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Das Exil.

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Mexiko, wo der Emigrant Merker Fuß gefaßt hatte, war eines der großen Zentren für zahlreiche deutsche Exilanten. Der mittelamerikanische Staat hatte seine europäischen Geschäftsträger beim Erteilen von Einreisevisa ungewöhnlich freie Hand gelassen. Das kleine Land hatte mehr Flüchtlingen Zuflucht geboten, als die großen Staaten der westlichen Hemisphäre. Die ersten Etappen des fluchtartigen Exils in Richtung Westen hießen im Frühjahr 1933 Frankreich, die Niederlande und die Tschechoslowakei. Dort sammelten sich kurz nach dem 30. Januar 1933 flüchtige Politiker und Funktionäre, gründeten Komitees, Verlage, Zeitungen und Zirkel, klärten die Gastländer und die Welt über die Verhältnisse in »Nazideutschland« auf, und schufen die Strukturen für den illegalen Vertrieb ihrer Druckerzeugnisse nach Deutschland. Sie prägten tatsächlich weithin das Bild Hitlerdeutschlands im Ausland und waren also höchst erfolgreich. Infolge des österreichischen Anschlusses, der Auflösung der Tschechoslowakei, während der Besetzung Frankreichs und der Niederlande durch die Wehrmacht wurde der Menschenstrom in Bewegung gehalten oder noch verstärkt, zuerst in das noch unbesetzte Frankreich. Die Hafenstadt Marseille wurde zum Sprungbrett in die »Neue Welt«. Von einer Hafenstadt aus scheint das Entkommen per Schiff immer denkbar leicht. Solange die Abreise mit den normalen Paßprocedere verbunden ist, die kompliziert genug sein können, stimmt das auch. Hier aber lagen die Verhältnisse ganz anders.

Die Vichy-Regierung hatte sich in dem Abkommen mit Deutschland zur Auslieferung gesuchter Deutscher wie zur Einrichtung von Internierungslagern in dem von ihr verwalteten Teil Frankreichs verpflichtet. Zwar oblag den französischen Dienststellen die Aufsicht, aber in der Praxis war die Hoheit auch im unbesetzten Teil Frankreichs wesentlich eingeschränkt durch Gestapo und Wehrmacht. Wem die Flucht aus dem unter deutscher Besetzung stehenden Teil Frankreichs in die freie französische Zone gelungen war, aber zuletzt doch aufgefischt wurde, der kam in eines der Internierungs- und Abschiebelager. Allerdings, und darauf fußte vielfach das Überleben der Flüchtlinge, ließ sich nicht alles aus dem paraphierten Vertrag auf den unteren Verwaltungsebenen auch wirklich durchsetzen. Dort saß neben den gewöhnlichen Diensttuern auch der französische Widerstand. Alle Dienststellen waren überdies durchsetzt von den Mitarbeitern verschiedener Nachrichtendienste. Vorsicht war auf allen Ebenen dringend geboten. Von Marseille aus versuchten sich also Leute, die gefährdet waren und ihre Auslieferung an Deutschland oder eine dauernde Internierung in Frankreich befürchten mußten, möglichst rasch die nötigen Einreisevisa für irgendeines der Aufnahmeländer zu verschaffen, die Aufenthaltsgenehmigung eines freien Staates, sowie die bezahlte Schiffskarte für die Überfahrt zu ergattern. Es war regelmäßig ein langer Weg, bis der Emigrant den Dampfer besteigen konnte, der ihn in der neuen Welt an Land setzte, wo dann freilich die Sorgen anderer Art begannen, die ums einfache Überleben, die Tatenlosigkeit, das Warten auf die mögliche Heimkehr, falls sich wie erhofft die Verhältnisse in Deutschland änderten. In die nahe Schweiz gelangte nur, wer gute, wer sehr gute Beziehungen besaß, weil die ordentlichen Eidgenossen ihre Grenzen gut bewachen, aus verständlicher Notwehr, wollten sie nicht von europäischen Emigranten und Flüchtlingen überflutet und zu einem riesigen Aufnahmelager werden. Es blieb also die Hoffnung auf eine Schiffskarte in einen Teil der neuen Welt.

Diese Szenerie reizte zur künstlerischen Darstellung, sie ist gleich mehrfach literarisiert worden, das heißt, die Welt wußte eigentlich immer ziemlich gut Bescheid, was im nichtbesetzten Frankreich und in Nordafrika, dem französischen Hoheitsgebiet am Rande der Sahara, vor sich ging. Jedermann kennt den Klavierspieler und den selbstlosen Mann des Kultfilmes »Casablanca«, der sich von Ingrid Bergmann in die Augen sehen läßt. Wer sich ohne melodramatisches Drumherum literarischer informieren will, der kann in Seghers »Transit« nachblättern. Dort erfährt er, was ein Transit ist, was ein Visum bedeutet, ein Visa de Sortie, ein Danger-Visa und ein Sauf-Conduit. Ganz ohne Melodramatik, Liebe und verschmähter Liebe geht es auch hier nicht. Aber wie normal-verwickelt die Verhältnisse werden können, wenn sich Tausende von einem Land ins andere aufmachen, wenn der Einzelne nicht die erforderlichen Papiere besitzt, das erfuhr Paul Merker am eigenen Leibe. Er war 1933 keineswegs ein heuriger Hase, der das Einmaleins illegaler Existenz erst noch zu erlernen hatte, ganz im Gegenteil.

Bis zur Besetzung Frankreichs durch die Wehrmacht arbeitete eine Außenstelle der Kommunistischen Partei, ein sogenanntes Zentralbüro der KPD, in Paris. Es wurde von einem Gremium geleitet, dem Merker in der fraglichen Zeit angehörte. In das auswärtige Büro kam man durch die allerhöchste Zentrale der exilierten Partei, die sich in Moskau niedergelassen hatte, von Wilhelm Pieck geführt. Der Funktionär wurde nach Paris delegiert, wieder abgezogen, zur Berichterstattung gerufen, alles, was bis zum Kriegsbeginn 1939 zwar mit Erschwernissen verbunden, was nicht ungefährlich, aber auch noch nicht völlig unmöglich gewesen ist. Es gab eine spezielle Schleuserschiene, einen Weg mit guten Lotsen, der sich »NKWD Schleuse« nannte.

Um etwas Übersicht in den Lebenslauf Paul Merkers zu bringen; er wurde 1894 im sächsischen Oberlößnitz geboren, besuchte die Volksschule, absolvierte eine Kellnerlehre und zog 1914 in den Ersten Weltkrieg, wie alle seines Jahrgangs. 1918 wird er Mitglied der USPD, der »Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei«, wechselt 1920 zur KPD, und wird Sekretär einer Gewerkschaft der Hotel- und Restaurationsangestellten. Die nächste Station auf der politischen Leiter ist die Funktion eines KPD-Sekretärs für den Bezirk Westsachsen. In den Jahren zwischen 1926 und 1930 ist Merker bereits Mitglied des ZK der KPD und des Politbüros, ist also schon bis in die Führungsspitze aufgerückt. Er wird Kursant an der »Internationalen Leninschule« in Moskau und Sekretär der »Roten Gewerkschaftsinternationale«, einige Jahre Aufenthalt in Amerika folgen. Zwischen 1934 und 1935 arbeitet Merker illegal in Deutschland. Schließlich wird er wie erwähnt in das Büro der KPD-Leitung nach Paris geschickt, 1940 in Frankreich interniert, aber er entkommt in letzter Stunde, 1942, nach Mexiko.

Dort findet er eine ganze Reihe berühmter deutscher Linker und Kommunisten vor, und gründet mit einigen die Bewegung »Freies Deutschland«. Nach Deutschland kehrt Merker 1946 zurück, und nimmt als ehemals hoher Funktionär einen Platz im Parteivorstand, später dem Zentralkomitee der SED ein. Wieder ist er Mitglied des Politbüros. Nach Gründung der DDR wird Merker Staatssekretär im Ministerium für Land- und Forstwirtschaft. Um am 24. August 1950 aus der Partei ausgeschlossen zu werden und aller seiner Ämter verlustig zu gehen. Er ist sechsundfünfzig Jahre alt. Seit gut dreißig Jahren hat er nichts anderes gemacht, als politische Arbeit, illegal und legal, er ist ein Berufsrevolutionär gewesen, und er hat nach der Leninschen Norm gelebt. Seine Arbeit bestand darin, anderen zu erklären, was sie zu tun oder zu lassen haben, wenn sie vor der Parteilinie bestehen wollen, Schriften zu verfassen und drucken zu lassen, Versammlungen einzuberufen und zu leiten, zu taktieren und den Glauben an eine Zukunft wachzuhalten oder zu erwecken, von der er am Ende seines Weges nur noch eine vage Vorstellung gehabt haben mag. Nach seinem Fall hat Merker noch neunzehn Jahre bis zum Tode sehr zurückgezogen gelebt, bis zum Vergessen.

In die zweite Hälfte der Zwanziger Jahre, als Merker dem kommunistischen Machtzentrum sehr nahe gekommen war, fielen eine ganze Reihe von Vorentscheidungen, die das künftige innere Gefüge des Sowjetstaates bestimmen sollten. Paul Merker wurde 1930 wie oben gesagt mit immerhin schon 36 Jahren an der »Internationalen Leninschule« in Moskau auf eine Rolle in der Komintern vorbereitet. Wie kam es dazu? Auf eine für damalige Verhältnisse nicht ungewöhnliche Art und Weise. Merker hatte als Volksschüler eines sächsischen Nestes nur eine geringe Allgemeinbildung erwerben können, besaß aber Wissensdrang und genug Neugier, um sich einen eigenen Weg in die Welt voller Widersprüche zu bahnen. Als Hausdiener eines sächsischen Barons, der eine umfangreiche Bibliothek sein eigen nannte, verschaffte sich der junge Merker Einblick in die Bücher, die er auf anderem Wege nicht zu lesen bekommen hätte. So jedenfalls liest man es in den biographischen Notizen zu seinem Lebensweg. Und das hieße, jener Sachsenbaron verfügte über genügend heitere Gelassenheit, um seinem Hausdiener den Gebrauch seiner wertvollen Bibliothek zu gestatten. Vielleicht aber genügte es dem jungen Merker auch, sich mit der Titelliste jener Buchausgaben zu versorgen, die er lesen wollte und von denen er sich eine Bereicherung des Wissens versprach.

Max Hoelz, mit dessen frühem Lebenslauf Merkers Biographie einige Ähnlichkeit aufweist, arbeitete auch einmal als Haussklave sächsischer Thronen und Herrschaften. Immerhin war es für diese Zeit nicht ungewöhnlich, daß gerade junge Linke aus den unteren Klassen Bildung - in jedem Sinne - für ebenso wichtig hielten wie Brot. Sie sollten und wollten das Erbe der bürgerlichen Kultur antreten, pflegten mit mehr Verehrung Umgang mit den deutschen Klassikern als manch ein Bürger. Der sich durchhungernde Proletarier gehört zum klassischen Bild des Aufsteigers. Daran haben Lasalle und die marxistischen Lehrer an den Abendschulen ihren Anteil gehabt. Es gab sie überall im kapitalistischen Europa, diese Wissenschaftsproletarier, die Goethe und Haeckel lasen, die aus »Faust« zitieren konnten und mitreden wollten. Sie förderten viel zutage, aber sie behinderten auch manch eine Entwicklung etwa in der Literatur, als sie gereift waren und handhabbare Regeln für die Kulturgestaltung aufstellten; an ihrem Dogmatismus sollten noch Generationen zu kauen haben. Wer heute Gelegenheit hat, in eine erhaltene Sammlung privater Proletarierbibliotheken zu schauen, der ist verblüfft, wieviel Geld diese Mittel- und Arbeitslosen für Bücher ausgaben. Sie erwarben die billigsten, gewiß, aber sie verschafften sich, wessen sie bedurften. Viele begannen auch selber zu schreiben, diese »Menschenfreunde in zerlumpten Hosen«, wie der programmatische Titel einer der ersten Proletenbiographien überhaupt lautete. Dem Heutigen werden Zweifel kommen, ob die fortschreitende Verblödung und Verödung von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen und die Glücksprojektion auf sozialen Wohlstand und Mobilität wirklich im Anbeginn der angestrebten Zeiten lag. Aber zurück zu Merker.

Kellner und Hotelarbeiter kommen weit herum. Merker arbeitete in Dresden und am anderen Ende Deutschlands in Amrum und in Hamburg, erwarb sich also Lebenskenntnis, neben Büchersinn und Bildungslust eine nicht zu vernachlässigende Größe der Selbsterziehung. Was er an der Front im Ersten Weltkrieg getan und unterlassen hat, ist dies: In Mannheim waren in jener Zeit die Luftschiffer stationiert, unter anderem; dort wurde die neue Kampftruppe der Lüfte ausgebildet. Fesselballons bevölkerten alsbald die Himmel über allen Fronten und dienten als Beobachter. Solange bis ihre leichte Verwundbarkeit erkannt wurde. Wegen ihrer Unbeweglichkeit konnte man sich leicht auf sie einschießen; denn allzu hoch durften sie nicht schweben, um als Guckposten nützlich zu sein. Wurden sie nicht rasch genug auf den Boden heruntergeholt, gingen sie in Flammen auf. Zudem hatte sich aus einer technischen Spielerei eine gefährliche neue Waffe anderer Art entwickelt. Flugzeuge, zu Kampfgeschwadern formiert, umkurvten die Gräben der Front, warfen Bomben und führten mit Bordwaffen Kavalierszweikämpfe in der Luft. Den Fliegern boten Fesselballons Ziele wie auf dem Scheibenstand.

In Frankreich und an der Balkanfront diente Merker bei der Bodentruppe. Noch während des Krieges war er Mitglied der unabhängigen Sozialdemokraten geworden, stand also auf halbem Wege zwischen der längst reformerischen Sozialdemokratie, die dem bewaffneten Kampf um die Macht abgeschworen hatte, um in den klassenlosen Staat hineinzuwachsen und den radikalen Kommunisten, die zwar noch keine eigene Organisation besaßen, wohl aber eine revolutionärere Theorie. Als die Novemberrevolution kam, läßt sich Merker noch nicht auf einer entschieden kommunistischen Front ausmachen, wie sein Gegner in Dresden und späterer Freund im mexikanischen Exil, Otto Rühle, nicht zu verwechseln mit einem anderen Otto Rühle, dem Direktor für Hochschulbildung der DDR und Mitbegründer der »Nationaldemokratischen Partei Deutschlands«. Aber die Novemberrevolution sah Merker eben in Dresden, und er hatte insofern daran Anteil, als er gegen jenen KP-Funktionär Otto Rühle auftrat. Aber dies waren für Merker die normalen Orientierungsschritte in einer verwirrenden Revolutionsperiode, wo man öfter den Standort, nicht aber die Fronten wechselte. Zuletzt ging die USPD in die Kommunistische Partei überhaupt auf, womit der Klärungsprozeß für viele, nicht nur für Merkers abschloß.

Im Zeitraum zwischen 1918 und 1920 wurde die Weimarer Republik von einer sozialdemokratisch-bürgerlichen Koalition mehr schlecht, als recht regiert; auch sehr gemäßigte Sozialisten mußten in dieser neuen opportunistischen Machtsuppe mehr als ein Haar finden. Die russischen Revolutionäre von 1917 hatten sich wider aller Erwartung und trotz einem internationalem feindlichem Aufgebot an Waffen und Material in ihren Bastschuhen an der Macht zu halten gewusst. (In der Autobiographie vom Max Hoelz ist ausführlicher von jenem Otto Rühle die Rede, der eine kritische Einschätzung der Kämpfe in Mitteldeutschland schrieb (an denen er nicht teilnahm). Er hält die Aktion für verfehlt und für verfrüht, im Ganzen für falsch und dilettantisch durchgeführt. Die Linken unter den »Unabhängigen« verschmolzen im Dezember 1920 mit den Kommunisten, d. h., sie lösten sich praktisch auf. Rühle spielte keine Rolle mehr. Er starb 1943. Siehe: Max Hoelz. Vom Weißen Kreuz zur roten Fahne. Edition aurora. Mitteldeutscher Verlag. Halle Leipzig 1984)

Noch schlug der Zeiger der Weltgeschichte wild in alle Richtungen aus. Wo würde er zum vorläufigen Stillstand kommen? Der Glaube an die neue sozial gerechtere Welt erhielt durch die siegreichen Sowjets dauernd Auftrieb, und das Erlösungsziel, die Welt der Gleichen und Brüderlichen schien greifbar nahe. Davon zeugte die Reihe einzelner bewaffneter aber begrenzter Aktionen, die mit den Januarkämpfen 1919 in Berlin begonnen hatten. Wenn auch alle Aufstände in Mitteldeutschland, in München und an der Ruhr verloren gingen, befand man sich offenkundig auf einem Weg, an dessen Ende das kommunistische Fernziel lag, die klassenlose Gesellschaft, und alle kleineren Niederlagen erschienen den Rebellen eher wie Fanale des sicheren künftigen Sieges, als die Menetekel des endgültigen Verlöschens der deutschen roten Revolution. Ab 1922 lebte Merker in Berlin und war in verschiedene Funktionen aufgerückt, Mitglied des Zentralkomitees und seines Politbüros, zum anderen war er Leiter der Gewerkschaftsabteilung seiner Partei. In dieser Eigenschaft machte Merker eine für ihn wichtige Reise in die Sowjetunion, um als Delegierter bei den Beratungen der »Roten Gewerkschaftsinternationale« teilzunehmen. Er betrat zum ersten Male internationales Pflaster. Hier ist ein Rückblick auf die Geschichte der Internationale nötig.

Seit 1863 und 1864 befaßten sich Kommunisten und Sozialdemokraten, damals parteiamtlich noch nicht grundsätzlich voneinander unterschieden und erbittert verfeindet, in Gemeinschaft von Anarchisten, der weitaus »revolutionärsten« Gruppe, mit der Installierung einer internationalen Arbeiterassoziation. Gründungstermin und Ort der »1. Internationale« waren Genf 1866, nach und nach traten ihr fast alle europäischen bis kommunistischen Einzelparteien bei, getreu der berühmt gewordenen marxistischen Maxime: »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«. Der Verein war zwar vereinigt, aber keineswegs einig, sondern tief zerstritten und von Bakunin dominiert. Bakunin, russischer Anarchist und Exilant mit einem großen europäischen Anhang, verlor nur allmählich an Boden, wurde endlich ausgeschlossen, und Marx selber empfahl zuletzt die Verlegung der Exekutive von London nach New York, sicherlich infolge des amerikanischen Bürgerkrieges, dessen Verlauf die beiden Londoner Emigranten mit wachem Instinkt verfolgten. Für Marx und Engels war der Bürgerkrieg in Amerika ein revolutionärer Krieg, und es war ein moderner Krieg, in dem ein gewaltiger technischer Aufwand getrieben wurde. Mit dem Sieg der Nordstaaten mußte ein übermächtiger industriell-kapitalistischer Block in der westlichen Hemisphäre entstehen, die neuen Vereinigten Staaten von Amerika. Indessen konnte die Internationale trotz des Wechsels von Europa nach Amerika ihren Spielraum nur gering erweitern, im Gegenteil, sie zerfiel, aber das Bedürfnis nach einem übernationalen Zusammenschluß aller Proleten der Welt blieb und schuf die Voraussetzungen für eine Nachfolgeorganisation.

Die »2. Internationale« von 1889 faßte denn auch bedeutsame und weitreichende Beschlüsse, etwa den zur Solidarität der Arbeiterparteien im Kriegsfalle, der in naher Zukunft erwartet wurde. Bis zum Kriegsausbruch 1914 wiegten sich die Sozialdemokratien, die mittlerweile offen regierungs- und koalitionsfähig auftraten, in der Zuversicht, ein Krieg könne auf Grund der Beschlüsse gar nicht mehr stattfinden. Tatsächlich aber hatten sich die sozialistischen Parteien innerhalb von runden zwanzig Jahren anders orientiert. Auch diese Internationale scheiterte an den Realitäten; alle ihre Mitglieder reagierten 1914 bescheiden großsprecherisch und »national«, und schickten ihre Mitglieder in den 1. Weltkrieg. Das bedeutete das Ende der Organisation, aber auch das Ende aller Hoffnungen auf ein Hineinwachsen in die schöne neue Welt, falls man sich nur Zeit ließ. Die Ernüchterung der einfachen Mitglieder unterhalb der Funktionärsschicht war furchtbar; erst die Revolution in Rußland begann neue geistige und materielle Kräfte in Gang zu setzen.

Ganz untätig aber war die Internationale doch nicht gewesen. In Zimmerwald bei Bern trafen sich zwischenzeitlich die letzten der Mohikaner, die Absprengsel der »2. Internationale« 1916, um die Lage zu beraten. Sie erneuerten den alten Antikriegsbeschluß und stellten die Weichen für einen Neuanfang bei dem zu erwartenden wie erhofften Kriegsende, im Grunde einer allgemeinen Niederlage der kriegführenden europäischen Mächte. Im März 1919, unmittelbar nach der Oktoberrevolution, wurde schließlich die »3. Internationale« gegründet; sie erhielt als »Komintern« ein besonderes Flair als ein berüchtigtes bolschewistisches Machtinstrument. Der Assoziation wurden auch alle möglichen Aufgaben zugedacht; vom Nachrichtensammler bis zum Terroristen. Die alte Sozialdemokratie bestand in offener Gegnerschaft zu ihren Absprengseln fort und mußte theoretisch reagieren. In dieser Periode wurden unter anderem eine ganze Reihe von Vereinigungen ähnlicher Art und Struktur gebildet; darunter eine mit dem kuriosen Namen: »2 ½ Internationale«, die der roten nicht ganz nahe stand oder stehen wollte, und von der heute kein Mensch mehr etwas näheres weiß und etliche Gewerkschaftsinternationale, darunter die »Rote Gewerkschaftsinternationale«, RGI, die der »3. Internationale« naturgemäß als einer ihrer Untergliederungen am nächsten verwandt gewesen ist.

Generalsekretär dieser RGI war damals der Genosse Solomon Losowski, ein alter Mitkämpfer Lenins. Beide Männer, Losowski und Merker, fanden im Laufe ihrer gemeinsamen Arbeit offensichtlich persönliche Sympathie füreinander. Losowski nahm des weiteren eine bemerkenswerte Karriere im stalinistischen Staat; er wurde stellvertretender Außenminister, und zwar ausgerechnet im Jahre 1939, dem Jahr des deutsch-sowjetischen Paktes. Weshalb Merker plötzlich 1930 aller seiner Funktionen enthoben wurde, wird mit einer der immer wiederkehrenden dürren Begründung umschrieben: Es soll sich sein Standpunkt von der Parteilinie unterschieden haben. Sein Sturz hing mit einer Schwankung in der sowjetischen Kaderpolitik zusammen, so vermutete Herbert Wehner in einer Marginalie seiner autobiographischen Darstellung. Maßregelungen trafen auch oder sogar hauptsächlich Losowski; er wurde nicht gänzlich fallen gelassen, aber sein Einfluß sank so weit, daß auch seine Freunde und Mitarbeiter etwas von der Disziplinierung zu spüren bekamen. Es ist übrigens merkwürdig, daß, wer achtzig Jahre später auf Suche nach genauerer Unterrichtung in den Parteianalen gerade dieses Jahrzehntes blättert, ohne einer kommunistischen Partei nahe gestanden zu haben, nicht viel mehr erfährt, als die jeweils aktuellen Nuancen ein- und derselben Procedere; Querelen, Machtgerangel, Sektenbildung, ein ausufernder Jesuitismus, ganz wie Rosa Luxemburg es warnend vorhergesagt hatte. Deshalb wurde zwar ihres Totschlages in der DDR gern gedacht, nicht aber ihre theoretischen Arbeiten in voller Übersicht zur Unterrichtung der jungen Generation bereitgestellt.

In Lenins Organisationsschema sah Rosa Luxemburg die größte Gefahr für die russische Sozialdemokratie, weil es die »noch junge russische Arbeiterbewegung« den »Herrschaftsgelüsten der Akademiker« aufopfere, sie in den Panzer eines bürokratischen Zentralismus« einzwänge, die kämpfende Arbeiterschaft zum gefügigen Werkzeug eines »Komitees« herabwürdige. Und gerade weil Rußland am Vorabend einer bürgerlichen Revolution stand, kam es darauf an, die freie Initiative und den politischen Sinn der Arbeiterelite zu entfesseln, anstatt sie, von einem Zentralkomitee, »politisch geleithammelt und gedrillt« den bürgerlichen Demagogen zu überlassen. Zitiert nach: Maximilian Rubel. Josef W. Stalin. Rowohlt Taschenbuch Hamburg 1991, Seite 18

Schon 1903 hatte sich die sozialistische Partei, die verbotene russische Sozialdemokratie, in Bolschewiki und Menschewiki gespalten, und zwar auf dem Londoner Parteikongreß, also in der Emigration. Zur Spaltung kam es über die Grundsatzfrage, Revolution oder Reformen und den Leninschen neuen Normen des Parteilebens, eine Problematik, die zum Auszug der Sozialdemokraten aus dem Kongreß geführt hatte und den »Mehrheitssozialisten«, den Bolschewiki, das Feld überließ. Anzumerken ist, daß der Begriff Mehrheit irreführend die tatsächlichen Relationen zwischen den Fraktionen des Kongresses nicht spiegelte. Der Vorgang selber, der Auszug der Menschewiki, hatte allerdings weitreichende Folgen; die bolschewistische Parteidisziplin führte zur Oktoberrevolution und legte den Grundstein zu einer Kader- und Überwachungsstruktur, an der Partei und Revolution am Ende dieses revolutionären Jahrhunderts zugrunde gehen sollten. Es war der Halys der Kommunistischen Bewegung. Den Fluß Halys hatte Kroisos, das Orakel mißverstehend, in der Annahme überschritten, er werde die Perser besiegen, aber er hatte sein eigenes Reich zerstört. Dies ist zwar lange her, aber gleichwohl lehrreich.

Merker selber wehrte sich nur schwach gegen seine Rückstufung in den politischen Volontärsstand; daß er plötzlich ganz mittellos und ohne Einkünfte dastand, zählte während der Wirtschaftskrise doppelt schwer. Er lebte in dem hektischen, aufgeregten Berlin. Sollte er den Leuten als Aushilfskellner wieder Molle und Korn an den Tisch tragen, er, ein oberster Gewerkschaftssekretär, vielleicht mit seiner Visitenkarte präsentierend, ehemaliger Kominternsekretär sucht Stellung? Seit mehr als zehn Jahren hatte seine Arbeit aus Sitzungen, Auftritten in Versammlungen, dem Erstellen von Theoriekonzepten, Plänen, Beratungen, Reisen und einigen politischen Publikationen bestanden; er war geprägt, es gab kein Zurück in einen bürgerlichen Beruf ohne politischen Gesichtsverlust. In dieser Lage half der Freund Losowski aus, der doch selber oben nicht mehr gut angeschrieben stand. Er rief, Merker reiste abermals nach Moskau, und übernahm die amerikanische Sektion der RGI. Da er in einem englischsprachigen Land arbeiten sollte, büffelte er englisch und betrat 1931 den geheiligten Boden der rechtsstaatlichen angelsächsischen Demokratie, als Chef der »Roten Gewerkschaftsinternationale«, nun in den Vereinigten Staaten von Amerika. Werfen wir einen Blick hinter die Freiheitsstatue auf die amerikanische Linksliberale und einen zweiten auf die der Kommunistischen Parteien der USA und der Sowjetunion.

Es gab sie, die amerikanischen Kommunisten, die Partei war zahlenmäßig klein, aber ihr zustimmendes Umfeld wuchs während der Depression rasch an. Daß Karl Marx einmal den Europäern die Exekutive der »1. Internationale« entzogen und nach New York verlegt hatte, zählte längst zu den historisch erledigten Angelegenheiten. Unmittelbar nach dem für den moderneren, technisierteren Norden siegreichen Bürgerkrieg war es in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts an der Zeit gewesen, dem neuen Amerika einen proletarischen Begleiter beizugesellen. Dieses Amerika »Abe« Lincolns, all der gerühmten Befreiungs- und Freiheitserklärungen, das Amerika des grandiosen amerikanischen Bürgerkrieges mit seinen wunderbaren Zielen, seinem Sieg und seinen furchtbaren Opfern hatte den Pfad der Tugend allerdings längst verlassen und gerade einen schauerlichen Justizmord begangen: Am 23. August 1927 waren Sacco und Vanzetti nach siebenjähriger Untersuchungshaft auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet worden.

Und es lag in der Agonie einer kapitalistischen Krise. Damals stand die amerikanische Linke in einem breiten Konsens. Ihnen galt die russische Oktoberrevolution als das Aufbruchsfanal, als die Aufforderung, den Befreiungsauftrag aus den Menschenrechtserklärungen, aus der alten hochberühmten amerikanischen Rechtstradition weiter zu tragen, oder den Weg der russischen Revolution zumindest mit begeisterten Hochrufen zu begleiten. Helen Keller, keine Kommunistin, schrieb 1920:

»Amerika war Rußlands Freund während der langen Jahre, in denen dem russischen Volk jede Möglichkeit zu politischer Willenskundgebung verwehrt war. Ich glaube nicht, daß diese Sympathie in den Herzen der Amerikaner gestorben ist. Wir wollen immer noch Freunde und Brüder des russischen Volkes sein. Wenn wir in unserem Land eine aufgeklärte Presse hätten - eine Presse, die den Geist der Gründer dieser Nation atmet, den Geist von 1776 - gäbe es keine Blockade Russlands.« Helen Keller: Eine Forderung nach Anerkennung. Aufsatz in »The Call«, New York, 27. Februar 1920

In ähnlichem Sinne äußerten sich Theodore Dreiser, Maxwell Anderson, Dos Passos und andere; im Kongreß wurden der russischen Revolution gewidmete begeisternde Reden gehalten. Das sogenannte »Rote Jahrzehnt« der USA war angebrochen. Im Jahr seiner Ankunft in diesem Amerika fand Merker die Schreckensbilanz einer tiefgehenden Krisis vor. Die Zahl der Arbeitslosen belief sich im Oktober 1931 auf mehr als 7,7 Mio., im Oktober des folgenden Jahres wurde diese Marke noch überboten, um im Frühjahr 1933 mit 13 Mio. einen Rekord zu erreichen. Im März 1933 wurde der neue Präsident Franklin Delano Roosevelt in sein Amt eingeführt; er leitete Maßnahmen ein, die unter dem Begriff »New Deal« in die Zeitgeschichte eingingen. Das in unserem Zusammenhang hier wichtigste Element seiner neuen Politik war der Passus 7a des Gesetzes, der »National Industrial Recovery Act« (mit »Genesungsgesetz« notdürftig zu übersetzen), welches all den rechtlosen Proletariern das Koalitionsrecht einräumte, vielmehr einräumen wollte. Das Oberste Gericht der USA erklärte jedoch das Gesetz für verfassungswidrig; ein anderes, abgeschwächtes Gesetz wurde vom Kongreß schließlich doch erlassen, eine »Magna Charta der Arbeit«, die »National Labor Relations Act«. Diese Lage machte selbst den eingefleischtesten demokratischen Rechtswahrern klar, daß auf dem Weg über Kongreß und Senat jedes Gesetz an den ehernen Klippen des konservativen Obersten Gerichts scheitern werde, trotz allem Redegeplapper. Es mußte wohl anderes geschehen, eine Änderung des Systems erreicht werden. Im September 1932 gaben etwa fünfzig Kultur- und Geistessschaffende eine öffentliche Erklärung zu den bevorstehenden Bundeswahlen ab, die als pro-kommunistisch bezeichnet werden kann, da sich die Unterzeichner verpflichteten, nur die kommunistischen Kandidaten zu wählen, und überall im Lande »Foster-und Ford-Komitees« zu bilden. Wenn auch heute nur noch wenige Namen dieser Liste bekannt sein dürften, so läßt sich an ihr die Breite der Massenbewegung während der Depression ablesen. Die Adresse Amerika war also 1930 eine wichtige politische Position geworden. Earl Browder, hoher KP-Funktionär und während des Krieges Generalsekretär der »Communist Political Association«, sollte noch eine Rolle im Leben Merkers spielen.

In Amerika blieb Merker von 1931 bis 1933 als Kominternbeauftragter, Verbindungsmann zwischen der Zentrale und diesem plötzlich hochbedeutend gewordenen Außenposten der Revolution. Er lernte sich auf internationalem Raum zu bewegen, weitete seine Weltkenntnisse, machte Reisen und brachte, als er im Juni 1933 nach Moskau zurückgerufen wurde, aus den USA einige nachdenkliche Erfahrungen mit, vor allem vielleicht die, daß sich die Verhältnisse in diesem wichtigen Teil der nördlichen Welthälfte die Dinge völlig anders darstellten, als im sozialistisch-stalinistischem Moskau. Die amerikanische Partei war ungefähr zeitgleich mit der deutschen KP gegründet worden, 1920, aber sie stand aktuell vor anderen Problemen als das von der Revolution geschüttelte Deutschland mit einer in Sekten und Gruppen agierenden Linke. Merker war kein »Intelligenzler«, er stand unter dem Gefühl politischer Hörigkeit, dem jesuitischen Parteizwang, was ziemlich treffend als »Sowjetpsychose« bezeichnet wird, der spezifischen Erblindung gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen in Rußland. Und die zwanziger Jahre waren auch in Rußland noch offener und anders geprägt als das heraufkommende stalinistische Jahrzehnt mit seinen Verfolgungen und Massenmorden. Liest man die Ergebenheitsadressen von Funktionären und Belletristen an die siegreichen Bolschewiki jener Jahre, so wird man heute leicht ratlos. Was hatten die Rußlandreporter, die vielen Globetrotter von der russischen Revolution wirklich gesehen? Eine Erklärung für diese Schwäche der Wahrnehmung, der Blindheit liegt sicherlich zu einem guten Teil in der Kenntnis der Geschichte des zaristischen Rußland. Rußland galt als barbarisch rückständig, und alles, was den asiatischen brutalen Despotismus zu zertrümmern half, war in den Augen westlicher Zeitgenossen besser als das Fortbestehen der alten Ordnung des Zarismus, und jeder Übergriff und Eingriff in die Rechte der Person verzeihlich. Es gehörte zum revolutionären Dogma, dem Kopf, der im Namen des künftigen Menschheitsglückes für die Revolution fällt, als eine Übergangsschwäche im Namen des Fortschrittes zu verzeihen, und den Rechtsumständen nicht weiter nachzufragen. Für Amerika kam eine andere, die eigene Tradition hinzu. Die Kolonien hatten sich durch eine Revolution vom englischen Joch in einem Unabhängigkeitskrieg befreit, der folgende Krieg des Nordens gegen die sklavenhaltenden Südstaaten wurde als sittlich gerecht aufgefaßt, obschon er doch nicht von Beginn an um das hehre Ziel der Sklavenbefreiung geführt worden war. In dieser Befreiungsrolle sah sich das nördliche Amerika damals, und es hält sich auch heute für den irdischen Gehilfen Gottes beim gerechten Befreiungswerk, der globalen Amerikanisierung.

Der Pariser Commune von 1871 ward brennenden Herzens gedacht, und Lenin feierte den einen Tag, den die Oktoberrevolution länger gewährt hatte als diese, wie einen besonderen Sieg. Bis um die Jahrhundertwende wuchsen in allen europäischen Ländern die sozialdemokratischen Bünde, die kommunistischen Parteien und anarchistischen Sekten zu Millionenheeren an. Beschlüsse zur Erneuerung der Menschheit wurden periodisch gefaßt, ohne dass sich real etwas bewegt hatte. Nun aber war ein revolutionärer Staat erstanden, breitete die Arme aus, um die ganz Menschheit einzuschließen und all die Mühseligen und Beladenen aufzunehmen. Das ist eine Erklärung für die damals herrschende »Sowjetpsychose«, sie mag nicht alle überzeugen, zugegeben, aber sie ist besser als gar keine.

Einstweilen wohnte Merker wieder bei seinem Gönner, dem Genossen Losowski. Im Juni 1933 ist Merker 39 Jahre alt. Der Euphorie westeuropäischer und amerikanischer Intellektueller entsprach das reale Bild des Sowjetstaates zwischen 1930 und 1933 aber keineswegs. Was also hat Merker von der Sowjetunion gesehen? Wie beurteilte er die Machtkämpfe der späten zwanziger Jahre, hat er sie kritisch, hat er sie überhaupt wahrgenommen? Er stand in einem Alter und besaß politische Erfahrungen, die ihm eine Meinung zu den widersprüchlichen Vorgängen geradezu abfordern mußten. Die Übernahme der politischen Macht war das eine, und die Entwicklung der Wirtschaft eine andere Sache. Die »NEP«, die »Neue ökonomische Politik«, noch unter Lenin eingeleitet, war ein Anzeichen für den Rückzug auf den Staatskapitalismus. (Wir haben das Recht, stolz zu sein, und wir sind stolz darauf, daß uns das glückliche Los zugefallen ist, den Aufbau des Sowjetstaates zu beginnen, hiermit eine neue Epoche der Weltgeschichte einzuleiten, die in allen kapitalistischen Ländern unterdrückt ist und die überall zu neuem Leben, zum Sieg über die Bourgeoisie, zur Diktatur des Proletariats, zu Erlösung der Menschheit vom Joch des Kapitals, von den imperialistischen Kriegen vorwärtsschreitet. Lenin. Ausgewählte Werke in zwei Bänden. Moskau 1947, Berlin 1954)

Lenin, der Mitbegründer des Sowjetstaates, war tot, sein Erbe einem Mann zugefallen, dessen Namen eine ganze Epoche trägt, Josef Stalin. Es ist viel gerätselt worden, ob Lenin die Gefahr erkannt hatte, die mit der Wahl dieses Nachfolgers heraufbeschworen wurde, und dennoch Stalins Aufstieg einleitete, oder ob sich der Generalissimus eher die Macht erschlichen hat. Wahrscheinlicher ist es. daß ihn zu einem großen Teil die inneren Machtverhältnisse in der Führung emportrugen. Nach der Beendigung des Interventionskrieges stand der Sowjetstaat wirtschaftlich vor einem Scherbenhaufen; die überstürzt eingeleitete ländliche Kollektivierung, d. h., die Enteignung der Großbauern (Kulaken), die Landverteilung an die Dorfarmen, eine rigorose Beschlagnahme von Vorräten, Geräten und Maschinen hatten die Ernährungsgrundlage der Sowjetbevölkerung nicht wesentlich heben können. Im Grunde genommen herrschten die alten bekannten Verhältnisse, nur daß die Herren der Dörfer andere Namen trugen. »NEP« bedeutet also die Einsicht, daß der privaten wirtschaftlichen Initiative wieder breiterer Raum geschenkt werden mußte, wollte der neue Staat Schritte zur Gesundung und zu seinem Bestand überhaupt einleiten. In den Spitzen der Partei herrschten nun keineswegs Einigkeit über die Wirtschaftspolitik, dafür blühte der Phrasenrausch. Nur in der Literatur dieser Periode finden sich listig verschleierte Hinweise auf die Verhältnisse, bei Isaak Babel, bei Scholochow und später beim Chronisten des »Zweiten Weltkrieges«, Simonow. Kaum einer der Roten Kommandeure in seinen Büchern, der nicht aus einem sibirischem Lager zurückgeholt und an die Front gestellt wurde, und seine Pflicht gegenüber dem Vaterland tat.

Politisch sah es arg genug aus; seit Herbst 1918 gab es Zwangsarbeitslager. Die Verbannung im Zarenreich nach Sibirien hatte Internierung in einer lebensfeindlichen eisigen Wüste bedeutete, in welcher der Verbannte mehr oder minder schnell ein Opfer des Klimas wurde. Das frühe sowjetische Arbeitslager verband Strafe, die nicht juristisch fixiert sein mußte, also der kein justiziables Verbrechen vorangegangen war, mit der als Wiedergutmachung für die nichtbegangene Tat verhängten Zwangsarbeit als unbegrenzte Dauererscheinung. »In der UdSSR ist die Arbeit eine Sache der Ehre, des Ruhmes, der Tapferkeit und des Heldentums« (Maximilian Rubel. Stalin. rowohlts monographien. Rowohlt Taschenbuch Hamburg 1975, Seite 53) stand über dem großen Tor eines der ersten Lager, eines Konzentrationslagers, nichts anderes war diese Einrichtung. Hier sollten alle die gebessert werden, die nach neuem Terminus als Gauner, Krypto-Menschewiki und Parteischädlinge bezeichnet wurden. Auch die Todesstrafe wurde alsbald wieder eingeführt, die es in der Regierungsperiode Nikolajs nicht mehr gegeben hatte.

Noch zu Lebzeiten Lenins hatte sich Stalin als der geeignetste Mann erwiesen, die »Politische Staatsdirektion«, GPU, anzuleiten. Ihr kam unterdessen eine den Staat kontrollierende Stellung zu. Und Stalin baute seinen Einfluß auf die Partei zielstrebig aus; er beherrschte inzwischen unter dem Ägide Lenins mehr als zehn Kommissionen des Polit- und Orgbüros; zuletzt ließ Lenin den tüchtigen Stalin zum Generalsekretär der Partei... wählen, kann man nicht zutreffend sagen, also ernennen. Diese Partei befand sich wie die Luxemburg vorhergesagt hatte, auf einem verhängnisvollen Weg. Der andere begabte Revolutionär in Lenins Garden hieß Leo Trotzki, der längst, also im Stichjahr der Rückkehr Merkers in die Sowjetunion, ausgeschaltet war.

In seinem Todesjahr, als Lenin Tagebuchnotizen zur Lage machte, sah er die Rolle seines Kandidaten Stalins allerdings klarer, und er riet, ihn als Generalsekretär zu entfernen, und durch einen anderen zu ersetzen. Kurz vor Toresschluß wäre es beinahe zu einem persönlichen Bruch zwischen dem Generalsekretär und Lenin gekommen, weil Ersterer die persönlichen Grenzen überschritt, als er Lenins Lebensgefährtin beleidigte. Stalin lenkte ein, der Streit brach nicht aus oder wurde beigelegt. Wichtiger war, daß der Gründer des sowjetischen Staates erkannte, wovon das Schicksal der Revolution abhängen würde, vom Tempo mit dem sich das Kulturniveau des Sowjetbürgers heben lasse, was in der Sache nur heißen konnte, verwestlicht, westeuropäischer Norm angepaßt. Für die Ablösung Stalins aber war es zu spät, selbst wenn Lenin sie tatsächlich energischer betrieben hätte; in den letzten Lebenstagen Lenins trat der Generalsekretär zum Angriff gegen seinen Nebenbuhler Trotzki an, der die Zulassung von Fraktionen innerhalb der bolschewistischen Partei gefordert hatte. Stalin legte dar, daß die Forderung Trotzkis nichts anders bedeute, als die Zulassung seiner eigenen, d. h., der trotzkistischen Gruppierung innerhalb der Partei. (Rubel bemerkt hierzu: Man kann Stalin kaum vorwerfen, gegen Lenins politisches Organisationskonzept verstoßen zu haben, wenn er behauptet: Der Leninismus sei der Marxismus der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution, die Theorie und Taktik der proletarischen Revolution im Allgemeinen, die Theorie und Taktik der Diktatur des Proletariates im Besonderen. Auf dieses Grundprinzip der bolschewistischen Partei gestützt, versteht er die Hebung des Kulturniveaus der werktätigen Massen rein techno-bürokratisch als die Heranbildung zahlreicher Kader von Leitern und Administratoren aus den Reihen der Arbeiter... usf. Rubel. Joseph Stalin. Ebenda Seite 59)

Auf dem XIII. Parteitag der KPdSU hielt Stalin den »Organisatorischen Bericht des ZK«, sein bündigstes Werk in dieser Zeit, in dem er Trotzki des Verrates bezichtigt und auf die Wiederherstellung des alten Ausbeuterstaates abzuzielen. Niemand widersprach. Daß es den Parteikadern schwerfiel, sich für Trotzki einzusetzen, der sich selbst als eine Art Schwert der Revolution hochstilisiert hatte, daran trug Trotzkis Haltung in den Jahren vor 1917 schuld, als er in einem Brief an Nikolaj Tscheidse schlankerhand behauptet hatte, Lenins Konstruktionen seien auf Lüge und Fälschung aufgebaut. Schließlich wurde Trotzki 1927 aus dem ZK und der Partei ausgeschlossen, zusammen mit Simonow. Wieviel Merker von den inneren Vorgängen der Partei der Bolschewiki 1927 gewußt hat, ist kaum strittig, vermutlich sehr wenig. Er arbeitete 1926 in Berlin im Kreise der deutschen Kommunisten; erst 1930 kam er nach Moskau, wie oben gesagt, als bereits einiges geschehen war.

Wie sah die UdSSR nun 1930 aus, dem Bezugsjahr für die Rückkehr Merkers nach Moskau? Das Kulakentum war als Klasse liquidiert, fünfzig Prozent der bäuerlichen Einzelwirtschaften im Kolchos kollektiviert. Wir können hier alles beiseite lassen, was zur Rechtfertigung der barbarisch durchgeführten Maßnahme geschrieben und gedruckt wurde und uns nur an den Resultaten dieser Politik orientieren. In der Folgezeit war die Zahl der Kollektivbauern drastisch durch Massenaustritte aus dem Kolchos wieder gesunken, im Ergebnis eines Korrekturversuches der Partei, die als Lockerung der Zwangsmaßnahmen verstanden worden waren. Ein Drittel der gesellschaftlichen Arbeitskraft jener Zeit bestand aus Strafarbeit, und damit war der Scheitelpunkt des Gulagsystems noch längst nicht erreicht. Hatte Peter I. ohne Rücksicht auf die Lebensbedingungen der Arbeitssklaven sein neues Zentrum am Finnischen Meerbusen auf den Sümpfen der Newa errichtet, so baute der Sowjetstaat unter sehr ähnlichen Bedingungen in zwei Jahren, 1931 bis 1933 einen Kanal zwischen dem Weißen Meer und der Ostsee auf den Knochen von Hunderttausenden Gulagsklaven. Und der Ausrottungsprozeß unter den alten Kämpfern hatte ebenfalls einen ersten Höhepunkt erreicht. Von 140 Mitgliedern des ZK waren noch 15 auf freiem Fuß, von zwölf Politbüromitgliedern noch acht; von achtundzwanzig dem Politbüro angehörenden Kadern waren siebzehn erschossen, der Rest deportiert oder ermordet. Und später? Im Jahr 1937, beim zweiten der Moskauer Schauprozesse stand die Masse der Altbolschewiki vor Gericht, alle wurden des Trotzkismus beschuldigt, oder als Agenten ausländischer Dienste abgeurteilt. Eine Reihe Angeklagter konnte sich durch den Freitod dem sicheren Justizmord entziehen, andere starben unter der Folter. Solschenizyn bemerkte dazu, Stalins orientalischer Charakter habe das Schauspiel von oben sicherlich genossen. Es folgten noch eine Reihe Prozesse gegen höhere Offiziere; dann unterbrach der Krieg, der Hitler-Stalinpakt, das Wüten und leitete eine andere Phase des Sowjetstaates ein. In dieses Moskau, das alles oben beschriebene noch vor sich hatte, kehrte Merker zurück, unter die Fittiche seines Freundes. (1983 ließ Jürgen Kuczynski ein Buch erscheinen, das mit wenig Gegenliebe aufgenommen wurde. »Dialog mit einem Urenkel«. Neunzehn Briefe und ein Tagebuch. Aufbau Verlag Berlin. In: Sechste Frage erkundigt sich der fiktive Urenkel bei Kuczynski nach dessen Erinnern und seinen Eindrücken aus der Stalinzeit. Es ist heute interessant, die Reflektionen Kuczynskis nachzulesen, dem damals in einer hohen Parteifunktion die Pflicht oblag, den Zweiflern an der Stalinschen Unfehlbarkeit die Ursachen der Moskauer Prozesse zu erklären, allerdings in England und weit ab vom Schuss.)

Er arbeitete wieder im Sekretariat der RGI. Weshalb er sich entschloß, um seine Entsendung nach Deutschland und in die Illegalität nachzusuchen, weshalb diesem Wunsch nachgegeben wurde, ist eine offene Frage. Oder sie ist es nicht, wenn wir auch keine Meinungsäußerung Merkers kennen, die parteidisziplinarisch geahndet wurde. Er wollte weg aus dem bedrückenden Moskau mit den unberechenbaren Entscheidungen im Hintergrund. Daß er gar nichts wahrgenommen hat, ist nicht anzunehmen. Ein Gefühlsausbruch, der dem sonst beherrschten Mann Jahre später in Paris unterlief, an das unberechenbare Moskau adressiert, läßt ahnen, was hinter Merkers Entschluß stand, in das inzwischen für ihn gefährliche Deutschland zurückzukehren. Man ließ ihn 1934.

Am Morgen des 30. Januar 1933 hatte Hitler den Eid beim Reichspräsidenten auf die Verfassung von Weimar geleistet. Damit sah sich der neue Kanzler aber noch keineswegs im Besitz unbegrenzter diktatorischer Gewalt. Er mußte mancherlei Rücksichten auf die noch mächtigen Gruppen und Gewalten im Staat von Weimar nehmen. In den Stunden vor der Berufung zum Kanzler war die Hauptstadt durch Gerüchte aufgeschreckt worden, der entmachtete Kanzlergeneral von Schleicher plane einen Militärputsch, falls der Reichspräsident Hitler zum Kanzler ernennen werde. Mit der Reichswehr aber war nicht zu spaßen. Kurz nach seiner Ernennung suchte der neue Reichskanzler Fühlung zur Reichswehr und erläuterte den Generälen seine nächsten Ziele, versicherte ihnen, daß die Reichswehr der einzige Waffenträger der Nation bleiben und nicht wie in Reichswehrkreisen befürchtet der SA unterstellt werde. Ferner versprach er die rasche Aufrüstung und entließ die Generalität einigermaßen beruhigt in ihre alten Dienststellen. Schleicher hatte zwar erklärt, die Reichswehr werde die Berufung Hitlers verhindern, sollte sie denn Wirklichkeit werden, und ganz auszuschließen war eine Militärintervention, also der Bürgerkrieg, keineswegs. Gegen die versammelte Macht der Reichswehr am Vorabend seiner Berufung in die Kanzlerschaft hätten SA und einige Polizeidivisionen, deren Kommandeure Nazi waren, vermutlich wenig ausgerichtet; abgesehen von einigen Tagen Straßenkampf und Ausnahmezustand war am Ausgang einer militärischen Auseinandersetzung mit der Reichswehr kaum zu zweifeln. Überdies hatte Schleicher mit Hitlers Rivalen Gregor Strasser Verhandlungen aufgenommen und schusterte an einer merkwürdigen Koalition herum, aus der nichts wurde, vielleicht weil sich Strasser nach einer Auseinandersetzung mit Hitler entmutigt zurückzog, alle Ämter niederlegte und aus Berlin abreiste. Was wir heute besser wissen, das war den Zeitgenossen jedoch keineswegs klar; so hatte der neue Reichskanzler Hitler auch Gründe genug, sich die stärkste materielle Gewalt im Reiche anzuempfehlen, um so mehr, als er die Skepsis und Zurückhaltung der Generalität dem »unbekannten Weltkriegsgefreiten« gegenüber kannte. Er wurde berufen, nichts Wirksames geschah und stellte seine Forderungen, darunter die nach Neuwahlen für den deutschen Reichstag. Dem wurde stattgegeben; darauf begann der Wahlkampf mit einem für Deutschland bisher unbekannten Aufwand. In der Nacht vom 27. zum 28. Februar brannte der Reichstag und lieferte endlich genug Gründe zur gesetzlichen Ausschaltung des Gegners; die »Notverordnung zum Schutze von Volk und Staat«, zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte, wie es hieß. Dieses Gesetz wurde noch am 28. Februar erlassen. Damit waren praktisch alle persönlichen Rechte außer Kraft gesetzt, die Artikel 114, 115, 117, 118, 123 und 153 hörten auf zu existieren. Gesetzgeberisch war die neue Regierung schon unerhört fleißig gewesen. Sie hatte in wenigen Wochen rund 460 Sondergesetze erlassen. Die obigen Paragraphen der Weimarer Verfassung regelten nunmehr das Versammlungsrecht, das Presserecht, Brief- und Fernmelderecht neu, d. h., seit dem 28. Februar befanden sich ungezählte Deutsche auf der Flucht, nicht nur KPD-Leute. Die Kommunistische Partei befand sich vollständig in der Illegalität und konnte zur ersten Sitzung des neuen Reichstages am 21. März in der Garnisonkirche zu Potsdam, wie selbstverständlich zu den Beratungen die errungenen Mandate nicht wahrnehmen.

Bei den Märzwahlen 1933 hatte die KPD immerhin 81 Mandate errungen, die NSDAP 288 und die SPD 120; sie war die viertstärkste Partei im Reichstag, denn Zentrum und Bayrische Volkspartei verfügten über 92 Sitze.

Völlig unvorbereitet war die Parteileitung der KPD nicht; das ZK richtete Appelle an die SPD, die noch nicht ausgeschaltet war, schlug vor, Selbstschutzgruppen zu bilden, gemeinsame Massendemonstrationen zu veranstalten, usf. Sie wollte auch die Agitation gegen die Sozialdemokratie mindestens zeitweilig zurückstellen; allein das alles kam zu spät. Die führenden KP-Funktionäre befanden sich außer Landes und in Sicherheit.

Wie aber sollte die politische Arbeit weitergehen? Mitte Mai 1933 bildeten Wilhelm Pieck, Franz Dahlem und Wilhelm Florin eine sogenannte Auslandsleitung der KPD, die von Paris aus die Parteitätigkeit lenken sollte. Ein Kuriersystem sollte den Kontakt zwischen den einzelnen Splitterführungen im Ausland aufrechterhalten. Aber es gab auch noch eine illegale Inlandsleitung unter Ulbricht, Schehr, Schubert und Schulte. Die Partei verschwand nicht von einem auf den anderen Tag. Bis zum Juni verhaftete die politische Polizei 17 von 22 Bezirksleitungen in Gänze, wenigstens nach eigenen Angaben. Polizei war noch immer Ländersache; politische Polizeiorganisationen laut Weimarer Verfassung nicht erlaubt. Erst allmählich errichteten die Länder ihre eigenen Sonderdienste, in Preußen und Bayern entstanden die ersten Strukturen der Geheimen Staatspolizei. Gesetzgeberisch hatte es die neue Regierung eilig; im Juni 1933 erließ sie eine Gesetz, das die Neugründung von politischen Parteien vollständig verbot. Die zentrale Führung der KPD hatte sich mit Ausnahme Thälmanns ab Oktober mit einigen Umwegen über Paris und Prag auf dem Marsch nach Moskau gemacht, als dem vermeintlich sichersten Aufenthaltsort für die allernächste Zukunft. Ulbricht übersiedelte wie erwähnt zunächst nach Paris, und nahm als Mitglied des Politbüros eine halblegale Tätigkeit auf. Die Verhältnisse in Frankreich ließen verschiedene Varianten zu. Allein die Novembertagung der Komintern, auf der die meisten Sektionen vertreten waren, die ihr angehörten, mußte seinen Mitgliedern empfehlen, die gesamte bisherige Massenarbeit kritisch zu überprüfen. Die Niederlage war offenkundig. (XIII. Tagung des EKKI in Moskau vom 28. November bis 12. Dezember 1933)

Merker war zu diesem Zeitpunkt noch oder schon wieder in Moskau. Zeit, seine im Gefolge von Losowski begangenen Abweichungen von der Parteilinie zu ahnden, war anscheinend nicht, angesichts der katastrophalen Lage in Deutschland, er ließ sich, wie erwähnt, zur illegalen Arbeit nach Deutschland schicken, blieb bis 1935 und kehrte nach Moskau zurück. Die im Oktober des gleichen Jahres einberufenen Parteikonferenz, die sogenannte Brüsseler, die allerdings bei Moskau tagte, wählte Paul Merker erneut zum Mitglied des ZK, dem nebenbei bemerkt auch Herbert Wehner angehörte, und ins Politbüro. Innerhalb von fünf Jahren war Merker die Rückkehr in sein altes Amt geglückt. In Moskau blieb er nicht; zusammen mit Walter Ulbricht und Franz Dahlem ging er nach Prag, später nach Paris. Längs der Grenze zur Tschechoslowakei war ein dichtes Netz von kommunistischen Stützpunkten und Relais und Auffangstationen entstanden. In Prag residierte nicht nur der kommunistische Widerstand. Auch die SPD leitete von Prag aus ihre Agitation ins »Reich«. Als wichtigster von allen auf der Brüsseler Konferenz gefaßten Beschlüsse gilt die Abkehr von der bisherigen Politik der Konfrontation zur SPD, die Einheitsfront stand auf der Tagesordnung. Daneben trug die Brüsseler Konferenz wohl auch der Tatsache Rechnung, daß die Masse der Wählerstimmen, die sie bei den letzten Wahlen in Deutschland vor der Berufung Hitlers verloren hatte, offenbar aus Arbeiterkreisen, also ihrem wichtigsten Wählerpotential, gekommen sein mußten. So etwas wie Wählerwanderungsanalysen gab es zwar noch nicht, aber die Zahlen sprachen für sich. Im November 1932 war das Ergebnis der Reichstagswahlen den Märzwahlen von 1933 schon recht ähnlich gewesen; man hätte etwas merken können. Die Parole »Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft« war an der Bereitschaft der »Arbeiterklasse«, es genau mit jenen Faschisten zu versuchen, vorbeigegangen. Immerhin hatte die KPD beinahe siebzehn Prozent und 100 Mandate errungen. Die SPD zog mit 121 Abgeordneten in den Reichstag ein, aber die NSDAP erzielte beinahe das Doppelte der KPD-Stimmen. Die Gegnerschaft der KP zu den Sozialdemokraten, wie sie sich aus der Geschichte der Sozialdemokratie heraus erklärt, hatte den Alltag des Klassenkampfe länger bestimmt, als sachliches Nachforschen der Gründe für den Aufstieg Hitlers und der Abkehr der Massen von den sozialistischen Parteien. Auch die Sozialdemokratie feierte längst keine Siege mehr, trotz ihrer fabelhaften Kompromißbereitschaft.

Die Jahre 1934 und 1935 waren politisch die bislang erfolgreichsten für Hitlerdeutschland; seit dem Sommer 1933 waren alle politischen Parteien aufgelöst. Eine zusammengefaßte Opposition gegen das Regime ließ sich nicht ausmachen. Die beiden großen Arbeiterparteien agierten im Ausland. Reichspräsident wurde der Führer im Todesjahr Hindenburgs, 1934, und zugleich Oberbefehlshaber der Reichswehr; 1935 brachte die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, unter Bruch des Versailler Vertrages, von den beiden zerstrittenen europäischen Vertragsmächten England und Frankreich stillschweigend hingenommen. Die deutschen Länder waren »gleichgeschaltet«, so der offizielle Terminus. Der Parteitag 1935 beschloß die »Nürnberger Rassegesetze«; es gab weit und breit keinen ernst zu nehmenden politischen Gegner im Dritten Reich. Innenpolitisch war infolge des raschen Abbaus der Arbeitslosigkeit Zündstoff genommen; in Deutschlands Arbeiterklasse herrschten Erwartungen und Zukunftshoffnungen, Selbstbewußtsein und Optimismus. Und im Ausland? Die zahlreichen düsteren Berichte aus den K-Lagern entflohener fanden wenig Gehör; ein beruhigtes Deutschland schien den Garantiemächten nach den Jahren der Gärung und Instabilität leichter zu lenken.

In Frankreich lebten zahlreiche prominente Emigranten, wie der 1933 von seinem akademischen Amt unter Druck zurückgetretene Heinrich Mann. Es wimmelte von liberalen Intellektuellen der Linken wie der bürgerlich-radikalen Demokraten. Nur in Frankreich gab es auch eine wachsende Anzahl Sympathisanten, einmal des italienischen Faschismus, zum anderen des Nationalsozialismus. Der Putsch spanischer faschistisch-falangistischer Generäle gegen die spanische Republik der Volksfront zeigte an, wohin die Reise ging, in den europäischen Bürgerkrieg, der als unausweichlich empfundenen Auseinandersetzung der »Systeme«. Der in Spanien aufflammende Bürgerkrieg rief die Emigranten zu den Waffen; hier endlich bot sich die Gelegenheit zur politischen wie zur persönlichen Abrechnung mit den Nazis. Die spanischen Interbrigaden wurden zusammen mit den Truppen der spanischen Republik geschlagen; es war die zweite Niederlage der Linken innerhalb eines Jahrzehntes. Die Reste der aufgeriebenen Interbrigaden flüchteten über die Pyrenäen in die Internierungslager Frankreichs, und suchten jahrelang Aufnahmeländer.

Zwischen Walter Ulbricht und Heinrich Mann war es zu einem Zerwürfnis gekommen. Merker, der Ulbrichts Aufgaben übernommen hatte, gelang es auch, den berühmten Emigranten, einer der bedeutenden Figuren des intellektuellen Widerstandes zur weiteren Zusammenarbeit zu bewegen. Der Kriegsausbruch im September 1939, dem der Abschluß des Deutsch-Sowjetischen Paktes vorangegangen war, veränderte die politische Lage mit einem Schlage. Angesichts der historischen Bearbeitungsprodukte ist es für den zu spät geborenen kaum noch möglich, sich ein Bild von der tatsächlichen Lage des europäischen Durchschnittsbürgers von 1939 zu machen. Die schlimmsten Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise waren allmählich beseitigt worden, unterschiedlich, je nach Region und Staat und entsprechend den traditionellen Lebensstandards. Es herrschten weithin Zukunftshoffnungen, und nicht nur in Deutschland. Selbst das am furchtbarsten gebeutelte Amerika begann sich wirtschaftlich zu erholen. Schlechte Zeiten für Katastrophenpropheten. Im Übrigen hatte sich der Lebensstandard verglichen mit dem Vorkriegsstand deutlich gehoben; die Staaten Hitlers und Mussolinis hatten allen etwas gebracht, der großen Mehrheit, die verbesserten sozialen Ausstattungen der jungen- oder Kleinfamilien, das bezahlbare Auto war in Sichtweite des sozialen Horizontes gerückt, die Touristenreise, damals von der Organisation »Kraft-durch-Freude« organisiert, kurz, der Hitlerstaat hatte eine Entwicklung vorweggenommen, das moderne, eigentlich unpolitische Leben, wie wir es heute durchgebildet beobachten erzeugt, falls wir vergleichen und vergessen wollen. (Sebastian Haffner spricht zwar davon, daß Hitler den Staat zerstört habe, er definiert aber nicht genauer, was er unter Staat versteht. Die angelsächsische Demokratie ist unpolitisch und pragmatisch, sie kommt ohne gesellschaftliche Visionen aus, ohne Utopien, sie braucht den Staat als Verwaltungsmaschine, nicht zur Entwicklung von gesellschaftlichen Ideen. Und es klang wie ein Seufzer der Erleichterung, als 1990 das Scheitern der kommunistischen Idee an der gesellschaftlichen Praxis die Überlegung initiierte, daß nun endlich das Zeitalter.) XXX Unter diesen Umständen war es schwer, von außen auf die deutschen Verhältnisse einzuwirken.

Mit Kriegsausbruch und dem raschen Sieg der Wehrmacht über Frankreich trat für Merker eine entscheidende Wende ein: Anstatt beizeiten in die Sowjetunion zurückzukehren, blieb er. Zog er die Flucht in das unbesetzte Frankreich vor? Frankreich behielt infolge seiner Kapitulation das Hoheitsrecht südlich einer Demarkationslinie bis ans Mittelmeer. Ehe die Wehrmacht einen Fuß auf das Pariser Pflaster gesetzt hatte, begann also eine Massenflucht aller derjenigen die sich unter deutscher Besatzungsherrschaft nicht sicher fühlen durften, d. h., alle deutschen politischen Emigranten, aber auch eine bedeutende Anzahl aus Deutschland und Österreich nach Frankreich geflüchteter Juden. In der ersten Septemberwoche 1939 hatte die Regierung Frankreichs erste Schritte zur inneren Sicherheit unternommen und alle männlichen Emigranten aus Deutschland oder den von Deutschland inzwischen besetzten und annektierten Gebieten interniert, darunter die Leitung des Auslandsbüros der KPD, Paul Merker, Johannes Rau, Franz Dahlem, Siegfried Rädel, Heinz Renner und einige Frauen, wie Hilde Maddalena und Cläre Muth. Um 30 Tsd. wurden inhaftiert oder interniert. Ulbricht befand sich in Moskau; auch Anton Ackermann, der zusammen mit Merker und Dahlem in der Auslandsleitung in Paris zur Zeit des Deutsch-Sowjetischen Abkommens tätig war, hatte die NKWD-Schleuse genutzt, um in die Sowjetunion zu entkommen. Merker wartete in einem Internierungslager auf ein ungewisses Schicksal. Während des August 1939 hatten Briten und Franzosen mit Moskau ebenfalls über einen Militärpakt verhandelt. Den Westmächten war die Gefahr bewusst geworden, die ihnen von der Fortsetzung der Politik des Disappeasements gegenüber Hitlerdeutschland drohen könnte.

Die Gebietsansprüche Hitlers waren bislang von den Vertragsmächten nach einiger Ziererei akzeptiert worden; selbst die Besetzung und den Anschluß Österreichs an das Reich, bei dem es nicht mit rechten Dingen zugegangen war, hatten weder eine protestierende Demarche, noch irgendeine Gegenaktion zur Folge gehabt. Mit dem Abschluß des »Müncheners Abkommens« glaubte der britische Premier gar ein Friedenszeichen gesetzt zu haben. Selbst die Besetzung der Resttschechoslowakei, unter dramatischen Begleitumständen erpresst, löste keine Gegenmaßnahme aus. Blieb die Danzigfrage, als unwiderruflich letzter Anspruch des Reiches.

Die »Völkerbundstadt« Danzig, die zwar schon längst nationalsozialistisch regiert wurde, aber Mandatsgebiet mit einem Völkerbundkommissar als Aufseher geblieben war, sowie einer Reihe von polnischen Hoheitsrechten auf dem Gebiet der Stadt und dem Hafen, sollte nun endlich durch ein Sonderabkommen zwischen dem Westen und Polen vor einer Annektion bewahrt bleiben. Allein im August 1939 war alles noch in der Schwebe. Mit Spannung beobachteten die Emigranten, zumal das Auslandsbüro der Kommunistischen Partei in Paris, die Entwicklung; praktisch verhandelte jeder mit jedem. Ging die eine Delegation, betrat die andere den Versammlungsraum; von Moskau schien wieder einmal das europäische weit abhängig zu sein. Daß die beiden großen europäischen Westmächte überhaupt eine Annäherung an die Sowjetunion in Erwägung zogen, daß ein Bündnis mit dem Sowjetstaat, der vor zwei Jahrzehnten erbarmungslos bekämpft wurde, denkbar geworden war, zeigte an, was die Stunde geschlagen hatte. In diesem Falle wurde lange verhandelt, dieses Mal waren es die Russen, denen in der Diplomatie die langsamste Gangart nachgesagt wird, die auf einen schnellen Abschluß drängten. Im Übrigen lag der Entwurf eines langfristigen Handelsabkommen mit Deutschland auf dem Tisch.

Ein Schutz- und Trutzabkommen zwischen dem Westen und dem Osten kam wie bekannt nicht zustande. Statt dessen überraschten Hitler und der Generalissimus Stalin die Welt mit einem Bündnisabschluß: Dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, geschlossen am 23. August 1939. Die Wirkung dieses spektakulären Vertrages, den die Welt noch nicht einmal vollständig kennenlernte, war ungeheuer. Praktisch beseitigte er alle Hindernisse auf dem Weg in den Krieg mit Polen. Das wurde auch allen Ortes begriffen; schleunigst regulierten sich die Vertragsbeziehungen. Noch schlimmer wurde das kommunistische Lager von dieser Friedensbotschaft getroffen. Allen KP-Anhängern und Sympathisanten, allen Kominternleuten hatte die Sowjetunion als der Hort der Wahrheit und der Zuversicht gegolten. Am letzten Tage, wenn die bewaffnete Auseinandersetzung mit dem Faschismus anbrach, dann stand die Sowjetunion sicherlich siegreich für die Weltrevolution. Dieses Bündnis, allzu absurd, zu unnatürlich, nach allem, was sich bis 1939 zwischen den Protagonisten beider Glaubensrichtungen abgespielt hatte, schlug wie eine Bombe ein. Hunderttausende auf der Flucht, in den Konzentrationslagern, nach einem runden Anderthalbjahrzehnt, standen vor dem Nichts.

Auf die Westemigranten war die Wirkung des Vertrages am verheerendsten; sie sahen keinen Ausweg, sollte die Weltpolitik von diesem Abkommen das nächste Jahrzehnt bestimmt werden. Auch die Kontakte brachen ab, es gab keine Erklärungen für diesen hellen Wahn. Auch in Deutschland löste der Pakt einen politischen Erdrutsch aus. Die in der Illegalität des Auslandes verschwundenen hatten immerhin noch alle Hilfe von der Sowjetunion erwarten können. Das Abkommen teilte die Welt in Lager; das eine hielt den Pragmatismus beider vertragschließenden Seiten, der sich in dem Abkommen aussprach für in sich logisch und akzeptierte das Unverständliche daran als unvermeidlich, überredete sich gewissermaßen selber, zum blinden Glauben. Die Sowjetunion habe sich auf Grund des Paktes einer Atempause versichert, da ihre eigene Rüstung der waffentechnisch überlegenen Wehrmacht nicht standhalten könne. Nicht zuletzt hatte die Niederlage der Roten Armee in Sowjetisch-Finnischen Krieg die Auffassung genährt, die UdSSR verfüge nicht über das militärische Potential zu einem Waffengang mit einer hochmodern gerüsteten Wehrmacht. Folgt man diesem Argument, dann muß man allerdings auch der Logik Hitlers folgen, daß die rasche Nachrüstung der anderen Staaten die derzeitige Waffenüberlegenheit der Wehrmacht alsbald zunichtemachen, und ein baldiger Angriff geboten und also auch die beste Verteidigung sein werde.

Paul Merker, der sich in der Auslandsleitung heftig gegen diesen Pakt aussprach, wie wir aus berufenem Munde, von Anton Ackermann, genauer wissen, folgte anscheinend keiner der verrenkend sachlichen Begründungen. Er glaubte, daß die gesamte kommunistische Bewegung im Ausland wie in der Illegalität, daß alle Länder, in denen kommunistische Parteien der Verfolgung ausgesetzt waren, durch diesen Abschluß um Jahre, wenn nicht um Jahrzehnte zurückgeworfen würden. Sein Gefühlsausbruch bei der entsprechenden Sitzung der Auslandsleitung fiel spontaner aus, als er nach seiner Erfahrung mit den Moskauer Eigenheiten hätte sein dürfen. Was sich bei der fraglichen Beratung in der Auslandsleitung wirklich abgespielt, darüber sind die Aussagen widersprüchlich, wenigstens was die Form betrifft, in der Merker seine Meinung zum Bündnis geäußert haben mag. Es entsprach wohl kaum seinem Temperament, sich vehement auszudrücken, wie es Ackermann empfand. Merker mußte klar sein, daß mindestens einer unter seinen getreuen Genossen Geheimberichte über andere verfaßte, gemäß dem Prinzip der Leninschen Partei Neuen Typus und der gegenseitigen Kontrolle, sich gegenseitig besser nicht über den Weg zu trauen.

Gleichviel wie weit Merker in seiner Kritik damals gegangen sein mag; er tat etwas für seine Funktion Erstaunliches. In der Folge, das heißt, nach dem raschen Verlauf des Polenfeldzuges und dem erklärten Kriegszustand zwischen Frankreich und Deutschland hätte er doch wohl alles daransetzen sollen, über irgendeinen Weg in die Sowjetunion zu kommen, wenn er schon nicht von der Parteiführung zurückgerufen wurde. Er zog den Weg ins französische Internierungslager vor. War es eine Äußerung seines freien Willens? Oder zwangen ihn die Umstände ins französische Lager? Niemand konnte vorhersehen wie der Krieg weitergehen würde. An einen so schnellen Sieg, an »den komischen Krieg« mit dem bekannten Resultat wie er von französischer Seite geführt wurde mag in den Tagen vor Beginn der Kampfhandlungen keiner geglaubt haben. Abermals brachen Tausende auf, um ihre Haut vor den deutschen Landsleuten zu retten.

Die unmittelbaren Folgen des Bündnisses lassen Merkers Reaktion - nehmen wir an, es war zu einem unbeherrschten Auftritt gekommen - als gerechtfertigt erscheinen. Man wartet in Paris ab, wie sich die Moskauer Leitung der deutschen Emigranten verhalten würde. Sie mußte eine Stellung dazu beziehen. Am 23. war der deutsch-sowjetische Pakt geschlossen worden; bereits zwei Tage später, am 25. August, erließ das ZK der KPD ein zustimmendes Papier hinausgehen; es war also beinahe schneller als die weltweite Publikation des Vertragswerkes. (Es (das ZK) appelliert an die Arbeiterklasse und an das ganze deutsche Volk, die Friedenspolitik der Sowjetunion zu unterstützen, für die Einhaltung des Vertrages einzutreten, sich mit den vom faschistischen deutschen Imperialismus bedrohten Völkern zu solidarisieren und gegen die Rüstung zu kämpfen. Siehe Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Chronik Teil II. Von 1917 bis 1945. Dietz Verlags Berlin 1966. Seite 401/402. Es ist dies ein ganz erstaunliches Werk, ein Schulbeispiel für die nachträgliche Korrektur eines verbindlichen Bibelkanons. Was man daraus lernt, ist allem historischen Zeitgeist zu misstrauen.)

Fünf, bzw. sechs Tage später begann der »Zweite Weltkrieg«. Innerhalb von zwei Tagen hatte sich alles in Europa, und nicht nur in Osteuropa, von Grund auf verändert. Am 17. September, als die Überlegenheit der Wehrmacht schlagend deutlich geworden war und die Kapitulation Polens nahe bevorstand, besetzte die »Rote Armee« die Westukraine und Westbelorußland, am 19. kapitulierte das militärisch geschlagene Polen.

Merkers Übersiedlung nach Mexiko, allerdings erst im Jahre 1942, war einem Manne zu danken, der vielen geholfen hat, dem Mexikanischen Generalkonsul in Marseille Gilberto Bosques. Bosques, 1892 geboren, hatte an der mexikanischen Revolution 1910 bis 1917 aktiv teilgenommen. Der mexikanische Präsident jener Jahre, Lazaro Cárdenas, zählte zu den Freunden Gilbertos. Und das kleine, alles andere als reiche mittelamerikanische Land, erwies sich als einer der wenigen Staaten, die großzügig und unbürokratisch die Flüchtlinge aller Lager aus dem eng gewordenen Europa aufnahmen, die um Hilfe baten. Denn der Mehrheit dieser Refugés war nach dem Sieg der Wehrmacht in Frankreich nur die westliche Hemisphäre als Fluchtraum geblieben, nach der Aufteilung Polens zwischen den beiden Paktmächten, der Annexion der Baltenstaaten und den Unsicherheiten auf dem Balkan. Die westeuropäischen Staaten haben inzwischen gelernt, welche Aufwände erforderlich sind, um größere Flüchtlingsmassen dauerhaft aufzunehmen, unterzubringen und sozial zu versorgen. Unter den damaligen Verkehrsbedingungen, wo zudem noch an allen Enden der Welt die Grenzen streng bewacht, wurden und wo dem gefangenen Flüchtling ein ungewisses Lagerschicksal drohte, war die Flucht besonders erschwert.

Bosques hatte verschiedene Ämter innegehabt, ehe er in Marseille zum Generalkonsul ernannt wurde; unter anderem war er Sekretär der Revolutionspartei, »Partido Revolución Mexicana« und dazu ein prominentes Mitglied der anti-hitlerischen »Liga Pro-Cultura Alemana en Mexico«. Er hatte den Spanischen Bürgerkrieg unterstützt, war also das, was man einen Antifaschisten nennt. Mit Sondervollmachten ausgestattet, schickte der mexikanische Präsident seinen Vertrauten Bosques als Konsul nach Frankreich, und ernannte ihn später zum Generalkonsul. Unter seiner Leitung entwickelte sich das Generalkonsulat in Marseille zu einer Zentrale besonderer Art. In ihm arbeiteten nicht nur Mexikaner, sondern auch Angehörige europäischer Nationen, zuletzt beschäftigte das Konsulat elf bestallte Beamte und an dreißig Hilfskräfte. Ursprünglich hatte die Hilfe den spanischen Interbrigadisten gelten sollen, die nach der Niederlage in französischen Internierungslagern dahin vegetierten, und deren Schicksal von mancherlei staatlicher Willkür abhing. Schließlich aber wurden auch Aufnahmegesuche von Flüchtlingen im Generalkonsulat angenommen und bearbeitet, die nicht in Spanien gekämpft hatten. Das hatte sich in letzter Konsequenz aus der Entwicklung heraus ergeben. Mexiko gehörte nicht zu den kriegführenden Staaten, und die Wehrmacht, die sich auf Grund des Waffenstillstandsvertrages zwischen Deutschland und Frankreich vom 22. Juni 1940 auf eine Linie nördlich von Paris mit Einschluß der Hauptstadt bis zum Atlantik beschränkt hatte, blieb mitsamt den polizeilichen Kräften und der Gestapo vorerst ohne größeren und sichtlichen Einfluß auf die freie Zone, in der die Vichy-Regierung Teilautonomie ausübte. Zwei Drittel Frankreichs waren freilich besetzt. Franz Dahlem, der Leiter des Auslandsbüros der KPD, befand sich seit August 1940 in einem Speziallager für Internierte seiner Kategorie in »Le Vernet«, aber wenigstens in der französisch kontrollierten Zone. In Toulouse bildete sich eine neue illegale Leitung, unter anderem von Alexander Abusch und Albert Norden repräsentiert. Nun existierte zwischen den beiden vertragschließenden Staaten, Deutschland und Frankreich, ein Protokoll, demzufolge Frankreich alle von Deutschland gesuchten Personen auszuliefern hatte, es war eine lange Liste. Wer sich in das Lager Le Vernet gerettet hatte, oder wer einen einigermaßen sicheren Fluchthafen darin gesehen, dem drohte die Auslieferung französischer Behörden an Deutsche Dienststellen, der Gestapo. Für die weniger exponierten, also die nicht auf der Liste Auszuliefernder standen, war der Weg aus irgendeinem der Internierungslager nach Marseille ins mexikanische Generalkonsulat möglich gewesen, um Anträge zu stellen und die eigenen Verhältnisse darzulegen; denn daß Mexiko eine Fluchtchance bot, Europa in Richtung Amerika zu verlassen, wußten diese Frankreichflüchtlinge natürlich. Das Einreisevisum für Mexiko in der Tasche, mußte der »Ausreisewillige« das oder die Transvisa erwerben, die ihn zu einem neutralen Hafen leiteten, von dem aus die Abreise nach Mexiko überhaupt noch möglich war. Von Marseille aus gab es keinen direkten Schiffsverkehr mehr nach Mexiko. Es war also nicht nur schwierig, sich in den Besitz der entsprechenden Papiere zu setzen, es wäre fast unmöglich gewesen die Transvisa zu erwerben, zum richtigen Zeitpunkt die Schiffsreise zu buchen und entsprechend anzukommen, wenn man in seiner Bewegungsfreiheit durch die Internierung eingeschränkt war, ohne unbürokratische Schlupflöcher.

Die Internierten wie die Untergetauchten mußten überdies versorgt werden. Inzwischen hatte sich in der freien Zone eine Anzahl Hilfsorganisationen gebildet, die auf Antrag hin Unterstützungen gewährten. Wir werden noch darauf zu sprechen kommen. (»Etwa 6.000 Flüchtlingen in Frankreich verhalfen wir nach Mexiko. Weitere 4.000 bekamen zwar das mexikanische Visum, blieben aber in den USA und anderswo hängen. Anderen, wie Franz Dahlem und Siegfried Rädel, vermochten wir zwar nicht endgültig zu helfen, und wieder andere wollten gar nicht nach Mexiko, sondern nur unsere Hilfe. Manche nutzten die von uns ausgestellten Papiere, um aus den Lagern herauszukommen und sich der Résistance anzuschließen. Sie brauchten die Dokumente, um sich legitimieren zu können.« Gilberto Bosques. Kießling. Partner im Narrenparadies. Seite 222) In einer besonders problematischen Lage befanden sich die Flüchtlinge, die gar keine oder eine falsche Legitimation besaßen. Paul Merker lebte illegal in Marseilles; er hatte es vorgezogen, nicht ins Lager zurückzukehren, in das er zunächst eingewiesen worden war. Er bewies häufig einen gesunden Instinkt für längerfristige Gefahren. Nun mußte er, der nach Mexiko wollte, den üblichen Weg gehen, persönliche Papiere bei der französischen Behörde vorlegen, also seine Identität nach- oder beweisen, das Ausreisevisum beantragen, um die Einreise für Mexiko beantragen zu können. Das Unternehmen ließ sich zunächst gut an. Die französische Beamtin, die für seinen Fall zuständig war, sollte eine Sympathisantin mit Leuten seiner Art und ein illegales Mitglied der französischen (gaullistischen) Widerstandsbewegung sein. Aber ihr waren die Hände gebunden, wie sie nach einem Blick in die Papiere des Flüchtlings verlauten ließ. Hat Merker angenommen, daß sein Name auf der Liste der von Deutschland verlangten Personen fehlte? War es nur ein Versuch, mit wieviel Hilfe er rechnen durfte, wie weit die gaullistische Agentin bereit war sich seinetwegen zu gefährden? Er machte sich wahrscheinlich selbst klar, was ihm drohte, wenn er die erforderlichen Aus-, Transit- und Einreisevermerke auf seine wirkliche Identität hin bekommen hätte. So töricht, den französischen Kollaborateuren diese heiklen Aus- und Einreiseprozeduren in eigner Regie zu überlassen, war die Gestapo nicht.

Wahrscheinlich oder sogar sicher hatte Paul Merker in seinem illegalen Dasein öfter als einmal mit einem geborgten Namen gelebt; neu waren ihm dieses Umstände des Untergrundes also nicht. Es gehörte zum Einmaleins des Illegalen, seine Identität zu verschleiern. Und ebenso gut wußte Bosques, mit wem er es zu tun hatte, wer da unter seinem richtigen Namen Paul Merker zwar im Besitz des mexikanischen Einreisevisums war, aber unter diesem Namen niemals die Ausreise durch eine französische Behörde genehmigt bekommen würde. Bosques berichtete später, was er und Merker in einem Vieraugengespräch als Ausweg vereinbart hatten. Am 6. Februar 1942 bekam der Kaufmann Sigmund Ascher alias Paul Merker, staatenlos, in Lemberg gebürtig und vormals österreichischer Staatsbürger einen Pass mit dem mexikanischen Sichtvermerk. Zuvor war sein Konterfei ein wenig verändert worden. Von der französischen gaullistischen Beamtin, welche die Ausreise unter dem Namen Merker zuvor pflichtschuldig und logischerweise verweigert hatte, kamen nunmehr keine Hindernisse. Sie genehmigte die Ausreise des Kaufmanns Ascher, gegen den ja nichts vorlag. Die Überprüfung seiner Identität oblag nicht ihren Pflichten. Im Mai 1942 konnte Merker Marseille mit einem Schiff in Richtung Oran verlassen, ausgestattet mit zwei Pässen, einem echten und einem falschen. Er reiste als Ascher weiter nach Casablanca, wo er den Klavierspieler und Ingrid Bergmann hätte treffen können, nebst einigen anderen Wohltätern, kam im Juni mit dem Dampfer »Guinea« in Veracruz, Mexiko, an und ging als Paul Merker von Bord. Er war in Sicherheit, und zwar als Paul Merker; der zweite Paß auf den Namen Ascher hatte ausgedient und das in seine Verläßlichkeit gesetzte Vertrauen erfüllt.

Dem mexikanischen Generalkonsul erging es schlechter. Daß seine umfangreichen Rettungsaktionen von der Gestapo unbemerkt geblieben wären, hätte er selbst kaum erwarten dürfen. Was Bosques getan, barg für ihn und seine Familie ein hohes Risiko. Im November 1942 war es mit der Teilautonomie des Vichy-Regimes vorbei. Die Wehrmacht besetzte die unbesetzte Zone. Ein Sonderkommando drang in die Mexikanische Botschaft ein, beschlagnahmte Papiere und Geld, einen Betrag von rund 700 Dollar, und erbeutete den mexikanischen Chiffriercode. Bosques, seine Angehörigen und die Mehrzahl seiner Mitarbeiter wurden in dem Pyrenäenort Mont-Dore interniert. Das Hotel, das ihnen als Aufenthalt diente, wurde von Gestapobeamten überwacht, eine Gruppe von acht Personen schließlich an Deutschland ausgeliefert und nach Bad Godesberg ins »Rheinhotel Dreesen« gebracht, übrigens einem Lieblingshotel des Führers, wenn er sich in der Rheingegend aufhielt. Der Schlußakt spielte auf der Mole von Lissabon, 1944. Die Gefangenen wurden ausgetauscht und reisten auf einem schwedischen Schiff in Richtung New York, und zwar auf einer festgelegten Schiffsroute, um nicht ein Opfer des totalen U-Bootkrieges zu werden. Die in diesem Lebensabschnitt mit Merker in Kontakt stehenden Personen sollten noch einmal, und gar nicht so viel später, eine verhängnisvolle, eine beinahe tödliche Rolle im Leben Merkers spielen. Franz Dahlem und Räder, Rau und andere wurden gefangen, ausgeliefert und in deutsche Lager verschleppt. Räder wurde hingerichtet.

Die Masse prominenter KP-Funktionäre hielt sich in der Sowjetunion auf, hauste meist in dem berühmten Hotel Flur an Flur und wartete auf den Tag der Heimkehr, also dem Ende des »Dritten Reiches«, das auf der Höhe seiner Macht und territorialen Ausdehnung stand, einem Prozeß unter der Beschuldigung des Sozialdemokratismus, Opportunismus, des blanken Verrates an den »Klassenfeind«, oder der formlosen Deportation ins Todeslager. Heutige Berechnungen laufen auf eine Zahl von vier Millionen wegen konterrevolutionärer Umtriebe in der damaligen Sowjetunion Ermordeter hinaus; von den deutschen kommunistischen Exilanten sollen zwischen 1930 und 1940 sechzig bis siebzig Prozent ums Leben gekommen sein. Sie starben durch Genickschuß oder verkamen in einem der mörderischen sibirischen Lager. Was uns heute daran verrückt anmutet, ist daß die Genossen aller Nationen und Erdteile um den Paroxysmus wußten, ihn nicht nur duldeten und guthießen, sondern sich im Einzelfalle geradezu in Denunziationen übten. Um auf unseren Helden zu kommen, es ist schlechterdings unmöglich, daß ein Mitglied des Politbüros wie Paul Merker keine Kenntnis von diesen Vorgängen gehabt hat, die in der westlichen Öffentlichkeit offen debattiert und in der östlichen wie eine Geheimlehre behandelt wurden. Ihm selbst hatte die Inquisition immerhin einmal die Instrumente gezeigt. Die selbstlose Gemeinheit, als Klassentreue ausgegeben, mit der sich Genossen in Parteiversammlungen in verbaler Selbstbeschuldigung dem sicheren Tode auslieferten, vielleicht in Ekel und Selbsthaß, die Angst, und die bis zur Perversion getriebene Preisgabe alles dessen, was ihnen einst als Kulturerbe teuer gewesen, das läßt sich womöglich nur aus dem herrschenden Zeitgeist heraus erklären. Revolution war für die Mehrzahl der bewaffnete Kampf, ein unbedenklich geübter Terror, einen Kampf, den sie in den Zwanziger Jahren als Gegenterror erlebt hatten. Um es vorwegzunehmen; sie brachten diese instinktiv-revolutionäre Haltung nach einem langen Exil wieder mit in die Heimat, und sie leugneten den erlebten Terror als feindliche Propaganda oder schwiegen sich einfach aus.

Ein anderes mag mitgewirkt haben; es hatte sich erwiesen, wie viel nach dem Sieg mit Waffen gewonnen worden war und wie wenig. Gewiß hatten es sich die Mitkämpfer um Lenin nicht träumen lassen, daß sie auch den Despotismus eines gestürzten und getöteten Autokraten beerben und den »roten Terror« instrumentalisieren würden. Vielleicht erstarrten viele entsetzt vor dem asiatischen Despotismus, der zu solcher Dimension und Schizophrenie aufgelaufenen Mordmaschine. Und es sind nicht nur die deutschen Kommunisten gewesen, die es traf; diese Mordlust grassierte ganz allgemein. Greifen wir aus der Fülle der Publikationen eine der bekannteren und deshalb stärker interessierenden Opfer heraus. Die als eine der auffallenden Schauspielerpersönlichkeiten der zwanziger Jahre, als Pollydarstellerin und »Silberfüchsin« zum Publikumsliebling gewordenen Carola Neher wurde im Ausland durch den 30. Januar 1933 überrascht. Zusammen mit ihrem damaligem Lebensgefährten Anatol Becker war sie in Wien, als die Nachricht von der Machtübernahme Hitlers durch die Presse ging. Sie beschloß nicht nach Deutschland zurückzukehren und reiste mit Anatol nach Prag. Dort trafen sie Erich Wollenberg, als Trotzkist und Abweichler verfolgt; er eröffnete den beiden eine Verbindung nach Moskau, zu dem Deutschen Hermann Taubenberger und dessen Frau. Anscheinend war für die Wahl des Exils die Sowjetpsychose Beckers maßgebend. Carola wurde mehr mitgezogen, es sollte ihm und ihr schlecht bekommen, sich nicht zuvor über die Leute informiert zu haben, die ihnen halfen. Becker wurde 1936 erschossen, Carola Neher bekam ein Jahr später ihren Prozeß. Sie war Mutter eines Sohnes geworden, das Paar hatte in schwierigen äußeren Verhältnissen gelebt. Die verwöhnte, exzentrische Schauspielerin fand in Moskau keine ihr zusagende Arbeit. Trotzdem zeigt sie sich vom Sozialismus begeistert, verliert ihre deutsche Staatsbürgerschaft. Anatol Becker wurde verhaftet und angeklagt, Stalin und Woroschilow ermorden zu wollen. Taubenberger wurde erschossen, Frau Taubenberger nach Sibirien verschleppt.

Die deutsche Kommission des sowjetischen Schriftstellerverbandes hatte ihr eigenes Verfolgungstribunal gegründet, um Schädlinge aufzuspüren und sie der rächenden sowjetischen Justiz zu überantworten. Dem Tribunal gehören so prominente Leute an, wie Friedrich Wolf, Julius Hay, Willi Bredel, und Schauspieler wie Gustav von Wangenheim. Die Beratungen des Tribunals wurden amtlich vom NKWD abgehört. In einem Protokoll äußerte sich der Schauspielerkollege Wangenheim zur Person Carola Neher. Die Neher wird verhaftet und zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Henschke, Caroline, so ihr bürgerlicher Name, habe, der Urteilsbegründung nach, als Bote zwischen einem in Prag befindlichen trotzkistischen Zentrum und einer konterrevolutionären trotzkistischen Terrororganisation... und so weiter. Carola Neher Henschke stirbt vergessen in der Haft. Wangenheim lief als Schauspieler noch einmal zu warmer Menschlichkeit im sozialistischen Nachkriegsdeutschland auf, er schlief gut, lebte gut, und völlig unbeschwert wie Tausende seiner Gattung. Was hat ihn einst getrieben, einen anderen gegen alles Wissen der Vernichtung preiszugeben? (Wangenheim bezeichnete in dieser Sitzung Carola Neher als »Frau von Scherchen, und wenn ich mich recht erinnere, war sie egalwegs schwanger mit Fehlgeburten«. Anatol Becker nennt er einen »odiosen Spitzel wie er aussieht«. Sie habe ihm von dem »Trotzkisten« Wollenberg »vorgeschwärmt«, habe unter einer »Nervenzerrüttung« gelitten. Dem ganzen »Kreis Piscator, Neher, Busch« gegenüber sei »Wachsamkeit zu üben«...)

Es wird von nutzen sein, sich mit dem Begriff »Sowjetpsychose«, der nun einmal geprägt wurde, etwas näher zu befassen. Die Schwierigkeit, sich in den Denk- und Fühlweisen vergangener Zeitalter zurechtzufinden, liegt nicht im Mangel an Faktenwissen, sondern im anderen Standpunkt des Beobachters. Um es zu verdeutlichen: Mit heutigem Datum (13. Jan. 1999) veröffentlichte eine großen süddeutsche Zeitung als neueste Entdeckung, Hemingway habe während des Krieges in Kuba für den amerikanischen Geheimdienst Spitzeldienste geleistet. Und jüngst brachte das Kulturmagazin des Senders 3sat die außergewöhnliche Entdeckung eines kalifornischen Germanisten, der aus dem Weimarer Archiv die sensationelle Tatsache herausgefischt habe, daß Goethe in seiner Eigenschaft als Mitglied einer Freimaurerloge Berichte über deren geheime Tagungen abfaßte. Abgesehen davon daß dies den deutschen Germanisten seit mehr hundert Jahren bekannt ist und entsprechend publizistisch behandelt worden ist, daß ferner deutsche (und nicht nur deutsche!) Potentaten wie Friedrich II. (Siehe dazu: Die Logen der Freimaurer. Jürgen Holtorf. Wilhelm Heyne Verlag München.) Logenmitglieder gewesen sind, und sich demnach selbst bespitzelt hätten, ein ins Auge fallender Blödsinn; entscheidend sind die Termini, die beide Entdeckungen begleiten: Sie lauten IM Hemingway, IM Goethe. Und so stiftete das untergegangene MfS der untergegangenen DDR der Welt eine Psychose, ein Un-Wort, das zu einer Geschichtsrevision herausfordern soll. Psychosen sind etwas auf nicht persönlich wahrgenommen Beruhendes, sondern auf Hörensagen, und zu den grassierenden Psychosen unseres Zeitalters gehört offenbar der Umgang mit dem Begriff IM, Informeller Mitarbeiter, ungeachtet dessen, daß die Weltgeschichte dann auch aus lauter IM bestanden haben könnte. Sie waren die Quelle der Information. Heydrich faßte den Auftrag des IM (der in der Gestapo nur ein wenig anders hieß) so zusammen: »Wissen muß man’s«. Und das heißt, informiert sein, um ohne umständliche Recherche zugreifen zu können, wenn der Staat in Gefahr ist. Daß es sich um ein höchst gefährliches Gebiet des Staatsschutzes handelt, und daß es in falschen, d. h., verbrecherischen Händen zum Terrorinstrument wird, steht auf einem anderen Blatt. Der IM ist unverzichtbar, siehe die Sammelleidenschaft der UNO-Gesandten im Irak, die ihr Wissen dem amerikanischen Staat dienstbar machten. Entscheidend ist ferner, daß sich die Vorstellung vom Staat als ein hochschutzbedürftiges Gut gewandelt hat. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied. Geheime Nachrichtendienste und Staatsschutzeinrichtungen dürfen keine extremen juristischen Vollmachten außerhalb jeder Kontrolle erhalten, sie sollen keine eigenen Haftanstalten betreiben, und sich kurz gesagt, innerhalb eines rechtlichen Rahmens bewegen. Auch dann sind sie nur schwer zu beaufsichtigen und zu zügeln. Jedenfalls aber gehören sie zur realen Welt, wie auch Paul Merker in seiner Funktion in den USA nicht nur die Zeitungen gelesen hat.

Das Bild von dem Exilland Mexiko 1942 ist verwirrend. Von Mittel- oder Südamerika aus wird, nach allen Vorausberechnungen die Revolution, die soziale und politische Umgestaltung des amerikanischen Kontinents beginnen. Es wimmelt von Emigranten, von Europaflüchtlingen aller Farben und politischen Richtungen. Mexiko bietet ihnen Schutz. Und Mexiko ist das einzige Land Latein- und Südamerikas, das seine politische und kulturelle Emanzipation - mit einem übermächtigen Gegner an der Nordgrenze - abgeschlossen und kulturelle mexikanische Identität behaupten konnte. Für diese erstaunliche Tatsache gibt es sogar einen Begriff: Mexikanität. Das kleine Land besitzt zur Stunde Maler von Weltgeltung. Es ist anzunehmen, daß Merker diese Verhältnisse aus der Ferne gründlich genug studiert hatte, um in Mexiko das Exilland zu sehen, in dem er seine Pläne ins Werk setzten könnte, Pläne, die noch keine volle Gestalt angenommen hatten, alles natürlich auch unter dem Blickwinkel des Zufälligen, denen Exilanten nach Lage der Dinge immer ausgesetzt sind.

Merker arbeitete auf die Zusammenarbeit - oder den Zusammenschluß - der deutschsprachigen Emigranten hin; er gründete eine »Bewegung Freies Deutschland«, analog der Gruppe in sowjetischen Lagern aus kriegsgefangenen deutschen Offizieren und Landsern, bloß nicht mit ihr identisch und ohne Verbindung und Austausch. Er bereitete sich allenthalben auf die Nachkriegsperiode vor, ohne die künftigen politischen Verfassungen der europäischen Staaten, zumal des Nachkriegsdeutschland zu kennen. Seine Kenntnisse vom Norden, von den USA, frischt er im Übrigen auf. Earl Browder war sicherlich der erste Spitzenfunktionär und Mahner aus dem kommunistischen Lager, der die Frage aufwarf, was kommt nach dem Sieg der Antihitlerkoalition? Die Gewehre haben wir verteilt, wie sammeln wir sie wieder ein? Der Bruch des Deutsch-Sowjetischen Bündnisses, der Überfall auf die Sowjetunion, alles, was zum Pakt zwischen dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Osten geführt hatte, würde eines Tages nach dem Sieg über »Nazi-Deutschland« debattiert werden müssen. Hielt dieses Bündnis, hielt die Anti-Hitlerkoalition über den Sieg hinaus? Und wie lange, mit welchem Resultat? Solche Fragestellung traf sich womöglich mit Merkers frühen Überlegungen nach dem Schock, wie er sie im Kreis der Politbüromitglieder in der Pariser Auslandsleitung geäußert oder eben für sich behalten hatte. Übrigens stand diese Frage überall auf der Tagesordnung; sie spielte noch im Führerbunker der Reichskanzlei in den letzten Tagen des Regimes eine Rolle: Fällt die Koalition auseinander, ergeben sich neue Aspekte? Drehen die Westalliierten noch an der Elbe den Spieß um und marschieren sie an der Seite der Wehrmacht gegen den Bolschewismus, ihrem natürlichen Gegner, als unsere ebenso natürlichen Verbündeten? Dies bekam nun in Mexiko eine andere Dimension, als die unmittelbare Einflußnahme durch die Komintern von den Kriegswirren unterbrochen worden war. Merker fühlte sich vielleicht zum selbständigen Handeln bereit, er sah in seiner mexikanischen Bewegung einen Stützpunkt, von dem aus er sein Konzept auf das gesamte Amerika ausdehnen wollte, als einer Alternativbewegung zum Moskauer Zentralismus, mit dem er innerlich längst abgerechnet hatte, ohne sich äußerlich von der Internationale zu lösen und mit der kommunistischen Bewegung zu brechen. Jahre später hat er sich in der Haft, nach endlosen quälenden Verhören und grundlosen Beschuldigungen zu diesem Punkt deutlicher geäußert, daß ein Spitzenmann eben nicht einfach aussteigen kann, ohne alles zu verlieren, äußeres Ansehen und inneren Halt.

Zudem: Im Juni 1942 war Merker angekommen. Die Sowjetunion befand sich in der schwersten Phase des Krieges, und die Komintern war am Reisen gehindert und nur eingeschränkt handlungsfähig. (Der Kriegsbeginn datiert auf den 22. Juni 1941. In den Monat Juni 1942 fällt der Beginn einer Offensive im Südabschnitt an der deutsch-sowjetischen Front, der Vorstoß in die sowjetischen Erdölgebiete, der Wolga und dem Kaukasus.)

Es gab sie faktisch nicht mehr. Im Namen der Komintern handeln aber durften die wichtigsten Führer der kommunistischen Bewegungen der westlichen Hemisphäre: Earl Browder für die Vereinigten Staaten von Amerika, Lafferte für Chile und Blas Roca für Kuba. Sich ihrer Zustimmung zu seiner Bewegung zu versichern, gelang der Beredsamkeit Merkers und seinen logischen Schlußfolgerungen offenbar auf Anhieb. Und sicherlich hatten noch andere Leute ihre Sonderentwürfe im Kopf, nicht eben das »los von Moskau,« aber die politische Selbständigkeit ihrer nationalen kommunistischen Bewegungen, etwas anderes als »Sozialfaschismus«.

Da trat ein Mann an Merkers Seite; der Präsident der »German American Emergency Conference«, einer wichtigen Organisation von Deutschamerikanern, Hitlergegner. Nun hatte dieser Präsident der »Notfallkonferenz« Doktor Rosenfeld einen Geburtsfehler, er litt an »Sozialdemokratismus«. Rosenfeld, Mitbegründer der SAP, »Sozialistische Arbeiterpartei«, war inzwischen längst naturalisierter Amerikaner und ohne eine entschiedene Parteibindung. Er brachte eine zwar zahlenmäßig nicht sehr starke Anhängerschaft mit in die Ehe, falls man sich überhaupt so nahe kam, aber Leute mit Umfeld. Offenbar stand für Paul Merker in dieser Periode die Sammlung aller möglichen Kräfte im Vordergrund. Nicht nur für ihn; nach 1945 schlug sich diese strategische Überlegung in der östlichen Blockbildung nieder, eine in der politischen Wirkung gar nicht hoch genug einzuschätzende, wenn auch vorübergehende Einrichtung, entband sie doch die Einheitspartei von einem kräftezehrenden Kampf mit bürgerlichen Gruppierungen, da sie diese unter ihre Kontrolle gebracht hatte. Gelang es Merker zwar bei den peripheren Personen und Organisationen Hinterhalt zu finden, so scheiterte er an einem anderen Repräsentanten der Exilpolitik, den er übrigens aus der französischen Phase des Exils kannte oder kennen mußte.

Gerhart Eisler residierte als Leiter der KPD für die nordamerikanischen Exilanten in den USA, und er lehnte die Idee einer interamerikanischen eigenständigen Bewegung ab, die Merker vorschlug. Gegen die Person Heinrich Manns als Kopf der neuen Gruppierung, den sich Merker, der Heinrich Mann hoch verehrte, vorstellte, wie er sich umgekehrt der Wertschätzung des Schriftstellers erfreute, dürfte Eisler vielleicht weniger Vorbehalte gehabt haben, als gegen die Vorstellung Merkers selber. Die Gründe seiner Ablehnung erscheinen von heute aus besehen als durchaus logisch; eine deutsche Emigrantenorganisation quer über Amerika hinweg, und zwar mit einem mexikanischen Zentrum und einem dort erscheinenden Zentralorgan, kurz, einer eigenständigen Organisation mit Leitungsstrukturen, Delegierten und Konferenzen, das hielt Eisler für technisch nicht machbar, nicht unter Kriegsbedingungen. Soweit die formellen Einwände. Aber natürlich sah Eisler dahinter auch den politischen Konflikt mit Moskau heraufziehen, hielt es jedoch anscheinend für überflüssig, Merker darauf hinzuweisen. Daß dieser genügend Internkenntnisse besaß, um die Folgen seiner Gründung zu überblicken, konnte Eisler wohl voraussetzen. Das revolutionäre Zentrum der Welt lag für Eisler nach wie vor in Moskau. Ganz unwahrscheinlich ist es auch nicht, daß Merker den Feldzug der Deutschen Wehrmacht für beinahe abgeschlossen, und die UdSSR für besiegt hielt und vor der Kapitulation; in diesem Falle mußte sich der Schwerpunkt des Kampfes gegen Hitlerdeutschland in den westlichen Teil der Welt verlagern. Wie auch immer, zweifellos war die militärische Situation für die Sowjetunion außerordentlich kritisch, und ein kommunistisches Gegenzentrum zu Moskau mit einem variableren Bündnischarakter für einen Kominternkritiker immerhin erwägenswert. Daß sich Merker in einem unausgetragenen Konflikt mit der Komintern befand, beweist sich selbst aus dem Fortgang seiner Sache.

Moskau hegte gleich aus mehreren Gründen aktuell nur noch wenig Sympathie für Mexiko. Seit 1918 gab es eine Mexikanische Kommunistische Partei; ihrem Exekutivkomitee gehörten sehr bekannte und einflußreiche Leute an, die Maler Siqueiros, Diego Rivera und Xavier Guerrero. Siqueiros hatte als Offizier mit der Waffe unter Carranza einst für die mexikanische Revolution gekämpft, er war ein Hitzkopf und in der Wahl seiner Mittel wenig bedenklich. Alle drei Exekutivfunktionäre erfreuten sich nicht nur in Mexiko eines hohen Ansehens; sie besaßen Weltgeltung, auch wenn beispielsweise von Guerrero heute kaum noch jemand etwas außerhalb Mexikos wissen dürfte, und sie waren darin einig, daß den Direktiven der Komintern unbedingt zu gehorchen sei. Für Diego änderte sich diese Liebe zur Sowjetunion nach seiner Bekanntschaft mit den Kunstpraktiken in Moskau, der Weltmetropole des Kommunismus, als er 1927 ein Gebäude der Roten Armee mit einem Bild schmücken sollte. Lunartscharski, als Kunstkommissar mit einem weiten Herzen ausgestattet, hatte Diego eingeladen und mit einem Wandbild beauftragt. Es kam, wie es kommen mußte; der kühne Stil des Mexikaners, die Mexikanität, mißfiel den Kunstdoktrinären, und das selbstbewußte, herrische Auftreten des Mannes Diego mißfiel ihnen noch mehr. So verließ der Maler das kommunistische El Dorado, mit einer Enttäuschung und tiefen Zweifeln im Herzen. Xavier Guerrero blieb zwar bei der Stange der Komintern, hörte dafür aber auf zu malen. Es erscheinen noch einige andere Namen auf der mexikanischen Bühne des Kommunismus, etwa Vidali, von dem noch zu reden sein wird. Als 1924 die theoretische Auseinandersetzung Trotzkis mit Stalin ihren Gipfel in der Frage erreichte, wie weiter mit der Weltrevolution, wobei Trotzki bekanntlich den Standpunkt verfochten hat, die Revolution dauere sozusagen ewig, existiere in Permanenz, sank der Stern des allgewaltigen Kriegskommissars sehr rasch; 1925 verlor er sein Amt, 1926 wurde er aus dem Politbüro, wenig später aus der Partei ausgeschlossen. Vorläufig war Trotzki bloß kaltgestellt. Nun trafen verschiedene Entwicklungen zusammen; sie seien kurz dargestellt, um zu erklären, weshalb Mexiko ein kritischer Posten in der Rechnung zu werden drohte.

In Nicaragua führte Sandino seine Peones und Indios in den Buschkrieg, hatte aber für diese Revolution nicht die Unterstützung der Internationale bekommen können. Kein Guerillakrieg in Lateinamerika, nicht jetzt, lautete die Stellungnahme der Komintern. Indessen war der Krieg schon in vollem Gange, und für die warmblütigen Rebellen Südamerikas gab es keinen ersichtlichen Grund, ihren Kampf einzustellen. Nur, Moskau hatte sich klug herausgehalten; der Aufstand Sandinos in Nicaragua brach schneller als gedacht zusammen, Sandino fiel im Kampf und wurde zum Mythos. Moskau hatte die Lage zutreffender analysiert, als die Pistoleros Lateinamerikas; eine revolutionäre Situation existierte in Nicaragua nicht, nicht einmal eine breitere Aktionsebene für die kommunistische Bewegung. Daß es unter den Landarmen und Agrarproleten, die in furchtbaren sozialen Verhältnissen lebten, gärte, war nichts Neues; daß sie leicht mit einem Gewehr in den Dschungel geschickt werden konnten, lag an ihrem Temperament, an ihrem Stolz und an ihrer Todesverachtung, und an dem Mangel an Übersicht in die politische Gesamtlage. Es existierten noch nicht einmal überall Parteien und Strukturen, auf denen aufzubauen gewesen wäre. Südamerika ging anders mit der Revolution um, als die Komintern empfahl. Genug, im Juni 1930 ging die Partei auf Kominternkurs. »El Machete«, das Zentralorgan der Kommunistischen Partei in Mexiko, bezeichnete den Aufstand Sandinos als Verrat. Woran? An der Weltrevolution, an der kommunistischen Sache.

Trotzki galt in diesem für Moskau etwas abgelegeneren Weltteil, trotz seiner Probleme im Vaterlande der Werktätigen bei vielen Mexikanern als eine Art Sturmvogel der bewaffneten Aktion, als das Markenzeichen für revolutionäre Erhebungen und hochfliegende Träume. Und, bemerkenswert genug, Mexiko befolgte strikt das Gebot aus einer eigenen, anderen, aber erfolgreichen nationalen Revolution, den Verfemten und Verfolgten ein Asyl zu bieten, gleich, was sie dachten und welcher Couleur. Deshalb hatte sich die Regierung und die sie tragende Partei mit der spanischen Republik identifiziert und ihr beigestanden, als diese in Not gekommen war; man sprach eine gemeinsame, die spanische Sprache, berief sich auf eine gemeinsame Kultur, war willens zu einem eigenen Weg. Hier also war Trotzki willkommen; er kam im Januar 1939 im Hafen von Tampico an. Es klingt wie ein Wunder, daß er die Zeit der Moskauer Prozesse überlebte und der Stalinschen Justiz entkommen konnte. Der Maler und Kommunist Diego Riviera nahm ihn vorübergehend in sein Haus auf, gewährte ihm Gastfreundschaft, und der Fürsprache des Malers verdankte es Trotzki auch, daß ihm Präsident Cárdenas Asyl gewährte. Aber der einst so mächtige Mann lebte in Mexiko in dauernder Furcht vor einem bezahlten Killer, einem Kominternagenten. Ständig hielt er sich eine schwer bewaffnete Schutztruppe. Grund genug zur Furcht hatte er; wenn auch Trotzki lebend entkommen war, seine Söhne fielen nacheinander der Rache Stalins zum Opfer.

In der Calle Vienna 45, in einem Vorort Coyoacán, fand der Flüchtling ein ihm zusagendes Quartier, er umgab das Haus mit dicken Mauern, baute es zu einer wahren Festung aus. In der Nacht vom 23. Mai 1940 drangen dennoch etwa zwanzig Mann in diese Burg ein, einer davon war der Glaubensstreiter der Komintern David Alfaro Siqueiros. Er feuerte eine Salve aus der Maschinenpistole auf den Emigranten ab, der sich in sein Schlafzimmer retten konnte, dieses Mal hatte Trotzki noch Glück. Er blieb unverletzt. Das Kommando wurde endlich von Trotzkis Wächtern zurückgeschlagen und flüchtete unter Mitnahme einer Geisel. Die terroristische Aktion löste erfolgreiche Nachforschungen aus; bei der Prominenz des einen wie des anderen Teils der am Attentat beteiligten, war es denn auch rasch klar, in welchem Winkel nachzusehen war. Bei der polizeilichen Untersuchung des Überfalles und einer Durchsuchung des Hauses Siqueiros wurde ein durch zwei Kopfschüsse getöteter Mann entdeckt, die mitgeschleppte Geisel; er hieß Sheldon und war Trotzkis Leibwächter. Wie Sheldon umkam, wurde nie geklärt; ob er als Geisel, als unliebsamer Zeuge des Mordkomplottes hingerichtet wurde, oder ob er bei dem Schießgefecht im Hause Trotzkis fiel, fand die Polizei nicht heraus.

Siqueiros, verhaftet, ein wenig verhört, mußte bald wieder freigelassen werden, weil ihm nichts nachgewiesen werden konnte. Der Überfall wurde auf das Konto politischer Kämpfe geschrieben, und an einen unsicheren förmlichen Prozeß war offenbar auch nicht zu denken gewesen. Einige Wochen darauf wurde Trotzki mit einem Eispickel erschlagen. Die Vorgeschichte und der Ablauf des Mordes liest sich wie ein Filmszenarium für Hollywoods Unterhaltungskino.

Die Kolportierung der Affäre führt uns nur scheinbar von der Paul Merker gewidmeten Darstellung ab: Der Trotzkimörder hieß Ramón Mercader del Rio, und der Greuelfilm beginnt in den Vereinigten Staaten von Amerika, in New York. Was Earl Browder, damals Chef der kommunistischen Partei Amerikas, veranlaßte den GPU Agenten Jack Stachel mit dem Auftrag zu betrauen, Ramón Mercader einer Person vorzustellen, die Zutritt zum befestigten Quartier Trotzkis besaß, läßt nicht automatisch den Schluß zu, der amerikanische Parteichef sei mit im Mordkomplott gewesen. Daß Trotzki irgendwie ausgeschaltet werden sollte, politisch mundtot gemacht, ist dagegen unstrittig. Hierzu war von der Zentrale in Moskau die Parole ausgegeben worden, Trotzki sei ein Verräter und Nazikollaborateur. Was aber war dann der wie eine Gottheit verehrte Generalissimus Stalin mit seinem frisch abgeschlossenen Deutschlandpakt? Solche Fragen stellte öffentlich niemand. An dem verlorenen Spanischen Bürgerkrieg trugen die Revolutionäre schwer, die aktiv an ihm teilgenommen hatten; sie suchten nach Schuldigen, ohne Gründen nachzufragen.

Der als unbedenklich und gefährliche geltende Jack Stachel besaß alle notwendigen Verbindungen, um den Auftrag, der ihm gestellt worden war, Mercader in das Haus Trotzkis einzuführen, zu erfüllen. Mercader war ein politisch unbeschriebenes Blatt, ein Neutrum, aber Mercader war jung und sah gut aussah. Da lag es nahe, nach einer Frau zu suchen, die zu Trotzki in irgendeiner Beziehung stand. Stachel fand die gewünschte Person in der Komintern Funktionärin Ruby Weil, einer Journalistin bei der amerikanischen kommunistischen Presse. Die Weil kannte wiederum eine, die dem Trotzki ziemlich nahe kommen durfte, eine Schwester der Sekretärin Trotzkis, Sylvia Agelof. Diese Fäden wurden langfristig noch in Europa geknüpft, in der letzten Phase des Spanischen Bürgerkrieges, und alle darin verwickelten waren sozusagen ständig unterwegs. Siqueiros mietete eine Wohnung in Paris an, die den Verschwörern als Treff diente. Der Agelof gegenüber nannte sich Mercader Frank Jackson und gab sich als Kaufmann in Ex- und Import aus. Zwischen beiden entspann sich rasch eine lebhafte intime Beziehung. Man traf sich in den USA, man traf sich in Mexiko. Sylvia nahm gern und ahnungslos an den Geschäftsreisen ihres mit Geld üppig versehenen Geliebten teil, und sie besuchte sporadisch ihre Schwester in der Calle Viena, Trotzkis Sekretärin, bis so etwas wie eine Gewohnheit aus ihren harmlosen Familienbesuchen geworden war. Diese Story liest sich in ihrer Folgerichtigkeit vielleicht haarsträubend. Trotzki, der doch einiges für seine Sicherheit aufbot, und der sehr wohl wußte, daß er zu den am meisten gefährdeten Gegnern Stalins gehörte, ahnte von dem Komplott, welches sich gegen seine Person anspann, nichts. Noch hatte Mercader das Haus Trotzkis nicht betreten; er wartete stets geduldig am Tor, bis seine Geliebte ihren Geschwisterbesuch beendigt hatte und wieder herauskam. Die Wächter Trotzkis gewöhnten sich an die Existenz dieses jungen Menschen, eines diskreten Kaufmannes, der politisch völlig uninteressiert war. Wahrscheinlich hätte Mercader das befestigte Haus Trotzkis zusammen mit seiner Geliebten nun sogar betreten dürfen, falls er es gewollt hätte. Aber er blieb bei seinem umsichtig aufgebauten Plan und wartete auf den absolut sicheren Moment, wo er es mit Trotzki allein zu tun hatte. Verdacht fiel auch dann nicht auf ihn, als die Schwester der Agelof warnend davon unterrichtet wurde, daß Stachel und eine zweiter Spezialagent in Marsch gesetzt worden seien, daß sich irgendwas Gefährliches tat, und daß sich zu allem entschlossene Leute bereits in Mexiko aufhalten würden. Die Sicherungen wurden nicht verschärft, die Kontrollen nicht ernster als sonst genommen. Das Drama endete mit dem heimtückischen Mord am 20. August 1940. (Mit eingeschlagenem Schädel und obwohl ihm das Blut die Augen verklebt, stürzt sich Trotzki auf ihn und beißt mit aller Kraft in die Hand, die ihn getroffen hat. Die bewaffneten Sekretäre laufen herbei und stellen Mercader, der entsetzt von dem ist, was sich für ihn als eine Art Unverwundbarkeit darstellen muss: Der alte Kämpfer und Bolschewik hält sich noch aufrecht, presst sich ein Taschentuch auf die klaffende Wunde, um die Blutung zu stillen, und von seiner Frau unterstützt, bewahrt er so viel Ruhe, daß er ihnen den Tathergang schildern und sich auf Englisch mit dem Rat an Charles Cornell wenden kann, »Jackson« nicht zu töten. »Wir müssen ihn zum Reden bringen, wir müssen erfahren, wer er wirklich ist...« Dann beruhigt er Natalia Sedowa mit der Versicherung, daß es ihm schon besser gehe. Doch wieder auf Englisch, damit seine Frau ihn nicht versteht, vertraut er Cornell leise an: »Ich fühle, daß es wirklich zu Ende geht. Diesmal haben sie es geschafft...« Noch immer bei vollem Bewusstsein, wird er ins Krankenhaus gebracht. Er stirbt am darauffolgenden Tag, nachdem er sich vergeblich bemüht hat, etwas mitzuteilen, was durch seine fortschreitende Lähmung nicht mehr zu verstehen ist. Zitiert nach: Pino Cacucci. Tina. Das abenteuerliche Leben der Tina Modotti. Diogenes. Zürich. 1995 Seite 291).

Ein Jahr später war Merker in derselben Stadt und mag mit verschiedenen Leuten aus dem Umkreis der Mörder zu tun gehabt haben.

Dem Freskenmaler Siqueiros konnte wie erwähnt bei der Untersuchung des zuvor stattgefundenen Überfalls auf die Trotzki-Festung in der Calle Viena kein Mordauftrag oder eine Mordabsicht nachgewiesen werden. Er blieb fest dabei, allein und aus Wut über Trotzkis Verrat an der kommunistischen Sache gehandelt zu haben. Geplant sei gewesen, das Haus nach Dokumenten zu durchsuchen, die Trotzkis Zusammenarbeit mit den »Nazis« beweisen sollte. Der Plan hierzu hätte er bereits in der Zeit des Spanischen Bürgerkrieges zusammen mit einem anderen, Carlos Contreras, erdacht. Dieser Contreras war als eine bei allen Diensten bekannte Größe allererster Ordnung, ein verwegener, bedenkenloser Terrorist. Sein richtiger Name lautet Vittorio Vidali, er war gebürtiger Italiener. Tina Modotti zählte eine Zeitlang zu seinen Geliebten. Dieser Vidali wurde als Kopf der Verschwörung gegen Trotzki verhaftet und polizeilich vernommen. Soviel kam bei der Untersuchung heraus: Die »Xavier Mina«, eine Organisation ehemaliger spanischer Interbrigadisten, als deren Sekretär Vidali fungierte, hatte die logistische Planung des Überfalls auf Trotzkis Haus übernommen. Die Niederlage der »Interbrigaden«, in denen viele der mexikanischen Akteure gekämpft hatten, der Verdacht, Trotzki habe mit dem internationalen Faschismus konspiriert, lateinamerikanische Rebellentraditionen, dies alles zusammen hatte zu einem Gefühlsstau geführt, und zu blinden, haßerfüllten Handlungen, die sich aus der Ferne leicht lenken ließen, ja, die nicht einmal besonders gelenkt zu werden brauchten. Alles lief gleichsam von selbst ab.

Unübersichtliche Querverbindungen zwischen Emigranten, Agenten, Interbrigadisten und mexikanischen Rebellen, Nebenfiguren einer größeren Auseinandersetzung im Untergrund hätten also in die Überlegungen Merkers mit hineinspielen müssen. Er stand dem Attentäter wie den Drahtziehern des Überfalles natürlich meilenfern, und er war auch erst in Mexiko angekommen, als der Fall Trotzki abgeschlossen schien. Dennoch stieß Merker auf Vidali in einem anderen Zusammenhang. Mit Hannes Meyer, einem ehemaligem Dessauer Bauhausdirektor, nunmehrigem Schweizer Bürger, und mit Mario Montagnana, einem Schwager Togliattis, der in Le Vernet, dem französischem Lager interniert war, hatte Vidali eine Zelle gegründet. Wie gesagt, als Merker 1942 in Mexiko Asyl erhielt, war der Mord an Trotzki bereits Vergangenheit, und alle darin verwickelten Akteure konnten ungehindert reisen und sich politisch frei bewegen. Vidali, Meyer und Montagnana zählten zu den bedingungslosen moskautreuen Kominternleuten. Nach Ansicht Vidalis und seiner Genossen unterstand Merker, Vidalis Oberaufsicht. Als ausländische Zelle innerhalb der mexikanischen Kommunistischen Partei, unter der Kontrolle der Komintern und Vidalis sah Merker seine »Bewegung Freies Deutschland« nun allerdings überhaupt nicht. Vidali sollte noch einmal in das Leben Merkers eingreifen; nach der Rückkehr des Mexikoemigranten in das freie Europa hat er, der Wahrscheinlichkeit nach, Merker als Abweichler denunziert, womit sich der Kreis schließt.

Wie war die Lage dieser Bewegung und Merkers als Teil der Emigration in der westlichen Hemisphäre bei Kriegsende? Sie zeitigte keine weiter tragenden Ergebnisse, also auch keinen höheren Organisationsgrad. Das Kriegsglück hatte sich gedreht, die Rote Armee stand vor ihrem Sieg über die Hitlerwehrmacht, die Westalliierten waren bei der Stange geblieben, und das Treffen der Armeen an der Elbe machte sichtbar, daß für die unmittelbar folgende Periode kein politischer Erdrutsch zu befürchten war. In allen Teilen der Welt rüsteten die Exilanten zur Heimkehr, falls sie nicht zusammen mit den kämpfenden Truppen noch früher nach Deutschland kommen würden, um ihre besonderen Aufgaben zu übernehmen, der Reinigung der deutschen Seelen vom Gift der Großmannsucht, der Hilfe bei Verhören, dem Aufspüren von Kriegsverbrechern und - in etwas fernerer Zeit - der Installation eines neuen Deutschland, das sich die einen als sozialistische, die anderen als parlamentarisch durchgebildete Demokratie vorstellten. Das lag noch weit im Feld. Merker dürfte in seinem vergleichsweise freien mexikanischen Exil kaum von allen tiefen Ängsten der in Moskau festsitzenden kommunistischen Altfunktionäre gewußt haben, vom Hörensagen einmal abgesehen. Er wußte soviel wie jedermann, der wissen wollte. Aber bis 1945 hatte sich diese Sowjetunion in einer gewaltigen Kraftanstrengung - und durch das wirkliche Charisma Stalins, durch seinen mächtigen Einfluß auf die Massen in jener Zeit, zusammengehalten - gegen die technisch überlegene Hitlerwehrmacht durchgesetzt, mit hohen Menschenverlusten zwar, aber am Sieg der Sowjetunion war nicht mehr zu zweifeln. Danach mußte eine neue Epoche anbrechen, die Nachkriegsperiode.

Unbedingt hat Merker auch die verschiedenen Siegerentwürfe zur Aufteilung Deutschlands in Einsamkeit mit sich diskutiert. Die Emigranten empfanden aktuell und gemeinsam eine tiefe Genugtuung über die Niederlage Hitlers, wie seinem blasphemisch-tragischen Ende im Führerbunker. In der »antifaschistisch-demokratischen« Front standen sie vorläufig alle. Zweitens lebten in Mexiko hochkarätige Emigranten, die durchaus nicht an Merkers Ideen und Absichten teilgehabt hatten, und deren künftiger Einfluß auf den Gang der Geschichte abzuwarten war. Merker, ein Gegner terroristischer Gewalt, setzte noch immer auf einen linksliberalen Repräsentanten wie Heinrich Mann, dessen politische wie menschliche Haltung er tief respektierte, und der ihm wohl auch innerlich nahestand. Ihm hatte Merker eine besondere Rolle in der Bewegung - und darüber hinaus - zugedacht. Daß Heinrich Mann als parteiloser Linksliberaler für die Apparatfunktionäre politisch nicht in der ersten Reihe gehörte, kaum tragbar und eher auf einen untergeordneten Platz zu verweisen war, ignorierte Merker. Umgekehrt hielt Heinrich Mann Merker für geeignet, an höchster Stelle im demokratischen Staat zu fungieren. Er sah, wie oben vorgreifend erwähnt, in ihn einen künftigen deutschen Reichskanzler. Sein überraschender Tod ersparte Merker dann die tragische Einsicht in die Grenzen eines schriftstellernden Liberalen.

Heinrich Mann gehörte einer Vereinigung an, als deren recht später Gründungstermin der 2. Mai 1944 genannt wird, eines »Rates für ein demokratisches Deutschland«. Es handelt sich um ein ziemlich großes Gremium, das sich in New York zusammenfand, um die nächsten Ziele in Deutschland zu formulieren; der Verein mag dem Geschmack Heinrich Manns genau entsprochen haben, vereinigte er doch alle möglichen Parteien und Richtungen. Künstler, Wissenschaftler, Kommunisten, Sozialdemokraten zählten dazu, unter anderem auch Albert Norden, als den in unserem Zusammenhang auffallendsten. Das Gremium gab auch Erklärungen heraus, die auf eines hinausliefen, den wahrscheinlich kleinsten Nenner. 1966 liest sich das so:

Zitat Anfang: »...daß für die Lösung der deutschen Frage die Ausrottung des Nationalsozialismus und die politische, soziale und wirtschaftliche Entmachtung der Träger des deutschen Imperialismus notwendig sei und daß sich der künftige demokratische Staat auf die vielfältigen Kräfte des antifaschistischen Widerstandes stützen müsse. Verschiedene Kommissionen des Rates arbeiteten Denkschriften, u. a. über die wirtschaftliche Entwicklung, die Gewerkschaften, die Bildung und Erziehung, aus. Nur die Gruppe deutscher Antifaschisten um die Halbmonatszeitschrift »The German American« (Mai 1942) und das in englischer Sprache erscheinende Bulletin »German Today« zu deren Gründern und ständigen Mitarbeitern G. Eisler, E. Krüger, Marschwitza, Norden, K. Obermann, K. Rosenfeld, Schreiner und M. Schröder gehören, wirkt im Sinne der Bewegung »Freies Deutschland« und entsendete trotz Behinderung durch amerikanische Behörden Verbindungsleute in Lager für deutsche Kriegsgefangene. Der Rat, in dem eine bürgerliche und sozialdemokratische Mehrheit, die weiter auf antikommunistische Position verharrt, das Übergewicht hat, nimmt keine Verbindung zum NKFD (National Komitee Freies Deutschland) auf und lehnt dessen Anerkennung ab. Trotzdem fördern die Schaffung des Rates und die Mitarbeit der Kommunisten in diesem Rat den weiteren Zusammenschluß deutscher antifaschistischer Kräfte.« Ende des Zitates.

Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung Chronik, Teil II, von 1917 bis 1945 Seiten 482 und 483


Täter und Opfer

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