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Einführung

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Auf der Uferpromenade entlang eines breiten Stromes wandelten um die Osterzeit des Jahres 2*** zwei Männer. Obschon von See her ein scharfer Wind blies, hatten sie ihre Mäntel geöffnet. Der Jüngere von beiden führte das Wort. Schließlich sagte er: "Unser gemeinsamer Gang durch Ihr Museum deutscher Geschichte, alle diese Exponate, Bilder und Schaustücke reizen meinen Wissensdurst eher an, als ihn zu befriedigen."

"Fragen Sie nur", sagte der andere Herr zuvorkommend, "nutzen Sie die Gelegenheit zur Unterrichtung, ehe Sie in Ihre ferne Region zurückkehren. Nehmen Sie mich als Ihren Mentor; ich stelle mich gern zur Verfügung, wenn ich Ihnen nützlich sein kann."

"Sie müssen wissen", sagte der zum Eleven ernannte jüngere Herr erfreut "dass ich an einer der besten kosmischen Hochschulen Sprache und Kultur der Deutschen mit Liebe und Achtung studiert habe. Dieser Aufenthalt hier sollte mein Wissen abrunden ... indessen bin ich im höchsten Grade verwirrt und zweifle an mir selber".

Hier brach der Mentor in ein herzliches Lachen aus; sammelte sich mühsam und sagte entschuldigend: "Sie haben studiert, was wir Heutigen als die kulturelle und politische Wirklichkeit einer unserer rohesten historischen Perioden unserer Nation, begreifen, die abgetane Vorform unseres heutigen gesellschaftlichen Seins in einer demokratischen, kulturell offenen Gesellschaft. Verzweifelt wie vergebens haben Sie nach den Spuren jener nationalen Kultur gesucht, die Sie lieben. Allein ich versichere Ihnen, dass sich niemand mehr in den anachronistischen Zustand eines deutschen Nationalstaates zurücksehnt, ohne den eine solche Kultur nicht gedeihen kann. Ich schmeichle mir, zu den Lehrern und Umerziehern zu gehören, die diesem Volk mit Erfolg eingeredet haben, es hätte den Nationalstaat irgendwann im Dämmer seiner Frühgeschichte verfehlt. Wie wenig Sie mit Ihren Kenntnissen in der deutschen Sprache anfangen konnten, haben Sie wahrscheinlich zu Ihrer Bestürzung ebenfalls feststellen müssen. Wenn es Sie tröstet; über fundierte Deutschkenntnisse verfügen nur noch einige wenige Germanisten. Deutsch wurde von der zuständigen internationalen Behörde unter die nicht förderwürdigen Sprachen eingereiht; damit wurden den Universitäten natürlich die Mittel entzogen, aber das macht nichts, solange wir uns in ontischer Sprache (ontogenetische Sprachentwicklung) vortrefflich verständigen können, allerdings auf sehr niedriger Stufe, versteht sich."

"In der Tat, aber wie verständigen Sie sich eigentlich untereinander, da Ihnen eine gemeinsame Sprache fehlt?" "Regional ist die Amtssprache noch deutsch", sagte der Mentor. "Was eine Region ist, werde ich Ihnen zu gegebener Zeit erklären. - Nachrichten und Informationen werden in verschiedenen Sprachen oder in Idiomen gehalten, mit deutschsprachigen Legenden am Bildrand des Teleschirmes oder in der Druckpresse. Der zuständigen Behörde liegen angeblich Anträge aus verschiedenen Alpha-Ländern vor, deutsch als Verkehrssprache zu verbieten; allein das wird hier für ein gezieltes Gerücht gehalten, obschon diese Entwicklung unvermeidlich ist. - Im Alltag genügt derzeit noch ein Kauderwelsch mit sehr niedrigem deutschen Wortschatz und einer Vielzahl Leihwörter. Kompliziertere Sachverhalte werden auf Formeln verkürzt; sie müssen glücklicherweise auch gar nicht mehr verbreitet werden. Aber wir haben so etwas wie ein oberstes Dogma, vergleichbar mit dem Nationalfest des höchsten Wesens vom 20. Prairial der Revolution, der Glaubenslehre Robespierres; Sie erinnern sich wohl? Revolution hat eben immer etwas mit Religiosität zu tun. - Nun, unser Dogma ist das von der Vortrefflichkeit des Parteienstaates; es ununterbrochen zu vermitteln, gehört zu den Aufgaben der Presse, der Universitäten, die ziemlich bedeutungslos geworden sind, und allen Gliederungen der offenen Gesellschaft, bis hin zu Vereinen und dergleichen. Zwei deutsche Wörter aus der Zeit um die Jahrtausendwende sind allerdings überliefert: unumkehrbar und betroffen; sie werden Ihnen immer wieder begegnen, als Non plus Ultra der Albernheit."

"Ich darf Ihnen nicht widersprechen, da Sie die Verhältnisse zweifellos genauestens kennen, aber aus welchen Ursachen kam es zu diesem kulturellen Verlust und was wurde nun eigentlich gewonnen, dass die Preisgabe jahrhundertealter kultureller Werte rechtfertigte? Verzeihen Sie meine Naivität."

"Gewonnen wurde nichts. Allein diese Katastrophe war nicht aufzuhalten. Katastrophe in Anführungszeichen, denn wir sind ja zufrieden mit dem, was wir haben. Zunächst einmal passte sich während einer mehr als vierzigjährigen Okkupation im vergangenen Jahrhundert etwa bis zur Jahrtausendwende die damalige deutsche Kultur der unserer Sieger an. Ich kann Ihnen diesen komplizierten Vorgang aus brutaler Unterdrückung, wie der Entfernung missliebiger Bücher aus öffentlichen Bibliotheken, den Verboten bestimmter Filme, einiges an Dramatik und Musik und freiwilliger Unterwerfung, aus dem Mangel an Selbstwertgefühl, eingebildeten Schuldkomplexen, die jeden Verlierer heimsuchen, wirklicher Schuld einzelner Personen und Ratlosigkeit in der Kürze nicht darstellen. Aber jede Unterwerfung im politischen, sozialen und kulturellen Leben beginnt mit einem Wandel in der Sprache. - Ihnen ist sicher das bunte Gemisch menschlicher Wesen aller Herren Länder bei uns aufgefallen; hier haben Sie einen zweiten Aspekt der Entwicklung hin zum kulturellen Verfall, der zuletzt als unvermeidbar dargestellt und empfunden wird. Alle jene, die von überall her kamen und noch kommen, halten natürlich an ihren Kulturen fest, also vornehmlich an ihrer Sprache, der wichtigsten kulturellen Überlieferung, zweitens an ihren Religionen; all dies zusammengenommen führte zuletzt zur Bildung kultureller Enklaven im ehemaligen Gastland. Wir unsererseits sind freilich unbeschreiblich glücklich darüber, dass in unserem Lande die ganze Welt zu Hause ist. Das war nicht immer so; noch gegen Ende des vergangenen Jahrtausend gab es Rassenkämpfe und soziale Auseinandersetzungen in der Arbeitswelt, gab es Ängste wegen einer angeblichen Überfremdung. - Nun, dies alles konnte durch Predigten und Lichterketten, sowie durch geeignete polizeistaatliche Maßnahmen allmählich überwunden werden".

"Als Soziologe bin ich ganz auf Erfahrungen angewiesen", sagte der Eleve eifrig, "auch bin ich froh, einem überlegenen Kenner dieser Periode des Verfalls lauschen zu dürfen. Ihre Erklärung leuchtet mir zwar ein, aber bescheiden weitergefragt; sind denn alle glücklich über diese Austauschbarkeit der Kulturen? Wäre es nicht sinnvoller, jene Kulturen dort zu belassen, wo sie einmal entstanden sind und sich zweifellos besser und kräftiger hätten entwickeln können? Mir fiel auf, dass Ihre Städte aus einzelnen belagerten Festungen bestehen, was den Gedanken nahelegt, die erträumte Vielfalt existiert überhaupt nicht.

"Natürlich hätte man alles besser machen können", gestand der Lehrer. "Wir müssen weit zurückgehen in die Geschichte, um die heutigen Verhältnisse als die beste aller nur möglichen Varianten zu verstehen. - Ich sagte schon, dass Sie nur die rohe nationale Vorform kennen, nicht die sich langsam ausbildende demokratische Gesellschaft auf deutschem Boden in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, der langen Spaltungszeit unter den Besatzungsmächten, nicht zu vergessen der Wiedervereinigung als einem Meilenstein des demokratischen Fortschrittes und den seit der Jahrtausendwende stürmisch verlaufenden Übergang, der Deutschland in einen modernen europäischen Bundesstaat verwandelt hat. Das Deutschland, von dem Sie im Hörsaal erfahren haben, existiert nicht mehr, keine Katastrophe, wie ich schon sagte, sondern für uns, für die ganze Welt ein Segen. Nun denn, die Geschichte dieses neuen Universalismus der Kulturen lässt sich mit einem Datum belegen, anno 1990, mit der sogenannten Wiedervereinigung beginnt das Jahr Null neuerer Zeitrechnung. Unter den Bedingungen des nicht erklärten Krieges hatten sich zwei verwaltungstechnische Gebilde entwickelt; wir sprechen heute nicht mehr von Staaten, als irreführend und die Wahrheit verschleiernd. Mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Lagers entstand kurzfristig ein Vakuum, das von der Parteiendemokratie angloamerikanischen Ursprungs, und wie wir nun wissen, zur Weltherrschaft berufen, aufgefüllt wurde; notwendigerweise, da sich unter den Besatzungsmächten keine andere politische Kraft hatte entwickeln können. Diese Stunde Null neuerer Zeitrechnung, wie ich sie nenne, müssen Sie immer im Blick behalten, mein Freund, wenn Sie begreifen wollen, was Sie beobachten. - Ich könnte in dieser Weise fortfahren, müsste ich nicht befürchten, Sie durch zu viele Einzelheiten nur zu verwirren."

Nachdenklich sah der Eleve auf den schnell dahinziehenden Strom, der Wirbel und Schnellen ausbildete, ohne dass eine Ursache für diese Bewegung zu erkennen war. "Alles fließt", äußerte er, "es fragt sich nur wohin. Mir sind vorhin in Ihrem Museum, ich glaube im Saal 1 einige allegorische Figuren aufgefallen ... "

"Es handelt sich um die abgebrochenen Standbilder vergangener Epochen", erklärte der Mentor. "Nicht alle haben wir unter unsere Sammlungen aufnehmen wollen. Sie müssen wissen, dass in den Zeiten der Auflösung des Nationalstaates, den wir, wie ich schon dargelegt habe, beseitigen mussten, einige Figuren der Zeitgeschichte, wenn nicht unsere Wertschätzung, so doch unsere Aufmerksamkeit verdienen. Der Zusammenbruch des kommunistischen Lagers setzte unglücklicherweise und zu unserer Betroffenheit - da haben Sie schon den einen der beiden Leitbegriffe, von denen ich sprach - zunächst ein für überwunden gehaltenes nationalistisches Potenzial im Volke frei. Das stellte uns vor ein Problem, uns, die freiheitlich-grundgesetz-demokratisch gestimmten Menschen. Es hätte sich beispielsweise die Vereinigung der beiden deutschen Landesteile ohne uns vollziehen können, etwa auf neo-kommunistischer Basis. Oder, wäre das erwähnte nationale Potenzial zum Zuge gekommen, hätten die europäischen Mächte, getreu ihrer traditionellen Politik, kein zentralistisches Deutschland zu dulden, die deutsche Einigungsbewegung mit wirtschaftlichen und politischen Sanktionen bekämpfen oder gar mit der militärischen Intervention beantworten können! Ihre Truppen standen in verhältnismäßig hoher Kampfstärke abrufbereit in Deutschland. Innenpolitisch herrschte glücklicherweise Einvernehmen darüber, einen neuen Nationalstaat wenn möglich zu verhindern. So wurde das neue deutsche Gesamtgebilde logischerweise internationalen, überstaatlichen Bürokratien ausgeliefert. Außerdem haben wir seinerzeit das Kunststück fertiggebracht, unsere östlichen Landesteile einfach wie ein bankrottes Unternehmen zu behandeln, die Konkursmasse erworben und alle Abwicklungskosten einem Dritten aufgehalst."

"Endlich begreife ich, weshalb es nötig gewesen ist, Ihre nationale Kultur preiszugeben, obschon ich es dann auch bedauern sollte, überflüssige Studien betrieben zu haben", sagte der Eleve. "Übrigens stellt Deutschland die Ausnahme von der Regel dar, falls es eine solche gibt und falls sie besagt, dass sich alle Kulturen als überholt in eine Einheitskultur von selbst einzubringen haben. Ich habe eine allgemeine Agonie des kulturellen Lebens beobachtet, was offensichtlich das Niveau des Bildungsstandes gesenkt hat. Kultur bewirkt doch im Allgemeinen die Verfeinerung, Verbesserung eines Volkes, sie macht dessen Zusammenhang aus oder zumindest bewusst. Wir müssten noch vom Ende der nationalen Solidarität in den gesellschaftlichen Bereichen wie in den Familien sprechen, hätten wir nur die Zeit. Wurde das alles denn ohne Widerstand der Kulturschaffenden hingenommen? Und der Staat, den es ja noch gab, was tat er?"

"Lächelnd sagte der Mentor: "Werfen Sie nicht alles durcheinander, mein Freund. Der Staat? Welchen Typs? - Die alt-englische Demokratie entwickelte sich aus bürgerlich-praktischen Verhältnissen hin zur Bill of rights und zur Habeas-Corpus-Akte. Am Anfang der Französischen Republik stand eine philosophische Idee, etwa die Proklamation der Menschenrechte, welche prompt und unerwartet die bislang unbekannte maschinelle Tötung Andersgläubiger in die Welt einführte, aber auch das Gegenteil von einer Mehrparteienherrschaft angestrebt hat. In Deutschland hielt sich zu jener Zeit immer noch das urwüchsige ständische Gebilde des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, und vielleicht hätten uns die lieben Nachbarn gewähren lassen sollen, anstatt uns ihre Geschichte und ihre Ideen aufzudrängen, da wir ja nicht eben arm dastanden. Aber wir verlieren uns schon wieder in der älteren Geschichte. - Vor der Eingangshalle meines Museums sahen Sie eine überlebensgroße Symbolfigur .... "

"Die angestrahlt wird?"

"Es handelt sich um einen unserer Präsidenten von bedeutender rednerischer Begabung und dermaßen warmherziger Ausstrahlung, dass wir ihn gar nicht beleuchten müssten, es aber aus Pietät einstweilen beibehalten, bis ihn ein größerer Psalmodist ablöst. Damit haben Sie ein Merkmal parteienstaatlicher Ausdrucksweise, das dröhnende, gleichwohl aber unverbindliche Geschwätz. - Ich lade Sie zu einem zweiten, vertiefenden Gang durch mein Museum ein. Sie werden einige Gestalten der Vergangenheit in einem neuen Lichte sehen lernen. Lernen, diese Tugend zu bewahren, lohnt unbedingt. Unseren wichtigsten Saal Nummer 1, den der Stunde Null der Weltgeschichte neuerer Zeitrechnung, kennen Sie zwar schon, aber folgen Sie mir, es wird kühl!"

Beide Herren beschleunigten den Schritt, denn der Wind hatte zugenommen und ein feiner Nieselregen setzte ein. Sie schlossen ihre Mäntel und strebten der Stadt zu.

"Ich fürchte, es lohnt kaum mehr," sagte der Eleve zum Mentor. Mahnend erhob dieser den Zeigefinger: "Discite, moniti! Lernt, ihr seid gewarnt! Virgil, Äneis."

Ergeben senkte der Schüler den Kopf, der Mentor schob den Arm unter den des Eleven und zog ihn mit sich fort.

Wandlungen

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