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1. EINLEITUNG ODER WARUM MAN EINEN STANDPUNKT HAT

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In meinem durchaus bewegten Leben waren es die Erlebnisse der Kindheit, die Armut, der Krieg und die Nachkriegszeit mit der Umsiedlung von Schlesien nach Sachsen, die mein Verhalten bis heute noch begleiten.

Meine Eltern haben mich mit Geduld und Liebe erzogen. Ich wurde als drittes von drei Kindern in einer Mischehe (das Verbrechen war damals größer als heute) geboren. Für diesen Umstand bin ich nicht undankbar. Zur meiner strenggläubigen katholischen Mama gehörte mein protestantischer, bodenständiger Papa. Er war ein beherzter Zimmermann mit Logik und klarem Verstand. Ihm waren Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Arbeitsamkeit, Familiensinn und klare Gedankengänge eigen. Eine eindrucksvolle Kindheitserinnerung für mich ist sein Urlaub nach dem Hitlerüberfall auf die Sowjetunion. Kaum das Haus betreten, riss er das bunte Hitlerbild (Hitler mit Kind auf dem Arm) von der Wand und zertrümmerte es auf dem Fußboden.

Obwohl meine Mutter sehr streng katholisch war und mit mir oft betete, beeindruckte mich die Lebensweise meines Vaters mehr.

Er berichtete oft, und dabei hatte er immer ein Schmunzeln im Gesicht, wie er um seine Agnes, so hieß meine Mutter, kämpfte. Voller Stolz erzählte er, wie er den katholischen Pfarrer am »Schlafittchen« nahm und unter Androhung von Gewalt (Ohrfeigen?) seine Agnes zugesprochen bekam. Während meine beiden älteren Geschwister noch katholisch getauft werden mussten, wurde mir 1938 protestantisches Weihwasser auf die Stirn geträufelt. Auf Geheiß meines Vaters wurden wir Kinder protestantisch erzogen.

Viele glückliche Umstände, liebevolle Erziehung und Toleranz meiner Eltern haben mir ein Medizinstudium ermöglicht.

Sowohl an der Universität als auch nach der Wiedervereinigung in eigener Praxis waren Skalpell, Pinzette, Röntgenstrahlen und anderes medizinisches Gerät und Wissen mein Rüstzeug. Die liebevolle elterliche Erziehung aber stattete mich mit menschlicher Zuneigung und Einfühlsamkeit aus und ließen meinen Beruf zur Berufung werden. Um seine Ermahnung: »Aber, dass du dich wegen uns mal nicht schämst oder uns vielleicht nicht mehr kennst«, musste sich mein Vater nie Gedanken machen.

Bis zum Alter von ungefähr 13 Jahren, war ich über die Erwartung meiner Eltern hinaus, streng gläubig. Heimlich aus dem Fenster geklettert, bin ich in den Kindergottesdienst gegangen, um den Stempel »G« für Gottesdienst auf die Karte zu bekommen.

Ich bekam mehrfach jährlich schwerste eitrige Mandelentzündungen mit bedrohlichem Verlauf. Angst und Kummer meiner Mutter muss ich nicht beschreiben. In meiner Not habe ich damals Gott um Hilfe gebeten. Als eines Abends der Hals wieder anfing wehzutun und ich das Fieber spürte, wusste ich, was mich erwartet. Ich habe mich in meiner Angst bis zum Kinn zugedeckt. Ich erinnere mich ganz genau. Den lieben Gott habe ich mir ähnlich wie einen Weihnachtsmann vorgestellt, er hatte einen langen grauen Bart. Er war nicht sehr groß. – Im Vertrauen auf Gott habe ich inständig, ängstlich und in Ehrfurcht einhundertmal das Vaterunser gebetet. – Die Krankheit nahm ihren gewohnten Verlauf. Gott hatte mich im Stich gelassen, Gott hatte mir nicht geholfen. Ich war enttäuscht! Ich empfand mich nicht als ein sündiges, unerzogenes oder unfolgsames Kind! Selbst nach dieser Enttäuschung war ich noch gläubig. Ich war das Opfer der Glaubenslüge, wie es heute noch Millionen Kinder sind. Selbst danach habe ich meinem Vater nach einem Streit mit meiner Mutter noch mit den Worten »gedroht«: »Du wirst am Jüngsten Tage schon sehen«! Ich vergesse nie den schmunzelnden und freundlichen Gesichtsausdruck meines Vaters, fast etwas mitleidsvoll, in dem ich heute noch lese, ohne dass er etwas erwidert hat: »Schimpf ruhig meine Junge, du weißt doch gar nicht, was du redest, werde erst mal groß, sammele Lebenserfahrung«. Dieser Mann hat mich später mit seiner Lebenserfahrung gebildet und geprägt!

Für mich ist es heute unerträglich, dass sich Menschen einer modernen und gebildeten Gesellschaft noch immer von der Kirche beeinflussen, reglementieren und unterdrücken lassen. Es liegt außerhalb meiner Vorstellung, dass wir durch einen behaupteten Gott und einen erfundenen Glauben ständig manipuliert, korrigiert und bevormundet werden. Gibt es wirklich nur die Wahrheit der katholischen Kirche? Verfehlt der Glaube nicht seinen Sinn, wenn er täglich auf der gesamten Erde Anlass für kriegerische und mörderische Konflikte ist? Passt der fanatische Glaube noch in unsere Welt?

Als junger Arzt, und auch später, habe ich immer wieder versucht, Hilfe für die schwer kranken Patienten zu erhoffen. In verzweifelten Situationen, wo der Verstand keine Hilfe mehr verspricht, wünscht man sich vielleicht auch imaginäre Hilfe herbei. Ich war manchmal bereit, an Übermenschliches, vielleicht Göttliches, zu glauben, nur um Hilfe zu erhalten. In Tausenden von Fällen habe ich daran gedacht, letztlich nur noch, um mir zu beweisen, dass es außer der irdischen Realität und den menschlichen Fähigkeiten, nichts gibt.

Ich habe mit sterbenden Kindern geweint. Patienten sind bei Mitteilung bösartiger Diagnosen zusammengebrochen, andere siechten hoffnungslos dahin. Die Gespräche mit den Schwerkranken und deren Angehörige waren tröstend und einfühlsam, nicht hoffnungslos und vernichtend. In solchen verzweifelten Stunden kann man für sie gewiss tröstend und mitfühlend sein. Auf ein Wunder oder auf Gott habe ich nie verwiesen. Bei sehr nahestehenden Personen hofft man selbst auf ein Wunder – vergeblich. Diese erlebten Leiden lassen sich auch auf andere Gebiete ausweiten. Gott hat sich nie dazu geäußert. Er hat weder Hoffnung verbreitet, noch Hilfe angeboten.

Wie das Leben anderer, so bestand und besteht auch meins aus Glück und Unglück, Freud und Leid, Erfolg und Misserfolg. Ich habe es als Atheist zufrieden gelebt.

Gott hatte in meinem Leben, privat und beruflich, oft die Gelegenheit, mir und anderen zu helfen. Er war nie da. Mein Leben hatte und hat auch ohne Gott einen Sinn! Ohne wissenschaftliche Abhandlungen über den Sinn des Lebens von Experten oder Philosophen anzuzweifeln, habe ich einem persönlichen Freund die Frage nach dem Sinn des Lebens so beantwortet: »Dass wir auf diese Welt gekommen sind, dafür können wir nicht. Auch die Erziehung durch unsere Erziehungsberechtigten konnten wir uns nicht aussuchen. Aber ab einem bestimmten Grad unserer Bildung und Selbständigkeit konnten wir unseren Lebensweg mit oder selbst bestimmen. Wenn wir unser Leben so genutzt haben, dass wir im Alter sagen können: Ich bin eigentlich damit und mit dem was ich geschaffen habe, zufrieden — das ist der Sinn des Lebens«! Oder nach Henry Miller: »Leben ist das, was wir daraus machen«.

Nicht meine Eltern, nicht eine Organisation haben mich zum Atheismus erzogen. Möglicherweise war es das »Erbgut« meines Vaters (eine Art Christenimmunität), das mich immer logisch nach dem Warum und Weshalb hat fragen lassen. Derartiges verträgt keine Religion. Somit bin ich den Verboten und Drohungen der Kirche entgangen. Ich hatte fast immer ein reines Gewissen, ich kannte keine Sünden, brauchte keine Beichte und das Fegefeuer musste ich nie fürchten.

Gott hat sich mir nie gezeigt. Anderen offenbar schon. Jedenfalls reißen diese Glaubensgewaltigen ihren Mund umso mehr auf, zu ihrem Vorteil versteht sich. Sie machen Unheiliges wundersam heilig und passend und bestimmen, was ihnen recht und billig sei. Sie predigen Wasser und trinken Wein. Sie legen nicht nur Hand auf, sie legen auch Hand an, wo auch immer. Nie hat einer bei den Missbrauchskandalen gefragt, wo Gott war? Muss man sich diesen Glaubenshütern, wie Mixa, Meissner, Wagner, Williamson, Ratzinger und wie sie alle heißen, kritiklos beugen? Sie glauben, ihnen gehört das Recht, weil sie privilegierte Christen sind! Und an ihrer Tür zum Glauben steht: »Für Verstand Zutritt verboten«. Ich bin trotzdem durchgegangen. Nur Unsinn – kein Gott!

Der Christ ist mit religiösen Tröstungen und oberflächlichen Erklärungen über Gott im Himmel und auf Erden zu frieden. Was aber ist mit denen, die wie ich, auch Kinder des Herrn sind, und nicht glauben im christlichen Sinne, aber Verstand besitzen, zumindest so viel, um Arzt zu werden? Mir will auch nicht in den Kopf, warum Wissenschaft und Glaube wie Feuer und Wasser sind. Gut, mir fehlt der Glaube, nicht aber die Tugenden. Vielleicht bin ich ja nicht so sehr von Gott, sondern mehr von den Gläubigen enttäuscht?

Ein Leben lang haben sich Schmerzen, Leiden und Enttäuschungen in meinen Verstand eingebrannt und ihn zur kritischen Beurteilung der christlichen Religion geschärft und mich zum Atheisten werden und bleiben lassen:

Brutale Realität

Es war Mitte Januar, an einem Wochenende. Meine Frau, damals 48 Jahre alt, und ich gingen wie gewohnt zu später Stunde ins Bett. Wir wünschten uns, wie immer, mit einer kleinen Zärtlichkeit eine gute Nacht. Dabei streichelte ich mit meiner linken Hand über ihre rechte Brust und tastete eine kleine derbe Geschwulst. Meine Frau bemerkte nichts von meiner sofort feststehenden Diagnose: Brustkrebs. Als Arzt, der lange Jahre in der klinischen Brustdiagnostik tätig war, ein zweifelsfreier Befund.

Für mich ist es heute kaum vorstellbar, wie ich daraufhin reagierte und mir blitzschnell einen Verdrängungsmechanismus aufbaute. In Bruchteilen von Sekunden »blendete« ich ihr Schicksal, wie Operation, Bestrahlung, Chemotherapie, ungewisse Prognose (Voraussage einer künftigen Entwicklung) aus. Ich hatte keine Panik, keine Unruhe, keine Angst, keine Schlafstörung. Mein Verhalten war so, als gäbe es diese Diagnose nicht. Tagelang. – Grund für diese Entscheidung war, wir freuten uns auf einen seit langem geplanten »Galaabend« in einem exklusiven Hotel. Ich wollte ihr die unbefangene Vorfreude darauf und das Vergnügen in genau einer Woche nicht verderben.

Bis heute habe ich keine Erklärung, wie mir das gelang. Später brachte mir diese Ignoranz der Krankheit den Vorwurf meiner Frau ein, ich hätte absichtlich die Therapie um eine Woche verzögert.

Erst nach diesem Galaabend mit Freunden, wir haben getrunken, gelacht und getanzt, wurde mir klar, dass Edith die Diagnose erfahren musste. Wir sind spät in der Nacht, oder früh am Morgen nach Hause gekommen. Beim Gutenachtsagen fasste ich jetzt absichtlich mit meiner linken Hand über ihre rechte Brust: »Hier ist was!«… Kurzum, alle folgenden Untersuchungen bestätigten leider meinen Erstverdacht von vor einer Woche. – Wir umarmten uns…

Jetzt mussten wir dem Schicksal ins Auge schauen und versuchen mit dieser Realität fertig zu werden. Wir hatten uns, wir liebten uns, wir wussten was kommt und unsere drei Kinder mussten informiert werden.

Mit Angst und Panik suchte ich am nächsten Morgen, Sonntagvormittag, meinen Chef in seiner Privatwohnung auf. Seine beruhigenden, verständnisvollen Worte waren für mich wohltuend. Mit menschlicher Wärme und großer Umsicht tat er alles, um Edith schnell in unserem Krankenhaus aufzunehmen und sie auch persönlich zu operieren. – Er rief mich in den Operationssaal, um mir den sogenannten Operationssitus (Operationsbefund) meiner Frau zu demonstrieren. Er zeigte mir die weit aufgeschnittene Brust bis zur rechten Achselhöhle. Aufgrund des Befundes sei eine radikale Operation (Brustamputation) mit Entfernung von drei Lymphknoten, welche bis zu drei Zentimeter groß waren, erforderlich. Ich stimmte zu, und traute mich nicht, in die Gesichter meiner Kollegen zu schauen. Es war ein sehr eigenartig anmutendes Gefühl, als mich eine sehr liebenswerte Kollegin tröstend aus dem Operationssaal führte.

Am Tag danach begann mein Arbeitstag wie jeden Morgen um sieben Uhr, erstmal mit einem Besuch bei meiner Frau. Der Wundheilungsverlauf war komplikationslos, das Allgemeinbefinden den Umständen entsprechend. Die computergesteuerte Bestrahlung und die Chemotherapie schlossen sich an. Die Chemotherapie vertrug sie schlecht und wurde deshalb stationär durchgeführt. Bei miserablem Allgemeinbefinden mit Übelkeit, Brechreiz und Erbrechen, Schweißausbrüchen und Mattigkeit kommentierte meine Frau ihren Zustand: »Weißt du, wenn es den Krebszellen so schlecht geht wie mir, haben die keine Chance«. Den Haarausfall haben wir mit einer Perücke überspielt.

Meine Frau wurde nach all den Strapazen trotz der schlechten Prognose wieder gesund und konnte sogar wieder in ihrem Beruf als Ärztin arbeiten. Oft leben krebskranke Menschen intensiver, realistischer und berechtigt egoistischer. Sie genießen die Farben bunter, kontrastreicher, eindrucksvoller. Auch sie genoss jeden Tag intensiver! Vielleicht weil auch sie die Wiederkehr des Tumors lange fürchtete. Aber sie hatte diesen Brustkrebs überlebt. Für mich war klar, diese Krankheit verbindet uns für immer.

Es kam anders: Wir trennten uns.

Aber dieser Gott hatte noch nicht genug!

Nach elf Jahren, 1999 bekam meine Frau in der linken Brust einen schwer zu erkennenden Krebs. Trotz Bestrahlung, Operation und Chemotherapie nahm dieser Krebs seinen qualvollen, tödlichen Verlauf. Die Hoffnung und ihr Optimismus waren bis zum Schluss ungebrochen. Unsere inzwischen erwachsenen Kinder haben sie betreut, aufopfernd und liebevoll gepflegt. Wir hatten über lange Zeit nur telefonischen Kontakt – ich war froh darüber. Die Erkrankung machte sie mir gegenüber nicht vertraulicher. Mir ging es trotz vieler Arbeit gut und für sie gab es eben keine Erwartungen mehr an das Leben.

Wir telefonierten täglich miteinander. Ich wusste, sie hat Schmerzen, sie war körperlich schwach. Bei allen Unsachlichkeiten, Vorwürfen und Unzufriedenheiten von ihr, konnte ich nur mit Geduld und Toleranz reagieren.

Ich habe selten einen solchen Krankheitsverlauf erlebt. Ihr gesamter Körper war übersät mit Metastasen (Tochtergeschwülste). Trotz der Geschwülste in der Lunge, im Hirn, im Schädeldach, in der Wirbelsäule, in den Rippen und den Bein – und Beckenknochen, saß sie noch im Rollstuhl. Als der linke Oberschenkelknochen spontan zerbrach, kam sie ins Krankenhaus. – Ob ihre Seele auch Metastasen hatte?

Ich habe sie im Krankenhaus besucht. Wir hatten wieder ein vertrautes Verhältnis zueinander. Wir unterhielten uns über unsere Kinder und ich gab ihr mein Versprechen, immer für sie da zu sein.

Meine Frau war wohl eine der stärksten, die ich je kannte. Sie hatte keine Angst vor dem Tode. Sie stand nicht mit Gott, sondern mit dem Tod auf Du und Du. Ich saß auf ihrem Bettrand, sie schmunzelte und sagte: »Weißt du eigentlich, dass du eine Einmannfrau hattest?« Den letzten Satz, den sie zu mir sagte, dabei strich sie mir mit ihrer rechten Hand über meinen linken Oberarm, war: »Weißt du, Großer, wenn die immer sagen, wenn es einem so schlecht geht (sie wollte nicht sterben sagen), wird man bekehrt oder man glaubt an einen Gott, – da musst du dir um mich keine Gedanken machen.«

Bei meinem letzten Besuch, an ihrem Todestag, lag sie bewusstlos in ihrem Bett. Sie war eine gute Mutter und gute Ärztin, die vielen Patienten mit Worten und Taten geholfen hat. Ein wirklicher, gütiger Gott hätte sie nicht so leiden und sterben lassen.

Doch dieser Gott wollte noch mehr! – Von mir.

Meine zweite Frau Jaqui und ich waren unsere große Liebe bis zu ihrem frühen Tod.

Wir hatten den Sommerurlaub bereits gebucht. Wegen unklarer Bauchbeschwerden ließen wir eine Darmspiegelung durchführen. Der untersuchende Kollege, unweit meiner Praxis, ließ mich zur Befunddemonstration rufen. Ungewisse Gedanken begleiteten mich auf dem kurzen Wege. Die Demonstration des Befundes zeigte eine den Darm einengende Geschwulst. Diagnose: Krebs. – Jaqui schlief noch. Sie sah wunderschön aus. Ich musste wieder in meine Praxis. Ich hatte Operationstag. – Als ich abends nach Hause kam, haben wir uns weinend umarmt.

Die noch erforderlichen Voruntersuchungen, die stationäre Aufnahme und Operation verliefen reibungslos. Das Gespräch mit dem erfahrenen Operateur offenbarte, Jaqui hatte keine Chance die Krankheit zu besiegen. Wieder war mein, unser Schicksal besiegelt. Sie würde bis zu ihrem Tode mit dieser Krankheit und ich mit einer sterbenden Frau leben.

Sie hat viele quälende Therapien über sich ergehen lassen, wenn auch nur ein Hauch Hoffnung bestand.

Unser letztes gemeinsames Erlebnis war ein Konzert mit Harry Belafonte in der Arena Leipzig 2003. Sie saß rechts neben mir: mager, gelb, schwach. Ich habe diese Lieder lange Zeit nicht hören können.

Zu einer der letzten stationären Behandlungen fuhr ich sie in ein zirka 40 Kilometer entferntes Krankenhaus, zu einer versuchten Spezialbehandlung, ohne Erfolg.

Es war eine psychische Grausamkeit und Folter, meine abgemagerte, haarlose Jaqui mit ihren eingefallenen gelben Augen auf der Krankenstation abzugeben. Alle Patienten waren furchtbar anzusehen. Keiner dieser Patienten hatte eine reale Chance wieder gesund zu werden. Viele der Patienten waren abgemagert wie Insassen eines Konzentrationslagers.

Mich erfasste das Gefühl der Unwirklichkeit, der Bedrückung und des Mitleides. Welche Gedanken quälten die Patienten? Ich versuchte zur Jaqui ganz normal zu sein und verabschiedete mich. Auf dem Weg zum Auto hatte ich das Gefühl, Jaquis Tod begleitet mich. Man fühlt sich bescheiden, man kann nicht schreien, der Kopf ist wie in einem Nebel. Es war wie ein Abschied für immer. Ich habe mich beim Gehen mehrfach umgeschaut. Nirgends war Gott!

Nach dieser erfolglosen Behandlung hatte sie noch eine geplante stationäre Therapie in einer chinesischen Klinik in Berlin. Wegen ihres aussichtslosen Zustandes wurde sie nicht mehr aufgenommen. Zu Hause wieder angekommen, verlies sie das Haus nicht wieder lebend.

Wir pflegten sie zu Hause. Ihre Mutter pflegte sie am Tage. Nach der Arbeit übernahm ich die Nachtschicht, um morgens wieder in die Praxis zu fahren. Woher ich in diesen 14 Tagen meine Kraft nahm, weiß ich nicht.

Manchmal, wenn ich vor ihrem Bett kniete, wünschte ich mir, es gäbe einen helfenden Gott! Die Erwartungen waren so bescheiden, das ein Augenaufschlag beim Streicheln ihrer Wangen schon Glück bedeutete.

Als ich eines Abends nach Hause kam, sie war schon bewusstlos, hatte sie eine doppelseitige Schwellung im Gesicht, eine entstellende Entzündung der Ohrspeicheldrüsen. Gott gönnte ihr nicht, eine schöne Leiche zu werden.

In der letzten Nacht, sie suchte instinktiv meine körperliche Nähe, lag sie mit ihrem warmen Kopf auf meiner rechten Brust. … Als sie aufhörte zu atmen, war es nachts halb zwei.

Gott konnte sie nicht mehr quälen. Sie war gerade vierzig.

Wen will Gott eigentlich quälen und strafen? Den Betroffenen mit Schmerzen und Krankheit, den Sterbenden? Oder die Hinterbliebenen und Angehörigen, die mit dem Schmerz des Verlustes weiterleben müssen. Gibt es für Gott Kriterien, nach denen er die Leiden verteilt. Steht er auf Seiten der Täter oder der Opfer? Mache ich Gott zu Unrecht für das Leid verantwortlich? Schließlich sagt man ihm ja auch nach, er schenke uns Glück, Gesundheit, Gutes und Schönes auf dieser Welt. Gott ist immer da und beschützt uns, nur leider nie, wenn es nötig ist. Uns täglich helfen und schützen in der Not – das wäre ein Gott des täglichen Bedarfs.

Bei mir hatte er eigentlich immer ausreichend Gelegenheit, Hilfe zu leisten oder Leid zu lindern. Zur Vervollständigung sei hinzugefügt, dass im obigen Zeitraum mein Bruder mit 70 Jahren und meine Mutter im ehrbaren Alter von 93 Jahren verstorben sind.

Wie verhält sich aber Gott zu seinen strenggläubigen, widerspruchslosen, demütigen Vor- und Nachbetern? – Über viele Jahre war ich mit einem protestantischen Pfarrer sehr eng befreundet. Er war homosexuell und wie es sich gehört, sehr streng gläubig. Unsere Freundschaft beinhaltete sehr intensive und ernsthafte Gespräche über den christlichen Glauben. Ich konnte ihn nicht zur Auflockerung seiner fanatischen Einstellung bewegen. Aber er war so christlich, dass er ebenfalls erfolglos versuchte, meine Meinung zu verstehen.

Eines Tages erfuhr ich, dass er an einer Alzheimer-Krankheit leidet. Dieser Pfarrer soll mehrfach geäußert haben: »Aber ich habe IHM doch immer gedient.« Er ist elendig in einem Rollstuhl, später ohne Kommunikation und Kontakt zur Umwelt, dahinvegetiert, bis ihn Gott zu sich nahm. Grüße von mir hat er nicht mehr wahrnehmen können. Seine sehr gläubige Ehefrau erklärte mir am Telefon: Ihr Mann habe die Krankheit von Gott angenommen! – Die Erfahrung lehrt, so qualvoll und erbärmlich kann man auch ohne Glauben an Gott sterben.

Diese Erlebnisse machen nicht gläubig. Es wäre vertrauenerweckend gewesen, Gott hätte sich hilfreich gezeigt. Ich brauchte keinen Gott, der mich tröstet oder mir hilft, solche Last zu tragen. Ich brauchte einen Gott, der mich in wenigstens zwei Fällen hätte zum dankbaren Christen bekehrt. Ich mag keine lügenhaften und mysteriösen Tröstungen mit dem lieben Gott. Es wäre ein Leichtes für Diesen im Himmel gewesen, wenigstens meine Frau und Jaqui mit dem bekannten Spruch: »Stehe auf, nimm dein Bett und gehe heim«, gesund aus dem Krankenhaus nach Hause zu entlassen! Gott ist nicht unfähig, es gibt ihn nur nicht. Diese Tatsache, dieser Realismus hat mir die Kraft gegeben, die oft an Verzweiflung grenzenden Situationen zu überstehen.

Man möchte sein Umfeld so wenig wie möglich belasten. Mein Trost war meine Arbeit. Ich musste mich konzentrieren und für die Patienten da sein. Was hätten wohl meine Patienten gesagt, wenn ich statt diagnostiziert und therapiert, gebetet hätte? Der Verstand war hell wach. Meinen Kindern, die sich sorgten, habe ich gesagt: »Ihr braucht euch um euren Vater keine Gedanken zu machen, er wird nicht anfangen zu trinken und zu rauchen, und er wird sich auch nicht das Leben nehmen.«

Die Realität und die Feststellung, dass sich solches Leid, und Schlimmeres, täglich auf dieser Erde abspielen, haben mir Kraft gegeben. Bei allem Verstand, ich wollte kein Weichei sein, die Tränen waren oft stärker. Ich hatte mir in diesen Tagen ein Beispiel an denen genommen, die solche Ereignisse bewältigen. Was wissen wir von dem Passanten, der an einem vorbei oder auf der anderen Straßenseite geht, was ihn gerade bewegt: hat er einen Angehörigen verloren, wurde sein Kind missbraucht oder entführt? Kommt er gerade vom Krankenbesuch? Hat er bei seinem Arztbesuch gerade eine vernichtende Diagnose erfahren?

Während ich an diesem Buch schreibe, erreicht mich die Nachricht meiner jüngsten Tochter, 40 Jahre, Diagnose: Brustkrebs. – Es schmerzt sehr! Meine Tränen funktionieren noch. – Welch ein erbärmlicher Gott! Wenn es einen gibt!

Ein zuverlässiger Partner zur Bewältigung von Leid ist die Zeit. Im Nachhinein bin ich ein bisschen stolz, alle widrigen Umstände gemeistert zu haben. – Ich habe dabei nicht eine Sekunde an Gott vergeudet. Es lohnt sich nicht, Christ zu sein!

Es gibt für mich keinen Gott. Für die Gläubigen ist er der Erlöser und Glücksbringer – im Jenseits, im Himmel, nach dem Leben!

Nach vielen Enttäuschungen und berechtigten Zweifeln halte ich es mit dem Sprichwort, »besser ein Teufel, den man kennt, als ein Unbekannter«. Für mich kommt blindes Vertrauen in Gott und den Glauben nicht in Frage.

Es gotts(z)t mich an: Zufrieden ohne Gott

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