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Einsam in der Nacht

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Die eine angenehme Wärme spendende Herbstsonne war längst als ein glutroter Feuerball hinter dem Buchenwald des nahen Dörfchens Fürstenhagen untergegangen.

Die letzten Fetzen der tagsüber so zahlreichen Schönwetterwolken hatten sich in ein Nichts aufgelöst. Sie gaben den Blick frei auf einen in Deutschland selten anzutreffenden, dunklen Sternenhimmel aus abertausend hellen, schwach leuchtenden und in vielen Farben funkelnden Sternen.

Ringsum herrschte eine erhabene Stille. Hin und wieder wurde sie von einem sanften Luftzug unterbrochen, der über die abgeernteten Felder und durch die Baumwipfel strich.

Je tiefer die Nacht hereinbrach, desto heller leuchtete die zunehmende Mondsichel über dem Südwesthorizont. Ihr Schein warf von den hohen Bäumen, nahen Hecken und Sträuchern sowie den Gebäuden der Sternwarte zarte Schatten.

Im Licht des Mondes leuchtete die Sternenwartenkuppel.

Ihr Kuppelspalt war weit geöffnet. Im Dunkel der Kuppel saß ein älterer Mann, Anfang sechzig, am Teleskop. Er beobachtete seelenruhig die Mondoberfläche – die flachen, ausgedehnten Mare und die zahlreichen kreisrunden Mondkrater. Die an der Tag- und Nachtgrenze aus der Dunkelheit der Mondnacht auftauchenden Kraterspitzen hatten es ihm besonders angetan. Weil es am Fernrohr immer kühler wurde, wollte er sich ein wenig aufwärmen. Er verließ den Kuppelbau und vertrat sich auf dem eingezäunten Sternwartengelände die Beine.

Dabei hatte ihn die nachtaktive „Sternwarten-Eule“ ausfindig gemacht und drehte lautlos ein paar Runden über ihrem angestammten Revier.

Die Nacht war ausgesprochen ruhig. Nur wenige Flugzeuge waren wie immer in alle Himmelsrichtungen unterwegs. Auch die Landstraße unterhalb der auf einer Anhöhe gelegenen Sternwarte war wie ausgestorben.

Als sich der „Sternengucker“, wie ihn die Einheimischen nannten, wieder am Fernrohr niedergelassen hatte, war der Mond am Himmel

weiter gewandert. Er drehte die Kuppel und dann das große 16-Zoll-Spiegelteleskop nach Westen. Schon hatte er unser Nachtgestirn wieder im Gesichtsfeld. Weil die Luftunruhe sehr gering war, wechselte er die Okulare und erreichte bei hoher Vergrößerung noch gestochen scharfe Bilder von der Mondoberfläche, was ihn sehr begeisterte. Es schien, als befände er sich nur wenige Hunderte Meter oberhalb dieser schroffen, lebensfeindlichen und doch so faszinierenden Welt. Wie gern würde er sie selbst einmal betreten …

Nachdem der Mond noch tiefer gesunken und von den nahestehenden Kiefern verdeckt worden war, schloss er den Kuppelspalt. Es war stockfinster, nur das leise Summen des Nachführmotors der Fernrohrmontierung war zu hören. Er schaltete die Rotlichtbeleuchtung ein, verschloss die Taukappe des Teleskops und setzte die Nachführung außer Betrieb. Es war nach Mitternacht.

Markus, der Hobby-Astronom, zündete eine lange, dünne Zigarre an und trat hinaus ins Freie. Ein kräftiger Lungenzug erinnerte ihn an seinen Raucherhusten. – „Ein Laster muss der Mensch haben“, dachte er und zog genüsslich an seiner „Gute-Nacht-Zigarre“. Die Sterne erschienen ihm in dieser Nacht besonders nahe.

Dank der Lage seiner Sternwarte im grünen Herzen Deutschlands und fernab großer Städte und Verkehrsadern war der Himmel über ihm sehr dunkel. Er wurde nur vom Licht der Sterne aufgehellt.

Nachdem Markus seine in der Hosentasche aufbewahrte Fernbrille aufgesetzt hatte, konnte er klar und deutlich die vielen schwachen Lichtpunkte erkennen, die das blasse Band der Milchstraße bilden, das sich über den ganzen Nachthimmel spannte …

Als die bei jedem Zuge aufglimmende Zigarre aufgeraucht war, war es Zeit, die Heimfahrt anzutreten. Er könnte auch in der Sternwarte übernachten, die ringsum von meterhohen Haselnuss- und Dornenhecken umgeben war und relativ sicher vor ungebetenen Gästen …

Seit vielen Jahren schon durchmusterte Markus zum Abschluss einer Beobachtungsnacht mit seinem geschulten Auge den Sternenhimmel – Sternbild für Sternbild.

Als er das hoch am Südhimmel stehende Wintersternbild Orion im Blick hatte, tauchte plötzlich wie aus dem Nichts ein gelblich leuchtendes Objekt auf, das, wie er meinte, hier nicht hingehörte.

Kein Flugzeug überquerte den Himmel und auch kein Satellit zog seine Bahn.

Das seltsame Objekt wurde heller und heller und schien schnell näher zu kommen.

Markus stockte der Atem. Wie versteinert starrte er zum Himmel und lauschte in die Nacht. Es war totenstill – sein Herz raste, jeden Herzschlag konnte er hören. Es war unmöglich, weder Höhe noch Entfernung des Objektes zu schätzen. Urplötzlich hielt das unbekannte Flugobjekt inne, schwebte gelblich-orange leuchtend, völlig lautlos einige Minuten zwischen Himmel und Erde, um dann mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit fast senkrecht emporzuschießen …

„Was könnte das gewesen sein – haben die Amerikaner ein neues Fluggerät entwickelt, das sie heimlich in der Nacht testen?“, fragte sich Markus, ohne eine vernünftige Erklärung zu finden.

„Vielleicht haben andere ‚Nachtschwärmer’ die gleiche Beobachtung gemacht?“ Er beschloss, diesbezügliche Erkundigungen einzuholen, ohne Gefahr zu laufen, sich lächerlich zu machen.

Er genoss noch eine Weile die funkelnde Sphärenharmonie über ihm. Der Mond war längst untergegangen.

Nachdem er im schwachen Schein der Taschenlampe die Sternwarte verriegelt hatte, durchquerte er das kleine Waldstück, an dessen Wegesrand er sein in die Jahre gekommenes Auto geparkt hatte. Unter seinem Schritt knackten gespenstisch die am Boden liegenden, trockenen Kiefernzweige, die der letzte Sturm herabgefegt hatte.

Auf der kurzen Strecke zu seinem Heimatort Lutter war er, wie so oft, allein unterwegs.

Es waren zwei Wochen ins Land gegangen. Wie von Meisterhand waren die Blätter der Laubbäume und Flurgehölze durch die Natur gelb, rot und braun eingefärbt worden. Sie wiegten sich im Winde, bis eines nach dem anderen sanft zur Erde schwebte, um einen raschelnden Laubteppich auf dem Waldboden als auch den Rändern der angrenzenden Weiden und Felder zu bilden. Markus liebte diese Jahreszeit, in der die Menschen Abschied nahmen von der Rastlosigkeit und Hektik des Alltages in den Sommermonaten. Er nutzte die kürzer werdenden Herbsttage, den Altweibersommer, um ausgedehnte Wanderungen in die nähere Umgebung zu unternehmen oder bei Tageslicht sein Refugium, die Sternwarte, aufzusuchen, die er in jüngeren Jahren am südlichen Rande des tiefein-geschnittenen Luttertales errichtet hatte.

Die Sonne lachte am wolkenarmen, tiefblauen Himmel – die Gelegenheit, einen Blick auf ihre Oberfläche zu werfen. Markus begab sich in den im Obergeschoss befindlichen Beobachtungsraum und schob mit einiger Kraftanstrengung das schwere Rolldach zur Seite. Es wurde hell und das für die Sonnenbeobachtung vorgesehene Linsenfernrohr stand im Freien.

Markus befestigte ein silbern spiegelndes Sonnenfilter vor dem Objektiv des Fernrohres, setzte ein langbrennweitiges Okular ein und richtete das Teleskop auf die Sonne. Zahlreiche dunkle Sonnenflecken, Einzelflecken und Gruppen waren gestochen scharf zu erkennen. In jeden der großen Flecken am Sonnenrand würde unsere Erde hineinpassen und verglühen …

Als die Sonne Stunden später in die dichten Luftschichten über dem Horizont eingetaucht war und das Sonnenbild sich verschlechterte, beendete Markus seine Beobachtungen, zog das Rolldach wieder zu und verriegelte es sturmsicher.

Gegen Abend war der Himmel bedeckt. Markus musste sich entscheiden, den Heimweg anzutreten oder die Nacht an Ort und Stelle zu verbringen. Weil er nicht mehr der Jüngste und

körperlich nicht mehr fit war, entschied er sich für das Letztere und blieb.

Den Strom für das Licht lieferten Batterien. Sie wurden von einer Solaranlage auf dem Dach gespeist. Für wohlige Wärme musste er

selbst sorgen, indem er den Holz- und Kohleofen im Aufenthaltsraum anbrannte. Brennholz war im angrenzenden Holzschuppen reichlich vorhanden, auch Briketts.

Er wechselte die Kleidung. Im Jogging-Anzug und in Filzpantoffeln fühlte er sich wohl.

Im Ofen flackerte das Feuer. Der Raum war schmucklos eingerichtet: Ein gebrauchter, weißer Küchentisch, vier Stühle und ein altes Sofa. An den grün-weiß gestrichenen Wänden hingen Bilder von bekannten Himmelsobjekten und Observatorien.

Vorsorglich hatte Markus Essen und Trinken mitgebracht. Der Kaffee in der Thermosflasche war noch heiß. Die frischen Stullen waren mit Feldgieker belegt, einer Dauerwurst-spezialität aus der Region, dem Eichsfeld.

Als es draußen finster geworden war, schaltete er das Rotlicht an der Decke ein und das Kofferradio. Dann legte er sich auf das Sofa, das direkt unter dem einzigen Fenster stand, um auszuruhen.

Leise Musik konnte die Einsamkeit erträglich machen. Sie beflügelte ihn auch zum Nachdenken über Gott und die Welt – und seine Lebenssituation. Nach dem Tode seiner geliebten Mutter führte er ein eigenständiges, bedürfnisloses, einsiedlerisches Leben, obwohl er in einem Wohnblock wohnte. Zu den Mitmenschen pflegte er nur wenig Kontakt – er ging ihnen möglichst aus dem Wege.

Als Single in bescheidenen, aber geordneten Verhältnissen lebend und nicht selten als „Sterngucker“ verspottet, war er zum Außenseiter der Gesellschaft geworden, gering geschätzt und oftmals herabwürdigend behandelt.

Von niemanden gestört, fühlte er sich in der abgelegenen Sternwarte aufgehoben. Weil er von den Menschen nichts zu erwarten hatte, liebte er die Tiere des Waldes, der Feldflur und besonders seine bunten, gefiederten Freunde, die Vögel. Sieschienen ihn zu kennen, wenn sie munter zwitschernd ganz in seiner Nähe von Ast zu Ast hüpften.

Nicht selten flogen sie dicht über seinen ergrauten, wenig behaarten Kopf hinweg.

Immer wenn er einsam war, wünschte er sich, mit den tierischen Geschöpfen kommunizieren zu können und sie zu streicheln – leider war er kein Heiliger! ...

Als die Spätnachrichten zu Ende waren – es war wieder einmal von Krieg im Nahen Osten, von Naturkatastrophen in fernen Ländern, von Mord und Totschlag, Arbeitslosigkeit und Verkehrsunfällen die Rede – wollte er zu Bett gehen.

Inzwischen war das Feuer im Ofen heruntergebrannt. Markus legte für die Nacht Brennmaterial nach. Als es im Ofen knisterte, war das Feuer wieder aufgelodert.

Markus verschloss die Außentür, machte das Radio und das Licht aus und legte sich schlafen …

Wie gewöhnlich konnte er nicht sofort einschlafen. Seine Gedanken kreisten um das vermeintliche Ufo, das er gesehen hatte. Seine Nachforschungen nach weiteren Augenzeugen waren erfolglos verlaufen.

Die Frage nach der Existenz von Fluggeräten, die die riesigen Entfernungen zu fremden, bewohnten Planeten überwinden können und die von Angehörigen geistig und technisch hochentwickelter Zivilisationen gesteuert werden, beschäftigte ihn lange. – Schließlich hatte ihn die Müdigkeit übermannt und er schlief den Schlaf des Gerechten …

Einige Tage später.

Die Zeit der mondlosen Nächte war gekommen. Weil die Wetterfrösche eine sternenklare Nacht angekündigt hatten, war Markus zur Sternwarte gefahren. Er wollte mehrere lichtschwache Objekte aufsuchen, vornehmlich Planetarische Nebel, Kugelsternhaufen und nahe Galaxien, wie den allgemein bekannten Andromeda-Nebel.

Weit nach Mitternacht hatte er die vorgesehenen Beobachtungen beendet. Nach dem Verlassen des Kuppelbaues und einem kurzen Blick zum sternenübersäten November-Nachthimmel betrat er den beheizten Aufenthaltsraum.

Während er das Gesehene vor seinem geistigen Auge noch einmal durchlebte, geschahen von ihm unbemerkt, auf dem der Sternwarte angrenzenden freien Feld, seltsame Dinge.

– In ein diffuses grünes Licht gehüllt, hatte sich lautlos eine klassische „Fliegende Untertasse“ dem Terrain genähert. Das Ufo stoppte abrupt und verharrte eine Weile im Schwebe-zustand, so, als ob man Ausschau hielt.

Schließlich landete das scheibenförmige, metallische Objekt nach der Art eines fallenden Blattes – es schaukelte hin und her – und setzte samtweich mit seinem Rumpf auf.

Drei kleine, fremdartige Wesen stiegen aus und gingen zur Sternwarte. Obwohl es stockfinster war, bewegten sich die Alien wie bei Tageslicht.

Markus hatte sich soeben auf die Heimfahrt vorbereitet, als plötzlich zwei angsteinflößende Gestalten vor ihm standen.

Er war so erschrocken, dass er beinahe in Ohnmacht gefallen war. Er musste sich am Küchentisch abstützen und rang nach Luft …

Als er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, griff er nach dem Aschenbecher und wollte ihn einem der Scheusale auf den Kopf hauen. – Doch noch bevor er den schweren Aschenbecher greifen konnte, stand er erstarrt da, unfähig, sich zu bewegen.

Er schrie die beiden Eindringlinge an:

„Macht, dass ihr verschwindet. Ich will mit euch nichts zu tun haben!“

Die Alien zeigten keinerlei Reaktion. – Vielleicht hatten sie ihn nicht verstanden?

Nachdem Markus erkannt hatte, dass es zwecklos war, sich zu wehren, setzte er auf das Wohlwollen der ungebetenen Gäste und fragte höflich:

„Was wollt ihr von mir?“

Da trat ein etwas größerer Alien durch die geschlossene Tür in den Raum, kam auf Markus zu, sah ihn an und Markus hörte eine mechanisch klingende Stimme im Kopf:

„Fürchte dich nicht. – Es ist nicht gut, wenn der Mensch Angst hat!“

„Ihr habt mir einen gehörigen Schreck eingejagt“, sagte er so, als wären sie alte Bekannte. – Schweigen.

Markus bat schließlich darum, sich wieder bewegen zu können, was augenblicklich geschah. Erleichtert setzte er sich auf das untere

Ende des Sofas und musterte die Drei von oben bis unten: Sie hatten übergroße kahle Köpfe, eine winzige Nase und an Stelle von Ohren nur Löcher. Ihre Körper waren schlank, dünne Arme und Beine. Ihre rosagraue Haut war nicht vergleichbar mit einer menschlichen Haut.

Markus sah in ihre großen, starrenden schwarzen Augen. Sie glänzten und schienen ein bisschen feucht, wie die Augen eines Menschen, bevor er anfängt zu weinen.

Markus gewann den Eindruck, dass die Alien seine Gedanken lesen konnten, denn er rätselte, was dieser Besuch zu bedeuten habe –.

„Wir werden dich mitnehmen“, hörte er die eigenartige Stimme im Inneren des Kopfes.

Markus lehnte ab. Seine Gedanken drehten sich im Kreise, so lange, bis er einsehen musste, dass er keine Chance hatte, einer Entführung zu entfliehen.

„Wohin bringt ihr mich?“

„Das bestimmen unsere ‚Meister’.“

„Wenn es unabwendbar ist, dann komme ich mit, aber nicht heute. – Gebt mir Zeit!“

„Einverstanden. In ein paar Wochen werden wir dich abholen. Wann das sein wird, wirst du bei einem unserer Überflüge erfahren.“

Dann gab sein Gesprächspartner zu verstehen, dass sie weiterfliegen müssten. Er lud ihn ein, dem Start beizuwohnen.

Wie normale Menschen traten sie aus der Sternwarte heraus und spazierten gemächlich durch die Nacht, dem hochglanz-polierten, außerirdischen Fluggerät entgegen.

In einiger Entfernung war Markus stehen geblieben und wartete gespannt auf den Start des mächtigen Ufos.Nachdem die Aliens in ihm verschwunden waren, ging ein Geräusch wie ein Dynamo vom Flugkörper aus und ein ungewöhnlicher Schimmer umgab ihn.

Alsbald hob das Raumschiff wie von Geisterhand gesteuert vom Boden ab. Es beschleunigte bis zu einer bestimmten Höhe, hielt inne und flog dann mit einer unglaublichen Geschwindigkeit davon …

Markus war tief beeindruckt. Auf dem Rückweg durch den Wald beschlichen ihn auf einmal unerklärliche Ängste – er flüchtete geradezu in die Sternwarte.

Hellwach, auf dem Sofa liegend, quälte ihn der Gedanke, von den Außerirdischen auf unbestimmte Zeit an einen unbekannten Ort entführt zu werden. Auch die Frage, warum sie ihn so gut behandelten. Ihm war bekannt, dass viele Entführungsopfer die kleinen Grauen als „gemein oder böse“ bezeichneten. Bevor Markus am nächsten Morgen in sein Auto stieg, um nach Hause zu fahren, besichtigte er die Landestelle des Ufos auf dem Felde. Was er sah, ließ ihn erstaunen: Das Weltraumfahrzeug der Alien hatte auf dem Rapsacker einen großen Kreis von versengten Pflanzen, Steinen und Erde hinterlassen. Der Landeplatz schien auf mehrere Hundert Grad Celsius erhitzt worden zu sein.

Anfang Dezember.

Gewöhnlich brachte der November den ersten Schnee in den Mittelgebirgen. In diesem Jahr waren die Herbsttage ausge-sprochen mild und der Schnee ausgeblieben.

Ein stabiles Hochdruckgebiet bescherte allen Kreaturen vor dem Wintereinbruch anhaltend schönes Wetter. Der Tagbogen der tief stehenden Sonne reichte vom Springkopf im Südosten bis zum Lipsberg im Südwesten.

Um jenen Tag noch etwas Sinnvolles abzugewinnen, schnürte Markus nach dem Mittagessen seine Wanderschuhe und machte sich auf den Weg.

Vom Wohnblock, in dem er eine kleine Eigentumswohnung besaß, bis zum Dorfausgang in Richtung des Nachbarortes Kalteneber war es nicht weit. Jenseits des rauschenden, schnell fließenden Lutterbaches war nach einem verheerenden Brande der ziegelrote Backsteinbau der Hackemühle errichtet worden – sein Elternhaus. Hier hatte er während des 2. Weltkrieges das Licht der Welt erblickt.

Zu jener Zeit wurde der Bach oberhalb des Wasserfalles gestaut und gelangte in einer Rohrleitung zur Turbine, die das Mahlwerk der Mühle, als auch das Horizontalgatter antrieb. Wenn die Mühle außer Betrieb war, floss die Lutter in einem tiefen Graben und dann

unterirdisch unter dem hohen, von allen Seiten offenen Dreschschuppen hindurch, um auf dem Nachbargrundstück wieder an die Oberfläche zu treten. In der Erntezeit herrschte auf dem weitläufigen Mühlengrundstück Hochbetrieb, wenn Tag und Nacht die Erntewagen vorfuhren und das Getreide der Bauern und „Kleinen Leute“ gedroschen wurde …

Markus hatte längst seinen Weg fortgesetzt und den sehr breiten, befestigten Feldweg, Ölweg genannt, erreicht. Es ging immer steiler bergan. Er musste hin und wieder eine Pause einlegen und ging dabei seinen Kindheitserinnerungen nach:

In den ersten Lebensjahren wuchs er nicht im Elternhaus auf, sondern wohnte mit seiner Mutter bei der ortsansässigen Hebamme. Sie war in den schweren Kriegs- und Nachkriegsjahren bei vielen Kindern Geburtshelferin und sorgte so für den Lebensunterhalt. Erst als sein Vater aus der französischen Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war, zogen sie in die Hackemühle zurück. Ein Jahr später wurde seine Schwester geboren – ein Sonntagskind …

Vom Waldrand des Lipsberges fiel der Blick auf die mehrere Hundert Meter entfernte Springmühle am Fuße des Springkopfes – ein unvollendeter Neubau, an der Stelle der geschichtsträchtigen alten Mühle aus Fachwerk.

Markus genoss diesen Ausblick eine geraume Zeit. Vom Sportplatz, oberhalb der Springmühle und dicht an der Landstraße gelegen, drangen Laute herauf, wie sie Kinder von sich gaben, wenn sie Fußball spielten.

Die Wasseroberfläche der beiden großen Forellenteiche unterhalb der Springmühle kräuselte der Wind. Als die Fischteiche noch nicht vorhanden waren, ernährten saftige Wiesen die Milchkühe des Nachbarn. In den Sommermonaten hatte Markus oft mit dem Nachbarjungen seines Alters hier die Kühe gehütet und stundenlang im kalten Lutterbach gespielt. Nur wenige Meter oberhalb der Mühle entspringt der Bach.

Im Schatten der hinter dem Berghang stehenden Sonne wurde es allmählich kühl. Markus setzte seine Wanderung auf dem vom letzten Regen durchweichten Randweg des Lipsberges fort.

Am Fischerskopf angelangt, hatte er einen der wenigen Plätze in der Umgebung erreicht, von wo aus das ganze, langgestreckte Dorf und das sich nach Norden hin weitende Luttertal eingesehen werden kann. Das enge Tal wird gegenüber dem Lipsberg vom Iberg mit dem Stadtwald und am Ausgang vom Höhenzug des Lengenberges abgeschlossen.

Weithin sichtbar leuchteten in den letzten Sonnenstrahlen des Tages die hellgrauen, zerklüfteten Felsen der Maienwand, einem beliebten Aussichtspunkt zweihundert Meter über der Talsohle des ausgehenden Luttertales.

„So trifft man sich!“, stand unverhofft seine ehemalige Klassenkameradin Monika mit ihrer kleinen Enkelin hinter Markus.

„Ich habe euch gar nicht kommen hören“, erwiderte er überrascht.

„Du warst scheinbar in Gedanken – oder die Ohren lassen dich im Stich.“

„Nein, nein, ich höre noch ganz gut – wo kommt ihr her?“

„Wir waren auf dem Kleinen Anger …“

„Wie heißt du denn?“, fragte Markus die Kleine, die sich ängstlich hinter ihrer Oma versteckt hielt.

„Sandra“, antwortete Monika und fügte hinzu:

„Vor Fremden hat sie Angst. Sie ist selten in Lutter und kennt nur unsere Nachbarn.“

„Wie geht es deiner Tochter und dem Schwiegersohn?“, wollte Markus wissen.

„Sie sind kürzlich umgezogen, wegen der Arbeit und wohnen jetzt in Kassel. Gott sei Dank, dass beide eine Arbeit haben!“

„Da geht es uns Rentner besser – wir haben zwar wenig Rente, aber dafür viel Zeit, um die Schönheiten der Natur und unserer Heimat zu genießen.“

Die Kleine mit ihren graublauen Augen und den kurzen, blonden Zöpfen wurde unruhig und drängelte:

„Ich will nach Hause …“

Oma Monika gab schließlich nach und verabschiedete sich:

„Wir sehen uns ein Andermal!“

Markus sah ihnen nach, bis sie hinter der Gartentür ihres Grundstückes am Ortsrand verschwunden waren.

Das Dorf lag wie ausgestorben zu seinen Füßen.

Jede Viertelstunde schlug die Turmuhr der aus Sandsteinen und weißem Klinkermauerwerk auf einer Anhöhe errichteten, neuromanischen Dorfkirche.

Auf dem Friedhof am Hang des Kirchberges haben seine Eltern ihre letzte Ruhestätte gefunden.

Wenn er an seine verstorbenen Eltern dachte, wurden immer wieder Erinnerungen an die gemeinsam verbrachten Jahre wach.

Je älter und einsamer er wurde, desto mehr sehnte er sich nach der Geborgenheit, die er als Kind im Elternhaus erfahren durfte.

Im Jahr der Geburt seiner Schwester Verena wurde Markus eingeschult.

Zwei Jahre später erkrankte er an Gelenkrheumatismus und behielt einen Herzklappenfehler zurück.

Mitte der Fünfziger Jahre erfolgte die Grundsteinlegung für den langersehnten Schulneubau im Ort und ein Jahr später die feierliche Einweihung der Zentralschule, in der auch die Kinder der Nachbarorte Kalteneber und Fürstenhagen unterrichtet wurden.

Markus hatte nur das letzte Schuljahr die neue Schule besucht …

Inzwischen war er dem leicht abschüssigen Randweg des Lipsberges gefolgt.

Von der Sitzgruppe oberhalb der Trift schienen die Kirche, das ehemalige Schwesternhaus und das Fachwerkgebäude der Alten Schule zum Greifen nahe zu sein.

Als Markus Kind war, begann hier oben die beliebteste Rodelbahn des Ortes – zentral gelegen, sehr steil und mit einem Auslauf bis zum Gemeindehaus und darüber hinaus –.

Zurück in der Gegenwart ließ Markus den Tag bei mehreren Glas Bier in der Gaststätte „Zum Luttertal“ ausklingen.

Es war ein nasskalter, trüber Dezembertag, Mitte des Monats.

Markus hatte seine nächsten Angehörigen zur Geburtstagsfeier eingeladen. Wie in den Jahren zuvor, waren nur seine Schwester Verena, ihre Tochter Ramona mit Ehemann Matthias erschienen.

Die beiden Frauen hatten sich fein herausgeputzt, konnten jedoch ihre Körperfülle kaum verbergen. Vom Äußeren und Wesen war ihre Verwandtschaft mit Markus nicht zu leugnen. Nur der schmächtige,

schwarzhaarige Gatte der Nichte, ein ungeduldiger, aufgeregter Mensch, fiel aus dem Rahmen der stets bedächtigen, Ruhe und Gelassenheit ausstrahlenden Familienmitglieder.

Wie gewünscht, hatten die Gratulanten anstelle von Geschenken eine große Schwarzwälder Kirschtorte und frischen selbstgebackenen Obstkuchen mitgebracht …

Nachdem die Kaffeetafel aufgehoben war und der übliche Dorfklatsch und Tratsch begann, zündete Markus eine dicke, schwarze Zigarre an und bat um Aufmerksamkeit:

„Ich habe euch etwas Wichtiges mitzuteilen, das für einen Außenstehenden schwer nachvollziehbar ist!“

Die Drei sahen sich verdutzt an und glaubten, Markus hätte am frühen Nachmittag schon zu tief ins Glas geschaut.

„Um was geht es denn?“, fragte seine Schwester Verena.

Auch seine Nichte Ramona war hellhörig geworden:

„Was gibt es so Geheimnisvolles?“

„Vor kurzem hatte ich in der Sternwarte seltsame Besucher – zwei kleine, graue Wesen standen plötzlich mitten in der Nacht neben mir im Aufenthaltsraum. Sie hatten mich in Angst und Schrecken versetzt. Kurz darauf kam noch ein dritter, etwas größerer Alien hinzu.“

„Was wollten sie von dir?“, fragte Ramona.

„Gibt es sie überhaupt – oder hast du das nur geträumt?“, gab Matthias zu bedenken. Ramona, von Natur aus ängstlich veranlagt, lief es kalt den Rücken herunter.

„Sie waren gekommen, um mich mitzunehmen. Ich wollte das nicht!“

„Wie konntet ihr euch verständigen?“, interessierte Matthias.

„Ich habe ganz normal gesprochen und sie haben mich verstanden. Was der größere Alien sagte, habe ich deutlich im Kopf gehört.“

Markus ließ sich noch eine Tasse Kaffee einschenken, zog an seiner Zigarre und fuhr fort:

„Sie werden mich mitnehmen; ich kann das nicht verhindern. Ich weiß nur nicht, wann das sein wird. Sie sagen aber rechtzeitig Bescheid …“

„Hoffentlich stellen sie keine weiteren Fragen“, dachte Markus; denn er hatte ihre Neugier geweckt. Er beugte vor, indem er sagte:

„Ich bitte euch, nichts von dem, was hier besprochen wurde, nach draußen dringen zu lassen. Wenn ich eines Tages wie vom Erdboden verschluckt sein werde, wird es genug Aufsehen geben. – Ihr wisst von nichts und stellt euch dumm!“

„Was glaubst du, wohin sie dich bringen werden und wie lange du fort sein wirst?“, hätte seine Schwester gern gewusst.

„Das weiß ich nicht. Meine innere Stimme sagt mir, dass diese Reise von langer Dauer sein kann. – Auf jeden Fall komme ich zurück.“

„Was soll aus der Wohnung und der Sternwarte werden?“, wollte Ramona wissen.

„Wenn ich nicht innerhalb eines halben Jahres zurück bin, könnt ihr diese Wohnung selbst nutzen oder vermieten.

Die Sternwarte ist als Wochenendgrundstück gut geeignet. Und das Auto fahrt ihr, bis es auseinander fällt oder der TÜV euch scheidet.

Wenn ihr mich als ‚vermisst’ meldet, wird wahrscheinlich die Rente nicht mehr gezahlt, so dass die anfallenden Kosten von meinen Ersparnissen zu begleichen sind. Hebt bitte alle persönlichen Papiere, Dokumente usw. auf, ja alles, was ich später gebrauchen kann. – Auf keinen Fall dürft ihr mich für tot erklären lassen; denn es ist nicht einfach, in der Bürokratie einen Toten zum Leben zu erwecken!

Was ich vor meinem Verschwinden regeln kann, wird unauffällig geregelt. – Alles andere bleibt euch zu treuen Händen überlassen …“

Diese doch recht düsteren Offenbarungen hatten bei seinen Verwandten Wirkung gezeigt. Sie waren dermaßen beunruhigt, dass sie nicht länger bleiben wollten und alsbald die Heimfahrt nach Westhausen antraten …

Zuerst war Markus tief traurig, als er wieder allein in seinem Fernsehsessel saß und geistesabwesend in die „Glotze“ schaute. Doch je länger er über das ihm Bevorstehende nachdachte, desto mehr reizte ihn das Ungewisse. – Die Aussicht, in seinem Alter noch

eine andere Welt, fremdartige, intelligente Wesen und vielleicht auch Menschen kennen zu lernen, die ihr Schicksal mit ihm teilen, anstatt senil im Altersheim zu enden …

Der Heiligabend war für Markus, wie für alle Alleinstehenden, ob jung oder alt, immer der einsamste Tag des ganzen Jahres.

Während die Kinder in den Familien erwartungsvoll der Bescherung unter dem geschmückten Weihnachtsbaum entgegen fieberten, hatte Markus nicht einmal einen Tannenbaum aufgestellt. Er sah keinen Grund, sich auf das Weihnachtsfest zu freuen.

Weil das Wetter mitspielte, wollte er den Heiligabend in der Sternwarte verbringen und machte sich, reichlich mit Proviant versorgt, auf den Weg zu seinem zweiten Domizil. Als dieSpringmühle hinter ihm lag, fielen vereinzelt die ersten Schneeflocken vom Himmel …

Markus liebte es, bei Schneefall unterwegs zu sein; denn er empfand dieses Naturerlebnis überwältigend – als Balsam für die Seele!

Die Landstraße nach Fürstenhagen führte stetig ansteigend und kurvenreich durch ein schmales Tal auf das Hochplateau.

Der Flockenwirbel wurde immer dichter. Der Waldboden an den Hängen und die Asphaltdecke der Fahrbahn waren bald von einer dünnen Schneedecke überzogen. Das Grau in Grau der kahlen Buchenzweige als auch das matte Grün der Fichten- und Kiefernnadeln verwandelten sich allmählich in ein wohltuendes Weiß-Grau und Grün-Weiß.

Kaum hatte es sich Markus in der Sternwarte gemütlich gemacht, als er einen Hund bellen hörte. Er stellte das Radio leise und horchte.

„Am Heiligabend ist kein Jagdmann auf der Pirsch“, dachte er und drehte das Radio wieder lauter.

Da war das Bellen erneut zu hören, diesmal ganz in der Nähe und aus einer anderen Richtung.

„Vielleicht streicht ein Fuchs auf Mäusejagd über die Felder?“

Er nahm den guten alten Feldstecher, welcher immer griffbereit an der Wand hing und trat ins Freie, um nachzusehen.

Eine mehrere Zentimeter dicke, blendend weiße Schneedecke hatte sich auf die Kuppel und Dächer der Sternwarte gelegt, auf die Rasenflächen ringsum sowie auf die Hecken, Bäume und Sträucher.

Wie üblich stand die Zauntür am Eingang des Sternwarten-geländes sperrangelweit offen, als ein junger schöner Schäfer-hund sich vorsichtig dem Eingang näherte und stehen blieb.

Markus sah im Fernglas, dass das Tier keinen Blick von ihm ließ. Es schien ein junger, noch nicht ganz ausgewachsener Schäferhund zu sein.

„Vor herrenlosen, ausgesetzten oder gar verwilderten Hunden muss man sich in Acht nehmen“, hatte ihn der Jagdpächter gewarnt. Er überlegte, wie man die Situation bereinigen könnte:

„Entweder den Eindringling auf vier Pfoten verjagen oder ihn mit in die warme Stube nehmen –.“

Markus bekam nach einer Weile des Nachdenkens Mitleid, nahm das Fernglas von den Augen und schritt langsam auf den Vierbeiner zu. Als Markus näher kam, wedelte der Hund mit dem Schwanze, knurrte, als wolle er etwas sagen und legte sich ihm zu Füßen.

„Komm mit ins Warme!“

Das sichtlich durchgefrorene, verängstigte Tier folgte ihm dicht auf den Fersen.

Im Aufenthaltsraum angekommen, ließ sich der noch junge Hund auf dem Sofa nieder, behielt aber Markus ständig im Auge.

„Was soll ich nur mit dir anfangen?“

Er setzte sich zu dem Schäferhund auf das Sofa und strich ihn sanft über den Rücken.

„Ich kenne mich im Umgang mit Hunden nicht aus. – Und einen Namen brauchst du auch!“

Er dachte nach und erinnerte sich an den Schäferhund Dux, den die Eltern seines alten Freundes Thomas früher als Wachhund hielten.

„Ich nenne dich Dux“, sprach Markus zu dem Vierbeiner, ein Rüde. Dieser schien ihn zu verstehen und bellte zweimal hintereinander.

Als Markus später das Essen und Trinken auspackte, sprang Dux vom Sofa und nahm neben ihm Platz.

„Du hast sicher Hunger.“

Dux bettelte ihn an

Markus holte aus dem Küchenschrank im Nebenraum einen flachen Teller, auf den er zwei Butterschnitten legte. Den Teller stellte er Dux vor die Nase. Dieser hatte im Nu die Brotscheiben verschlungen, so ausgehungert war er.

„Und Durst hast du auch. – Kaffee, Bier und Cola ist sicher nichts für Hunde, vielleicht Selters“, sprach es und stellte eine Schüssel sprudelnde Selters neben den Teller. Dux roch an dem brausenden Getränk, leckte mit der Zunge daran und schlabberte die Schüssel leer.

Markus ließ Dux so viel fressen und saufen, bis er rundum satt war.

„Wenn du ein Geschäft machen musst oder so“, belehrte er seinen neuen Begleiter, „dann gehst du an die Tür und bellst!“

Dux hatte ihn offensichtlich verstanden und nickte.

Inzwischen war es Nacht geworden und es schneite ununterbrochen weiter.

Mit vollem Bauch lagen Mensch und Tier gemeinsam auf dem altersschwachen Sofa und hörten im Radio, wie andere Menschen den Heiligabend im Kreise der Familie verbrachten …

Am nächsten Morgen, dem 1. Weihnachtstag, stapfte Markus in Begleitung von Dux querfeldein durch den hohen frischen Schnee nach Lutter.

Im Hauseingang trafen sie auf den Wohnungsnachbarn. Dieser spottete:

„Du bist wohl auf den Hund gekommen.“

„Mein Weihnachtsgeschenk ist mir zugelaufen – nicht wahr Dux.“

Er bellte so laut, dass es durch den ganzen Hausflur schallte.

Tage später, zwischen Weihnachten und Neujahr, waren Markus und sein Beschützer bei klarem, frostigem Winterwetter unterwegs zur Sternwarte. Am Ausgang des Lipsberg-Waldes machten sie nach dem anstrengenden Aufstieg Rast, als plötzlich aus dem dichten, verschneiten Unterholz ein stattlicher Keiler, wie von einer Tarantel

gestochen, über den Waldweg rannte und wieder im Unterholz verschwand. Markus hatte sich erschrocken. Dux, der unangeleint neben ihm stand, zeigte keine Reaktion, bellte nicht einmal.

„Da haben wir Glück gehabt!“, dachte Markus laut und sie setzten ihren Weg durch den wie Tausende Kristalle glitzernden Pulverschnee fort.

Als die ersten hellen Sterne in der Abenddämmerung am Himmel funkelten, hatten sie die Sternwarte erreicht. Markus erstellte eine Liste lohnender Beobachtungsobjekte amWinterhimmel, die er in der zweiten Nachthälfte mit dem Spiegelteleskop aufsuchen wollte. Von den berühmten Gas- und Staubnebeln im Sternbild Orion, den wohl schönsten Sternbild des Himmels, war er besonders angetan.

Um die langen, kalten Stunden am Fernrohr durchstehen zu können, sollten Körper und Geist ausgeruht sein.

Markus richtete für Dux das Nachtlager her – ein kurzer, schmaler Teppich auf dem Fußboden unter dem Küchentisch.

Zum Wecken stellte er den alten, aber sehr lauten russischen Wecker auf Mitternacht und legte sich schlafen.

Stunden später wurde er jäh aus dem Tiefschlaf gerissen: Dux hatte ihn mehrmals heftig am Hosenbein gezerrt, bis er aufgewacht war. Noch schlaftrunken auf dem Kanapee liegend, schaute er sich um. Es war stockfinster. Er rief leise:

„Dux, wo bist du?“

Dieser verließ seinen Posten vor der Zimmertür und kam auf Markus zu. Seine Augen leuchteten in einem furchtein-flößenden Rot.

„Was ist los? Weshalb hast du mich geweckt? Und was ist mit deinen Augen?“

Markus bekam, wie sollte es anders sein, keine Antwort.

Da vernahm er laute, hektische Stimmen und Werkzeug-geräusche, als wolle jemand das Schloss der Zauntür aufbrechen oder die Tür aushebeln.

Markus und Dux verfolgten, nach wie vor im Dunkeln ausharrend, das Geschehen draußen. Während Markus ganz vorsichtig die für diese Fälle versteckt bereitstehende Axt herbeiholte, stand Dux in Lauerstellung erneut vor der Außentür des Aufenthaltsraumes. Als am Zaun Ruhe eintrat, näherten sich in einer

fremden Sprache aufgeregt miteinander diskutierend, zwei finstere Gestalten der Sternwarte. Mit Taschenlampen leuchteten sie das Objekt der Begierde ab.

Als sie dann vor der gut gesicherten Eingangstür der Sternwarte standen und im Begriff waren, diese mit einem schweren Vorschlaghammer einzuschlagen, gab es für Dux keinen Halt mehr – Er durchdrang in Zeitlupe die vor ihm befindliche Tür, überquerte den Hausflur und schoss wie ein hungriger, gefräßiger Wolf durch die Eingangstür ins Freie, wobei er die zu Tode erschrockenen Einbrecher umriss. Diese fielen rücklings in den Schnee, rappelten sich mühselig wieder auf und suchten das Weite – gehetzt von Dux mit seinen teuflisch roten Augen.

Derweil der Hund die Diebe in die Flucht schlug, schaltete Markus das Licht ein und entfachte im Ofen das Feuer.

Kurz darauf kam Dux abgehetzt zurück. Er japste und war voller Schnee. Seine Augen leuchteten nun nicht mehr.

„Schüttele dich, damit der Schnee abfällt!“, befahl Markus und er tat es, bis sein Fell schneefrei war.

Im beheizten Aufenthaltsraum nahm Dux, alle Viere von sich streckend, auf seinem Teppich Platz, den Markus zuvor auf dem Sofa ausgebreitet hatte.

Er setzte sich zu Dux, nahm ihn in die Arme und drückte ihn fest an die Brust. Wie bei einem Kind bedankte er sich:

„Das hast du fein gemacht; ich bin stolz auf dich!“

Dux streckte seine Zunge heraus und leckte ihn im Gesicht.

„Zum Beobachten bin ich nach der Aufregung nicht mehr in der Lage“, sprach Markus zu sich selbst und bereitete für beide eine Nachtmahlzeit vor. In diesem Moment klingelte auch der Wecker. Als sie sich gestärkt hatten und das durchnässte Fell von Dux trocken war, legte sich der Hund wieder unter den Tisch; denn das Liegesofa wurde von Markus in Beschlag genommen.

Während Dux, sein treuer Gefährte, bald schlief, lag Markus sehr lange wach und grübelte:

„Dieser Schäferhund ist kein gewöhnliches Tier. – Er kann, wie die kleinen, grauen Alien, geschlossene Türen durch-dringen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Und unter Anspannung glühen seine Augen wie flüssiges Magma.

Dux scheint jedes Wort zu verstehen. Wie das möglich ist, bleibt mir ein Rätsel.

Nach wenigen Tagen des Zusammenseins habe ich den Verdacht, dass Dux meine Handlungen begreifen kann und auch meine Gefühle wahrnimmt.“

Nachdem Markus den Schaden an der Zauntür behoben hatte, verließen sie gegen Mittag die Sternwarte.

Markus begann das neue Jahr mit gemischten Gefühlen: Es deutete alles darauf hin, ein Schicksalsjahr zu werden. Fremde Mächte, denen er hilflos ausgeliefert war, bestimmten über ihn. Er vermied es, Pläne für die Zukunft zu schmieden. – „Hatte er eine Zukunft und wie würde sie aussehen?“ Fragen über Fragen. Markus lebte auf Abruf, mehr oder weniger in den Tag hinein, so, wie ein Mensch, der an einer unheilbaren, tödlichen Krankheit leidet …

Im Januar zeigte sich der Winter von seiner unangenehmen Seite. Es stürmte und schneite tagelang ununterbrochen – ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür lassen würde.

Markus und Dux machten es sich deshalb in der kleinen, gut beheizten, Junggesellenwohnung gemütlich.

Markus, ein ausgesprochener Langschläfer, der erst abends richtig munter wurde, verbrachte die meiste Zeit vor dem Fernseher und verfolgte aufmerksam das Zeitgeschehen. Sein vierbeiniger Freund und Begleiter Dux leistete ihm dabei Gesellschaft.

Wenn er früher in der dunklen Jahreszeit allein war und ihn Depressionen plagten, versuchte er, sie zu überwinden, indem er den Alkohol zuneigte und die Abende in der Dorfkneipe verbrachte.

Das war jetzt anders.

Markus erledigte mit Freude die übliche Hausarbeit und hörte nebenbei Radio. Auch konnte er stundenlang Zeitung lesen. Besondere Aufmerksamkeit widmete er dem Lokalteil der Tageszeitung, für den er in jungen Jahren selbst einmal geschrieben hatte. Ihn interessierte, was in seiner Heimat – dem Eichsfeld, einem Landstrich zwischen dem Harz, Thüringer Wald und Meißner tagtäglich passierte. Obwohl er seit Jahren zurückgezogen in seiner eigenen Welt lebte, war er keineswegs weltfremd, wie viele Dorfbewohner glaubten.

Spätabends, Dux war längst auf „seiner“ gut gepolsterten Schlafcouch eingeschlafen, wurde im Fernsehen eine Dokumentation über den Bau der Berliner Mauer gezeigt.

In Markus wurden unwillkürlich Erinnerungen an die Zeit vor dem Mauerbau wach, die er als Heranwachsender selbst miterlebt hatte: Dem Grundschulbesuch im Ort folgte die weiterführende Mittelschule in der nahe gelegenen Kreisstadt Heiligenstadt. Er fuhr in der 10. Klasse täglich mit dem Bus zur Schule. Als Fahrschüler war er unabhängig und nach Erledigung seiner Schulaufgaben frei wie ein Vogel.

Weil der Bus wegen der Arbeitszeit der Arbeiter und Angestellten erst spät zurückfuhr, begann er, bei schönem Wetter über den Höhenzug des Iberges nach Hause zu wandern. Dabei erkundete er das ausgedehnte Waldgebiet auch abseits der Wege. Bald kannte er den Stadtwald besser als die einheimischen Städter. Nach einer Stunde Fußmarsch endete der dichte, Schutz bietende Buchenwald. Vor ihm lag das weite Luttertal: Der Heimatort im Süden, die bewaldeten Muschel-kalk-Steilhänge des Lengenbergs im Südwesten und dort, wo die Sonne untergeht, der aus der Landschaft herausragende Kegel des Rustebergs, jenseits des Leinetals.

Wenn er einen romantischen Sonnenuntergang erleben durfte, packte ihn das Fernweh. Am liebsten würde er dorthin gehen, wo das „gelobte Land“ begann – doch die Grenze schien unüberwindbar.

Als den Schulabgängern nach zwei Jahren angestrengten Lernens das Zeugnis der Mittleren Reife vom Direktor der Schule feierlich überreicht wurde, fehlte der Klassenlehrer.

Er war in den Westen gegangen …

In den langen Sommerferien hatte sich Markus mit dem etwas jüngeren Nachbarjungen David angefreundet, einem begeisterten Fußballspieler und talentierten Torwart. David war groß und schlank, hatte kurze, pechschwarze Haare, braune Augen und war stets zu Streichen aufgelegt. Wenn sie nicht auf dem Sportplatz Fußball spielten, halfen sie den Nachbarn bei der Feldarbeit oder sie durchstreiften stundenlang die nahen Wälder, Berge, Täler und Feldfluren. So lernten sie jeden Weg in der Umgebung kennen. Von seinen kümmerlichen Ersparnissen hatte er sich ein Luftdruckgewehr

zugelegt und lag an manchen Tagen von früh bis spät auf der Lauer, um Spatzen zu schießen. Es gab sie so zahlreich, dass die Bauern von einer Spatzenplage sprachen.

Anfang September begann ein neuer Lebensabschnitt. Er begann ein dreijähriges Studium am Eisenacher Institut für Lehrerbildung.

Von dem Geld, das ihm seine Eltern zugesteckt hatten, kaufte er ein kleines, transportables, astronomisches Fernrohr. Mit dem im Garten aufgestellten Fernrohr beobachtete er in den Ferien den Mond und die Planeten. Schon in diesem schwach vergrößernden Refraktor waren auf der Mondoberfläche sehr viele interessante Krater, Gebirge, Täler und flache, weite Ebenen, die „Mondmeere“ zu erkennen. Zu Beginn des zweiten Studienjahres brach er das Studium ab.

Seine Eltern waren entsetzt, aber es half nichts – es gab kein Zurück. Nun stand er mit leeren Händen da – keine Studium, keine Lehre und keine Arbeit.

Wenige Monate später ergab sich die Gelegenheit, als ungelernte Kraft bei einer Bank in der Stadt angestellt zu werden, die er auch nutzte.

Im Frühjahr des folgenden Jahres setzte er die Tradition aus der Mittelschulzeit fort und wanderte, anstelle mit dem Bus zu fahren, nach Feierabend über den Iberg nach Hause.

Unterwegs traf er viele Heiligenstädter, auch Leute, die in der Stadt Kurgäste des Kneipp-Bades waren.

Wenn er markante Aussichtspunkte aufsuchte, übermannte ihn immer öfter das Fernweh. Besonders schlimm war es, wenn bei guter Durchsicht der Atmosphäre der Hohe Meißner mit seinen schlanken, weit in den Himmel ragenden Rundfunk- und Fernsehtürmen ganz nah schien.

Am Abend des 12. August, ein Sonnabend, war die Familie zu einem Fernsehabend bei einem Nachbarn eingeladen. Als sie in der Nacht heim gingen, ahnten sie nicht, was sich zur selben Zeit in Berlin und an der Zonengrenze ereignete. Als sein Vater am Sonntag früh das Radio einschaltete, um Nachrichten zu hören, waren sie geschockt. Sein Vater sagte mit weicher Stimme:

„Jetzt sind wir für immer eingesperrt …“

Nachdem kurz darauf der Versuch gescheitert war, ihn „freiwillig“ als Grenzsoldat einzuziehen – sein Herzklappen-fehler hatte ihn davor bewahrt – begann er einen Abitur-lehrgang an der Volkshochschule. Tagsüber musste er am Schreibtisch seine Pflicht erfüllen und zweimal in der Woche nach der Arbeit die Schulbank drücken. Wenn er Unterricht hatte, übernachtete er bei seinem alleinstehenden Großvater mütterlicherseits im Nachbardorf Uder. Sein Opa Josef freute sich, dass er nun regelmäßig Gesellschaft hatte.

Nach wenigen Monaten der Gewöhnung war er abends hellwach und aufnahmefähig.

Die zu jener Zeit erworbene Fähigkeit, bis tief in die Nacht aktiv zu sein, hat ihm später als Sterngucker sehr geholfen und manche schöne Beobachtungsnacht beschert …

Markus unternahm täglich einen kurzen oder längeren Spaziergang mit Dux. Das Tier brauchte Bewegung und frische Luft wie er selbst.

Eines Nachmittages verweilten sie auf dem Sportplatzgelände neben der Springmühle. Es war in der zweiten Februarhälfte. Tauwetter hatte eingesetzt. Bei Temperaturen weit über Null Grad Celsius schmolz die recht ansehnliche Schneedecke rasch dahin.

Während die Südhänge des Tales schon abgetaut waren, lag an den Hängen der Nordseite noch Schnee. Wo Markus den Fuß hinsetzte, aus allen Poren sickerte Schmelzwasser. Und wo er hinsah, sämtliche Quellen, die nur zur Schneeschmelze sprudelten, spendeten das kostbare Nass.

Markus gefiel es zuzusehen, wie Dux sich auf dem nassen, durchgeweichten Rasen des Spielfeldes austobte. – Auch, wenn er ihn später unter die Dusche stellen musste.

Auf einmal hielt Dux inne. Er hob den Kopf und blickte unentwegt in die tief hängenden, rasch dahinziehenden Wolken.

Dann kam er zu Markus gelaufen, der vor dem Sportlerheim stand und setzte sich. Markus bemerkte, dass er ganz unruhig war.

Da plötzlich hörte er ein summendes Geräusch, anfangs kaum hörbar, wurde aber immer lauter und störender. Kurz darauf ging der Ton tiefer in den Kopf hinein. Etwas abgemildert wurde er zu einem

vibrierenden Summen in der rechten Vorderseite seines Hirns. Das Summen wandelte sich in eine mechanisch klingende Stimme – eine telepathische Stimme. Das Summen hörte auf, als die Stimme begann:

„Wir werden dich in der Nacht vom 28. des Monats zum 1. März in der Sternwarte abholen!“

Markus blickte aufgeregt suchend in den Himmel. Er dachte nach und sagte:

„Das Ufo muss ganz in der Nähe sein, vielleicht über den Wolken?“

Wahrscheinlich hatte Dux seine Worte verstanden. Er schaute ihn treuherzig an, wedelte mit dem Schwanz und bellte.

„Unsere gemeinsame Zeit ist bald abgelaufen. – Komm, wir gehen nach Hause!“

Dux lief ein ganzes Stück voraus: Vorbei an den Forellenzuchtteichen und später, nach einem halben Kilometer Weg, an der Kleingartenanlage und den ersten Häusern des Dorfes, der „Königsallee“. Sie überquerten den auch als Kinderspielplatz genutzten Schulhof der Grundschule, den reißenden Lutterbach auf einer schmalen, eisernen Fußgängerbrücke und verkrochen sich in ihren vier Wänden, wo die Dusche auf den „Dreckfink“ wartete.

Wenige Tage vor dem angekündigten Termin der Entführung trafen sich Markus und seine Nichte Ramona in der Sternwarte.

Die weiße Pracht war längst dahingeschmolzen; die Sonne strahlte am azurblauen Februarhimmel. Markus nutzte die letzte Gelegenheit, um sämtliche Räume der Sternwarte, einschließlich Kuppel und Rolldach, richtig durchzulüften.

Und Dux inspizierte wie ein Suchhund jeden Winkel und jedes vermeintliche Versteck. Anschließend durchstöberte er das Freigelände. Als er alles gesehen und erschnüffelt hatte, suchte er seinen Schlafplatz auf. Inzwischen hatte Markus zwei gepolsterte Stühle herbeigeschafft und sie in die Sonne, vor den Kuppelbau gestellt.

Markus und Ramona nahmen Platz. Die warmen Sonnen-strahlen taten beiden Bleichgesichtern gut, ebenso die wohl-riechende Vorfrühlingsluft, die sie tief einatmeten.

Markus offenbarte seiner Nichte und Patenkind:

„In der Nacht vom 28. dieses Monats zum 1. März werden mich die Alien hier abholen.“

Sie sah ihn fassungslos an und konnte immer noch nicht glauben, dass das, was er ihnen im Dezember angekündigt hatte, tatsächlich eintreffen würde.

„Als wir damals zu Hause angekommen waren, haben wir uns zusammengesetzt und über das, was du uns gesagt hast, lange diskutiert. Schließlich waren wir davon überzeugt, dass das alles nicht stimmen kann und du uns nur einen Bären aufbinden wolltest …“

Markus erwiderte sichtlich verärgert:

„Es ist die pure Wahrheit! – Deshalb müssen wir heute einige Dinge unter vier Augen besprechen. Deine Mutter kann man bei ihrem schwachen Nervenkostüm nicht damit belasten. Es wird für sie schlimm genug.“

„Wie hast du erfahren, wann sie dich abholen werden?“

„Darüber möchte ich nicht sprechen.“

Stillschweigen.

Dann fuhr Markus fort:

„Ich übertrage dir und Matthias die Aufgabe, euch um Folgendes zu kümmern:

Meinen Schäferhund Dux werde ich in der Sternwarte einschließen. Ihr nehmt den Hund mit nach Westhausen und meldet ihn bei der Gemeinde an.

Alles bleibt in der Wohnung!

Meine persönlichen Dokumente sowie Sparbücher und das Bargeld nimmst du an dich. Wo sie zu finden sind, weißt du.

Die Kosten für den laufenden Unterhalt der Wohnung sind zuerst vom Giro-Konto und dann von den Sparbüchern zu finanzieren. Ich hoffe, dass es reicht, bis ich wiederkomme. Wenn nicht, müsst ihr selbst sehen, wie es weiter geht.

Alles bleibt so, wie im Dezember besprochen!

Erst wenn ihr euch davon überzeugt habt, dass ich nicht mehr da bin, geht ihr wie abgesprochen vor – möglichst unauffällig. Dann den Behörden mitteilen, dass ich abhanden gekommen bin!“

Über den letzten Satz musste Ramona laut lachen. Ihr Lachen hatte Dux auf den Plan gerufen. Er kam zu ihnen gelaufen und spitzte die Ohren.

„Soll ich mir alles aufschreiben?“

„Auf keinen Fall – das musst du dir einprägen! Schriftliches könnte in falsche Hände geraten; denn ich weiß nicht, was passiert.“

Sie standen auf, um die Beine zu vertreten. Während sie über das Sternwartengelände schlenderten, wiederholte Markus Punkt für Punkt und ergänzte:

„Ich nehme nur den Personalausweis, den Führerschein und ein paar gute Zigarren mit.“

„Wie sollen wir uns verhalten, wenn die Presse Wind bekommt?“

„Ich sage es noch einmal. – Ihr stellt euch dumm! Sollten Presse-Leute oder andere hartnäckig bohren, dann nur belang-loses Zeug aus meinem Leben erzählen.“

„Hast du dich schon damit abgefunden, bald nicht mehr hier zu sein?“, wollte Ramona gern wissen. Sie war in Sorge, ihr Patenonkel könnte das ihm Bevorstehende körperlich und seelisch nicht verkraften.

„Ich habe seit meiner ersten Begegnung mit den Außer-irdischen nach und nach innerlich Abschied genommen: Vom Dorf, der Landschaft, den Menschen, die mir nahe stehen und den anderen, mit denen ich einen Teil meines bisherigen Lebens zurücklegen durfte. Und nicht zuletzt von der Sternwarte. Sie war und bleibt mein zweites Zuhause. Da ich felsenfest davon überzeugt bin, eines Tages wieder hier zu sein, kann ich meinem Schicksal getrost entgegen sehen und den Schmerz des Abschieds überwinden, ohne daran zu zerbrechen.

Ihr braucht euch meinetwegen keine Sorgen machen!“

Markus übergab ihr die Ersatzschlüssel der Wohnung, die der Sternwarte und zeigte ihr, wo er die Sternwartenschlüssel verstecken wird. Nachdem sie gemeinsam die Kuppel geschlossen, das Rolldach zugeschoben und verriegelt hatten, gingen sie von Zimmer zu Zimmer, um Fenster und Türen zu schließen. Markus erklärte seiner Nichte alles, was sie wissen sollte. Er bat sie, regelmäßig nach dem Rechten zu sehen und besonders darauf zu achten, dass die beiden teuren Fernrohre keinen Schaden nehmen.

Sie stiegen den steilen, schmalen Trampelpfad zur Landstraße hinab, wo ihre Autos parkten. Schließlich sagten sie sich gegenseitig „Lebewohl“ und fielen einander in die Arme. Als Ramona laut hupend davonfuhr, wartete Dux bereits ungeduldig auf Markus. Er ließ ihn auf dem Vordersitz Platz nehmen. Mit Dux hatte der Sonntagsfahrer Markus einen aufmerksamen Beifahrer bekommen.

Als Markus am frühen Morgen des 28. Februar das Kalenderblatt des Vortages abriss und in den Papierkorb beförderte, überkam ihn ein eigenartiges Gefühl. Und die „Pumpe“, wie er sein alterndes Herz stets nannte, stolperte unentwegt. Die Hände begannen zu zittern. Bald spürte er, dass der ganze Körper außergewöhnliche Symptome zeigte.

Im Unterbewusstsein schien sich etwas abzuspielen, das er nicht kannte. Den ganzen Tag über hielt dieser Zustand an.

Als es Nacht geworden war, machte sich Markus in Begleitung von Dux auf den Weg zur Sternwarte. Die Temperaturen waren wie im Frühling und der zunehmende Mond leuchtete hell und klar am Himmel.

Nach halber Wegstrecke, bei der Grundsbrücke, legten sie eine Pause ein. Dabei bemerkte Markus, dass es ihm wieder besser ging.

In der Sternwarte angekommen, waren seine „Wehwehchen“ wie vom Winde verweht – vorbei und vergessen! Es begann die Zeit des Wartens.

Markus rauchte eine Zigarre nach der anderen und Dux döste auf dem Boden liegend vor sich hin. Je näher es auf Mitternacht zuging, desto unruhiger wurde Markus. Seine Unruhe übertrug sich auch auf das Tier. Beide nahmen letztendlich auf dem Sofa Platz.

Markus nahm Dux auf den Schoß und strich ihn über das weiche, schwarz-braune Fell. Dabei sagte er:

„Ich werde dich hier lassen. Du kommst aber in gute Hände.“

Dux sah ihn seltsam an.

Als ihnen vor Müdigkeit die Augen zufallen wollten, horchte Dux auf, woraufhin Markus vor die Sternwarte trat. Im Mondlicht stehend, starrte er gen Himmel und lauschte. Es war beängstigend still.

„Die Ruhe vor dem Sturm“, dachte er und ging wieder in den hell erleuchteten Aufenthaltsraum.

Markus hatte die Türen bewusst offen stehen lassen. Er meinte ironisch:

„Wenn die Grauen kommen, brauchen sie sich nicht durch die Türen hindurch zu quetschen!“ Kaum hatte er den Satz zu Ende gebracht, da standen zwei kleine graue Alien vor ihm. Beide hatten einen Silberstab in der rechten Hand. Da hörte er wieder diese unangenehm klingende Stimme in seinem Kopf:

„Bist du bereit?“

Markus zögerte ein wenig, sprach dann zu seinen Entführern:

„Wartet draußen, bis ich so weit bin.“

Sie machten kehrt und verließen die Sternwarte, gefolgt von Dux. Als Markus den „Ausreißer“ am Halsband packen wollte, um ihn einzusperren, fletschte er die Zähne, als wolle er jeden Moment zubeißen. Markus ließ von ihm ab. Zurück in der Sternwarte, schaltete er das Licht aus und verschloss die Türen. Plötzlich waren die Außerirdischen verschwunden.

Im Schein des Mondes entdeckte er sie außerhalb der Umzäunung. Als letzte Handlung vor der Abreise verriegelte er die Zauntür und versteckte das Schlüsselbund.

Wie ein Gefangener, dicht gefolgt von den bewaffneten Alien, durchschritt Markus – Dux an seiner Seite – den zur Sternwarte gehörenden Wald. Am Waldrand blieb er stehen, um nach dem Ufo Ausschau zu halten. Doch weit und breit war kein Ufo zu sehen!

Da blickte er, wie bei den Sternguckern üblich, nach oben in den Himmel. Was er sah, überwältigte ihn: Fast senkrecht über ihnen schwebte leise summend ein kreisrundes Ufo. Es war bedrohlich nahe. Der Anblick der riesengroßen schwarzen Scheibe mit blinkenden bunten Lichtern am Rande flößte Markus Angst ein. Die Alien forderten ihn auf, weiterzugehen und direkt unter dem Flugapparat zu warten.

Plötzlich schoss ein schmaler, blauer Lichtstrahl zu Boden und Dux schwebte, im Lichtstrahl eingeschlossen, in die Höhe.

Markus war noch geblendet, als ihn der Lichtstrahl traf. Eine geheimnisvolle Kraft, die er spürte und seinen Körper schwerelos machte, beamte ihn hinauf in das Ufo.

Nach zwei weiteren kurzen, blauen Lichtstrahlen waren auch die kleinen Grauen wieder an Bord. Markus war wie benommen und

konnte zuerst nur schlecht und undeutlich sehen, als er sich in einem Raum wiederfand, der spärlich wie eine Gefängniszelle eingerichtet war. Die farblosen Metall-wände schienen zu glühen und spendeten indirektes Licht. In achteckigen Kübeln wuchsen fremdartige Pflanzen, so ähnlich wie Kakteen …

Die Alien konnten nicht ahnen, dass ihr Erscheinen beobachtet worden war. Sie achten darauf, kein Aufsehen zu erregen. Deshalb finden Entführungen hauptsächlich in der Nacht und an abgelegenen Orten statt. Zum Zeitpunkt der Entführung des Sternguckers Markus weilte der Gastwirt und passionierte Jäger Waldemar mit seinem zum Jagdhund ausgebildeten Dackel in einer offenen Kanzel am Rande des Feldweges, der den Ölweg mit der Landstraße verbindet.

Im Mondschein konnte der Inhaber der Gaststätte „Lorenz Eck“ die dreihundert Meter entfernte Sternwarte gut erkennen. Über die dahinter liegenden Wälder hinweg, am Fuße des Gänseberges, lag der Nachbarort Kalteneber. In einigen Häusern brannte noch Licht.

Aus dem nahen Dörfchen Fürstenhagen im Rücken drang kein Laut an sein Ohr und kein Lichtschein störte das dunkel angepasste Auge. – Da geschah das Unglaubliche …

Es brauchte Zeit, bis Waldemar, ein großer athletischer Mann, Anfang vierzig, mit dunkelblonden, lockigen Haaren und einem Bauchansatz, das soeben Erlebte verkraftet hatte.

Er war gekommen, um das Wild zu beobachten – und dann so etwas! Nach mehreren Zigarettenlängen brach er auf: Seinen Dackel im Rucksack und das Jagdgewehr über der linken Schulter. Der etwas tiefer stehende Mond ersetzte die Taschenlampe …

Als er eine halbe Stunde später den neuen Jeep vor der Gaststätte parkte, brannte über der Theke noch Licht und die bekannten Stimmen mehrerer Stammgäste drangen nach außen. Durch die überbaute Toreinfahrt betrat er den Innenhof, befreite den Dackel aus dem Rucksack und schloss die Flinte weg. In voller Jagdmontur betrat er, durch die Küche kommend, die Gaststube, wo seine Ehefrau, eine robuste, aber einfühlsame Gastwirtin, hinter der Theke Bier zapfte.

„Jetzt kann ich auch ein Bier vertragen!“, stöhnte Waldemar erleichtert.

„Hast du einen Bock geschossen?“, fragte wankend ein schon länger anwesender Gast.

„Nein, nein – viel schlimmer!“

„Erzähl doch mal. – Was ist passiert?“, fragte ein anderer Gaststättenbesucher.

„Als ich in der Kanzel am Kreuzweg saß, haben die Alien in einem riesengroßen Ufo den Sterngucker abgeholt.“

„Das will ich genauer wissen!“ Darauf bestand der Älteste unter ihnen. Er trug eine Brille, hatte kurze, graue Haare und eine rote Schnapsnase.

„Das will ich aber auch hören“, meinte die Gastwirtin und ließ die nächste Runde auf Kosten des Hauses ein.

Waldemar setzte sich zu seinen Gästen an den runden Stammtisch und berichtete:

„Wie in einem Gruselfilm tauchte völlig unerwartet – ganz langsam, dicht über den Bäumen des Gänseberges, ein Fluggerät auf, das keinen Laut von sich gab. Am schmalen Rand der diskusförmigen Scheibe blinkten Positionslichter in verschiedenen Farben, wie rot, grün, gelb, blau.

Sie überflog Kalteneber und kam dann, immer größer werdend, auf mich zu. Vor lauter Aufregung konnte ich den Feldstecher nicht finden.

Als das unheimliche Ding nahe der Sternwarte war, blieb es in der Luft stehen und schwebte in doppelter Höhe der Bäume über dem Boden.

Ich konnte nur ein leises Summen wie ein Dynamo hören. Das hatte auch mein Dackel mitbekommen. Er begann zu winseln, dann wollte er verrückt werden vor Angst. Es dauerte, bis ich ihn wieder beruhigt hatte.

Im Feldstecher war das Objekt deutlich als eine ‚Fliegende Untertasse’ zu erkennen. Die Scheibe erinnerte mich an zwei Untertassen, die mit der Oberseite aufeinander liegen.

Auf der vom Mond beleuchteten Seite glänzte das metallische Flugobjekt wie eine polierte Radkappe aus Chrom.

Auf einmal schossen in kurzen Abständen zwei Lichtstrahlen zu Boden. Dann war eine ganze Weile Ruhe. Das Ufo rührte sich nicht von der Stelle. Erst nach geraumer Zeit blitzten wieder blaue Lichtstrahlen auf. Ich habe mitgezählt: Viermal hintereinander. Dann vergingen nur wenige Minuten und das Monster stieg langsam höher und höher, schwebte mehrere Sekunden in der Luft und flog mit einem zischenden Geräusch über mich hinweg.

Ich bekam eine furchtbare, panische Angst. Die Haare an meinen Armen und auf dem Kopf standen aufrecht. Ich wollte über die Haare streichen, konnte mich aber nicht bewegen, war gelähmt. Doch meine Sinne funktionierten nach wie vor.

Erst nach langen, bangen Minuten konnte ich mich wieder bewegen. – Und ein Stein fiel mir vom Herzen!“

Tiefe Betroffenheit und stilles Nachdenken …

„Was hast du dann gemacht?“, interessierte den Jüngsten in der zuvor feucht-fröhlichen Runde.

„Ich bin zum Jeep gegangen, der am Anfang des Kreuzweges stand und auf den Parkplatz unterhalb der Sternwarte gefahren. Als ich am Zaun war, habe ich nach Markus gerufen und alles ausgeleuchtet. Es war niemand da – sonst hätte der Hund angeschlagen.“

„Morgen früh musst du unbedingt seine Schwester und die Nichte anrufen, damit sie nachsehen können, ob Markus tatsächlich entführt worden ist“, redete die besorgte Wirtin auf ihren Gatten ein.

„Dem Markus ist alles zuzutrauen!“, lästerte hämisch grinsend der Stammgast mit der roten Nase. Es wurde lange hin und her diskutiert.

„Für heute reicht es! Wir trinken die letzte Runde, dann geht es in die Federn. – Morgen, besser gesagt heute, ist auch noch ein Tag“, erklärte der Hausherr sichtlich geschafft und entließ kurz darauf die Trinkfestesten des Dorfes in die Nacht.

Der nächste Tag.

Wie ein Lauffeuer hatte sich herumgesprochen, dass der Sterngucker von den Alien entführt worden ist.

Die Kommentare der Leute fielen sehr unterschiedlich aus. Die einen meinten:

„Endlich passiert mal etwas“, andere sagten:

„Das geschieht ihm recht“, und die meisten äußerten:

„Ich glaube nicht an so einen Quatsch – Ufos, Alien. Das sind nur Hirngespinste!“

Gegen Mittag hatte der Gastwirt die Nichte von Markus telefonisch erreicht. Er schilderte ihr kurz und knapp, was in der Nacht geschehen war und bat sie, an Ort und Stelle nachzusehen, ob ihr Onkel anwesend sei oder von den Außerirdischen entführt worden ist.

Sie versprach, nach Feierabend ihres Mannes nach Lutter zu fahren. Anschließend würden sie sich in der Gaststätte treffen. Nach dem Telefonat informierte Ramona ihre Mutter, die gleich nebenan wohnte. Diese nahm die Nachricht erstaunlich gelassen entgegen, in sich gekehrt, ohne ein Wort zu sagen.

In der Abenddämmerung fuhren Matthias und Ramona zur Sternwarte. Weder Markus noch Dux waren anwesend. Auch in der Wohnung war niemand anzutreffen. – Es war ihnen klar, dass alles so eingetroffen war, wie er es ihnen angekündigt hatte. Jetzt mussten sie entsprechend seinen Instruktionen schnell handeln.

Sie kochten erst einmal Kaffee und sahen im Kühlschrank nach, was noch vorhanden war. Für eine Abendmahlzeit reichte es allemal.

Während sie gemütlich am Küchentisch saßen, überlegten sie, wie sie vorgehen sollten …

Alles, was jetzt zu tun war, wurde erledigt. Und dann Markus` fahrbarer Untersatz startklar gemacht.

Mit zwei Autos fuhren sie los und hielten vor dem Gasthaus an.

Die mollige, stets gut aufgelegte Wirtin, empfing sie sehr freundlich. Derweil die Frauen miteinander plauderten, staunte Matthias über die neue Innenausstattung der Gaststube. Sie war ganz im Bauernstil gehalten. An den Wänden hingen Jagdtrophäen und großflächige Bildnisse von Jagdszenen, die ein hiesiger Kunstmaler geschaffen hatte.

„Da seid ihr ja!“, begrüßte der in den Gastraum eintretende Chef des Hauses seine bereits erwarteten Gäste.

Sie nahmen zu viert am Stammtisch Platz.

„Was darf ich euch anbieten?“, fragte die Wirtin Marion

„Nur Alkoholfreies, am besten Cola, da bleibt man munter“, antwortete Matthias.

„Das ist ja ein Ding!“, begann Marion die Unterhaltung und trank einen kräftigen Schluck Bier, frisch vom Fass.

„Ich war geschockt!“, erklärte Ramona notgedrungen, mehr oder weniger scheinheilig.

Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort:

„Wir haben in der Sternwarte nachgesehen. Dort ist Markus nicht. In der Wohnung war er auch nicht anzutreffen. Der Hund ist ebenfalls weg. Es könnte schon sein, dass das Ufo beide mitgenommen hat.“

„Berichte uns der Reihe nach, was du in der letzten Nacht erlebt hast“, sagte Matthias zum Gastwirt.

Beim nächsten Glas Bier und einer Zigarette erzählte Waldemar bis ins Detail seine Geschichte …

Danach waren Ramona und Matthias sehr erregt und aufgewühlt, obwohl es sie keineswegs unvorbereitet getroffen hatte.

„Was wollt ihr jetzt machen?“, fragte die Wirtin.

„Abwarten! – Vorsorglich haben wir seine Papiere und einige andere Sachen eingepackt. Wir wissen ja nicht, wann und ob er jemals zurückkommt. Die Sternwarte werden wir regelmäßig aufsuchen und die Wohnung kontrollieren. – Vor Einbrechern ist man nie sicher“, meinte Ramona und erklärte:

„Das Auto nehmen wir mit zu uns.“

Und Matthias fügte hinzu:

„Wenn es nur da steht und nicht gefahren wird, kann man es bald auf den Schrottplatz bringen.“

„Ich würde an eurer Stelle eine Vermisstenmeldung bei der Polizei aufgeben“, riet der Kneiper den Betroffenen.

„Daran haben wir auch gedacht“, sagte Ramona.

„Auf dem Heimweg werden wir die Polizeiinspektion in der Kreisstadt aufsuchen, das erledigen und dich als Augenzeugen benennen“, erklärte Matthias.

„Das könnt ihr! Die Polizisten werden denken, sie haben es mit Spinnern zu tun – aber das macht nichts“, sprach der Gastwirt und ließ noch eine Runde ein.

Als dann fünf krakeelende Jugendliche die Gaststätte betraten, fand das Gespräch ein abruptes Ende. Die auswärtigen Gäste zahlten und verabschiedeten sich. In Heiligenstadt gaben sie eine Vermisstenanzeige auf und waren froh, bald wieder in Westhausen zu sein, ohne dass jemand Verdacht geschöpft hatte …

Tage später wurde der Gastwirt und Jagdpächter Waldemar von der Kriminalpolizei als Zeuge der Entführung vorgeladen.

Er gab das, was er mit eigenen Augen gesehen und am Körper verspürt hatte, zu Protokoll. Mehr konnte er nicht tun. Den Polizeibeamten erging es ähnlich. Sie waren skeptisch, in diesem kuriosen Fall überhaupt etwas ermitteln zu können. – Viel später stellte sich heraus, dass dies die erste Entführung durch Außerirdische im Eichsfeld war, bei der es einen Augenzeugen gab.

Aus zuverlässigen Quellen hatte der Redakteur des Lokalteiles der Tageszeitung von der Entführung erfahren. Ihn interessiertediese Story schon deshalb, weil er den entführten Sterngucker sehr lange persönlich kannte.

Diesem Umstand war es zu verdanken, dass es keine reißerischen Schlagzeilen gab. Es blieb bei einem ausführlichen Zeitungsbericht auf der Lokalseite mit dem Titel:

„Sterngucker von Alien entführt“, und dem Untertitel: „Jäger ist Augenzeuge – Angehörige entsetzt.“

Der Zeitungsredakteur hatte zuvor am Ort des Geschehens den Augenzeugen und die Angehörigen eingehend befragt. Er war bemüht, dass Unvorstellbare so realistisch wie möglich wiederzugeben …

Ein zur selben Zeit stattfindendes Großereignis, das die gesamte Presse, einschließlich Rundfunk und Fernsehen, tagelang beherrschte, trug dazu bei, dass die Entführung im Eichsfeld nur ein lokales Ereignis blieb. – Sicherlich im Sinne des Entführten!

Aber durch den Buschfunk der modernen Kommunikations-mittel wurde die Sternwarte des Markus vorübergehend eine Pilgerstätte für Ufo-Gläubige …

Markus hatte es nicht sehr lange allein ausgehalten, in diesem Ufo-Gefängnis ohne Bewachung.

Er verließ leise den Raum und befand sich auf einem breiten, kalten Korridor, der wie in einem Rundbau entsprechend dem Durchmesser des Ufos gekrümmt war. Als er ziellos diesen Rundgang ohne Fenster und nur mit künstlichem Licht sparsam beleuchtet, entlang schlich, immer auf der Hut, von den Alien entdeckt zu werden, fielen ihm auf der zylindrischen Innenwand außerirdische Hieroglyphen, wie Sanskrit, ins Auge. Sie waren für ihn ein Buch mit sieben Siegeln.

Auffällig war, dass zwischen dem Korridor und der Bordwand des Ufos ein Raum an den anderen gereiht war, Tür an Tür im Kreisrund.

Neben einer schmalen Schiebetür blieb er stehen; denn er hatte Schritte gehört. Da tat sich die Tür auf. Ein mit einem orangefarbenen Overall bekleideter Alien, ein Mann, auf denersten Blick von einem Menschen nicht zu unterscheiden, trat heraus. Es folgte Dux, den er schon vermisst hatte.

Während der menschenähnliche Alien davoneilte, standen sich Markus und Dux regungslos gegenüber. Sie sahen einander tief in die Augen, bis Dux sich abwandte und langsam dem entschwundenen Alien hinterherlief.

Markus sah ihm wehmütig nach. Plötzlich hielt Dux inne – und vor seinen Augen verwandelte er sich in Sekundenschnelle in einen bildschönen Jungen, etwa 10 Jahre alt!

Markus stand wie eine Bildsäule da – Mund und Augen weit offen. Der Knabe hob die Hand und winkte ihm zu, bevor er aus seinem Blickfeld verschwand. „Für immer?“

Markus musste dieses Erlebnis erst einmal verarbeiten.

Danach spazierte er in der entgegengesetzten Richtung weiter.

Bald traf er auf eine Wendeltreppe. Metallene Stufen, aus einem Material, das er nicht kannte, führten nach unten und nach oben.

Er entschloss sich, eine Etage tiefer zu gehen. Hier gab es keine separaten Räume wie in der Etage, aus der er kam. Vom Zylinder im Zentrum des Ufos bis zur Außenhülle war alles ein offener Raum, nur von tragenden Säulen unterteilt. An der Bordwand befanden sich große Bullaugen, wie er sie von Schiffen kannte.

Markus staunte, dass hinter den meisten Fenstern, die wegen der flachen Scheibe des Ufos einen direkten Blick nach unten ermöglichten, Menschen standen, die wie elektrisiert herausschauten.

Markus setzte seinen Erkundungsgang zwischen den eintönigen grauen Metallwänden fort und entdeckte über einer geschlossenen Tür, die in das Innere des zentralen Zylinders führte, ein symbolisches Ornament: Den Baum des Lebens aus der Mythologie, aber ohne Schlange. Als er dastand und nachdachte, was dieses Symbol bedeuten könnte, kam ein großer Alien, ein sympathischer junger Mann mit braunen Haaren, goldbrauner Hautfarbe, bekleidet mit einer hautengen blauen Uniform und schwarzen Schuhen, des Weges. Er hatte eine besondere Ausstrahlung.

Markus sprach ihn an und fragte nach der Bedeutung dieses Symbols. Zu seiner Überraschung antwortete der Alien in reinem Hochdeutsch:

„Dass wir wenigstens teilweise die gleichen Ahnen haben.“

Dann ging der Fremde weiter. Markus hatte ihn die ganze Zeit in die Augen geschaut. Sie waren groß und unterhalb der Augenwinkel verbreitert. Er hatte den Eindruck, als könnte sein Gegenüber gleichzeitig von vorn und von der Seite sehen …

Markus gesellte sich jetzt zu den Menschen, die an den Bullaugen des Ufos standen und wie gebannt auf die Erde unter ihnen starrten. Die meisten waren aufgeregt, andere wie von Sinnen oder total apathisch. Kleine Kinder, die wie Puppen aussahen, schrieen nach ihren Müttern.

Es war das reinste Sprachengewirr, das ihn umgab.

„Die Alien hatten demnach Menschen verschiedener Kulturen und Hautfarbe, jeden Alters – ob Männlein oder Weiblein – vom Kleinkind bis zum Greis, an Bord.“

Ein Entführungsopfer, offensichtlich Angehöriger eines vom Aussterben bedrohten Stammes, wollte Markus auf Französisch seine Entführung schildern. Er verstand kein Wort, nur den Namen einer Insel im Pazifischen Ozean, die zum französischen Staatsgebiet gehört.

Weil Markus Höhenangst hatte und noch nie geflogen war, vermied er es, aus dem Fenster zu sehen.

Aus den Reaktionen seiner Mitmenschen schloss er, dass das Ufo längst im Erdorbit schwebte und in geringer Höhe schon mehrere Erdumrundungen hinter sich gebracht hatte.

Seit Anbeginn des Fluges hatte Markus jedes Zeitgefühl verloren.

Zu schaffen machte ihm und den anderen die verbrauchte, stickige Luft im Ufo. Schlimm wurde es, als Rauch die Atemluft verpestete. Markus dachte:

„Ihre Technik scheint, wie bei uns Menschen, nicht perfekt zu sein.“

Als die Alien dieses Problem gelöst hatten, keimte Hoffnung auf, bald irgendwo zu landen …

Das Ufo befand sich auf der Nachtseite der Erde, über Südamerika, als es mit Überschallgeschwindigkeit auf die Erde zu fiel.

Aus purer Neugier hatte es Markus gewagt, aus einem der Bullaugen zu sehen. Er konnte so den Sinkflug des Ufos miterleben.

An der Ostküste des Kontinents waren die nachts hellerleuchteten Großstädte deutlich zu erkennen. Das Ufo näherte sich einer dieser Städte, stoppte kurz und flog dann ein völlig dunkles Gebiet an.

Markus vermutete die Pampa in Argentinien, wo es jetzt Anfang Herbst war.

Im Lichtschein eines starken Scheinwerfers erkannte er eine kleine, abgelegene Farm. Das Ufo landete unweit des Wohnhauses auf einer Rinderkoppel. Drei kleine Alien stiegen an der Unterseite des Ufos aus und gingen auf das Gebäude zu, dessen Bewohner schliefen.

Kurz darauf kamen sie mit der ganzen Familie, den Eltern, zwei halbwüchsigen Jungen und einem Mädchen zurück.

Dann startete das Ufo wieder.

„Markus fragte sich, über welche ausgefeilte Technik die Alien verfügen müssen, um in der Lage zu sein, aus großer Höhe und bei absoluter Dunkelheit zielgenau eine Farm anzusteuern.“

Das Ufo überflog nun in mehreren Tausend Metern Höhe die verschneiten Gipfel der Anden und dann im Zickzack-Kurs den nicht enden wollenden Pazifik.

Über dem Himalaja änderte das Raumschiff seinen Kurs.

Inmitten der dicht bewaldeten und tief verschneiten Taiga in Sibirien, nahe einer Stadt mit Industrieanlagen und einer Bahnstrecke, beamte das Raumschiff einen bei eisiger Kälte schuftenden Gleisarbeiter vom Arbeitsplatz. Hiernach stieg es senkrecht in den Himmel …

Markus faszinierte, wie scheinbar mühelos, fast spielerisch „sein“ Ufo die Schwerkraft der Erde überwindet und sich im Vergleich zu irdischen Flugzeugen und Raketen sehr schnell fortbewegen kann. Ein solches Fluggerät ist ein Wunderwerk der Technik!

Tief beeindruckt von dem, was er aus der Vogelperspektive sah, rührte sich Markus nicht von der Stelle.

Ein Raunen ging durch die Reihen der Menschen, die das Schauspiel der immer kleiner werdenden Erde verfolgten. Der blaue Planet lag wunderschön anzusehen unter ihnen. Die von den Weltmeeren umschlossenen Kontinente in ihren unterschiedlichen Farben waren teilweise von weißen Wolken eingehüllt, während über der Sahara und anderen Wüsten sowie den Trockengebieten der Erde kein Wölkchen die Sicht behinderte. Markus erfreute der Anblick von Grönland, einer schneebedeckten Eiswüste hoch im Norden. Einen tiefen Eindruck hinterließ der durch dichten Dschungel sich schlängelnde Amazonas …

Als einen schmalen, durchsichtigen Saum umgab die lebensnotwendige Atmosphäre den Erdball.

Über dem Äquator, schon weit draußen im Weltall, steuerten die Alien das Ufo in eine Erdumlaufbahn. Wie bei einer Perlenkette aneinandergereiht, schwebten unter ihnen die geostationären Satelliten. In vergleichsweise geringer Höhe über der Erdoberfläche zogen Wettersatelliten von Pol zu Pol ihre Bahn um den Globus. Und schräg zum Äquator umrundete die Raumstation ISS den Heimatplaneten.

Tausende große und kleine Satelliten auf unterschiedlichen Bahnen umkreisten die Erde, oft begleitet von Weltraummüll, der seit dem Start des Sputniks den Erdorbit unsicher macht …

Als sich mehrere kleine graue Alien den entführten Menschen an Bord näherten, gerieten einige in Panik und rannten davon.

Markus konnte ihr Verhalten nicht verstehen. Er fragte eine junge, gut aussehende Frau südländischen Typs, die verschie-dene Sprachen beherrschte und eine Mehrfachentführte war:

„Weshalb geraten Menschen in Panik, wenn ihnen kleine Graue begegnen?“

„Viele haben mir berichtet, dass die kleinen Alien gemein zu ihnen waren. Sie haben sie gezwungen, Hals über Kopf mitzukommen, ohne sich von ihren Angehörigen verabschieden zu können. – Oder bei Nacht hat man sie aus dem Schlaf gerissen und in ein Ufo verschleppt. Niemand weiß, wo sie abgeblieben sind.

Daran zerbrechen viele, auch weil sie nicht wissen, was die Außerirdischen mit ihnen vorhaben. – Gutes oder Böses?“

Markus wurde nachdenklich und antwortete der schönen, intelligenten Dolmetscherin aus dem Mittelmeerraum:

„Diese Erfahrungen habe ich nicht gemacht.“

Seine Gesprächspartnerin fügte noch hinzu:

„Die kleinen Grauen sind geschlechtslose Arbeitssklaven der menschenähnlichen Alien. Sie ‚sprechen’ selten und sind nicht zimperlich im Umgang mit ihren Abduktionsopfern.“

Markus hatte verstanden. Er schien eine bevorzugte Behandlung zu genießen –.

Wissbegierig wie er war, wollte er das „Gehirn“, die Steuer-zentrale des Ufos, kennenlernen und schritt Stufe für Stufe die nächstliegende Wendeltreppe empor.

Als er die Etage mit den „Hotelzimmern“ hinter sich gelassen hatte, standen unerwartet zwei bewaffnete kleine Alien vor ihm und versperrten den Weg.

Im Kopf hörte er eine harsche Stimme:

„Zutritt für Menschen verboten!“

Er wurde ganz verlegen – sagte dann kleinlaut:

„Habe verstanden …“, und begab sich wieder zu den anderen Menschen aus aller Welt, die wie er eine Reise ins Ungewisse machten …

Der Gemütszustand unter den Entführten wechselte ständig; denn die innere Uhr jedes Einzelnen tickte anders. Wenn die einen schlafen wollten, wurden die anderen munter. Auch Hunger und Durst meldeten sich zu unbestimmten Zeiten. Besonders die zuerst Entführten und Kinder mussten leiden. Kleine Alien brachten schließlich Lebensmittel und Getränke, die sie von der Erde haben mitgehen lassen, wie die Alten meinten. Die Toiletten an Bord schienen aus leerstehenden Urlauberhotels zu stammen, funktionierten aber. Manche staunten nicht schlecht, in einem außerirdischen Raumschiff WCs vorzufinden! …

Auf der Erde bestimmte der Wechsel von Tag und Nacht das Leben der Menschen. Während ein Teil der Weltbevölkerung schlief, war der andere Teil aktiv. Wenn auf der Nordhalbkugel Winter war, war auf der Südhalbkugel Sommer. Nur in der Äquatorzone gab es keine Jahreszeiten – auch waren die Tage und Nächte nicht unterschiedlich lang …

Weil die Alien Menschen aus verschiedenen Erdteilen gleichzeitig in ihrem Ufo gefangen hielten, entstanden Probleme: Es fehlten der 24-Stunden-Rhythmus, der Wechsel von Hell und Dunkel und die Zeit. Keiner kannte weder Datum noch Uhrzeit – Dinge, die den Menschen tagtäglich begleiten oder bestimmen. Das Ufo flog scheinbar zeitlos durch das All. Wer, wie Markus als Sterngucker, sich für das Weltall interessierte, konnte interessante Beobachtungen anstellen, wenn er aus dem Ufo heraus in den tiefschwarzen Sternen-himmel blickte …

Unbemerkt von den meisten Menschen an Bord hatte das Raumschiff seine Parkbahn in etwa 40 000 km Höhe über dem Erdäquator verlassen. Es beschleunigte rasant, was Markus an der schnell kleiner werdenden Erde erkennen konnte. Ihr Anblick war überwältigend! Und doch war sie nur ein Planet unter den Planeten der Sonne, die hell strahlend am Himmel stand, umgeben von unzähligen Sternen. Obwohl die Sonne schien, herrschte außerhalb des Ufos, im Vakuum des Kosmos, die absolute Weltraumkälte. Die Sterne funkelten nicht – sie leuchteten in einem ruhigen Licht in

unter-schiedlichen Farben. Da es kein Oben und Unten gab, war es für Markus schwierig, selbst die bekanntesten Sternbilder aufzufinden. Die Planeten hingegen fielen sofort ins Auge und waren leicht an ihrer Helligkeit und Farbe zu unterscheiden: Die Venus, der Morgen- und Abendstern, strahlte wie immer in einem silbernen Licht. Den Mars verriet seine rot-orangene Farbe. Der größte Planet der Sonne, Jupiter, leuchtete goldgelb und der weiter entfernte Ringplanet Saturn lichtschwächer als Jupiter.

Über den ganzen Himmel erstreckte sich das breite, zarte Band der Milchstraße, bestehend aus abertausend winzigen Licht-punkten.

Schade, dass Markus keinen Feldstecher zur Hand hatte!

Je länger er mit großer Geduld und Hingabe in die endlosen Weiten des Universums schaute, desto mehr Achtung empfand er vor der Schöpfung. Als letztendlich unser Nachtgestirn, der Mond, sehr viel größer als die Sonne, durch die Bullaugen schien, war allen klar – die Reise geht zum Mond!

Der Mond kam näher und näher und war herrlich anzuschauen. Neben den ausgedehnten dunklen Mondmeeren, die in Wirklichkeit flache Wüsten vulkanischen Ursprungs waren, beherrschten die ungezählten kleinen und auch großen runden Krater das Bild der unwirklichen Mondoberfläche. Sie ist seit Urzeiten unverändert, eine Urwelt, die bis zur Ankunft der Alien unbewohnt war.

An der Lichtgrenze zwischen der Tag- und Nachtseite ragten die höchsten Gipfel der Mondgebirge wie Leuchttürme aus dem Dunkel der Mondnacht.

Der auffällig helle Krater Tycho mit seinem ausgedehnten Strahlensystem beeindruckte besonders diejenigen Mitrei-senden, die noch nie durch ein Fernrohr einen Blick auf unseren „guten alten Mond“ werfen durften.

Das Ufo wurde langsamer, bis es sich auf einer Mondumlaufbahn befand. In relativ großer Höhe umkreiste es den Erdtrabanten. Da sahen Markus und andere aufmerksame Beobachter, wie drei Raumschiffe, ebenfalls „Fliegende Untertassen“, aber kleiner, von der Mondoberfläche aufstiegen, an ihnen vorbei rasten und entschwanden …

Auf seiner Umlaufbahn überflog „ihr Ufo“ auch die Rückseite des Nachtgestirns, die wegen der gebundenen Rotation des Mondes von

der Erde aus unsichtbar ist. Erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts sandten Raumsonden die ersten Bilder von der erdabgewandten Seite des Mondes zur Erde. Die Rückseite ist sehr gebirgig. Krater aller Größen reihen sich aneinander. Es fehlen fast vollständig die Mondmeere.

Die Oberfläche des Mondes ist von Gesteinsbrocken übersät und von Mondstaub bedeckt.

Große Ringgebirge, langgestreckte Kettengebirge, rillen-förmige Täler, weite Wallebenen, Mondkrater mit und ohne Zentralberge bestimmen das Antlitz dieser schroffen, lebensfeindlichen Welt, die sehr viel kleiner ist als unsere Erde.

Weil der Erdmond keine Lufthülle besitzt, liegt seine Oberfläche gestochen scharf vor den Augen des Betrachters.

Hier herrscht eine absolute Stille – kein Windhauch ist zu spüren und kein Säuseln des Windes zu hören.

Am Tage heizt sich der Boden bis 130 °C auf und kühlt sich in der Mondnacht auf -160 °C ab.

Da die Atemluft fehlt und kein Wasser vorhanden ist, müssen die Alien für alles Lebensnotwendige sorgen, um auf dem Mond leben und überleben zu können. Markus hat da seine Zweifel.

Er sehnt sich nach der Erde, die als eine große, blaue Planetenscheibe bei jeder Mondumrundung am pechschwarzen, sternenübersäten Mondhimmel auf- und untergeht. Als das Ufo wieder einmal aus dem Mondschatten auftauchte und den beleuchteten Teil der Vorderseite des Mondes überflog, ging es in einen Sinkflug schräg zur Mondoberfläche über. Es näherte sich einem Gebiet nahe dem Mare Frigoris (Meer der Kälte). In geringer Höhe überflog es den Krater Fontenelle, wobei das Schattenbild des Ufos über den Mondboden huschte.

Das Ufo stoppte über einem relativ kleinen, unscheinbaren Krater ohne Zentralberg und schwebte auf der Stelle. Markus sowie die anderen Entführten an Bord konnten zusehen, wie der Kraterboden sich öffnete. Er war in der Mitte geteilt und entschwand ganz langsam im Kraterrand. Ein tiefes schwarzes Loch klaffte dort, wo vor kurzem noch fester Mondboden zu sein schien. Dann schwebte das Ufo vorsichtig, wie durch einen Schlund, in die Tiefe.

Mehrere Etagen unter der Kratersohle setzte es auf den Boden eines riesigen Hangars auf. Als der Kraterboden wieder geschlossen war und alle Schotten dicht waren, damit keine Luft entweichen konnte, forderten die kleinen Alien die Menschen auf, das Ufo zu verlassen. Eine an der Unterseite angebrachte und der Form des Ufos angepasste Metalltür öffnete sich und etwa 70 Entführte verließen geordnet das Raumschiff.

Im Hanger war die Atemluft besser als im Ufo und die Temperatur erträglich.

Markus hatte den Flug zum Mond, für ein Ufo ein Katzensprung, einigermaßen gut überstanden. Scheinbar alle anderen auch.

Er schaute sich neugierig um und entdeckte in dieser riesigen, in das harte, dunkle Mondgestein getriebenen Halle, noch zwei Ufos gleicher Bauart.

Die kleinen Alien führten die Neuankömmlinge durch einen „Höhleneingang“ in einen Raum, der wie ein Bahnhofs-Wartesaal ausgestattet war. Von den schmucklosen grauen Wänden und der gewölbten Decke ging indirektes Licht aus. Für die angenehme Temperatur und den Luftaustausch sorgte eine außerirdische Klimaanlage.

Als die Menschen ihre ersten Schritte auf den Boden des Mondes wagten, fiel ihnen das Gehen leicht. – Die Kinder hüpften wie Kängurus voraus.

Die meisten konnten nicht fassen, dass der Mond nur 1/6 der Erdschwere hat und man sich beinahe schwerelos fortbewegen kann.

„Daran muss man sich erst gewöhnen“, sagte Markus zu seinem Nachbarn, ein breitschultriger, bärtiger Mann mittleren Alters, der von diesem Phänomen sehr überrascht war.

Als alle neuen „Mondbürger“ an Metalltischen und auf Stühlen aus dem gleichen Material Platz genommen hatten, erklang aus versteckten Lautsprechern leise, fremdartige Musik.

Markus suchte nach einem Aschenbecher; denn er wollte die mitgebrachte, letzte Zigarre rauchen, fand aber keinen. Während die Leute von der gewöhnungsbedürftigen Musik berieselt wurden, saßen sie gelangweilt da, sahen sich um und schwiegen – bis auf die Kinder, die immer unruhiger wurden. Dann trat ein großer,

schlanker, dunkelhäutiger, menschen-ähnlicher Alien in einem massgeschneiderten Anzug vor die Versammelten. Hinter ihm hatten sich ein Dutzend kleine graue Alien postiert.

Mit ein paar unverständlichen Worten und seltsamen Gesten versetzte er die Anwesenden in eine Art Hypnose. Alle blieben bei vollem Bewusstsein, waren aber nicht in der Lage, Ängste zu entwickeln oder Widerstand zu leisten. Jeder hörte tief in seinem Kopf:

„Willkommen in unserer Mondbasis Fontenelle! – Wir werden euch zu verschiedenen Zwecken aufteilen. Die Familien werden getrennt.“

Daraufhin gingen die kleinen Alien, die unerbittlichen Handlanger, zu den Tischen und sortierten die Entführten nach ihren Plänen …

Weil man den Menschen ihre Persönlichkeit genommen hatte, waren sie dem Willen der Alien bedingungslos unterworfen.

Außerirdische schenkten ihm ein zweites Leben

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