Читать книгу Karla und die Murmeltiere - Helmut Bückle - Страница 5
ОглавлениеEin Diebstahl ohne Haare
Das Murmeltier kannte sich gut aus im Dorf und führte die beiden über verschlungene Pfade abseits der Strassen an Gartenzäunen entlang durch die riesigen Schneehaufen hindurch. Manchmal blieb es hinter einer Hausecke stehen und witterte ein wenig. Karla und der Papa folgten ihm schweigend. Das Murmeltier bog um eine letzte Ecke. »Wir sind da«, flüsterte es, »auf dem Hof wohnt Peter. Das da oben«, es deutete mit seiner Pfote auf ein kleines erleuchtetes Fenster im ersten Stock, »das ist sein Zimmer«. Sie huschten im Schatten der Nacht an der grossen Scheune entlang hinüber zum Haus. Im Stall muhten die Kühe, ansonsten war es mucksmäuschenstill.
»Jetzt einfach klingeln geht nicht, oder?«, sagte Karla. »Wir könnten Steinchen gegen sein Fenster werfen«, schlug der Papa pfadfinderisch vor. »Gute Idee, Papa«, lobte Karla, »aber vielleicht eher was für den Sommer. Ich seh hier nur Eis und Schnee und keinen einzigen Kiesel«. Etwas Besseres fiel ihr aber auch nicht ein. Das Murmeltier blickte die beiden mitleidig an. So so. Die Freunde der Natur. Es blies die Backen ein wenig auf und spitzte die Lippen auf eine ganz ulkige Art und Weise. Das Pfeifen, wie es aus seinem Mund erklang, hatte Karla vorhin am Berg schon gehört, aber jetzt war noch eine echte Signal-Melodie darin. Sie staunte. »Willkommen im Klub«, sagte das Murmeltier, »ist gleich soweit«. Einige Sekunden später wurde in der Tat die Küchentüre von innen geöffnet und ein Junge huschte zu ihnen herüber. »Schnell, hier hinein«, sagte Peter, »alles Weitere besprechen wir auf dem Heuboden« und verschwand im Dunkel der Scheune.
Es war warm und feucht da drin und es roch ganz eindeutig nach Rindviechern. Links und rechts standen die Kühe in ihren Boxen und muhten und mampften unentwegt vor sich hin. Komisch, dachte sich Karla, wieso kauen die die ganze Zeit, wenn sie grade gar nichts fressen? Kaugummi mit Kirsch - geschmack konnte es wohl kaum sein. Merkwürdige Viecher. Nur für die städtische Kleinbevölkerung unter Euch, Kühe machen das wirklich ziemlich besonders. Sie vertilgen nämlich das gleiche Essen praktisch zweimal, das erste Mal wenn sie das Heu in sich hineinschaufeln und runterschlucken, und danach holen sie es aus dem Bauch wieder hoch und kauen ein zweites Mal stundenlang drauf rum. Schön vorzustellen ist das nicht. Peter führte sie zu einer Leiter, die auf den Heuboden hinaufging. Der Heuboden ist wie der erste Stock im Stall, aber eben nur der Fußboden davon. Darauf lagert man das Heu, das man dann nur noch zu den Kühen nach unten werfen muß. Oben angekommen setzten sie sich ins Heu. Vier im roten Kreis. »Peter«, begann das Murmeltier, »das sind Karla und ihr Papa. Sie wollen uns helfen. Das ist lieb von ihnen, aber wir müssen ihnen den ganzen Schlamassel erst mal erklären«.
Peter nickte. »Gern«, sagte er, »dauert aber ein bisschen, ich muß echt vorne anfangen. Ihr müsst wissen, die Murmeltiere und ich sind befreundet, seit ich letzten Sommer einen Tag ganz oben auf dem Berg war, direkt unterhalb der Schröffli-Kante. Und da habe ich im Gras auf der Bergwiese Murmeln gefunden. Große schöne Glasmurmeln, die glänzen und funkeln in der Sonne. Und wie ich gerade überlege, was denn diese Murmeln da oben machen, höre ich ein leises Pfeifen. Ich dreh‘ mich rum und da kommt ein Murmeltier hinter einem Stein raus und läuft direkt auf mich zu. Ihr könnt Euch vorstellen, wie überrascht ich war«. Karla und der Papa konnten es nachvollziehen, ziemlich gut sogar. Peter kratzte sich am Kopf. »Es begrüsst mich und fragt woher, wohin, als ob es ein Hüttenwirt wäre. Ich kam mir vor wie im falschen Film«. »Warst Du das?«, fragte Karla. Das Murmeltier nickte. »Dann reden wir so und ich frage nach den Murmeln«, fuhr Peter fort, »weil davon hatte ich hier unten noch nie nichts gehört gehabt«. »Verwundert ja nicht«, sagte das Murmeltier feixend, »das ist Euch doch viel zu anstrengend und steil da oben«. Peter grinste. »Nicht allen, mein Freund. Und dann erklärte es mir, daß die Murmeln ihm und seiner ganzen Familie gehörten. Eigentlich hätte ich auch draufkommen können, daß die Murmeln den Murmeltieren gehören, schliesslich heissen sie ja so«. Karla und der Papa schauten sich merkwürdig an. Zugegeben, das machte Sinn. Sie hatten es nur noch nie so begriffen. Und sie waren sich auch nicht sicher, ob sie es an Peters Stelle schneller kapiert hätten. »Das ist eines unserer Geheimnisse«, fiel das Murmeltier ein. »Wir besitzen die Murmeln schon seit ewig langer Zeit, keiner von uns kann sagen wie lange schon, weil mein Großvater hat sie von seinem und der wiederum von seinem. Ach, die sind einfach schon immer dagewesen«. Das Murmeltier streckte seine Ärmchen weit aus, um anzuzeigen wie lange die Murmeln schon zu ihnen gehörten. Wirklich immer, schien es.
»Im Frühling, wenn die erste Sonne wieder wärmt, legen wir sie auf den Wiesen aus, dort wo nie ein Mensch hinkommt und da bleiben sie den ganzen Sommer über bis in den Herbst hinein«. So weit, so gut, dachte sich Karla, aber was ist der Trick dabei? Und als ob das Murmeltier es gehört hätte, sagte es, »Ihr müsst eins wissen, die Murmeln nehmen die Wärme der Sonne ganz tief in sich auf, jede einzelne von ihnen«. Karla legte die Stirn in krause Falten, hatte sie das richtig verstanden? »Die Murmeln sind dann wie eine Heizung?«, fragte sie. Das Murmeltier schaute Peter an und sein stolzer Blick schien zu sagen, Na, hab ich da nicht ein richtig blitzgescheites Mädchen gefunden? Peter nickte. »Genau das ist es. Wenn der Herbst kommt und dann der erste Schnee fällt sammeln sie die Murmeln wieder ein und bringen sie in ihre Höhle«. Das Murmeltier sprang auf und schnappte sich ein paar Büschel Heu und stellte sie auf dem Boden zu einer Pyramide zusammen. »Und dann bauen wir sie in der Mitte der Höhle so auf und wenn der Eingang ganz dick zugeschneit ist, und draussen ist es bitter bitter kalt, Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie kuschlig warm uns die Murmeln den ganzen Winter über halten«. Bei dem Gedanken konnte man richtig sehen, wie dem Murmeltier ein wohliger Schauer durch seinen Pelz rann, aber das hielt nicht lange an. »Nur jetzt ist eben alles anders«, sagte Peter mitfühlend. Das Murmeltier ließ sich kraftlos zu Boden plumpsen und schaute todtraurig in die Runde.
Der Papa sass da, sah die anderen an, nahm seinen Kopf in beide Hände und schüttelte ihn kurz, aber heftig hin und her. Er öffnete die Augen wieder. Das Ergebnis war das gleiche. Da saß immer noch ein sprechendes Murmeltier. »Gut, dann kann's nicht an gestern Abend liegen«, sagte er. »Das gibt’s also wirklich. Sehr sehr interessant, das«. Er schüttelte sich nochmals kurz am ganzen Leib. »Puh. Ohne daß ich irgendeine Peilung hätte, wie diese Geschichte weitergeht, Kinder, eins weiß ich. Versucht‘ niemals nicht irgendeinen von Eurer Geschichte zu überzeugen, der das nicht mit eigenen Augen gesehen hat«. Er deutete auf das Murmeltier, dem das ein bisschen peinlich war. Wieso denn jetzt, es fand sich doch ganz normal? »Im Ernst«, sagte der Papa, »glaubt mir bitte dieses eine einzige Mal. Ich kenne die Menschheit zur Genüge, vor allem ihre Grenzen. Und das alles hier ist weit dahinter. Bewahrt euer Geheimnis oder es kommen ganz schnell die kräftigen Männer mit der weißen Jacke und tragen Euch weg«. Die Kinder nickten, sie waren gewillt diesem Ratschlag des Papas zu folgen, es war auch alles sehr besonders. »Aber egal«, sagte der, und es gruselte ihn immer noch ein bisschen, »einfach weiter im Text, das kanns ja noch nicht gewesen sein, oder?« »Alles war wie immer«, sagte das Murmeltier mit einem Blick in die Runde. »Im Herbst hatten wir die Murmeln eingesammelt, der erste Schnee war da und wir waren alle schon in der Höhle beisammen. Doch dann kam neulich diese schreckliche Wärme zurück und hat alles wieder wegschmelzen lassen«. Karla wandte sich zu ihrem Papa, »War das da, wo wir eigentlich zum Schifahren kommen wollten und Du dann alles nochmal umdingsen musstest?« Der Papa nickte langsam und dachte daran, wie diese Verschiebung nur haarscharf geklappt hatte, weil er auch seine ganze Arbeit hatte umplanen müssen. Aber um nichts in der Welt hätte er Karla enttäuschen wollen. »Ja, das muß genau da gewesen sein«, sagte er und schaute abwesend an die grossen hölzernen Deckenbalken der Scheune. Unter ihnen muhten die Kühe.
»Dann schmolz plötzlich fast über Nacht der ganze Schnee weg und der Eingang unserer Höhle war offen und ungeschützt«. Das Murmeltier bekam einen sehr bekümmerten Gesichtsausdruck. »Alles Weitere wissen wir eigentlich nur von Binchen, die war nämlich als einzige in der Nähe, als es passierte«. Karla schaute Peter an. »Das süsseste kleine Murmeltiermädchen, das Du Dir vorstellen kannst«, sagte der mit einem verliebten Lächeln, »und sie müsste eigentlich seine Nichte vierzehnten Grades sein, wenn ich das richtig durchrechne«. Das Murmeltier verzog das Gesicht. »Ich glaube nicht, daß unsere Verwandschafts- Verhältnisse hier eine Rolle spielen. Zudem ist Binchen, genau genommen, meine Viertels-Kusine durch den dritten Schwippschwager. Das ist bei uns Murmeltieren alles etwas anders. Aber am besten berichte ich Euch den Rest so, wie Binchen es uns erzählt hat«.
Binchen war als kleines Murmeltiermädchen an diesem ungewöhnlichen Tag allein in der Nähe der Höhle geblieben. Wer wusste schon, was heute alles passieren würde? Es war sowieso alles sehr merkwürdig. Gestern noch waren sie alle in der Höhle gewesen, bereit den ganzen Winter über miteinander zu kuscheln, zu dösen und sich lieb zu haben. Vorne verbreiteten die Murmeln eine himmlische Wärme und hinten in ihrem Bau waren all die Vorräte aufgestapelt worden, die sie den Winter über verzehren würden. Und heute? Der Eingang der Höhle stand sperrangelweit offen und ihre ganze Familie war aufgeregt in der Gegend unterwegs, um zu schauen was los war. Nein, das ist nichts für mich, sagte Binchen zu sich selbst, ich bleib‘ schön hier und wenn niemand schaut, kann ich vielleicht schnell nach hinten an den Stapel mit den leckeren Nüssen rennen. Und weit und breit würde keine Großmutter sein, die ansonsten nicht mal hinschauen mußte, um zu wissen, daß Binchen gerade im Paradies war. Sie lag auf einem grossen Stein ein kleines Stück unterhalb des Höhleneingangs und genoß die wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrem Pelz. Obwohl genau das die ganze Familie so in völlige Aufregung versetzt hatte. Plötzlich drangen Stimmen an ihr Ohr, menschliche Stimmen. Binchen hatte noch nie wirklich in die Nähe der Menschen gedurft, die man weiter unten bei diesen hohen Bäumen treffen konnte, die aber gar keine Bäume waren. Einmal hatte sie sich dorthin gewagt. Das war sehr seltsam, an diesen hohen Dingern entlang fuhren die Menschen in kleinen Stühlen weit über dem Boden von Zauberhand bewegt den Berg hinauf. Wieso liefen die nicht wie alle anderen auch? Wahrscheinlich waren die einfach sehr faul, hatte sie sich gedacht. Doch da waren jetzt diese Stimmen, noch sehr weit entfernt, aber als Murmeltier hört man eben ganz exzellent auch über weiteste Entfernungen. Binchen rappelte sich vorsichtig auf, duckte sich hinter ihrem Felsen und lugte dahinter hervor. Aus ihrer Deckung sah sie zwei Männer auf der Almwiese. Sie gingen in einem langsamen, aber sehr gleich - mässigen Tempo den Berg hinauf. Binchen erschrak sehr. Hier, an der Murmeltierhöhle, wo weder ein Weg noch ein Klettersteig entlanggingen, waren noch nie Menschen vorbeigekommen, bis auf den tollen Peter. Was wollten die hier?
Binchen duckte sich noch tiefer unter ihren grossen Stein und lauschte. Sie hörte die Schritte der Wanderstiefel und daß die Männer miteinander sprachen, doch sie verstand nicht, worum es dabei ging. Plötzlich wurde alles still. Die Männer mußten stehengeblieben sein. »Hey, siehst Du das?«, dröhnte plötzlich eine Stimme in die Stille der Bergwelt. »Da in der kleinen Höhle? Wie das funkelt und schimmert? Das müssen wir uns genauer ansehen«. Binchen erstarrte. Die Männer hatten den Höhleneingang gefunden. Sie wagte nicht sich zu bewegen. »Alter, das sind Edelsteine, ich wette, die sind ein Vermögen wert!« dröhnte es von weiter oben. Nein, dachte Binchen, das sind unsere Murmeln, und die gehören uns und sonst niemandem, lasst sie bloß in Ruhe. Immer noch hockte sie unter ihren Stein gekauert und war mutterseelenallein. Sie hätte sich so gewünscht, daß ein vertrauter Pfiff gekommen wäre, was bedeutet hätte, daß die Familie zur Rettung zurückkehrte, aber nichts dergleichen geschah. Was konnte sie denn schon tun, Binchen, ein kleines Murmeltiermädchen und ganz allein. Trotzdem. Weiter oben war nichts zu hören. Binchen richtete sich auf und schielte über den Rand des grossen Steins. Die Männer waren direkt vor dem Höhleneingang und wandten ihr den Rücken zu. Der eine stand daneben, während der andere vor dem Loch im Berghang kniete und seinen Arm in die Höhle schob. Mehr als seine grüne Jacke konnte Binchen nicht sehen. Der Arm des Mannes schob sich wieder und wieder in den Höhleneingang hinein, und jedesmal, wenn er wieder herauskam, stopfte er etwas in seinen Rucksack hinein. Er wird doch nicht, schrie es in Binchen auf, er wird doch nicht unsere Murmeln stehlen wollen! In dem Moment erhob sich die grüne Jacke und der Mann richtete sich auf. »Weißt Du eigentlich, was hier los ist, mein alter Freund und Kupferstecher? Ich hab einen echten Schatz gefunden, das sag ich Dir mal. Ein Rucksack voller Edelsteine. Bin gespannt, was Brogatzky sagen wird, wieviel die wert sind«. Binchen brannte sich diesen Satz geradezu ins Gedächtnis, weil sie irgendwie wusste, daß das noch sehr wichtig werden würde. Und sie musste sich den Namen schnell merken, bevor ihre gesamte Aufmerksamkeit von etwas anderem aufgebraucht wurde. Sie starrte so ungläubig auf den Mann in mit der grünen Jacke, daß sie fast vergessen hätte, sich zu verstecken. Sowas hatte sie noch nie gesehen, nein, sie hatte noch nicht mal gewusst, daß es das gibt. Der Mann hatte kein ein einziges Haar auf dem Kopf. Nicht ein einziges. Sein Kopf schimmerte wie der Mond, den Binchen immer so toll fand, wenn er über den Bergen stand. Sie duckte sich blitzartig wieder unter den Felsen. Der Mann ohne Haare richtete sich auf und verschnürte seinen Rucksack. »Willst Du die Gipfel-Tour jetzt noch machen?«, fragte ihn der andere. »Ganz sicher nicht«, kam die Antwort, »der Berg rennt mir nicht weg. Und wenn es so läuft, wie ich mir das vorstelle, dann kauf ich ihn mir einfach, wenn ich die Steine zu Geld gemacht hab‘«. Die Männer hatten umgedreht und stapften bergab. Sie liefen pfeilgrad auf Binchens Stein zu und ihr blieb fast das Herz stehen, doch ihr passierte nichts. Die Männer waren so beschäftigt mit ihrem Fund, daß sie auf nichts anderes achteten. Schnell waren sie einige hundert Meter entfernt, während Binchen wie erstarrt sitzen blieb. Die Männer hatten die Murmeln geraubt. Dann fing sie an wieder Luft zu holen und rappelte sich auf. Sie musste sofort der Familie davon berichten. Und gleich darauf war ein langer und sehnsüchtiger Pfiff bis weit über alle Berge hinweg zu hören.