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Simons Weg
ОглавлениеClaudia wusste, noch bevor man sie in den Entbindungssaal geschoben hatte, dass die Geburt nicht normal verlaufen würde. Dieses Gefühl hatte sich ihrer schon bemächtigt, als die Wehen frühmorgens in immer kürzeren Abständen einsetzten. Unfähig sagen zu können, woher diese Vorahnung so plötzlich gekommen war, beließ sie es dabei und nannte sich eine Närrin. Gab ihrem ohnehin durcheinandergeratenen Hormonhaushalt die Schuld, für die Besorgnisse, die in ihrem Kopf herumschwirrten. War die Schwangerschaft bis dahin doch ohne größere Komplikationen verlaufen. Zudem bestätigte ihr Gynäkologe, dass alles normal sei. Dass keine Auffälligkeiten festzustellen wären. In der 15. Schwangerschaftswoche hatte derselbe ihr mitgeteilt, dass sie einen Jungen erwarten durfte. Alles sah gut aus. Keinerlei Ungewöhnlichkeiten waren auf dem Ultraschall auszumachen gewesen. Bis auf ein paar unwesentliche Übelkeitsanfälle – wie sie es nannte, den einen oder anderen eigenartigen Gelüsten – so wie das Nutella Brot, dass sie mit Salzgurken verdrückte - verlief die Schwangerschaft in einem für sie erträglichen Maße. Mitunter machte sie sich darüber Gedanken, ob sie jemals wieder in eine ihre Jeans passen würde. Etwas, das zur Folge hatte, dass sie sich schwor nie wieder eine Tafel Schokolade auch nur anzusehen. Ein Vorhaben, von dem sie wusste, dass es ähnlich erfolgversprechend enden würde, wie der Menschheit die Erde doch als Scheibe glaubhaft zu machen. So beschloss sie, mehr oder weniger erfolgreich, auf die Befürchtungen in ihrem Kopf, nicht mehr einzugehen, um die Schwangerschaft so zu genießen, wie es einem in den Hochglanzmagazinen angeraten wurde.
Am Morgen des 8. August meldete sich plötzlich Simon unter Zuhilfenahme heftiger Wehen, zu Wort. „Er wollte genau an diesem Tag geboren werden“, sagte Claudia später jedem, der es hören wollte. Und immer noch wunderte sie sich darüber, wie sie sich selbst dazu entschließen konnte, ihr Kind, mit dem Namen Simon durchs Leben laufen zu lassen. War sie doch nicht gerade der größte Fan der römisch-katholischen Kirche. Anfangs, als sie sich noch gegen die plötzliche, und für sie unerklärliche Namenseingebung gewehrt hatte, konnte sie sich später – warum konnte sie sich selbst nicht erklären - keinen anderen mehr vorstellen. Wie zufällig war ihr der Name plötzlich ins Auge gesprungen, als sie eines Tages an einem Souvenirstand vorbeischlenderte. Dort stach ihr eben dieser Name, Simon, an einem der hässlichsten Kaffeebecher ins Auge den sie jemals gesehen hatte. Dabei hatte sie sich redlich bemüht, das hässlichste Stück bemalter Keramik so schnell wie möglich zu vergessen. Alleine schon der Gedanke an den lilagefärbten Kaffeebecher mit dem fetten Engel darauf, verursachte ihr eine Form der Übelkeit, die mit allen anderen - die sie während ihrer Schwangerschaft bis dahin erleben durfte - mühelos mithalten konnte. An eben diesem Sommertag im August, der schon am Morgen um 7 Uhr zeigte, dass er zu den heißesten des Jahres gehören würde, war es soweit. Simon der sich weder mit den Streicheleinheiten seiner Mutter auf seine Wohnstatt, ihrem Bauch, noch davon beeinflussen ließ, dass es außerhalb desselben ziemlich heiß werden würde, bestand darauf geboren zu werden. Claudia, ganz auf ihren mütterlichen Instinkt vertrauend, rief die Hebamme an, die sie sich ausgesucht hatte. Keine fünfzehn Minuten später, nachdem Claudia bei dieser Alarm geschlagen hatte, stand sie vor der Tür. „Wir wollen uns zuerst mal anschauen, ob der kleine Mann wirklich schon Hallo sagen möchte“, ließ die Hebamme Claudia wissen. Claudia, die es nur unter Aufbringung all ihrer Kräfte an die Tür geschafft hatte, sah sich außerstande, sich mit der seltsamen Wortwahl – ganz zu schweigen von dem süßlichen Ton, abzufinden. „Einen Scheiß werden wir uns anschauen“, fuhr Claudia die Hebamme an. „Wir fahren jetzt. Jetzt sofort!“ Die Hebamme, an Ausbrüche von Schwangeren gewöhnt, beließ es dabei, packte Claudia, den noch ungeborenen Simon, als auch die vorsorglich gepackte Tasche in ihren Wagen, und fuhr los. „Geben sie ja Gas“, forderte Claudia die Hebamme auf.
„Ich habe keine Lust, diesen kleinen Quälgeist auf der
Landstraße auf die Welt zu bringen.“
Die Hebamme, eine Frau, die laut ihren eigenen Aussagen, mehr als dreihundert Müttern bei deren Geburt beigestanden hatte, behielt die Nerven und fuhr zügig weiter. Eine halbe Stunde später erreichten sie das Krankenhaus der nächstgelegenen größeren Stadt, Mistelbach. Zum ersten Mal, seit sie in die niederösterreichische Kleinstadt mit dem seltsamen Namen, Laa an der Thaya, nahe der tschechischen Grenze gezogen war, verfluchte sie die Tatsache, dass sie sich ein Haus ausgesucht hatte, dass unendlich scheinende 30 Kilometer, von eben dieser entfernt lag. Die Hebamme, hatte sie bereits telefonisch angekündigt und so wartete bereits eine Schwester der Gynäkologie mit einem Rollstuhl auf sie, als sie am Haupteingang ankamen. „Guten Morgen“, sagte die Schwester mit dem Rollstuhl. „Wie geht es ihnen denn“, fragte sie Claudia, deren Tür sie geöffnet hatte. Der Ton mit der sie diese Schwester begrüßte, klang für sie etwas zu sehr nach „na-was haben-wir-denn-da.“ Es brachte sie auf die Palme. Claudia, keinen Nerv mehr für Höflichkeitsfloskeln antwortete: „Wie soll es einem schon gehen, wenn man das Gefühl hat, dass etwas in der Größe eines Basketballs aus einem raus will?“ Der Blick, den sie der Schwester zuwarf, ließ diese wissen, dass diese sich ihre nonchalante Art sonst wohin zu stecken könnte. Nachdem man ihr in den Rollstuhl geholfen hatte, wurde sie in den zweiten Stock gefahren, wo bereits ein leeres Zimmer auf sie wartete.
Blaue Elefanten, grüne Entchen und menschlich aussehende Wesen mit Flügeln an den Wänden, empfingen sie in diesem. In diesem Moment, ein Schmerzlevel erreicht, das bis dahin jenseits ihrer Vorstellungskraft gelegen war, fragte sie sich, ob der Künstler, der die Dinge entworfen hatte, auf Speed oder Ähnliches gewesen sein mochte. Die Tatsache, dass sie das Zimmer für sich allein haben würde, ließ sie ein „Gott sei Dank“ ausstoßen, dass aufrichtiger nicht hätte sein können. Das Letzte, das sie jetzt brauchen konnte, waren Weisheiten einer Dauerschwangeren. Kaum, dass man ihr aus ihrer Kleidung geholfen, ihr einen kaum weniger bunten Krankenhauskittel übergestreift und sie ins Bett verfrachtet hatte, kam auch schon der Gynäkologe zur Tür herein. „Einen wunderschönen guten Morgen, Frau Stahlheimer“, sagte dieser zu Claudia. „Wie ich gehört habe, soll es bei ihnen heute soweit sein“, meinte er gut gelaunt.
„Guten Morgen …“, erwiderte Claudia den Gruß des Arztes. Sie versuchte, sich an den Namen des Arztes zu erinnern, beschloss dann aber, dass es ihr, zumindest im Moment herzlich egal war, ob dieser nun Mayer oder Müller hieß. Eigentlich fand sie es diesem gegenüber nicht fair, dass sie sich an dessen Namen partout nicht erinnern konnte. Ein Bedauern, das nur bis zur nächsten Wehe anhielt.
„Dann schauen wir mal, wie weit wir sind“, sagte der
Arzt und machte sich daran den unförmigen Kittel über Claudias Knie zu ziehen.
Nachdem er sie höflich dazu aufgefordert hatte, die Knie anzuheben, beugte er sich nach vorne, beäugte ihren Muttermund, tastete diesen ab, um nach wenigen Augenblicken wieder zum Vorschein zu kommen. Kaum, dass er das getan hatte, stand er schwungvoll vom Drehstuhl auf, um den Wehen Schreiber, den eine Schwester in der Zwischenzeit hereingeschoben hatte, näher zu sich heranzuziehen. Sie freute sich auf das kalte Gel, dass er auf ihren Bauch schmieren würde, dass sich angenehm auf ihren, kochend-heißen Bauch anfühlen würde. Kurz darauf, nachdem er sie vorgewarnt hatte, dass es nun etwas kalt werden würde, verschmierte er tatsächlich das eiskalte Gel auf ihren Bauch und begann mit dem Gerät darauf herum zu manövrieren. Konzentriert sah der Gynäkologe auf das Bild, das sich auf dem Bildschirm abzeichnete. „Hmm“, hörte sie den Arzt sagen, an dessen Namen sie sich noch immer nicht erinnern konnte. „Warum legst du deine Stirn so in Falten“, fragte Claudia sich.
Nachdem der Gynäkologe sich davon überzeugt hatte, dass Simon tatsächlich so lag, wie er liegen sollte, befreite er Claudias Bauch von dem Gel, um Dioden an ihr zu befestigen. Geschäftig drehte er an Knöpfen des Gerätes und eine Sekunde später hörten sie den Herzschlag Simons.
„Dann wollen wir uns mal anhören, wie das kleine Herzchen so schlägt“, meinte der Arzt.
„Wie hast du es jemals durch die Uni geschafft“, dachte sich Claudia, kaum dass der Arzt den Satz beendet hatte. Für sie einem Menschen, der sich nicht damit brüsten konnte, dass Geduld zu ihren stärksten Seiten gehört, dauerte das Betrachten ihres Inneren zu lange. „Was ist. Es ist doch alles in Ordnung, oder?“ Dieser, seine Stirn in Falten legende Arzt, antwortete nicht sogleich, sondern starrte weiter auf den Bildschirm. Schon wollte sie nachsetzen, als wieder eine Wehe einsetzte. „Scheiße“, entkam es Claudia. Bereits nach wenigen Augenblicken, sagte er: „Ja, sieht gut aus“, hörte sie ihn sagen. „Warum nicht gleich du A…“; fluchte sie still in sich hinein.
Ihr Fluchen und die dafür aufgebrachte Energie, halfen dabei die Wehe, wenn auch nur für einen Moment, etwas abzumildern. Kaum, dass sie diese Tatsache wahrgenommen hatte, war die Wehe auch schon wieder vorbei. „Schwester“, sprach der Arzt die Schwester an die direkt neben ihm stand. „Wir machen Frau Stahlheimer für den Entbindungssaal fertig.“
„Alles klar, dann wollen wir mal“, erwiderte diese nur. Sie streifte den Kittel Claudias zurück über ihre Knie, schob den Wehen Schreiber auf die Seite und deckte Claudia mit der Decke locker zu.
Der Arzt, sah sie an und sagte zu ihr: „So Frau Stahlheimer. Es sieht so aus, als möchte sich ihr Kind nicht länger gedulden.“ „Der Muttermund ist bereits an die 7 Zentimeter weit geöffnet. Ich denke, wir sollten dann mal.“
„Wenn du das sagst“, dachte sich Claudia. In diesem Moment kündigte sich die nächste heftige Wehe an.
„Wir bringen sie dann gleich in den Entbindungssaal“, ließ er sie wissen. „Gut“, sagte sie zu ihm.
„Ich will das Ganze möglichst schnell hinter mich bringen“, gab sie zu. Der Arzt, lächelte sie nur an und sagte: „Glaub ich ihnen gerne. Sie werden sehen, bald haben sie alles hinter sich und sie werden ein gesundes kleines Baby in den Armen halten.“ Mit diesen Worten hatte er sich schon aus dem Zimmer bewegt, um sich für die Entbindung vorzubereiten. Keine fünf Minuten später, befand sie sich auf dem Weg in den Entbindungssaal. Als man sie in den Saal schob, erinnerte sie sich augenblicklich wieder an das Gefühl, dass sie hatte, als sie diesen zum ersten Mal besucht hatte. Auch hier und trotz der bunten Aufmachung, haftete dem Raum noch immer etwas Kaltes an. „Was solls“, sagte sie sich.
„Rein, raus und du siehst den Raum nie wieder.“ „So“, begann die Hebamme zu ihr zu sagen.
„Wir schieben das Bett jetzt ganz nahe an den Entbindungsstuhl heran und dann nehmen sie einfach darauf Platz. Wir helfen ihnen dabei.“
Gerade war es Claudia gelungen, auf dem Stuhl Platz zu nehmen, kam auch schon die nächste Wehe an. Heftiger wie alle anderen zuvor.
„Gott im Himmel, mach das es vorbei ist“, betete sie. Kaum war die eine Wehe vorbei, kam auch schon die nächste angerollt. Doch plötzlich, mit einem Mal, völlig unerwartet, ebbte diese wieder ab. Claudia verblüfft, wartete darauf, dass diese gleich wiedereinsetzen würde. Aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen verspürte sie ein Ziehen, das vom Ausgang ihrer Vagina ausging. Ein Ziehen, das stärker wurde, wieder nachließ, um dann nochmals einzusetzen. Der Arzt betrat den Raum, sah auf Claudia, dann auf den Wehen Schreiber. „Na, hat es sich da wer anders überlegt“, versuchte er zu scherzen. Plötzlich war das Ziehen wieder da. Nur dass es diesmal nicht wieder abebbte, sondern sich in Dauerschmerz verwandelte. Eine erneute Wehe setzte sein. Welche, wie die Letzte, genauso schnell wieder abebbte, wie sie gekommen war. Sie glaubte, der Schmerz, der nicht aufhören wollte, würde ihr das Becken sprengen. Plötzlich verringerte sich der Druck wieder.
„Oh“, stöhnte sie. „Was ist denn jetzt!“
Der Arzt sah auf den Wehen Schreiber, dann auf das Gesicht Claudias. Sah, wie sich ihre Augen vor Überraschung weiteten.
Der Arzt, der auf dem Stuhl vor Claudias gespreizten Beinen Platz genommen hatte, stand auf.
„Frau Stahlheimer“, sagte er zu Claudia. „Wenn die nächst Wehe kommt, müssen sie kräftig pressen!“
„Echt jetzt“, fragte Claudia sich, während sie den Arzt mit einem teils erstaunten, teils hasserfüllten Blick ansah. „Ich dachte, wir legen eine kleine Pause ein, gehen einen Café Latte trinken und machen dann weiter!“ Etwas in der Stimme des Arztes sagte ihr, dass etwas nicht stimmte. Sie sah nur, wie er immer wieder auf den Wehen Schreiber und dann wieder zwischen ihre Beine sah. Sie spürte seine Finger an dem Körperteil, dass bis vor Kurzem noch ihre Vagina gewesen war und das sich jetzt anfühlte, wie etwas das kurz davor war zu zerreißen. „Pille“, dachte sie sich in diesem Moment. „Von jetzt an nur mehr mit Pille!“
Der Wehen Schreiber meldete sich wieder, um sie wissen zu lassen, dass eine neue Wehe anstand. „Und jetzt pressen“, sagte der Arzt.
Claudia presste. Doch so sehr sie sich auch bemühte …, es schien nichts weiterzugehen. Wieder spürte sie wie der Arzt mit seinen Fingern am Rand ihrer Vagina entlangfuhr und ihr kam es vor, als würde er tatsächlich versuchen, nach etwas zu greifen. Erneut kam eine Wehe. „Pressen“, sagte der Arzt, kaum dass die nächste Wehe einsetzte.
Claudia presste. Presste solange, bis sie meinte, ihre Lungenflügel würden zerspringen. „Ein bisschen mehr anstrengen,“ hörte sie ihre Hebamme sagen. Claudia zwischen Angst, Schmerz und Panik hin und hergerissen, glaubte sich verhört zu haben.
„Sagen sie mir noch einmal, dass ich mich nicht genug anstrenge, und ich fahre ihnen mit dem Arsch ins Gesicht!“ Irgendetwas hatte sie an dieser Hebamme schon immer gestört. Jetzt wusste sie was. Sie sah in das Gesicht der Hebamme. Sah wie diese sie mit überraschtem Gesichtsausdruck ansah.
Der Wehen Schreiber gab plötzlich keinen Ton mehr von sich. Auch die Herztöne, so glaubte Claudia, schienen auf einmal ungleichmäßiger, weniger rhythmisch zu sein. Doch da, noch bevor sie richtig in Panik verfallen konnte, meldete sich das Gerät wieder mit seinen nervigen Piep-Tönen zu Wort als auch schon die nächste Wehe einsetzte.
Auch diese ebbte so schnell ab, wie sie gekommen war. „Was ist los“, fragte sie den Arzt, nachdem es ihr gelungen war, genug Sauerstoff in ihre Lungen zu bekommen.
„Die Herztöne …!“
Der Arzt sah auf den Monitor des Überwachungsgerätes und seine Stirn legte sich abermals in Falten. Doch anstatt auf ihre Frage mit einer Antwort zu reagieren, sagte er zur Schwester: „Schwester, wir machen alles für einen Kaiserschnitt fertig. Das dauert mir zu lange.“
„Das geht mir jetzt aber ein bisschen zu schnell“, protestierte Claudia, noch immer im Stillen.
„Ich würde es gerne noch einmal versuchen“, sagte sie zum Arzt, bevor dieser richtig von seinem Stuhl aufstehen konnte. Dieser sah sie an. Er schien zu überlegen und willigte nach ein paar Sekunden ein. „Gut“, sagte er. „Wir versuchen es noch ein Mal.“ Woraufhin er sich wieder zwischen ihre Beine setzte und sich in Position brachte. Den Wehen Schreiber mit seinen Augen fixierend, so als könnte er diesen mit seinem strengen Blick dazu bringen, endlich das von sich hören zu lassen, was er hören wollte, ruckelte auf seinem Stuhl herum.
Nach einer Minute, kündigte sich die nächste Wehe an. „Okay“, sagte der Arzt. „Da kommt die Nächste. Noch einmal tief Luft holen und wenn ich es ihnen sage, pressen was sie können!“ Als die Wehe ihren Höhepunkt erreicht hatte, presste Claudia, so stark es ihr nur möglich war. Doch wieder, kaum als sie das Gefühl hatte, dass der Kopf des Babys drauf und dran war durchzukommen, schien es ihr, als würde der Kopf feststecken. Der Arzt versuchte mit seinen Fingern, um den Kopf Simons herum zu gelangen. In diesem Moment wusste Claudia, dass definitiv etwas nicht stimmte. Nicht nur das etwas nicht stimmte, sondern dass etwas gehörig schief zu laufen schien. Claudia war es schließlich, die, noch vor dem Arzt, jenes Wort aussprach, dass bereits im Raum schwebte.
„Kaiserschnitt!“
„Ja“, bestätigte der Arzt nickend.
„Ich denke, es ist das Beste, wenn wir einen Kaiserschnitt vornehmen, Frau Stahlheimer! Sieht so aus, als möchte der junge Mann weder vor noch zurück.“ Das Wort hatte ihm eine Art Erleichterung auf sein Gesicht gezeichnet und bewirkte, dass es weniger angespannt aussah. Er stand auf. „Die Wehen kommen mir etwas zu unregelmäßig und ich möchte kein Risiko eingehen“, fügte er hinzu. So sehr er sich auch um Ruhe bemühte, die Anspannung auf seinem Gesicht sprach Bände. „Wir sollten schnellstens den kleinen Mann aus seiner engen Behausung befreien.“ Das was er als Scherz gewusst haben wollte, wirkte auch diesmal nicht. Zumindest nicht bei ihr. Unter den Umständen, in denen sie sich befand, war sie nicht wenig versucht, gegen die Bezeichnung „Behausung“ zu protestieren. Angesichts der Tatsache, dass der Arzt sich nicht weniger zu sorgen schien, wie sie selbst, hielt sie von der Versuchung ab, dagegen zu protestieren.
Zwei Stunden später wachte Claudia in dem Zimmer auf in das man sie anfangs gebracht hatte. Mit halbgeöffneten Augen sah sie sich um. Das Licht, das durch die Jalousien hereinfiel, tat ihren Augen weh. Ihr war übel, dachte, sie müsse sich jeden Moment übergeben. Der Schmerz, der von ihrer Leibesmitte ausging wurde, von Sekunde zu Sekunde stärker. Wäre nicht die unbändige Neugier auf ihren neugeborenen
Sohn gewesen, hätte sie sich sehnlichst zurück in den tranceartigen Zustand gewünscht, aus dem sie eben erst erwacht worden war. Schmerzen, waren noch nie ihr Ding gewesen. Schon gar nicht solche, die einem glauben ließen, dass ihre Vagina für den Rest ihres Lebens, nie wieder für etwas anderes zu gebrauchen wäre, als in der Gegend herumgetragen zu werden. Gerade in diesem Moment betrat eine ihr unbekannte Krankenschwester, ihr Zimmer.
„Hallo Frau Stahlheimer“, sagte diese mit einem warmen Lächeln auf ihrem Gesicht. Claudia wollte den Gruß erwidern, merkte aber, dass ihre Kehle staubtrocken war. „Kommen sie“, sagte die Schwester.
„Sie können ruhig einen Schluck trinken.“ Womit sie zum Nachttischchen ging, ein Glas Wasser einschenkte, um dann Claudia dabei zu helfen, sich aufzusetzen. Beim Versuch, sich aufzusetzen, durchfuhr sie ein Schmerz, der sie aufstöhnen ließ. „Ganz langsam“, sagte die Schwester. „Warten sie, ich helfe ihnen.“ Die Stimme der Schwester klang weich, fast melodiös in Claudias Ohren.
Die Schwester – sie konnte an dem Namensschild deren Vornamen, Veronika erkennen, hielt Claudia das Glas hin und stützte ihr den Rücken ab, sodass sie kleine Schlucke trinken konnte. Als sie sich wieder zurückgelehnt hatte, fasste sie sich einen Moment und fragte die Schwester: „Wie geht es meinem Kind?“
Die Schwester stellte das Glas auf das kleine fahrbare
Kästchen und sagte: „Dem Buben geht es gut.“
„Wir haben ihn auf die Neugeborenen Station gebracht.“ „Sobald der Arzt mit den Untersuchungen fertig ist, wird er ihnen gebracht“, ließ sie sie wissen. Claudia schloss kurz die Augen, fasste neue Kraft und fragte dann: „Geht es ihm wirklich gut?“
„Ja, alles in Ordnung“, bestätigte ihr die Schwester. Claudia versuchte herauszufinden, ob diese ihr etwas verschwieg, konnte aber an ihrem Verhalten oder gar ihrem Gesichtsausdruck, nichts erkennen. Die Schwester verließ das Zimmer, nicht ohne Claudia wissen zu lassen, dass sie nicht zögern sollte die Glocke zu bedienen, wenn sie etwas brauchen sollte. Claudia bedankte sich, wobei sie ein Lächeln zustande brachte. Doch, so sehr sie sich auch bemühte, das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, wollte sich nicht vertreiben lassen.
Eine Woche nach der Entbindung, verließ Claudia mit
Simon das Krankenhaus. Ihre Eltern, die jeden Tag zu Besuch gekommen waren, bestanden darauf sie persönlich nach Hause zu bringen. Claudia, von den Fahrkünsten ihres Vaters nicht begeistert, fügte sich notgedrungen. Zuhause angekommen, brachten sie das Gepäck in das kleine Häuschen, das am Rande der kleinen Stadt lag, in dem sie, vor noch nicht allzu langer Zeit gezogen war.
Noch immer fragte sie sich, wie das gerade einmal sechstausend Einwohner zählende Örtchen wie sie es nannte, zum Titel Stadt gekommen war. Besaß es doch gerade einmal einen Stadtkern, den man in knapp zehn Minuten durchlaufen konnte. Ganz zu schweigen davon, dass es im Grund nur eine sogenannte Hauptstraße gab, an der sich die Mehrzahl der Geschäfte drängte. Im Industriegebiet (die Alteingesessenen liebten diesen
Begriff) fanden sich drei Supermärkte, die diesen Begriff auch tatsächlich verdienten, ein Sportcenter und ein Restaurant, das sich damit über Wasser hielt, „All-you-can-Eat“ für Fernfahrer anzubieten. Dennoch, sie liebte diese dörflich wirkende Stadt. Ihr kleines Häuschen, dass sie sich mit dem Geld ihres schwanzgesteuerten Ex-Ehemannes gekauft hatte. Eine Bezeichnung, mit der sie ihn ab dem Zeitpunkt bedacht hatte, als sie dahintergekommen war, dass er die kleine und um zwanzig Jahre jüngere Brünette aus seinem Büro, mit schöner Regelmäßigkeit gevögelt hatte. Anfangs, nachdem sie dahintergekommen war, dass ihr Exmann, der Brünetten das gab, was eigentlich und alleinig ihr zustand, fühlte sie sich wie ausgemustert und abgelegt. Dachte an Rache. Daran ihm das Gleiche anzutun. Ihm sein heißgeliebtes Cabrio zu zerkratzen. Ihn eventuell zu ermorden. Schließlich besann sie sich aber eines Besseren. Als sie schließlich begriffen hatte, dass in der Ruhe die Kraft lag (eine Ansicht die sie früher zum Würgen gebracht hatte) packte sie ihn bei dem, was ihm am Wichtigsten war. Geld!
Dieses und damit das Häuschen, dass sie nun mit ihrem Sohn bewohnen würde, als auch die Tatsache, dass eben diese Brünette, ihn, den Schwanzgesteuerten, einen fabelhaften Tripper angehängt hatte, glich den Schaden einigermaßen wieder aus. Die Tatsache, dass sie sich gerade von diesem …., (manchmal benutzte sie nur den leeren Wort Raum) anstatt der vollen Bezeichnung, schwängern hat lassen, verbuchte sie mittlerweile als eines der wenigen guten Dinge, die sie durch ihren Ex erfahren hatte.
Angesichts ihrer mittlerweile 45 Jahre, hatte ihr die Schwangerschaft zu Beginn Kopfzerbrechen bereitet. Bis sie eines Tages aufwachte und feststellte, dass ihr nichts Schöneres hätte passieren, können. Ungeachtet der besorgten Mienen die sie an anderen Frauen feststellte. Vor allem von jenen, die ihrem Ruf, als neidische, weil kinderlose Zwangshausfrauen, gerecht wurden.
Als sie Simon das erste Mal in ihren Armen halten durfte, war sie hin und hergerissen zwischen dem Wunsch ihn so fest wie nur irgend möglich an sich zu drücken und ihn gleichzeitig so vorsichtig zu halten wie es gerade noch ging. Die Zerbrechlichkeit, die Simon Zeit seines Lebens beibehalten sollte, erlaubten es nicht anders. Mit gerade einmal 2100 Gramm, Armen und Beinen die so zart schienen wie feinstes Porzellan und eine Haut die so durchsichtig war, dass selbst die feinsten Äderchen durchschienen, ließen Claudias mütterlichen Drang ihn fester zu drücken – so schwer es ihr auch fiel – auf ein Späteres verschieben. Ungleich anderen Müttern, wollte sie von den Ärzten - welche alle erdenklichen Untersuchungen an Simon durchführten – garantiert bekommen, dass alles mit ihm stimmte.
Es fehlte nicht viel und sie hätte darauf bestanden, selbst bei allen dabei zu sein. Der Grund dafür, waren die Äußerungen des Kinderarztes – dessen Namen sie ebenso wenig behalten hatte – der meinte, dass es aufgrund der Probleme, die es bei der Geburt gegeben hatte, sich negativ auf die Entwicklung Simons, auswirken könnten. Äußerungen, die wenig dazu beitrugen, die Befürchtungen, an denen alle frisch gebackenen Mütter leiden, abzuschwächen. Doch, wie sich herausstellte, schienen sich die Befürchtungen des Arztes, wenigstens im Moment, nicht zu bestätigen.
Als ihr derselbe, völlig unnötigerweise empfahl, dennoch keine der Vorsorgeuntersuchungen zu versäumen, nahm sie sich vor, dessen Namen – sollte er ihr entgegen aller Erwartungen wieder einzufallen - aus ihrem Gedächtnis zu streichen.
Eine Woche nach der Geburt, verließ sie mit Simon die Klinik.
Ihre Eltern, die bereits um sieben Uhr morgens in der Tür standen, hatten ihr Wort gehalten, und fuhren sie nach Hause. Schließlich und ohne das Opi einen veritablen Unfall gebaut hatte, erreichten sie schließlich ihr bescheidenes Häuschen. Erholung war in Sicht! Simon, der die ganze Fahrt über quengelig war, schien die Ruhe und den Frieden des Hauses zu fühlen und begann sich fast augenblicklich zu beruhigen. Kaum, dass sie das Haus betreten hatte, machten sich ihre Eltern daran ihr alles abzunehmen, dass in irgendeiner Form, nach Arbeit aussah. So hatte ihre Mutter bereits für eine ganze Woche im Voraus gekocht. Etwas, wofür sie mehr als dankbar war. Zählten ihre eigenen Kochkünste doch nicht gerade zu den Fähigkeiten, die sie und andere zu den ausgeprägtesten hielten. Nachdem ihre Mutter, die Essenspakete, alle säuberlich in Tupperware verpackt, in den Kühlschrank gestellt hatte, machte sie sich umgehend daran, die liegengebliebene Wäsche in die Maschine zu packen und das ebenerdige Haus nochmals mit dem Staubsauger von Staub und ähnlichem zu befreien. Ihr Vater hatte sich des vertrockneten Gartens angenommen und die Laubtonne geleert, in welcher sich kaum so viel Gartenabfall befand, dass es der Rede wert war. Hätte Claudia der Umtriebigkeit ihrer Eltern keinen Einhalt geboten, hätten diese es sich nicht nehmen lassen, ihr beim Umziehen zu helfen.
Schließlich gelang es ihr unter Aufbringung der letzten Energiereserven, ihre Eltern davon zu überzeugen, dass sie allein klarkommen würde. So sehr sich das schlechte Gewissen auch Zutritt zu ihrem Gehirn verschaffen wollte. Sie wollte nur mehr eines. Ruhe! Nach den Tagen in der Klinik, die vollgepflastert waren mit Untersuchungen, Sorgen und dem ständigen Kommen und Gehen, stand ihr nur mehr der Sinn, mit ihrem Sohn eine Zeit der Ruhe und des Friedens, zu genießen.
Simon jedoch, hatte anderes vor. Kaum waren ihre Eltern aus dem Haus, meldete er sich zu Wort, und begann aus Leibeskräften zu schreien.
Nie hätte sie gedacht, dass er in all seiner Gebrechlichkeit, derartige schrille und laute Töne von sich geben könnte. Erst nach mehreren Anläufen und unter Aufbringung sämtlicher Tricks, ließ er sich von ihr die Brust geben. Nachdem sie ihn gestillt und kurz darauf gewickelt hatte, schlief er auch schon wieder ein. Claudia, von den Strapazen der letzten Tage mitgenommen, gönnte sich eine Verschnaufpause. Auf die Couch des Wohnzimmers gelegt, das linke Ohr mit einem Kopfhörer bedacht, döste sie alsbald ein. Doch die Ruhe, die sich so plötzlich eingestellt hatte, währte nicht lange. Nach einer Stunde meldete sich Simon erneut. Auch diesmal mit Gebrüll. Erschrocken fuhr sie hoch, holte ihn aus seinem Bettchen und legte ihn sich auf die Schulter. „Was hast du denn mein Süßer“, fragte sie ihn, hin und her tragend. Dass schien zu wirken. Langsam beruhigte er sich wieder. Nach dem letzten Füttern des Tages und nachdem sie ihn gewaschen und eine neue Windelhose gegeben hatte, legte sie ihn zum Schlafen für die Nacht nieder. Nicht wissend, dass dies eine lange Reihe von ganz besonderen Nächten werden würde.
Nächte, in denen Simon bewies, dass er, Zerbrechlichkeit hin und her, über ein scheinbar endloses Energiereservoir verfügte. Und ein solches musste er haben, denn sein Schreien schien mit jedem Mal an Intensität zuzunehmen. Nach gut drei Wochen, Claudia hatte in keiner Nacht kaum mehr als vier Stunden geschlafen, vereinbarte sie zwischen den üblichen Kontroll-Terminen, einen Extratermin bei ihrem Kinderarzt.
Claudia kam mit Simon in die Praxis und fand den Wartesaal leer vor. Die Sprechstundenhilfe sah von ihrer Arbeit auf und begrüßte sie mit einem Lächeln. „Guten Morgen Frau Stahlheimer“, sagte sie und hielt ihr die Hand zur Begrüßung hin. „Und da ist ja der liebe Simon wieder!“ Claudia, die das Gefühl hatte, dass ihre Augenlider sich in Kinn Höhe befanden, brachte ein Lächeln zusammen, dass als solches, wie sie hoffte, zu erkennen wäre. „Ich sage Herrn Doktor Breitner gleich Bescheid das sie da sind! Es dauert sicher nur einen Moment“, wonach sie hinter ihren Schreibtisch zurückging.
Keine zwei Minuten später befand sich Claudia mit Simon am Arm im Ordinationszimmer des Kinderarztes. „Guten Morgen Frau Stahlheimer“, begrüßte er sie. „Und da haben wir ihn ja“, meinte er lächelnd, während er sich zu Simon hinunter beugte. Dr. Breitner nahm mit seiner Hand ein wenig die Decke zurück, die Claudia um Simon gelegt hatte, um einen besseren Blick auf ihn zu haben. „Na junger Mann“, sagte er. „Dir scheint es aber gut zu gehen.
„Und wer fragt mich wie es mir geht“, gestattete sich Claudia zu denken, die sich, kaum dass sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, sich für den Anflug an Selbstmitleid, zu schämen begann.
„Legen sie ihn doch bitte hier oben hin“, bat er Claudia und wies auf eine gepolsterte Liege.
Sie folgte seiner Bitte. Dr. Breitner trat einen Schritt an die Liege heran, schlug die Decke zur Seite und knöpfte Simons Strampler auf.
Er nahm sein Stethoskop zur Hand, hauchte es mit seinem Atem etwas an und legte es auf Simons Brust. Nach ein paar Sekunden ließ er ein ominöses „Hmm“ hören.
„Der Herzschlag des kleinen Mannes scheint in Ordnung zu sein“, sagte er nur ohne den Blick von Simon zu nehmen. „Können sie ihn bitte einmal kurz hochnehmen, damit ich seine Lungen abhören kann“, forderte er Claudia auf. Dr. Breitner zog Simons Strampler am Rücken nach oben und hörte seine Lungen ab. „Auch in Ordnung.“ Worauf er sein Stethoskop wieder, in typischer Arztmanier über die Schultern schwang. „Sie haben gesagt, dass er alle zwei, drei Stunden wach wird und zu schreien beginnt“, fragte er Claudia über den Rand seiner Bille hinweg. „Ja. Und zwar so heftig, dass es kaum auszuhalten ist.“ Ich weiß schon nicht mehr, was ich machen soll.“ Dr. Breitner schien zu überlegen. „Legen sie ihn doch bitte noch einmal hin“, forderte er Claudia auf, die tat, worum er sie bat. Der zog daraufhin eine kleine Stabtaschenlampe aus seiner Brusttasche und begann in die Augen Simons zu leuchten.
Claudia kam es vor, als würde dieser Schritt, viel zu langer dauern. Schließlich schob der Arzt jeweils einen Finger zwischen die zarten Finger Simons. Etwas, dass Simon, nicht zum Anlass nehmen wollte, um danach zu greifen. Als Claudia ihre Ungeduld, nicht mehr zu zügeln wusste, fragte sie den Arzt: „Ist etwas mit seinen Augen, oder seinen Armen?“
Dr. Breitner steckte die kleine Lampe wieder zurück in seine Brusttasche und sagte: „Mit dem Herzen und den Lungen scheint wie gesagt, alles in Ordnung zu sein.“ „Hat es Komplikationen während der Geburt gegeben“, wollte er von ihr wissen. Irgendetwas in seinen Augen drückte Besorgnis aus. Angesichts der Tatsache, dass sie in den vergangenen zwei Wochen, kaum ein Auge zugetan hatte, konnte sie aber nicht mit Bestimmtheit sagen, ob sie richtig lag. „Na ja“ setzte Claudia an. „Wie sie wissen, sind eine Zeit lang keine Wehen mehr gekommen und zwischendurch wollte der Entbindungsarzt schon einen Kaiserschnitt vornehmen, weil es ihm zu lange gedauert hatte.“
„Ja, richtig“, erinnerte sich Dr. Breitner. Wie, um den Befürchtungen, die abermals im Raum standen, die Schwere zu nehmen, fügte sie hinzu: „Aber es wurden doch alle Untersuchungen gemacht und die haben nichts dabei gefunden!“ Dr. Breitner ging um seinen Schreibtisch herum, setzte sich und sagte: „Die Augen eines Neugeborenen sind normalerweise recht empfindlich“, begann er zu erklären. „Außerdem ist der Greifreflex“; er machte mit seinen eigenen Händen eine Art Greifbewegung; „...bei Neugeborenen recht gut ausgeprägt.“
„Bei Simon“, fuhr er langsam fort; „scheinen beide
Reflexe nicht ganz so gut ausgebildet zu sein.“ Dr. Breitner sah sie an, so als würde er erkennen wollen, ob Claudia ihn verstanden hätte. Claudia stand bei Simon, hielt ihn mit sanftem Griff.
Nachdem sie einen Blick auf ihren, ruhig daliegenden Sohn gemacht hatte, sah sie wieder zum Arzt.
„Und was bedeutet das jetzt“, fragte sie diesen, während sie Simons Jäckchen, wieder zuzuknöpfen begann. Dr. Breitner zog den vor sich liegenden weißen Block näher zu sich heran und begann darauf zu schreiben. Ohne auf die Frage Claudias näher einzugehen, sagte er: „Ich stelle ihnen eine Überweisung aus. Diese ist für einen Untersuchungstermin bei Dr. Haslauer“, fuhr er fort. „Dr. Haslauer ist Neurologe am Krankenhaus in
Mistelbach. Er ist auf Kinder spezialisiert“, woraufhin er den beschriebenen Zettel vom Block abriss. Schon beim Fallen des Wortes Neurologe, war Claudia in eine Art Starre verfallen. Während sie Simon hielt, sah sie den Arzt mit fragendem Blick an. Neurologe…, das konnte nichts Gutes bedeuten!
Dr. Breitner war mittlerweile, um den Tisch herumgekommen, und ging auf sie zu.
„Hier bitte“, sagte er, während er Claudia den zusammengefalteten Überweisungsschein, hinhielt. Das Lächeln auf seinem Gesicht, war noch immer von jener warmen Herzlichkeit gezeichnet, die ihm so zu eigen war. Doch Claudia, die, seit sie das Wort Neurologe gehört hatte in Alarm versetzt war, war sich nun nicht mehr ganz so sicher, ob sie diesem trauen konnte. Dr. Breitner schien die unausgesprochenen Befürchtungen Claudias zu spüren.
„Mache sie sich keine unnötigen Gedanken“, begann er.
„Wir wollen nur alle in Betracht kommenden
Möglichkeiten ausschließen.“ Wieder zeigte er dieses Lächeln, mit dem er sie versichern wollte, dass schon alles in Ordnung sein würde.
Als sie mit Simon nach Hause kam, befreite sie ihn von der Decke, um ihn in sein Bettchen zu legen, wo er nach wenigen Minuten eingeschlafen war. Ihre Gedanken begannen zu kreisen, ließen ihr keine Ruhe. Die folgende Nacht, gestaltete sich wieder so, wie alle anderen zuvor. Nach den ersten beiden Stunden – es kam ihr weniger vor – begann Simon wieder aus Leibeskräften zu brüllen. Nachdem es ihr gelungen war, ihn zu beruhigen, etwas das zunehmend schwieriger zu bewerkstelligen war, legte sie ihn zurück in sein Bettchen, wo er fast augenblicklich eingeschlafen war. Nach einigen Tagen war sie von dem immer wiederkehrenden Prozedere so aufgezehrt, dass sie, kaum dass sie selbst eingeschlafen war, wieder hochfuhr, weil sie irrtümlich dachte, Simon schreien zu hören. Es reichte!
Mit den Nerven soweit am Ende, dass sie schon Schreie zu hören glaubte wo keine waren, würde sie den noch verbliebenen Rest ihrer Nerven einbüßen. Wissend, dass sie in zwei Tagen den angesagten Termin in der Klinik haben würde, beruhigte sie wenigstens einigermaßen. Dennoch, sie wusste nicht was die Untersuchungen dort bringen würden! Doch alles, alles war besser, als die Ungewissheit die sich ihrer bemächtigt hatte. Ganz zu schweigen, von der Tatsache, dass sie selbst bald einen Arzt brauchen würde.