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Dietz Verlag Berlin 1966

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Unter den Gründern dieses Rates fehlt der Name Merker, und damit sind alle Überlegungen zu seinen besonderen Vorstellungen wenigstens zu diesem Zeitpunkt spekulativ, es sei denn, sein Name ist aus den Annalen der Geschichte schon getilgt, was aber für das Jahr 1966, trotz der mitredigierenden Hand Ulbrichts, nicht eben wahrscheinlich ist. Eine bestimmte Rolle war seinen einstigen Plänen nicht zugedacht. Heute mag es verwundern, wieviel Räte und Komitees zur Rettung Deutschlands gegründet wurden, um alsbald außer Kraft gesetzt zu werden. Auch das Namenskarussel drehte sich lebhaft genug, allein es blieben diejenigen, die sich im Verein mit einer starken militärischen Macht wußten. Um Walter Ulbricht hatte es schon in der Exilzeit genug Differenzen und Spektakel gegeben. Wer weiß, unter Umständen hätte Heinrich Mann ihn als einen der höchsten Repräsentanten eines Staates vorgefunden. Nein, Merker war auffallend in den Hintergrund zurückgetreten, hatte sich publizistisch und schriftstellerisch betätigt, und vielleicht 1945 schon seine Grenze gefunden. Die Aura des strahlend prahlerischen »Revolutionärs«, die Contreras-Vidali um sich erzeugte, dem auch die Seghers erlag, lag ihm nicht, und sie hätte ihn sicherlich nicht dazu bringen können, ihm die Teilnahme, die logistische Organisierung an einem Unternehmen wie den Überfall auf Trotzki zu vergeben, wäre er selber Trotzkist - oder gegebenenfalls Anti-Trotzkist - gewesen. Seit der deutschen Novemberrevolution war Gewalt nicht Merkers Sache. Jede Revolution bringt ihren arteigenen Nationaltypus hervor; in Lateinamerika schwankte das Bild zwischen einem »Pistolero« mit Hochschulbildung und einem Filmstar und Superhelden. In wieviel Millionen Exemplaren das Porträt Che Guevaras zwei Jahrzehnte später die Kinder- und Jugendzimmer bürgerlicher Wohnungen schmückte, des »Commandante«, der in allem, was er tat eher mittelmäßig agierte als erfolgreich, ist einer späten mittelständischen Revolutionsromantik geschuldet. Aber diese Romantiker können real recht gefährlich werden. Die Frage, wie der Konflikt um die Führerschaft zwischen Merker und Vidali-Contreras ausgetragen worden wäre, ist eindeutig zu beantworten: Merkers spätere Rückberufung in seine alte hohe Parteifunktion wäre jedenfalls nicht erfolgt, wäre es allein nach Vidali gegangen. Gemeinsam mit Walter Janka, mit Ludwig Renn und dem Österreicher Bruno Frei kehrte Carlos Contreras-Vidali, der gebürtige Italiener, erst 1947 nach Europa zurück. -

Um die Summe der Vorwürfe, die Merker gemacht wurden, durch eine letzte wichtige Schuldposition abzurunden: Merker wurde von seinen Vernehmern als »Judenknecht«, als »Agent des Zionismus« bezeichnet. Beinahe unmittelbar nach dem Kriege hatte die Versammlung der Weltstaaten in ihrer Mehrheit der Autonomie Israels zugestimmt, sich unter die Realität beugend, daß die Anwesenheit jüdischer Einwanderer in den Nahen Osten nicht mehr rückgängig zu machen sei, und einige mit der Anerkennung Israels als Staat verbundenen politischen Nachteile im arabischen Raum ignorierend. Palästina war englisches Mandatsgebiet, und die Briten hatten die jüdische Masseneinwanderung durch Quotierungen steuern wollen, waren aber im Großen und Ganzen erfolglos geblieben. Aus sowjetischer Sicht war der zionistische Staat, trotz formeller Zustimmung zur Staatsgründung, im Nahen Osten das Gemeinschaftswerk amerikanisch-imperialistischer Juden; ohne deren massive materielle Unterstützung wäre Israel nicht lebensfähig gewesen. Überdies befand sich der arabische Raum in Bewegung. Nationale Revolutionen lösten andere, teils koloniale Systeme allmählich ab. Auf dem relativ schmalen Band am südlichen Saum des Mittelmeeres drängten sich nunmehr einige Staaten, und gingen bald von terroristischen Aktionen zu regulären Kriegen über.

Noch in Mexiko hatte sich Merker aus mehreren Gründen mit der Frage befaßt, wie sich das Nachkriegsdeutschland, von dessen Perspektive, seiner Staatsform und Verfassung sich alle nur ein vages - und im Nachhinein falsches - Bild machen konnten, zu den in Deutschland verbliebenen oder aus der Emigration zurückkehrenden Juden stellen sollte. Dabei konnte Merker 1942 und zeitlich etwas höher hinauf gegriffen, als er erste Gedanken hierzu entwickelte, den ganzen Umfang der Judenverfolgung noch gar nicht kennen. (Die Wannseekonferenz mit Endlösungsplänen fand am 20. Januar 1942 statt.) In Lateinamerika hielten sich rund 100 Tsd. Deutsche und Deutschösterreicher auf; davon sollen oder waren tatsächlich neunzig Prozent jüdischer Herkunft. Von den etwa 100 Kommunisten waren mehr als die Hälfte Juden. (Kießling. Narrenparadies. Ebenda. Seite 203) Diese Zahlenangaben lassen sich interpretieren; neunzig Prozent von 100 Tsd. hieße in Zahlen ausgedrückt rund 90 Tsd., über mehrere lateinamerikanische Staaten verstreut lebende Juden. Und 100 Kommunisten sind in diesem Zusammenhang zwar eine verschwindend geringe, aber wichtige Zahl.

Die Juden standen nicht alle in einer Kominternfront oder bloß im kommunistischen Lager. Sie wären nicht einmal geschlossen in Merkers Bewegung einzubinden gewesen, aber naturnotwendig waren sie alle »Antifaschisten«, weil von der Beseitigung Hitlers ihre Rückkehr, ihre spätere Gesamtexistenz abhing. Merker reagierte auf diese Situation und faßte seine Vorstellungen in einen Artikel, »Hitlers Antisemitismus und wir« zusammen. Das kurze Werk kam als Sonderdruck heraus, es wurde in den entsprechenden Kreisen natürlich beachtet und diskutiert, auch unter der Frage einer möglichen materiellen Wiedergutmachung des deutschen Nachfolgestaates. Vermögenden Juden mit Auslandsbeziehungen war die Emigration aus Deutschland und Österreich leichter gefallen als den proletarischen Besitzlosen. Die in Frage kommenden Aufnahmeländer verlangten Vermögensnachweise. Arbeitserlaubnis erteilten nur wenige der Exilländer. Die Judenpolitik in der Frist zwischen den »Nürnberger Gesetzen« bis kurz vor Kriegsausbruch zielte auf die beschleunigte Ausreise von Juden. Sie verloren dabei große Teile ihres Vermögens. Schließlich wurden alle Fluchtunternehmungen durch ein Ausreiseverbot für Juden gestoppt. Sofern sich geflüchtete Juden in Westeuropa aufhielten, sahen sie sich alsbald wieder im Hoheitsgebiet des »Dritten Reiches«, infolge der Kriegsentwicklung, zumindest dem Zugriff durch die Gestapo ausgesetzt.

Die jüdische Frage wurde innerhalb der marxistischen Ideologie nicht als ein spezifisch historisch wie aktuelles Problem gewertet, sondern als ein klassenbedingtes, soziologisches Randphänomen der modernen bürgerlichen Gesellschaften. Anders ausgedrückt, es machte keinen Unterschied, ob der Ausbeuter arischer oder jüdischer Abstammung war, solange er nur als Kapitalist galt. Seit der juristischen Gleichstellung der deutschen Juden im 19. Jahrhundert waren Juden zur erfolgreichsten gesellschaftlichen Gruppe aufgestiegen, wenngleich auch der Antisemitismus namentlich in rassischer Art anwuchs. In den freien Berufen des Kaiserreiches, als Schriftsteller, Künstler und Publizisten machten Juden glänzende Karrieren und konnten die Ächtung extremer Nationalisten ertragen. Mit dem überkommenen Vorurteilen des christlichen Glaubens gegen die kreuzigenden Israeliten, mit den ethnischen und religiösen jüdischen Eigenheiten setzten sich die sozialistischen Denker insoweit auseinander, als sie den Antisemitismus als mittelalterlich rückständig grundsätzlich verwarfen und im Zuge der Revolution und der ökonomisch-kulturellen Umgestaltung der Gesellschaft das Verschwinden des Antisemitismus gleichsam von selbst einzuleiten gedachten. Juden würden die gleichen Rechte in einer universalistisch-sozialistischen Welt erhalten wie alle anderen, sollten sich, ungeachtet ihrer Geschichte und Tradition in eine neue Menschengemeinschaft eingliedern, allerdings auch keine irgendwie gearteten Vorrechte bekommen. Soweit die ideale Theorie.

Es stellte sich im Nachkrieg rasch heraus, wie vielschichtig in Wahrheit der Antisemitismus in einer Welt geworden war, in der es einen autonomen jüdischen Staat gab. Nach Auschwitz blieb als Alternative zur Kritik am Judentum ein voraussetzungsloser Philosemitismus übrig. Bis zum Aufkommen der neuartigen Rassenideologie - nicht nur Hitlers - waren die Grundlagen des Antisemitismus leicht durchschaubar gewesen, entweder religiös artikuliert oder in wirtschaftlicher Konkurrenz begründet. Mit der Entstehung einer wissenschaftlichen Lehre über die unbestritten existierenden Merkmale von Rassen in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wurde ein anderer Weg beschritten. Von der Nachkriegsdimension des Problems hat Merker etwas geahnt, noch ehe der neuen Judenstaat in den Kreis der Völkergemeinschaft eingetreten war. Bewegt hatte sich zu dieser Frage allerdings auch anderswo einiges. Während des Krieges, als der Ausgang noch ungewiß, war in Moskau ein jüdisches antifaschistisches Komitee gebildet worden. Auf die Mitwirkung jüdischer Bevölkerungsteile am Befreiungskrieg konnte nicht verzichtet werden. Damit verbunden war kein Wechsel in der Haltung Moskaus zum politischen Zionismus. Vertreter dieses Komitees nahmen Kontakt zu Merker auf; man verstand sich anscheinend ganz gut, aber praktische gemeinsame Schritte wurden nicht eingeleitet. Dieser und jener jüdische Funktionär des Komitees kam später auf rätselhafte Art und Weise ums Leben, wie das gesamte »Jüdische Antifaschistische Komitee« denn auch ein trauriges Ende nahm. Stalin ließ es 1948 auflösen; er warf den Mitgliedern Kontakte zu amerikanischen Geheimdienstkreisen vor. Und noch 1952 wurde ein Gerichtsverfahren gegen den jüdischen Leiter eines Lehrstuhles an der Parteihochschule, Losowski, eröffnet. Zusammen mit vierzehn Intellektuellen kam Losowski auf die Anklagebank. Sie wurden allesamt für schuldig befunden und erschossen.

Welche ideelle und materielle Dimension die mit Antisemitismus, Schuld und Wiedergutmachung verbundenen Fragen eines Tages bekommen würden, konnte Merker nicht vorhersehen, nur ahnen. Nach seiner Rückkehr 1946, dem Jahr des Nürnberger Hauptprozesses gegen Kriegsverbrecher befand sich noch alles im Fluß. In Westdeutschland, wo unter Adenauer die materielle Wiedergutmachung begann, fanden zwischen 1958 und 1968 in den damals elf Bundesländern insgesamt rund 150 NS-Prozesse statt; 1962 der Bergen-Belsen-Prozeß, 1964 der Treblinka- und in Frankfurt der Auschwitzprozeß. In diesem Jahrzehnt wendete sich auch die Aufmerksamkeit schöngeistiger Autoren dem Auschwitzkomplex zu, in der DDR mit Theateraufführungen und öffentlichen Lesungen, etwa dem Stück von Peter Weiß in der Akademie der Künste unter Beteiligung hochrangiger Politiker. Die Frage nach der materiellen Wiedergutmachung jüdischer Vertriebener kam, wie zu erwarten, erneut auf die Tagesordnung, als die DDR, die sich nie als Nachfolgestaat des Dritten Reiches verstand, während ihres Bestehens keine institutionelle Wiedergutmachung leistete, abgesehen von personengebundenen OdF (Opfer-des-Faschismus) Renten, 1990 das zeitliche gesegnet hatte. (In Albert Speer. Das Ringen mit der Wahrheit bemerkt Gitta Sereny, Zitat: Parallel zu diesen Anstrengungen der deutschen Justiz flimmerten Hunderte von Spiel- und Dokumentarfilmen über die Kinoleinwand und Millionen heimischer Fernsehbildschirme. Im Gegensatz zu besonders in der englischsprachigen Welt geäußerten Behauptungen verschloss man in Deutschland nicht die Augen vor der jüngsten Vergangenheit, wie sehr die älteren Generationen sich dies auch gewünscht haben mögen. Knaur Taschenbuch. Februar 1997. Ebenda Seite 788

Aus dem Speerbuch Gitta Serenys. Die amerikanische Öffentlichkeit war und ist sensibilisiert für diesen Gegenstand. Jerry Gross, der das Werk für die amerikanische Ausgabe des Verlages Macmillan, N.Y. als Lektor betreute, teilte der Autorin in einem Gespräch etwas über eine Begegnung mit, die auf Einladung Speers zustande kam, zu der auch Frau Gross geladen war. Gross im Zitat: Als ich sie im Hotel anrief, lehnte sie (die Einladung Speers. H.H.S.) kategorisch ab- nichts in der Welt könne sie dazu bringen, sich mit »diesem Menschen« an einen Tisch zu setzen. Er rief sie danach selbst an, und sie willigte ein, doch als ich sie abholte, war sie beinahe krank vor Panik. Ich glaube, ich wollte, daß sie ihn kennenlernte. Sie tat es um meinetwillen. Es war sehr tapfer von ihr, und ich habe ihr das seither stets hoch angerechnet. Es passierte nichts weiter, wissen Sie. Wir aßen nur an einem gemütlichen Ort, und er und ich plauderten wie gewöhnlich. Meine Frau sagte sehr wenig. Doch als wir in unser Zimmer zurückkehrten, brach sie in Tränen aus und weinte stundenlang, wie mir schien. Ebenda Seite 782 und 783.

Bloße individuelle Wiedergutmachung aber war es nicht, was die Juden als Gemeinde forderten und bis heute höchstens als Teilforderung erheben.


Täter und Opfer

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