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Die ersten Jahre
ОглавлениеTrotz aller Gebete, die sie sich angewöhnt hatte, im Stillen zu sprechen und entgegen jeder Hoffnung, die sie im Geheimen gehegt hatte, entwickelte sich der Gesundheitszustand Simons so, wie die Ärzte es vermutet hatten. Im Alter von 8 Monaten hatte Claudia die ersten
Versuche unternommen, Simon gerade in einen Sitz für Babys zu setzen. Als die ersten Versuche nicht den gewünschten Erfolg brachten, hieß sie sich ungeduldig und eine Närrin. Ihre Mutter und kurz darauf den Kinderarzt um Rat fragend, wurde ihr von beiden gesagt, dass Kinder zu unterschiedlichen Zeiten das alleinige Sitzen erlernen würden. Eine Meinung, die sie in den verschiedensten Büchern, wieder und wieder bestätigt fand. Als jedoch die Zeit vorangeschritten war und Simon auch zum Ende seines ersten Lebensjahres, nicht in der Lage war, aufrecht in seinem Kindersitz bleiben zu können, sah sie sich zunehmend mit der Wahrscheinlichkeit konfrontiert, dass die Vermutungen der Ärzte, grausame Wirklichkeit werden würden. Wieder und wieder setzte sie ihren Sohn in seinem Sitz auf, richtete seinen Rücken gerade – der bereits in diesem Alter eine Verformung aufzuweisen begann, brachte seinen Kopf in eine gerade Position, der kurz darauf wieder nach hinten an die Stuhllehne glitt. Nach dem ersten Lebensjahr, hatte sie unzählige Male versucht, ihn zum Gehen zu animieren. Eines um das andere Mal hatte sie ihn auf seine viel zu dünnen Beinchen gestellt, ihn an den ebenso viel zu dünnen Ärmchen gehalten, ihm gut zugeredet. Hielt ihn gleichzeitig am Kopf und am Rücken, wollte es ihm so ermöglichen jene ersten Schritte zu tun, auf die Mütter genauso stolz sind wie auf das erste „Mama-Sagen.“ Doch alles Bemühen – etwas das sie genauso viel Kraft kostete wie Simon auch – brachten nicht den Hauch eines Erfolges. Dr. Haslauer, so war sie mittlerweile dahintergekommen, gehörte zu jenen Ärzten die es nicht über das Herz brachten, ihr das letzte bisschen Zuversicht zu nehmen. Irgendwann, unfähig es sich durch ausgesprochene Worte einzugestehen, war ihr bewusst geworden, dass Simon niemals ein normales Leben führen würde. Die Arztbesuche, welche zahlreich geworden waren, endeten entweder mit einer Überweisung an einen weiteren Spezialisten, oder einer Empfehlung für diese oder jene Therapie. Derweilen verliefen die Monate in gewohnter Manier. Des Nachts wachte er alle zwei bis drei Stunden auf, um sie auf seine besondere Art zu rufen, weil er, wie Claudia schnell herausgefunden hatte, umgedreht werden wollte oder durstig war. Wenn er jedoch zu schreien begann, wusste sie, dass er, wo auch immer Schmerzen hatte. Endlos lange saß sie dann an seinem Bett um ihm gut zuzureden und ihm über die verhärteten Muskeln der Beine, Arme oder Schultern zu streichen, welche, egal wie viel Zeit auch verging, nicht zunahmen. Anfangs weinte sie stille Tränen, welche sie sich erst dann zu weinen getraute, wenn sie alleine war.
Etwas, dass sie ohnehin nur selten war.
Mit zwei Jahren - die Befürchtung das Simon Spastiker war, hatte sich längst bestätigt, war es nötig geworden, ihm einen eigens für seine Bedürfnisse angepassten Rollstuhl zu besorgen. Selbst Dr. Haslauer, jener Arzt der wie es ihr vorkam, kam nun nicht mehr umhin, das zu bestätigen, was zumindest für sie, feststand. Das Gehirn Simons, hatte bei der Geburt Schaden genommen. Vom zweiten bis zum fünften Lebensjahr verschlimmerten sich die Spastiken so sehr, dass sie gezwungen war, ihm relaxierende Medikamente zu verabreichen. Mitunter …, (das Bild ägyptischer Tänzerinnen kam ihr dabei in den Sinn), hatten sich die Armmuskeln Simons so weit verkürzt, sodass er diese meistens, ab dem Ellbogen aufwärts, nur in erhobener Art und Weise, die Händen nach außen gebogen, halten konnte. Dankbar darüber, dass diese es ihm und ihr erlaubten, dass er damit mehr wie nur zwei bzw. drei Stunden am Stück schlafen konnte. So sehr dies auch eine Erleichterung mit sich brachte, so war es auch eine Zeit, die es den kleinen Dämonen, die ihren Kopf als Spielplatz ansahen, ein Vergnügen, sie mit Fragen zu quälen. „Bin ich daran schuld? Hätte ich mich mehr anstrengen müssen?“
Fragen, die sie öfters bejahte denn verneinte. Sich
Vorwürfe machend, die sie nahe an die Grenze zur Selbstzerfleischung brachten, brachten den Gedanken in ihr hervor, es nicht verdient zu haben ein glückliches und gesundes Kind zu haben. Zwischendurch, in Zeiten, wo sie es leid war, sich selbst die Schuld zu geben, richtete sich ihr ganzer Zorn gegen einen Gott an den sie schon lange nicht mehr glaubte. Wenigstens, so fand sie heraus, schwächte dies die Wut die sie mit Vorliebe gegen sich selbst zu richten gewohnt war.
So wuchsen die Bedürfnisse Simons je älter er wurde, während ihre eigenen bis zur Unkenntlichkeit in den Hintergrund verschwanden. Bereits früh war ihr klar geworden, dass ihr Sohn, ihr eigenes Kind, nie (eine Tatsache, die sie sich selbst untersagt hatte als wahr anzusehen, selbstständig laufen, essen und trinken könnte. Ganz zu schweigen vom Benutzen der Toilette. War es für andere Eltern die größte Herausforderung die Kleider ihrer Kinder sauber zu halten, sie dazu anzuhalten das Gemüse auf ihrem Teller nicht als ihre persönlichen Feinde anzusehen und zu akzeptieren, dass Einsen und Zweien im Zeugnis ebenso eine Möglichkeit darstellten, so war es für Claudia, das ständige Wachsen mit den Aufgaben, die das Leben eines behinderten Kindes, mit sich brachte. Eine Aufgabe, die ihr alles abverlangte.
Irgendwann, war ihr klar geworden, dass sich in ihr ein Wandel vollzogen hatte. Ein Wandel, der ihr leichter gefallen war, als sie vermutet hatte und der sich so leise vollzogen hatte, dass es ihr wie von einem Tag auf den anderen vorkam. Hatte sie zu Beginn, als die Behinderung Simons mehr Vermutung, denn eine Tatsache war, an sich selbst gezweifelt, dass sie der Aufgabe jemals gewachsen sein würde, so wusste sie mit einem Mal, dass sie (von wem auch immer) alles zur Verfügung gestellt bekommen hatte, dass sie brauchen würde. Aus Verzweiflung war Zuversicht, aus beginnender Ohnmacht war Gewissheit geworden, die es ihr ermöglichten, den Umständen und Zuständen, mit einer liebevollen Selbstverständlichkeit zu begegnen, die sie nicht für möglich gehalten hatte. Bis zum Zeitpunkt, an dem sie diesen Wandel erfahren hatte, war sie abgemagert und mit tiefschwarzen Ringen unter den Augen (die sich auch mit dem besten Makeup nicht mehr vertuschen lassen wollten), dem Rest der Menschheit begegnet. Etwas, das sie mit annähernd ausreichendem Schlaf und einer mehr oder weniger gesunden Ernährung, einigermaßen wieder in den Griff bekam.
Anders als wie jene Änderung, die sich in ihrem Bekannten- und Freundeskreis vollzog. Hatte sie sich zu Anfang noch mit der Hoffnung getragen, auf Verständnis in diesen zu treffen, wurde ihr alsbald bewusst, dass sie mehr Bekannte wie Freunde hatte. Keiner in diesem Kreis, hätte es jemals gewagt, offen jene Ansichten zu äußern, die ihnen im Gesicht geschrieben standen. „Ein behindertes Kind! Und auch noch so missgestaltet! Was da wohl passiert ist? Was soll denn aus dem einmal werden? Ob sie wohl daran Schuld hat?“
Anfänglich enttäuscht, wie sich diese sogenannten Freundinnen verhielten – die Einladungen zu diesen wurden seltener bis gar nicht mehr ausgesprochen – hielt sie es bald mit dem Ausspruch ihrer Mutter: „Die Familie bekommst du mit, die Freunde kannst du dir aussuchen!“
Ohnehin ließen ihr, Simons Bedürfnisse, kaum Zeit, für solche Dinge, wie sich den neuesten Tratsch über dieses und jenes anzuhören. Erstaunt darüber, wieviel zusätzliche Qualität ihr Leben dadurch erhalten hatte, sich nicht mit dem Geschwafel unbefriedigter und gelangweilter Hausfrauen, abgeben zu müssen, sagte sie ihrem Sohn Dank dafür, dass er sie davor bewahrt hatte, so zu werden, wie jene Frauen, die sie als Freudinnen, bezeichnet hatte. Simon, von dem sie nicht wusste, wie viel er wirklich von dem verstand, was sie zu ihm sagte, schenkte ihr auch hierbei ein Lächeln. Es war einer jener Augenblicke, in der ihr eine der Tataschen bewusst geworden war, die sie, so sie dazu fähig gewesen wäre, aus ihrer beider Leben, entfernt hätte.
Simon würde nie in der Lage sein, auch nur einen Satz, kaum ein Wort so aussprechen können, wie es ein anderes Kind tat. Nie würde er in der Lage sein, aufzustehen, um nach draußen zu gehen, weil er das Verlangen danach hatte, mit anderen Kindern zu spielen. Niemals würde er ein Bild malen, dass sie sich dann auf den Kühlschrank kleben würde oder ein Lied singen, wofür sie ihm, ganz stolze Mutter, applaudieren würde. Eine Katze oder einen Hund streicheln können.
Nue würde er ihr direkt sagen können, wenn ihm etwas weh tat, ihm etwas ge -oder missfiel.
Immer wieder war sie versucht, jenen Gott den ihr die römisch-katholische Kirche, als alles und jeden liebenden Gott verkauft hatte, zum Teufel zu wünschen. Hätte dieser, der Teufel, sich auch darüber gefreut. Als jedoch der Verdacht in ihr aufkam, dass, wenn es den himmlischen Vater nicht geben würde, auch der Sohn keine Daseins-Wahrscheinlichkeit haben würde, sparte sie sich die Energie.
So wich ihre innere Unausgeglichenheit, welche nicht zuletzt deswegen entstanden war, dass sie – wenn auch nur zwischendurch - auf einen weißbärtigen Gott gehofft hatte, der partout nicht gewillt war, einen Finger zu rühren, der Gewissheit, dass es besser wäre, sich auf das zu verlassen, wozu sie selbst in der Lage war zu tun.
Nichtsdestotrotz verspürte sie in ihrem Inneren, dass sie nicht alleine war. Irgendetwas, so war sie sich sicher, gab es etwas zwischen Himmel und Erde (oder sonst wo), dass die Sache, wie sie das Leben manchmal nannte, zusammenhielt. Etwas, an das sie sich wenden konnte.
Gedanken, die sie für sich behielt. Es reichte ihr, sich dieses Gefühls zu erinnern.
Als es darum ging, Simon auf die Einschulung vorzubereiten, besuchte sie zwei infrage kommende Schulen für beeinträchtigte Kinder, wie der Amts Esel jene Kinder betitelte, die mit einer Behinderung geboren worden waren. Die nächste Herausforderung mit der sie sich konfrontiert sah. Mit Simon im Rollstuhl hatte sie sich auf den Weg gemacht, um beide zu besuchen. Das Gefühl, dass sie dabei beschlich, glich einer Hilflosigkeit, derer sie sich, kaum dass das Problem anstand, kaum entledigen konnte. „Wie soll das funktionieren“, fragte sie sich immerzu. „Was ist, wenn er einen Krampfanfall bekommt? Wer wird ihm die Beine massieren? Was ist, wenn ich gerade unterwegs bin und ich nicht schnell genug hier sein kann, um mich um ihn zu kümmern?“ Fragen, welche die Lehrerinnen bemüht waren zu beantworten. Doch so groß es deren Bemühen auch war, ihre Bedenken zu zerstreuen, blieb immer noch jenes Quantum Zweifel, dass sie zu Beginn fast verzweifeln ließ.
Schließlich hatte sie sich für jene Schule entschieden, die näher an ihrem Zuhause lag. Claudia, ganz stolze Mutter, brachte Simon am ersten Tag zur Schule. Nachdem sie ihn im Rollstuhl in die Klasse geschoben hatte, wobei sie ihren Abschied so lange wie nur eben möglich, hinausgezögert hatte, ging sie nach draußen zu ihrem Wagen und setzte sich hinein.
Zum ersten Mal seit sechs Jahren, würde sie von ihrem Sohn für eine so lange Zeit getrennt sein. Erst nachdem eine halbe Stunde vergangen war, und sie keinen Anruf der Schulleitung erhalten hatte, entschied sie sich, loszufahren.
Die ersten Tage vergingen, ohne dass etwas vorgefallen wäre. Doch dann, am Freitag der ersten Woche, kam der Anruf, vor dem sie sich so sehr gefürchtet hatte. „Frau Stahlheimer“, meldet sich die Direktorin, die sich offensichtlich um eine ruhige Stimme bemühte, am anderen Ende der Leitung. „Könnten sie bitte schnell kommen.“ Claudia war augenblicklich in Alarmstellung. „Es sieht so aus, als hätte Simon einen Krampfanfall gehabt. Es geht ihn mittlerweile wieder einigermaßen gut, aber ich denke, es wäre besser, wenn sie ihn abholen kommen.
„Ja, natürlich“, sagte Claudia. „Ich mache mich sofort auf den Weg.“ Kaum hatte Claudia das Telefonat beendet, hatte sie sich bereits ihre Jacke und ihren Schlüsselbund gegriffen und war auf dem Weg zu ihrem Auto. Es fiel ihr schwer, sich zu beruhigen, doch es half nichts. Es würde nichts bringen, wenn sie ihren Wagen, um einen der sechs Bäume wickeln würde, die irgendein Pseudo-Grüner, ausgerechnet am Rand jener Straße hingestellt hatte, die sie entlangfahren musste.
Nachdem sie ein paar Mal tief Luft geholt hatte, steckte sie den Zündschlüssel in das Zündschloss und drehte ihn um. Binnen einer viertel Stunde hatte sie - mehr als nur einmal hatte sie unterwegs das Tempolimit überschritten - die Schule erreicht.
Laufend legte sie die paar Meter zum Klassenzimmer zurück. Dort angekommen riss sie die Tür, ohne vorher angeklopft zu haben auf, und stürmte hinein. Hektisch blickte sie sich um, suchte Simon, den sie schließlich an einem der Fenster in seinem Rollstuhl sitzen sah. Ohne irgendjemand zu begrüßen ging sie zu ihm hin, beugte sich zu ihm hinunter, um ihm mit zittrigen Händen, über sein schweißnasses Gesicht zu streichen.
„Hallo mein Süßer“, sagte sie zu ihm.
Simon lächelte sie an.
„Es waren nur wenige Minuten“, hörte sie eine der Lehrerinnen sagen, die von hinten an sie herangetreten war. „Plötzlich hat er einen Krampf bekommen. So schnell konnten wir gar nicht bei ihm sein, da war er…, irgendwie weggetreten.“ Claudia die hörte, was die Lehrerin sagte, reagierte nicht darauf. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt Simon. Aus seinen blaugrauen Augen drang ihr ein Lächeln, ein zartes kaum wahrnehmbares Funkeln entgegen, kaum dass sie vor ihm hingekniet hatte. „Wollen wir nach Hause fahren“, fragte sie ihn.
Simon, noch immer schwach, ließ ein gezogenes leises „Jaaaa“, hören. Eines der beiden Worte die er zu sagen imstande war und das schönste „Jaaa“, dass sie seit Langem gehört hatte.
Von diesem Tag an war die Zeit, in der Simon in der Schule war, eine Zeit des nervösen Wartens. Viele Tage, manchmal Wochen passierte nichts. Bei jedem Läuten ihres Telefons fuhr sie zusammen. Darauf gefasst, dass es wieder die Schule war die anrief, um sie wissen zu lassen, dass es wieder ein Problem gegeben hatte.