichtsausdruck. Ihren Körper. Sie rannte fieberhaft hin und her und kritisierte die geringe Tiefe des Kamins. Der würde mit Sicherheit nicht genügend Wärme geben, wenn der Winter kam.

Oluf entfernte sich plötzlich. Ide hörte die Schritte hinter sich. Sie griff nach dem Kamin und sammelte sich.

Die Sonne war gesunken und lag wie eine dicke, überreife Zitrusfrucht hinter dem Wetterhahn am Südwestturm des Königsflügels. Es roch frischer als daheim auf Vallø. Aber hier war auch mehr Wasser, mehr Platz und mehr Licht und Ruhe, nachdem das Gesinde nicht mehr ständig mit Brennholz, Töpfen und Eimern für den Nebenraum gelaufen kam. Hier konnte man mitten im Zimmer ein Buch lesen. Natürlich im Sommerhalbjahr und nur wenn die Sonne schien und alle Fenster geöffnet waren.

Ide war die Frau des Lehnsmannes geworden. Es gab nun viermal soviel zu zählen. Viermal soviel zu kontrollieren. Aber wenn es Abend wurde, wenn die Talglichter und Fackeln in der gesamten Länge des Königssaales angezündet waren, fühlte sie sich viermal so erhaben.

Hier wurde in früheren Zeiten hofgehalten. Sie gehörte jetzt zu den vornehmsten Frauen. Der Feuerschein flackerte über das kunstvolle Würfelmuster der Wand, und nur an den festgesetzten Fasttagen wurde Fisch aufgetragen, sonst stand Fleisch auf dem Tisch und natürlich Löffelspeisen und Milchgerichte für die, die alle Zähne verloren hatten.

Am Allerheiligentag stand im Blickpunkt des Festessens ein Trojanisches Pferd, in dessen Bauch sich statt der Krieger des Agamemnon glänzendes Konfekt befand. Als die Heiligenkrone des Kalenderstabes das Fest der Schmerzhaften Jungfrau anzeigte, wurde die Domkirche von Reims hereingetragen, und Oluf jubelte, als Mette, die auf seinem Schoß saß, mit raschem Griff die vergoldete Turmspitze abbrach.

Beim Fest des heiligen Klemens stand ein Pfau auf der Tafel. Strahlend zwischen Rittern und Gutsherren, und durch den knisternden Halbkreis des Rades begegnete Ide Olufs langen Seitenblicken unter dem Aderngeflecht seiner Augenlider. Er zeigte die Erhabenheit und Souveränität des Machthabers, doch ab und zu bemerkte sie ein Zögern, bevor er vom Braten nahm. Eine Gewohnheit nur, daß so viel gebüßt werden mußte. Er sollte lieber daran denken, daß die Nächte dort verbracht wurden, wo sie verbracht werden sollten. Jede Nacht seit Sankta Lucina.

Vielleicht sehnte er sich direkt nach der demütigenden Askese oder nach dem verlockenden Wechselspiel zwischen der Wonne, nach den verbotenen Früchten der Nacht zu greifen, und dem Schreck vor dem Preis, den er bezahlen mußte, wenn er im Osten den Horizont gelb heraufsteigen sah. Ide gab die Möglichkeit einer Entbehrung zu und hielt eine solche für gesund, während sie die gebratene Brust des Ziervogels zerkaute.

Der junge Herzog war schön, gescheit und sprach wie ein Erwachsener. Aber wenn die Tarotkarten ausgeteilt wurden, knallte er Kelche X auf Kelche II und Schwerter IX auf Schwerter III. Er trumpfte mit der Herrscherin und mit dem Rad des Schicksals, und aus dem pelzverbrämten Ärmel fuhr die Hand nach den Stichen wie eine Froschzunge nach einer Fliege. Er war trotzdem erst zwölf Jahre alt, und seine Handgelenke waren dünn. Unten in Holstein wartete der Bruder und Ketzer Herzog Christian in dem Alter und mit der Kraft, ein Schwert zu führen sowie der Erfahrung in Kriegsführung, und hier auf Schloß Nyborg hörte Ide die Reichsräte hinter vorgehaltener Hand von den klaren Vorteilen einer Adelsrepublik reden.

Alle waren sie jetzt Könige über eigenes Land, Rechtshüter des Glaubens wie des Gesetzes, völlig unabhängig geworden von einem über sich. Jeden Abend häuften sich die Stiche auf dem Platz des Herzogs, aber das waren nur Spielkarten aus zugeschnittener Pappe.

Otte Rantzau schenkte aus einer Kanne Wein nach. Dabei knickte er den Körper genau in der Mitte ab und zog die Kanne zurück, als sei sie sein Eigentum. Ide drehte den kantigen Schaft des Messers zwischen ihren Fingern. Rantzau war achtzehn, das Haar kurz geschnitten unter dem Barett, im Nacken jedoch lang wie eine Matte weichen feuchten Grases. Der Geruch des warmen Wildblutes dampfte aus einem aufgeschnittenen Tierrücken, und ihr kam in den Sinn, daß ihre Eltern statt eines zwanzig Jahre älteren ebenso einen fünf Jahre jüngeren Ehemann hätten finden können.

Am linken Tischende erklang rohes Gelächter. Im Raum hing ein Schleier von rußenden Talglichtern und rauchenden Fackeln und Kaminen. Ide setzte ihr Spiel mit dem Messer fort und hielt dabei die Augen auf den Ritter gerichtet. Unwillkürlich sah sie Holger vor sich, bei dem Tanz auf Koldinghus in dem Sommer, als sie siebzehn war, als die Nacht erfüllt war mit dem Duft des Geißblattes und sie bei dem einen verbotenen Kuß seinen Nacken umfaßt hatte.

Ide wollte einen Sohn haben. Nicht mehr zur Freude Olufs. Nicht einmal mit dem Gedanken an ihn. Sie selbst wünschte ihn sich. Genau hier, während die Südfrüchte herumgereicht wurden, verlangte sie ihn. Einen Augenblick hatte sie das Gefühl, vor etwas wegzulaufen. Zu flüchten. Aber das war nicht der Fall.

Die zwei Schwangerschaften hatten beide mit unerwarteten Schwindelanfällen begonnen, bei denen ihr alles vor Augen verschwamm. Eine Minute, vielleicht zwei, dann war es vorbei, und der Schwindel verwandelte sich in Stärke. Ide wartete darauf. Auf den Anfang des Wunderbaren, das entstand, wenn sie den Knaben in ihren Armen hielt und seine weichen Schultern spürte. Alles um ihn würde wunderbar sein.

Wenn er zur Welt käme, müßte es ein, wie es vom französischen König erzählt wurde, der aus dem Schoß seiner Mutter geboren wurde, während sie unter einem Baum voller Knospen lag und so schön sang, daß sich die Blüten öffneten und sogar die Vögel lauschten. Auch Ide wollte singen. Die Töne würden die Zahnschmerzen des Knaben verschwinden lassen, jede Ansteckung von ihm fernhalten und ihn vor Sturz, Hieb und Schlag schützen. Sie wollte summen, während sie sein Haar kämmte, das so hell und so weich war und ohne den geringsten Wirbel.

Irgend etwas lenkte Ides Gedanken ab. Eine Schüssel mit Wasser zum Händewaschen wurde herumgereicht, und Ide bemerkte die Verwirrung bei einigen Gästen, denen eine eigene Serviette ungewohnt war statt der Stofflumpen, die sich fünf oder sechs teilen mußten, falls sie nicht ohnehin das Tischtuch nahmen.

Während sie die Finger eintauchte, fiel ihr ein, daß Oluf keine Rolle in ihrem Traum spielte. Oder Mette. Birgitte war da als bewundernder Schatten einer Schwester. Ide wußte nicht recht, was sie mit den beiden anderen gemacht hatte. Sie befanden sich irgendwo auf der Welt, nur nicht in ihrer Nähe. Vielleicht eigneten sie sich nicht für ihren Gesang. Vielleicht eigneten sie sich nicht für ihr Glück.

Der Winter würde sie für ein Kind bereit machen. Wenn nach dem Weihnachtsfest Stille einkehrte, wenn es nur Arbeit an Spinnrad und Webstuhl im Hause gab, würde ihr Körper mit Ruhe erfüllt sein und den Keim für dieses neue Leben annehmen. Ide tastete über ihren Bauch, um gleichsam den Raum, in dem der Knabe und all das Wunderbare entstehen sollte, zu berühren. Monat um Monat wurde die Angst vor einem Aufruhr größer. Die Eß- und Trinkgelage der Fastnacht hatten die Bauern fast Amok laufen lassen, und sogar während der Stille des Fastens war die Erde wie eingesät mit glimmenden Lunten und Fässern voller Schießpulver.

Außerdem kursierten die Gerüchte. Daß der Bürgermeister von Nyborg zur Nachtzeit um das Schloß streiche, ein Wolfsfell um die Hufe des Pferdes gebunden, um lautlos Erkundigungen über Mannschaft und Befestigungsanlagen einzuziehen. Die Jungen schworen, ihn niederzuschießen. In Ermangelung des Besseren schossen sie statt dessen Ratten in den feuchten Sälen, und die Querschläger sausten zwischen den Wänden hin und her.

Ide zählte die abnehmenden Vorräte und das Ausbleiben des frischen Fisches mit dem zunehmenden Frost. Und sie zählte Tage. Achtundzwanzig. Diese Zahl hatte ihre Mutter ihr beigebracht, die wichtigste von allen. Sie machte sich Zeichen auf ihrem Kalenderstab. Achtundzwanzig – und noch mal achtundzwanzig, ohne daß sich neues Leben in ihrem Schoß regte. Das lief so präzise wie das vergoldete Messinguhrwerk, das Oluf von einem böhmischen Händler gekauft hatte und das als größte Neuheit zu bestimmten Zeiten klingeln und wecken konnte.

Das Eis auf Fjord und Belt ging auf. Die Frühjahrssaat war ausgestreut, aber etwas in Ide wurde immer noch nicht geweckt. Zerfetzte Plumeaus, herabschwebende Federn und leidenschaftliche Wonne verwandelten sich allmählich in Zahlen und Tage, dieses tickende Uhrwerk achtundzwanzig, achtundzwanzig und wieder achtundzwanzig.

Sie schluckte das in lauwarmem Wasser aufgelöste Scharlachkraut. Sie schmierte sich mit Basilikumsalbe ein und aß die Samen der Meisterwurz und der Melisse als Keime gezogen in kleinen Schalen mit Wein. Ihre Gebete am Hochaltar der Frauenkirche waren direkt an die Allerseligste Jungfrau gerichtet. Sie betete demütig unter Tränen und beichtete ihre Sünden.

Aber wenn auf den Tag pünktlich die Blutungen einsetzten, wurde ihr Flehen zornig und bezog die Seitenaltäre mit ein. Alle vierzehn. In der ganzen Kirche. Was würde Maria zu einer Tochter nach der anderen sagen, alle aufzuziehen mit Nähen, Weben, Schlüssel und Seidenband? Was wäre eigentlich aus Maria geworden, wenn Jesus nur ein Mädchen gewesen wäre? Ohne ihn keine Glorie, kein Heiligenschein, keine Anbetung oder ein Platz im Himmelreich zu Füßen von Gottvater. Maria wäre ein ganz banaler, anonymer weißer Engel geworden, denn nur bei den alten Heiden zählte die Tochter Gottes etwas und genoß Wertschätzung. So verhielt es sich nicht bei den Christen.

Ide betete so innig um einen irdischen Sohn. Nichts anderes. Jede Dienstmagd konnte einen Sohn zur Welt bringen. Jedes ungebildete Bauerntrampel, und Ide starrte sich krank an einem Weib aus den Elendshütten von Helletoften mit einer ganzen Schar von der Sorte. Vom Brustkind bis zum erwachsenen Burschen. Ein ganzer Heringsschwarm. Saugend, sabbernd, schniefend und schmutzig. O-beinig und schieläugig. Wilderer, Viehdiebe und sichere Kandidaten für den Galgen. Aber Söhne.

Der Wirbel in Mettes Haar wurde von Tag zu Tag deutlicher. Sie streckte sich, während Birgitte in die Breite ging und Ides Bauch so flach blieb wie die pommerschen Dielenbretter des Fußbodens.

Oluf sorgte sich wegen der niederländischen Drohungen und der Landung der Lübecker nördlich von Kopenhagen. Er interessierte sich leidenschaftlich für Mettes Zahndurchbruch und ihre ersten Schritte, so als geschehe ein göttliches Wunder. Gleichzeitig bereitete er die Abreise des jungen Herzogs von Nyborg vor. Die Person des Herzogs sollte vor den lübischen Truppen gerettet werden.

Frühjahr und Ausschlagen der Bäume. Zuerst Buche und Birke, bald darauf Esche und Linde, und schließlich war der große Eichenwald im Westen bis zum Horizont grün. Wieder konzentriertes Sonnenlicht. Wieder die Freude, ein Buch drinnen – mitten in einem Zimmer – lesen zu können, aber Ide blieb nie mehr im Sonnenstreifen stehen. Der rasche Schritt zur Seite war Gewohnheit geworden.

An Walpurgis feierten die Bauern und vergaßen das rotgelbe Band, die Schimpfworte und das höhnische Nachäffen. An diesem Tag schmückten sie den Maibaum, kämpften um ihn. Die eine Partei verkleidet mit den Halmen und trockenen Blättern des Winters, die andere in üppigen Farben herausgeputzt. Letztere gewannen den Kampf, wie es sein sollte, und die Mädchen jubelten und feierten die Sieger, bevor sie alle in den Sommer ritten. Es wurde gesungen und getanzt, und der trockene März, der feuchte April und die Kälte im Mai versprachen so volle Scheuern, daß sogar die Tagelöhner auf einen Winter ohne Hunger hoffen durften.

Oluf wählte genau diesen Tag für die Flucht des Herzogs vor dem lübischen Heer des Christoffer von Oldenburg, das im Namen des gefangenen Christian II. kämpfte.

Für Ide war Seeland im Augenblick weit weg, aber die Meldungen über die Kapitulation Kopenhagens, Schonens und ganz Seelands machten den Krieg gegenwärtig.

Für Oluf galt ein altes Versprechen für den verstorbenen König. Sein jüngster Sohn durfte keiner unnötigen Gefahr ausgesetzt werden. Der Tag eignete sich gut. Seine Festlichkeiten, das Spiel, der Tanz, die Wildheit, das hemmungslose Saufen und das zügellose Prassen. Das war ein Tag, um den dreizehnjährigen Herzog als Bauernburschen zu verkleiden. Ein Tag, um selbst den dreikantigen Hut aufzusetzen, die mottenzerfressene Weste anzuziehen, dazu Hosen bis unter die Knie und abgetragene Kuhmaulschuhe.

Wieder hielt Ide ein Kind an der Hand. Ein zweites am Arm. Kein Staub. Kein Husten. Es war kalt und feucht, und Ide fühlte sich hilflos und verloren. Sie stand oben auf dem Söller. Sie ließ Birgittes Hand los und umfaßte den rauhen Balken der Balustrade. Kein offizieller Abschied dieses Mal. Oluf, drei Ritter und der Herzog selbst wollten anonym in der Schar der feiernden Bauern verschwinden.

Aber der Weg zu den Herzogtümern war weit. Drei bis fünf Tage konnte es mit einem so miserablen Karren dauern, wenn er nicht ohnehin unterwegs zusammenbrach. Der Rausch der Bauern würde nicht ewig wirken, und eine einzige falsche Bewegung reichte, um die wahre Herkunft zu verraten. Ein plötzlicher Griff seitlich zum Schwert, das nicht dort hing. Das gebieterische Ausgeben eines Befehls. Und dann das sorgfältig geschnittene, kurze Haar.

Aus dem Herzog hatte man einen gewöhnlichen Burschen gemacht. Eigentlich sollte er König sein, aber er lachte über seine Verkleidung. Er drehte den Hut auf seinem Kopf, spielte damit, war aber blaß dabei. Er hätte Ides Sohn sein können in der Stunde der Gefahr. Die Königinmutter saß unten in Gottrop und hatte mehrere Söhne. Der Junge hatte immer darüber gesprochen daß alle Bauern lesen und schreiben können sollten.

Wer weiß, was er für ein König geworden wäre, dachte Ide, während über dem Wald im Westen Regenwolken aufzogen und plötzliche Windböen sowohl an dem geschmückten Wagen wie an dem frischen Laub und den Zweigen auf den Hüten von Oluf und den Rittern zerrten.

Als sie außer Sicht waren, ging Ide hinunter auf den Hofplatz. Sie hob einen heruntergefallenen grünen Zweig zwischen zwei Pflastersteinen auf. Er hatte sieben Blätter, und sie nahm ihn mit und hielt ihn in der Hand, bis es dunkel wurde. Die Blätter wurden schlapp, aber trotzdem legte sie den Zweig auf Olufs Platz im Bett, während sie kniete und zur heiligen Barbara betete, sie vor allen Gefahren auf Straßen und Wegen zu schützen. Sie glaubte den Sinn der Ehe als ein von Gott eingerichtetes Sakrament zu verstehen, als heilig und unauflöslich. Oluf hatte so sicher gewirkt, so aufrecht in seiner erbärmlichen Verkleidung, als er auf einem breitarschigen Zugpferd vor dem Karren herritt. Statt des Schwertes steckte ein Bauernmesser in seinem Gürtel.

In dieser Nacht brachen Wölfe in den Schafpferch ein. Sie verfielen in einen Blutrausch und bissen über dreißig Lämmern die Kehle durch. Den Leuten glückte es nur, einen zu erschießen. Der tote Wolf wurde am Galgen hochgezogen, neben einem Mordbrenner. Dort blieb er hängen und schwankte in Regenschauern und Westwind mit blutverschmiertem Fell, bis der Strick für einen siebzehnjährigen Burschen gebraucht wurde, der auf frischer Tat beim unerlaubten Fischen in Gewässern der Krone erwischt wurde.

Der Juli brachte die Hitze und die Flüchtlinge. Zuerst vereinzelte Wagen, die über die Zugbrücke rollten. Die Erwachsenen saßen schreckensbleich mit dem Silberzeug im Schoß. Die Kinder lagen erschöpft auf zusammengerollten Gobelins. Es ging schnell, die wenigen Wertsachen aus dem Haus zu schaffen. Bücher. Manuskripte. Ein paar Familienporträts, ein bißchen Wäsche und den Schmuck. Das über Generationen Gesammelte in einer einzigen Fuhre. Die Höfe wurden angezündet, und die Heimatlosen riefen nach Herzog Christian, als hätten sie die Fähigkeit, bis Jütland zu rufen.

Auf Nyborg war es ruhig, aber von Oluf gab es keine Nachricht. Die Aussicht auf den Königsflügel badete in der Morgensonne des Hochsommers. Ide hatte das Gefühl, an dieser Lebenskraft zu ersticken. Sie hätte vielleicht doch sagen sollen, daß es schön ist mit so großen Fenstern. Und herrlich, daß das Wasser nicht vom Brunnen heraufgeholt werden mußte, sondern durch Leitungen direkt ins Haus kam.

Der Flüchtlingsstrom nahm zu. Die Festung wurde vollgestopft mit Menschen, die ohne weiteres in die Säle des Königsflügels einzogen, den Schrecken ebenso wie die Dankbarkeit über die Aufnahme vergaßen und sich statt dessen in zwei Lager teilten. Die Rechtgläubigen im oberen Stockwerk, die Ketzer im unteren. Die Habseligkeiten wurden in Pyramiden gestapelt – mit der Allerseligsten Jungfrau oder Luthers Bibel zuoberst. Das Fehlen von Rohrstock und Zuchtmeister ließ die Halbwüchsigen außer Kontrolle geraten. Sie gründeten Banden und bewarfen sich mit Steinen, Nachttöpfen und verendeten Hühnern. Es ging die Treppe zum Söller hinauf und hinunter. Scheiben wurden zerbrochen. Der Gestank der mit Abfällen gefüllten Schächte nahm mit der Hitze zu. Prügeleien um Rang, Stand und Plazierung bei Tisch. Unmut über die angeblich zu schlechte Bewirtung.

Vom Sankta-Klara-Kloster in Odense kamen drei dicke, mittelalterliche Nonnen, verborgen unter einer Fuhre Erbsen. Die Klarissinnen krochen unter den Säcken hervor, rückten ihre Hauben zurecht, bürsteten den Staub ab und erklärten einstimmig, sie seien vergewaltigt worden. Das berechtigte sie offenbar dazu, die private Kammer des Herzogs und sein Bett in Beschlag zu nehmen, wo sie sich hinter all den Vorhängen verbarrikadierten und mit pünktlich zur vollen Stunde inszenierten Schrei- und Hysterieanfällen an ihre verlorene Jungfräulichkeit erinnerten. Das klang wie die Novemberschlachtung der Schweine. Die Soldaten grinsten und rissen ihre Zoten.

Ide war nach wie vor die Frau des Lehnsmannes. Aber ohne die Anwesenheit des Lehnsmannes besaß ihr Wort kein Gewicht. Birgitte hing ihr ständig am Rockzipfel. Mette saß still in der Schlafkammer und starrte mit nachtdunklen Augen zur Tür. Die Hand und die kleinen Finger waren auf die Erde gepreßt, bereit zum Absprung. Wurde sie hinunter in den Hof gebracht, setzte sie sich auf einen bestimmten Pflasterstein, die Hände in derselben Stellung, spähte in einem schiefen Winkel zum Tor, als versuchte sie, nach Süden zu sehen. Sie wollte nicht gehen, aß kaum etwas. Sogar Birgitte bemerkte die Trauer, versuchte sie mütterlich mit Küssen und Liebkosungen zu trösten und schenkte ihrer kleinen Schwester ein Kätzchen. Doch Mette ließ es laufen und wartete weiter.

Es mußte Bier gebraut werden. Bier in Mengen. Auf Vallø hatte Ide diese Arbeit überwacht. Hier gab es einen friesischen Braumeister, denn es gehörte sich in vornehmen Häusern nicht, daß die Herrin in die Brauküche ging. Meinte Oluf. Aber was half ein Braumeister mit Gliedern wie ein Ochse und einem Nacken wie ein Stier, wenn er nicht den kleinen Kniff beherrschte, in das keimende Korn zu beißen und mit der Zunge zu probieren, ob es genug Feuchtigkeit hatte. Besonders die trockene Ware verminderte den Geschmack. Außerdem hatte Ide den Meister im Verdacht, Ketzer zu sein.

Nicht ein einziges Gebet richtete er an die heilige Birgida, damit das Gären glücken sollte. Nicht ein einziges Mal hatte man ihn vor dem Bild der Äbtissin knien sehen, obwohl sie so schön dargestellt war mit der Kerze in der Hand und bei einem Baum von derselben goldenen Farbe wie das Wasser, das sie gerade mit Hilfe eines Wunders in Bier verwandelt hatte.

Verschwenderisch wurde mit der Gerste umgegangen, Hopfen wurde vergeudet, und das Durchseihen der Maische artete zur reinen Pfuscherei aus. All das bestätigte Ides Überzeugung, daß das, was man nicht selbst überwachte, überhaupt nicht gemacht wurde.

In Wirklichkeit liebte Ide es, in der Brauküche zu sein. Zwischen Läuterbottich und Braupfanne stehen, das Geräusch des gekeimten, trockenen Getreides hören, das in der Mühle zermahlen wurde. Und dann der Augenblick, wenn die gereinigte Würze von dem Gärbottich in die Kühlwanne schäumte. Genau da, bevor der Hopfen zugesetzt wurde. Da, wo der Gaumen reagierte. Der kleine Kampf gegen die unbekannte Wildgärung in der Würze. Das war die Spannung. Das war der Prozeß an sich.

Nach Olufs Abreise, nach dem Hereinströmen der Flüchtlinge und den Schreien der Nonnen aus dem herzoglichen Himmelbett in der Südostecke der Festung begab sich Ide immer öfter hinunter in die Wölbungen des Kellers. Ein Faß Malz für ein Faß Herrenbier. Süß, schwer und fast wie Eckernfördebier. Je mehr sie daran arbeitete, desto öfter glückte es. Wenn dasselbe nur einmal mit einer Flasche Drachenblut zu einem Pfund Gold gelingen würde!

Mette wartete weiter auf ihren Vater. Tag für Tag saß sie im Hof auf demselben Pflasterstein. Manchmal blieb Otte Rantzau stehen und nahm Mette hoch, offenbar gerührt von der Sehnsucht des Kindes. Ide sah es vom Fenster aus. Oder sie sah es vom Söller aus. Die kleinen Händchen des Mädchens am Hals des Ritters, die Finger halb geöffnet in seinem Haar – und trotzdem so selbstverständlich. Ide mußte eine Aufwallung von Zorn unterdrücken. Sie fühlte sich seltsam übergangen.

Das Drachenblut war vielleicht doch falsch gewesen, fiel ihr ein. Der Franziskaner hatte sie möglicherweise beschwindelt. Eine Hasenscharte war ein Makel im irdischen Leben, und manche benutzten körperliche Mängel als Entschuldigung für das Übertreten der Gebote Gottes. Sie waren betrogen worden und behielten sich das Recht vor, selbst zu betrügen. Die Rechnung mußte aufgehen.

Irgendwann zog sicher wieder Friede ins Land, und man würde kostbare und seltene Waren kaufen können. Ide wollte es noch mal probieren. Nur einmal. Nicht etwas mit Malz und Hopfen in einfachen Bottichen. Den anderen Prozeß. Den schwierigsten von allen. Sie sehnte sich nach den Dämpfen und dem starken, angebrannten Geruch nach schmelzenden Metallen. Hätte sie nur Gold, hätte sie alles.

Ide kannte reihenweise heilige Männer und Frauen, jeder mit seinem Symbol über die anderen Sterblichen erhoben. Der Pfeil. Die Lilie. Die Rose. Die Kerze. Die Kugel. Der Bär. Keiner mit Gold in der Hand. Doch – der heilige Nikolaus von Myra. Aber er gab das Gold weg, um arme Mädchen vor der Schande zu retten. Er stellte es nicht her. Vielleicht war ein Wunder erforderlich, wie bei der heiligen Birgida, die durch die Macht des Wunders das erste Bier machte.

Die elftausend Jungfrauen von Köln könnten nützlich sein. Ein plötzlicher Einfall. Unter so vielen Märtyrerinnen war es denkbar, daß eine einzelne Bescheid wußte und helfen wollte. Die Domkirche zu Lund besaß zwei der Jungfrauen in der Reliquiensammlung. Sogar zwei vollständige Körper, von Kopf bis Fuß. Es fehlte nicht ein Knochen. Dazu kamen die Skelette von Roskilde, schön und unbeschädigt und mit allen Zähnen. Sie waren physisch im Lande, einige dieser keuschen Frauen. Ide hatte immer etwas von Heiligen gehalten, bei denen man direkten Kontakt mit ihren irdischen Resten bekam. Die Idee mit den Jungfrauen war neu und vielleicht gar nicht so dumm, denn Hilfe von denen da oben brauchte es.

Die Truppen Herzog Christians rückten in Nyborg ein. Eine Woche vorher setzten sie über den Kleinen Belt, jetzt kauerten die Soldaten mit blutigen Händen, Schwertern und Lanzen am Boden, kippten die Säcke aus und zählten ihre Kriegsbeute.

Silberknöpfe vom Sonntagsstaat und Kinderrasseln, bestickte Hauben und kleine Spitzentücher für hohe Feiertage. Es wurde mit Rosenkränzen herumgeworfen, mit Heiligen Schriften Feuer gemacht, und die Perlen kullerten in den Staub.

Die Frauenkirche brannte. Die Turmspitze glich einem Flammenschwert, spaltete die Rauchwolke über Helletoften und reichte bis zu den waagrechten goldenen Strahlen des Sonnenuntergangs, wie ein Pakt zwischen den Feuern des Himmels und der Erde. Das glühende Gitter der Dachkonstruktion sackte langsam in sich zusammen. Balken um Balken stürzte in einem Funkenregen hinunter in das Kirchenschiff. Hinunter auf den Hochaltar mit der Geburt des Heilands, der Krippe, dem Kind, Maria in faltenreichen Röcken und goldenem Heiligenschein. Die Schafe, die Hirten, die Könige. Hinunter auf die Seitenaltäre. Anna selbdritt als die schönste aller Figuren, vor allem in blauen Farben, aber auch ein bißchen Gold und Rottöne auf dem geschnitzten Holz. Und hinunter auf Ides Gebete, die demütigen, die verbitterten. Alle lagerten sie hier und warteten, bis sie an der Reihe waren. All ihre Tränen, ihre Hoffnungen, Beichten und Zornesausbrüche, Ave Marias und Vaterunser. Sie waren nicht weitergekommen und gingen nun in den Flammen verloren. Sie konnte von vorne anfangen.

Ide schloß heftig das Fenster. Nicht nur die Kirche, ganz Helletoften brannte. Die Häuser der Krämer, Schmiede, Zimmerleute, das strohgedeckte Heim des Seilers. Die Hütten der Armen und ganz am Rand die Behausungen der Fischer. Alles, was diese Menschen besessen hatten, befand sich jetzt in zwei rußigen Wolken, die nach Osten über den Großen Belt trieben. Der dritte Stand erhielt seine Strafe, weil er glaubte, gebieten zu können, und vergaß, daß er gehorchen mußte. Aber wie vielen gelang die Flucht, ehe die Fackeln auf das Strohdach geschleudert wurden?

Die Nächte wurden von Dämonen erobert. Dämonen setzten Kinder in Brand. Ihre Kleidung, ihr helles, leichtes, wehendes Haar. Ide erwachte mit einem Schrei und stellte fest, daß die Dämonen unten im Hof saßen und um in den Matratzen der Zelte verstecktes Diebesgut würfelten.

Ide befestigte den Schlüsselbund an ihrem Gürtel. Da waren die Schlüssel für Speisekammern und Vorratsräume. Für Käse, Butter, Erbsen und Talg. Für Wein, Bier, Mehl und Brot. Für das Eingesalzene, das Geräucherte und anderes Fleisch.

Sie hatte hier nichts mehr zu sagen. Sie wollte zurück nach Vallø, wo die Bienen jetzt zu Tausenden wie ein Chor heller Sirenen unter der blühenden Linde summten. Ide begann Nyborg zu hassen. Bei Ostwind schmeckte sie Salz auf den Lippen. In den Träumen segelte die Festung brennend ins Meer. Sie zog das Festland vor.

Die Schlüssel besaßen Macht. Sie herrschten. Mit der Macht eines Heeres. Das Geräusch ihres Rasselns brachte selbst die abgestumpftesten Landsknechte in Bewegung, denn die Schlüssel bedeuteten Verpflegung. Sie grölten schmutzige Lieder unten im Schloßhof, diese deutschen Barbaren, während die Krüge mit ihrem edlen Gebräu die Runde machten.

Die Sonne war noch nicht über den Dachfirst des Ostflügels gekommen, und zwei betrunkene Landsknechte warfen eine Puppe hin und her. Nicht so eine wie die von Birgitte, mit bemaltem Gesicht und feiner Perücke, aus dem Ausland importiert. Es war eine grobe, daheim genähte Puppe. Sie steckten die Puppe auf die Spitze einer Lanze und hielten sie übers Feuer.

Ide drehte und wendete die Schlüssel zwischen ihren Fingern. Sie wußte genau, wofür jeder einzelne benutzt wurde. Sie hatten ihre Eigenarten. Der verrostete, wie ein M geschmiedete. Der mit der Scharte. Der abgewetzte, der schiefe, der neue, glatte und der fingerdicke. Jeder bedeutete den Zugang zu Essen und Trinken. Es gab nur den einen Schlüsselbund. Mit dem Blick auf die brennende Puppe gerichtet, fummelte sie den Schlüssel für die Brauküche vom Bund, ging zur Luke an der Ostmauer, schob sie beiseite und warf den Schlüssel direkt in den Burgteich. Zwei Enten flogen auf, und es bildeten sich neun Ringe im Wasser, wo der Schlüssel aufgeschlagen und untergegangen war.

Ide zählte sie sorgfältig, genoß jeden einzelnen und dachte, daß ihre Mutter das nie getan hätte. Vielleicht kannte ihre Mutter keine wirkliche Erbitterung. Vielleicht drückte sie jeden Zorn mit diesen immer stramm unter der Brust gefalteten Händen zurück in den Körper bis in die feste Masse der Knochen. Von morgens bis abends. Vielleicht schlief sie auch so.

Doch, einmal war da etwas, erinnerte sich Ide. Damals, als das Hökerweib in Hjerm mehrmals die Hostie in ihrem Mund aufbewahrte und wieder herausholte. Sie zermahlte das heilige geweihte Brot und streute dann sozusagen den Leib Jesu Christi in Pulverform über ihre neugepflanzten Kohlreihen. Die Sache kam ans Licht, weil man solche Kohlköpfe noch nicht gesehen hatte. Sie wurden groß wie Kürbisse, und das Weib konnte sich nicht verkneifen, mit ihrem Einfall zu prahlen.

Da hatte Ides Mutter die Hände entflochten. Ihre Augen glitzerten wie der Vollmond im Winter, und alle zehn Finger waren in wilder Ohnmacht gespreizt, bis sie mit großer Kraftanstrengung das Zeichen des Kreuzes machte, bevor sich die Hände zurückkämpften in die gewohnte Position.

Die Mutter rührte über ein halbes Jahr keinen Kohl an. Bis das Weib an einer bislang unbekannten Krankheit starb; sie wurde grünlich und spröde, und der ganze Körper knackste. Besonders um den Mund und am schlimmsten bei Frost, da klirrte die Haut wie venezianische Trinkgläser.

Hier auf Nyborg wird einer der Schmiede das Schloß zur Brauküche abschrauben. Der Braumeister wird die Erlaubnis bekommen, allein für die Bierversorgung verantwortlich zu sein. Plötzlich freute sich Ide. Das Plumpsen des Schlüssels ins Wasser hatten so herrlich geklungen wie das Knallen des Kronleuchters auf die Tischplatte. Der Anblick der neun Ringe, die sich auf der Wasseroberfläche bildeten, so erhebend wie verbogene Löffel, verbeulte Becher, das brennende Tischtuch und das Nagen der Hunde an dem frisch gebratenen Pfau samt Rad, Schnabel und Beinen, wie es kreuz und quer aus ihren Mäulern ragte. Die Fähigkeit ihres Vaters, zu lachen, war doch ein bißchen vererbt worden.

Jetzt werden sie kein Herrenbier trinken. Auch kein Gesellenoder Dünnbier oder nur Schiffsbier. Der Schurke von einem Braumeister wird den teuren Hopfen unter der Hand verkaufen, Wasser auf die gequälte Maische kippen, mit Porst oder Wermut würzen, und wenn das blasse, bittere Dünnbier aus den Kannen floß, würde die Stimmung bei diesem Diebes- und Mördergesindel vielleicht eine andere. Sie hatten einen Stadtteil, die Kirche, ihren Lagerbestand an Gebeten und sogar die Puppe eines Kindes in Brand gesteckt.

Ide freute sich darauf, mit eigenen Augen zu sehen, was geschah, wenn das schwere, berauschende Herrenbier versiegte und statt dessen Dünnbier kam. Sie war so eingenommen von dem Gedanken, daß sie erst einige Tage später Mettes Wechsel auf einen neuen Pflasterstein bemerkte.

Das Mädchen hatte sich woanders hingesetzt. Sie schaute nicht mehr nach Süden, sondern nach Osten. Direkt zur Küste Seelands. Ide wunderte sich ein bißchen. Sie hoffte auf eine Veränderung im Verhalten des Kindes, aber nichts geschah. Der leere, abwesende Ausdruck in ihren Augen blieb derselbe. Die Ablehnung jeder Zärtlichkeit ebenso.

Ide überlegte, der Mutter über das Problem zu schreiben. Oder vielleicht eher Anne Meinstrup. Trotz ihres losen Mundwerks hatte sie eine gute Hand im Umgang mit Kindern. Alle Kinder mochten sie. Wenn sie nur hier wäre. Wenn Ide nur nach Vallø zurückkehren könnte. Sie wollte weg von all den Soldaten.

Aber das Heer, das im Namen Christians II. kämpfte, verwüstete Seeland. Horden von Männern, die auf Befehl mordeten, für Sold Fahnen hißten, nach Bedarf plünderten und gegen Bezahlung für die andere Seite stritten.

Mettes Starren nach Osten beeinflußte Ide und verstärkte ihre Sehnsucht nach den dunklen Räumen auf Vallø. Was machte es, daß man nur ganz am Fenster sitzend lesen konnte; ein Stuhl war leicht zu verrücken. Es war sicher auch keine große Sache, einen Eimer im Brunnen mit Wasser zu füllen. Die Rohrleitungen froren ohnehin Winter für Winter ein und zerbarsten.

Seeland hatte Buchenwälder, rauschend und rostbraun im November. Es hatte kleine, geduckte, rote Häuser, Rosenhöfe, Obstgärten, Kräutergärtchen und die grünen Kohlreihen und Pater Niels, der ihre Sünden kannte.

Nyborg war Gold. Der Galgen wurde aufgestockt, so daß für acht auf einmal Platz war. Vier oben, vier unten. Ein schwergewichtiger Süddeutscher, verurteilt wegen Vergewaltigung einer Küchenmagd, hatte eine Messerklinge im Mund versteckt. Es gelang ihm, sie zwischen die Zähne zu nehmen und dem Henker die Wange aufzuschlitzen, ehe der Schemel weggestoßen wurde und der Strick seinen fetten Nacken brach, daß man es hören konnte. Die umstehenden Jungen grinsten und warfen Steine nach der Leiche, um sie in der windstillen Sommerhitze zum Pendeln zu bringen.

Endlich Neues von Oluf. Der Herzog war auf Als in Sicherheit gebracht worden, und Wochen später war Oluf mit dem Schiff weitergereist nach Seeland, um Vallø einen Besuch abzustatten. Er war Gefangener der lübischen Landsknechte.

Ide war stolz. Die anderen Gutsherren und Reichsräte in Schonen und auf Seeland verrieten einer wie der andere ihren Eid und retteten ihre Haut, indem sie einen neuen auf den Grafen von Oldenburg ablegten. Aber nicht ihr Oluf.

So hatte sie noch nie an ihn gedacht. Als »ihr« Oluf. »Mein« Oluf, versuchte sie zu sagen, doch es klang nicht ganz echt. Plötzlich mußte sie an Mette denken und an ihren Wechsel von Stein und Blickrichtung auf dem Schloßhof. Der Zeitpunkt stimmte. Nur ein Zufall natürlich. Das war nicht weiter bemerkenswert, und außerdem hatte Ide ohnehin genug um die Ohren.

Nichts half gegen die mangelnde Disziplin, und vom Söller schaute Ide hinunter auf den Pfeilerwald aus Lanzen. Kugeln flogen herauf, und Dachziegel nahmen den umgekehrten Weg. Mette und Birgitte mußten drinnen bleiben. Bei der Hitze klebten die Röcke an Ides Schenkeln, und die brannten wie eine ganze Schlangenbrut.

Das Gesinde wurde von der Stimmung angesteckt und gaunerte, wo es möglich war. Sie stahlen Fässer mit frisch eingesalzenem Lammfleisch und stibitzten Talglichter von den Leuchtern. Birgitte lief mit fleckiger Haube und Schnürleibchen herum, und die Wäsche wurde grau, weil die Mägde keine Lust mehr hatten, auf den Bleichplatz zu gehen.

Der einzige auf der Festung gebliebene Pfarrer war unbrauchbar. Er war von Ørkel gekommen, nachdem die Rebellen die Festung des Bischofs angezündet hatten. Nach eigener Aussage war er den ganzen Weg gelaufen. Jedenfalls waren Schuhe und die Hosen bis zu den Knöcheln zerrissen, als er sich klagend und jammernd über die Zugbrücke schleppte und jeder notleidenden Seele seine Dienste anbot. Aber er hatte einen Sohn produziert, wie Ide wußte, einen gewöhnlichen Hurenbalg, der auf dem Skanderborg-See über Bord gefallen war, während er die neue Lehre predigte, denn dort gab es kein Zölibat. Drei Tage suchten sie ihn mit dem Schleppnetz, ohne eine Leiche zu finden. Der Teufel hatte ihn mit Haut und Haar, Geschlecht und Knochen geholt.

Wie konnte sie einem solchen Pfarrer ihre Sünden beichten?! Wie konnte sie bekennen, daß Otte Rantzau ihre Blicke auf sich zog, wenn er mit der geschmeidigen Bewegung eines Hermelins über das Kopfsteinpflaster schritt?! Es war wirklich etwas Katzenartiges an dem jungen Ritter, stellte Ide fest, wenn er fast ohne Anlauf auf den Rücken eines ungesattelten Pferdes sprang. Und sie hatte auch selbst die Kontrolle verloren, eingesperrt in die Hitze und den Gestank mit den Flüchtlingen und ihren Scheusalen von Kindern, mit Nonnen, Landsknechten und dem abendlichen Wetterleuchten, das nicht von fernem Kanonenfeuer zu unterscheiden war. Das war nur in stillen Augenblicken möglich.

Der Kanonendonner wurde an einem frühen Augustmorgen hörbar. Die Truppen des Christoffer von Oldenburg hatten Nyborg erreicht. Sie waren eingeschlossen. Die Festung befand sich im Belagerungszustand.

Ides erste Reaktion war eine Freude über die plötzliche Disziplin der Soldaten. Die nächste war eine Sehnsucht nach Oluf. Sie hätte nie gedacht, daß er ihr so fehlen könnte.

Beim Lärm des ersten Schusses warf das Gesinde alles, was es in Händen hielt, weg und stürzte in den Keller. Die Kugeln trafen mit einem großen Platsch ins Wasser. Ide fing die beiden Dienstmägde ein, beorderte sie hinauf ins obere Stockwerk und achtete im übrigen darauf, sich nichts anmerken zu lassen. Keine Kanone konnte über die Burggräben schießen; nur der schmale Weg zum Tor mußte durch Sperrfeuer abgeschirmt werden, und Munition war genügend vorhanden.

Mit verschlossener Schlafkammertür, den Riegel vorgeschoben, und beim Rumpeln der Kanonen, die im unteren Stockwerk in Stellung gebracht wurden, rückte Ide den Stuhl in die tiefe, mittlere Fensternische und begann, einfach zu erzählen.

Zuerst die vierzehn Nothelfer. Eine Krähe kam mit Nahrung zum heiligen Erasmus geflogen, und der Engel befreite ihn aus dem Gefängnis. Der Wanderstab des heiligen Christophorus setzte Blüten und Blätter an und trug Früchte. Die heilige Katharina vermochte ganz allein fünfzig gelehrte Männer des Reiches zur Umkehr zu bewegen, und ein kleiner Junge trieb sowohl bei einer römischen Kaisertochter als auch bei der Tochter des Königs von Persien Dämonen aus.

Die Mauern erbebten unter dem Kanonenfeuer. Der scharfe Geruch des Pulverschleimes drang zu den Fenstern herein, doch Birgitte lauschte den Geschichten. Sogar Mette schien manchmal zuzuhören. Ide saß von morgens bis abends in der Fensternische. Jeden Nachmittag, wenn sich der Zeiger auf der goldenen Uhr der Vier näherte, lag der erste Lichtstreifen auf dem Boden. Gegen sechs Uhr abends spürte sie die Sonnenstrahlen deutlich zwischen den Schulterblättern. Die Zeit und der Lauf der Sonne wurden nicht von den Soldaten beherrscht.

Als nächstes die Prediger in der Wüste. Die Apostel. Und die Tierfabeln. Und dann das Gewimmel der gewöhnlichen Heiligen. Wunder über Wunder betäubten die Geräusche auf dem Burghof. Manchmal fügte Ide ein wenig auf eigene Rechnung hinzu. Die heilige Scholastica bekam ohne weiteres blondes Haar und eine helle Haut, weil die Seele der heiligen Frau den Körper in Gestalt einer wunderschönen weißen Taube verließ. Ide war einfach gezwungen, mit den Händen zu schlagen, als sie davon berichtete, obwohl gleichzeitig das Geschütz des Knudsturms donnerte und der Kalk von der Decke bröselte.

Birgitte stellte am Ende des Tages immer Fragen. Warum fast alle weiblichen Heiligen nein zur Ehe sagten. War es denn edler und feiner, nicht zu heiraten? Ob nur fremde Länder heilige Städte hatten – Rom, Venedig, Köln, Assisi. Und warum Dänemark Køge und Nyborg hatte, die gar nicht heilig waren. Und ob der heilige Nikolaus von Myra selbst Gold gemacht hatte, weil er es verschenkte.

Ide hatte nie so gefragt. Nicht einmal so gedacht. Vielleicht reagierten Kinder in unseren Tagen anders. Vielleicht war das Wunder am Karfreitag in der Karup-Kirche schuld, als Ide gerade neun Jahre alt war und das linke Auge der Marienfigur so feucht wurde, daß das bemalte Holz funkelte und glänzte, ehe drei Tränen auf das Jesukind in ihren Armen fielen.

Fast eintausendfünfhundert Jahre nach dem Martyrium weinte die Mutter Gottes bei der Erinnerung an den Tod ihres Sohnes. Sie zerrten Ide damals aus der Kirche, vorbei an den Schreienden, den in Ohnmacht Gefallenen und denen mit Krämpfen. Ihre Fersen schliffen über die Grabinschriften am Kirchenboden, und sie kam schluchzend ins Helle. Ihr Vater hielt sie auf dem ganzen Heimweg umfaßt. Es wehte von Osten, daran konnte sie sich erinnern. Am Abend starrte sie die fünf mondbleichen Säuglinge auf dem Gemälde an, deren Augen nach innen gerichtet waren. Ide hatte ihre Mutter nie über ihre toten Kinder weinen sehen. Vielleicht hatte Ide damals aufgehört, solche Fragen zu stellen wie Birgitte jetzt. Ide wußte nicht, ob solche Fragen vorher dagewesen waren.

Ides Wissen bestand aus Legenden. Nur daraus. Aber wenn die Nacht kam, bedrängten sie die vielen Geräusche des Tages.

Die Eisenketten hatten geächzt und geknarrt, als die Zugbrücke heruntergelassen wurde. Das Donnern der Pferdehufe auf den Planken beim Ausfall der Reiterei gegen den Feind.

Gewohnheitsmäßig und instinktiv wußte Ide viele Stunden später, daß wesentlich weniger zurückkehrten, als ausgezogen waren. Sie drehte sich nie um, wollte nicht sehen, was auf dem Burghof vor sich ging, begnügte sich mit den Geräuschen. Auf die Ausfälle folgte kein Rumpeln von Wagen, vollbeladen mit Beutegut aus dem feindlichen Heer. Ein letzter verspäteter Reiter in vollem Galopp, und die Brücke knallte gegen die Toröffnung. Das war alles.

Allmählich gingen ihr die Geschichten aus. Nur die letzten Lokalheiligen waren noch übrig. Die heilige Regisse war nicht so spannend, bedeutete nur etwas für Frørup auf Fünen. Margarethe von Hvideslægten konnte zur Not und mit viel Phantasie eine halbe Stunde ausfüllen.

Es war früh am Morgen, und Ide erwachte durch den Knall. Die anderen schliefen. Ide schlug die Decke zur Seite, schob den Vorhang weg und zog rasch das Hemd über.

Nur der eine Knall, aber der kam von weit weg und hatte anders geklungen. Nicht wie die Kanonen der Festung, auch nicht wie die Kanonen der Feinde am Ufer entlang.

Es war immer noch ruhig. Nichts außer dem üblichen Rufen und Poltern auf dem Burghof. Das Bellen der Hunde. Ein Hahn, der krähte. Ide ging zur östlichen Außenmauer und öffnete vorsichtig eine der Luken.

Die Sonne lag direkt unter dem Horizont hinten am Meer. Fünf Strahlen standen senkrecht nach oben, als streckten sie sich gähnend nach dem langen Schlaf der Nacht. Der lange, schmale Weg lag verlassen da. Mit den Händen über den Augen konnte Ide die Spitzen der Zelte am anderen Ufer erkennen. Alles wirkte normal, und der Morgen war wunderschön.

Plötzlich dieselbe berauschende Freude an dem Licht, wie das erste Mal, als Ide Nyborg sah. Alle diese Strahlen, die direkt auf ihre Person deuteten. Eine Schar Enten flog tief, einige davon aus dem Gelege dieses Jahres. Die jungen Schwäne waren noch grau. Ein Haubentaucher verschwand von der Oberfläche, und Ide spielte das Ratespiel aus der Kindheit: Wo er wohl wieder auftauchen würde? Sie riet jedesmal falsch.

Irgend etwas stimmt trotzdem nicht. Irgend etwas war anders. Ides Augen schweiften herum. Auf dem gegenüberliegenden Ufer lagen einige Haufen, aber schwer auszumachen, was da lag. Die Sonne war jetzt ganz oben. Golden, rund und herrlich funkelte sie auf dem Wasserspiegel in Tausenden von kleinen, goldenen Ablegern.

Aber der Weg hatte dunkle Ränder bekommen, wo sonst eine lange, graue Linie zu sein pflegte. Ide beugte sich weiter vor. Sie hielt immer noch beide Hände als Schutz vor dem Sonnenlicht über die Augen.

Die Ränder waren Algen und Seegras. Sie hingen in Streifen und Fransen von der kleinen, erhöhten Schottereinfassung herunter, und das Wasser zerrte daran. Ein Stein wurde plötzlich sichtbar. Der war vorher nicht da. Und eine Aushöhlung und dort zwei Löcher von Wasserratten.

Mit einem Ruck war Ide auf der Fensteröffnung. Die Mauer war so dick, daß sie sich ausgestreckt hinlegen mußte, um mit dem Kopf hinauszukommen und die östliche Festungsmauer hinunterschauen zu können.

Der Übergang war ein scharfer, waagrechter Strich. Der Unterschied zwischen den trockenen, roten Steinen und den dunklen und nassen, die vorher unter der Wasseroberfläche lagen. Das waren mehrere Fuß. Eher Ellen.

Ein scharfer Fäulnisgeruch stieg zu Ide herauf, und sie dachte, wenn alles Wasser weg war, würde der Schlüssel gefunden werden. Er lag ja auf dem Grund des Teiches.

Es war zu ärgerlich, daß sie nicht erleben durfte, wie ihnen das starke Gebräu ausging. Jetzt wurde sie um das Vergnügen gebracht zu sehen, wie man ihnen Dünnbier in die Becher schenkte. Eigentlich ein seltsamer Gedanke, einige Minuten bevor die Festung gestürmt werden würde.

Ide kroch zurück und blieb stehen. Was sollte sie eigentlich machen? Sie würden die Frau des Lehnsmannes jedenfalls nicht unten im Keller finden. Sie konnte ebensogut bleiben, wo sie war.

Der Klinkerboden war kalt, und sie stand im Hemd. Nicht einmal die stärkste Sommerhitze vermochte durch Nyborgs Mauern zu dringen. Das gelang den Kanonenkugeln auch kaum. Sie wollte zur Allerseligsten Jungfrau beten, aber das machte die Dienerschaft unten im Keller sicher ebenfalls. Das hatten auch die gemacht, die in den Flammen in Helletoften verbrannten. Ide erschrak über ihre Gedanken. Die Luke stand immer noch offen. Die konnte sie zumindest schließen, und sie drehte sich um.

Hinter dem Teich am gesamten Ufer entlang wuchs niedriges Gebüsch. Sie hatten da drüben Zweige an die Lanzen gebunden. Sie waren jetzt bereit. Der Wasserspiegel zeigte trockene Flecken, die sich ausbreiteten und das Sonnenflimmern in großen Happen verschlangen. Schlamm, Sandbänke, die pure Erde und der Weg hatten sich wie ein Deich bei Niedrigwasser abgehoben. Nyborg war wieder festländisch.

Ide schloß die Luke und schob den Bolzen vor. Wenn die Festung fiel, wurde sie Gefangene, wie Oluf auf Seeland Gefangener war. Der Gedanke gefiel ihr. Der Augenblick ließ ihn physisch anwesend sein. Er war da, bei ihr, um sie, in ihr wie nie zuvor.

Befehle wurden gebrüllt. Der Angriff begann.

Die Nacht des heiligen Markus

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