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Von der aufgehobenen Bewegung

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Kurz vor der Jahrhundertwende wurde dem Ehepaar Beharrer ein Sohn geboren und im katholischen Glauben getauft; der Knabe kam mit einem silbernen Löffel im Munde zur Welt. Von seinem Kinderzimmer aus blickte er in einen riesigen parkähnlichen Garten, eine Kinderfrau beaufsichtigte ihn, und ein Hauslehrer kümmerte sich bis zum Eintritt des jungen Herren ins städtische Gymnasium um dessen elementare Bildung. Er galt als Träumer, begabt und nachlässig bis faul, woran die Strenge des Vaters, eines Bergwerkdirektors mit dem im Kaiserreich so beliebten Titel: Wirklicher Geheimer Rat, nicht viel zu ändern vermochte. - Es war eine Periode der Saturiertheit. Von der Zukunft wurde viel erwartet, dieses Bürgertum hatte etwas geschafft und geschaffen; es wollte in Sicherheit genießen. Der erstgeborene männliche Nachkomme einer wohlhabenden Familie musste nicht unbedingt in die Fußstapfen des Vaters treten; ihm war unter Umständen ein Leben als Präzeptor der reichen abendländischen Kultur reserviert. So stand es vermutlich in den Sternen des jungen Helden Beharrer. Auch nach einem schlecht abgelegten Abitur war ihm die klassische Bildungsreise, das Kunststudium in München oder in Dresden versprochen, wenn er sich nur überhaupt anstrengen wollte. Die lebenslange elterliche Apanage schien ihm sicher, sollte er sich als lebensuntüchtig erweisen. - Der Sohn des Geheimrates war ein sorgsam behütetes und gepflegtes Bürschlein von eigenem, etwas liederlichem Charme; er sah dem Wehrdienst mit Unbehagen entgegen. Sollte er vorher oder nachher die Italienreise antreten? Dieser Sorge enthob ihn der Ausbruch des Krieges mit dem allgemein unter der Jugend ausbrechenden Frontfieber; er wurde mitgerissen, meldete sich mit seinem Jahrgang freiwillig. Vor Verdun entwickelte er sich rasch zum Frontoffizier und verkörperte einen neuen Führertypus, den der Erste Weltkrieg hervorgebracht. Der Krieg als Vater aller Dinge erzeugte den sich in die Politik mischenden, den politisierenden Leutnant, im Kaiserreich undenkbar.

Sich mit den Soldaten des Grabenkrieges solidarisierend, stand er zunächst aufseiten der Republik im Kampf gegen Spartakus. Anfang 1919 nach seiner Repatriierung sah sich Beharrer vor einer Leere; schließlich nahm er das geplante Studium auf, unlustig, schon am Sinn dieses Aufwandes zweifelnd. Er belegte Kunstwissenschaft, sattelte um auf Geschichte, suchte und fand an der Universität Berührung mit der jungen radikalen Linke, las allein und im Zirkel Karl Marx, studierte die Revolutionstheorien Lenins. Mitte der Zwanzigerjahre bereiste er durch Vermittlung eines KPD-Funktionärs das Don-Gebiet und andere Teile des weiträumigen Landes und brachte die Überzeugung mit nach Hause, dass eine Weltenwende nahe bevorstehe, wie Praxis und Theorie lehre; nach dem Chaos ihrer rohen, frühen Geschichte trete die Menschheit endlich und unumkehrbar in ihr neues, besseres Stadium ein, dem Kommunismus. Daraus folgte für den jungen Studenten, noch immer jung, als Konsequenz die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei; dort wimmelte es von ihm gleichen Überläufern aus dem bürgerlichen Lager. Sein Studium brach er bald darauf aus Zeitmangel ab, auch weil er es für sinnlos hielt, kostbare Lebenszeit zu vergeuden, da ihm die Revolution alsbald große Aufgaben zuweisen würde. Die Karriere eines Propagandisten verband er halb spielerisch mit der eines Publizisten. Eine große Zahl von Zeitungen und Zeitschriften bot zahlreichen Tagesschriftstellern Gelegenheit, ihr Talent auszubilden. Ein Reisetagebuch machte ihn von der Familie unabhängig; zu Fuß und mit geringen Mitteln versehen, unter ganz anderen Umständen, als sie ihm einst versprochen worden waren, hatte er Italien bereist und sehen gelernt, mit dem Erfolg, zum gesuchten Reiseschriftsteller geworden zu sein. Der Geheimrat besaß genügend Verständnis für einen Sohn, der sich ausleben wollte; er nahm an, dass sein Sprössling bald wieder unter die Fittiche der Familie flüchten werde. Allein hierhin täuschte sich der alte Herr; der Sohn erklärte, dass seine Lebensaufgabe und Berufung in der Revolution läge. Es erstaunte ihn aber beinahe, wie leicht seine Artikel, Bücher und Aufsätze von Redaktionen und Verlagen angenommen wurden, und nicht nur von denen der linken Presse. Obschon sich seine Kenntnisse von der realen Welt genau genommen auf die Erlebnisse im Schützengraben und etwas angelesenem Wissen beschränkten, schrieb er über alles und jedes, und sagte der Konterrevolution permanent eine historische Niederlage voraus, als müsse er sich selbst unentwegt zu dem neuen Leben in dieser lichten, durch historische Regeln herbeigeschriebenen Zukunft überreden. Mit der Rache der unterdrückten Klasse nach dem Sieg werde in entsprechender Dimension zu rechnen sein.

Die Novemberrevolution war· durch ein Bündnis zwischen Bürgertum und Sozialdemokratie beendet worden; abgewürgt, wie der junge Propagandist schrieb, stranguliert; die Weimarer Republik neigte sich in der Ära des Kanzlers Brüning und den Folgekanzlern ihrem Ende zu, von der Großen Koalition zur Präsidialregierung und weiter zur Präsidialdiktatur. Zwischen Mauschelei und Klüngelei ging dieses unglückliche historische Gebilde zugrunde. Unser Held hielt sich im Januar des Jahres 1933 zufällig in Paris auf, zu einer Vortragsreise, wie er sie häufig unternahm, um gegen die neue Gefahr von rechts zu predigen, gegen ein bisher unbekanntes Phänomen, den Faschismus. Dort überraschte ihn die Nachricht von der Berufung Hitlers zum deutschen Reichskanzler. So nahe hatte er, wie andere auch, in Wirklichkeit die Gefahr die berechnend beschworen worden war, gar nicht gewähnt, Nationalsozialismus als neuartige Massenerscheinung schien Beharrer mit keinem der überkommenen und in den Marxismus integrierten Werte vereinbar. Der ehemalige Offizier, Überläufer aus dem Bürgertum und Intellektuelle hatte einen vagen und problematischen Begriff von Volk und von Volkssouveränität; er sah sich mit dem Volk als Belehrer und Erzieher verbunden; es hatte zu sein, wie er es sich dachte. Ganz sicher aber hatte dieses Volk der Weimarer Republik so eklatant versagt, dass es einer Reinigung unterzogen werden musste. Ausgerechnet den, auf Hitler bezogen; dies konnte Beharrer nicht anders als ein historisches Versagen deuten. Seinem Volk begann er sich zu entfremden, entsann sich großer Vorgänger, die krank an ihrem Vaterland geworden waren und es daher verwarfen. - Anrufe bei Freunden in Berlin verschafften ihm schnell darüber Gewissheit, was er jetzt besser unterlassen sollte. Als Publizist zählte er zu den bekanntesten und gehasstesten Leuten, zu den erklärten Feinden des Nationalsozialismus. Die Weltbühne, aber auch andere Blätter, hatten seiner kritischen und ironischen Feder wie seinen Recherchen, Spalten freigemacht. Aus vielen Gründen war es also ratsam, das vorläufige Exil zu wählen, alles weitere abzuwarten, den Generalstreik, den Aufstand des Volkes gegen die Berufung Hitlers, politische Massenaktionen gegen dieses Kabinett oder ein anderes Wunder. Da nichts dergleichen geschah, richtete sich Beharrer auf eine längere Dauer des nationalsozialistischen Interims ein, schuf zusammen mit anderen linken deutschen Emigranten eigene Informationsebenen, organisierte Verlage und eröffnete den Veröffentlichungen illegale Vertriebswege. Allein das unverbesserliche, das irregeführte deutsche Volk, schrieb der Propagandist warnend und erbittert, folge seinem Unstern; es gehe seinen Weg in den Untergang, bei Verlust aller humanistischen Traditionen. Von seiner Befangenheit gegenüber der Lage in Deutschland begriff Beharrer nichts; er fühlte sich als Deutscher, als besserer Deutscher, und es war ein aufrichtiges Gefühl, nur trennte es ihn von seinem Volk, das er hasste und liebte, und dieser Graben sollte nie wieder zugeschüttet werden.

Unter Mitwirkung der internationalen Öffentlichkeit gliederte sich das Dritte Reich die einst verlorenen Gebiete wieder an, stieg wirtschaftlich auf; der innere Widerstand zerfiel. Aus der erhofften kurzen Dauer des Hitler-Regimes waren Jahre geworden; kurzum, unser Held sah seine Sache als fast verloren an, da brach der spanische Bürgerkrieg aus. Auf die Emigration wirkte er wie ein befreiendes Signal. Der ehemalige Offizier, der Propagandist und Revolutionär, für einen Frontsoldaten schon etwas alt, reiste über die Grenze nach Spanien, den Feind suchend, den Deutschen der Legion Kondor, ebenfalls einen Freiwilligen, den einer anderen Generation und Tradition. Hier zeichnete sich die Dimension des bevorstehenden Weltkrieges schon deutlicher ab. Das Ende der spanischen Republik erlebte Beharrer nicht an der Front, sondern wieder in Paris. Dort begrüßte er den Ausbruch des Weltkrieges als Anfang vom Ende des Dritten Reiches.

Die Randstaaten Deutschlands brachen in kurzer Frist militärisch zusammen, ein Sieg schien weit entfernt. Im letzten Augenblick gelang ihm die Flucht aus dem von seinen ehemaligen deutschen Landsleuten besetzten Frankreich. Quartier bezog er in dem bekannten Moskauer Emigrantenhotel. Hinter vorgehaltener Hand erfuhr er von Säuberungen, von Massenexekutionen und Verschickungen, schob die Wahrheit jedoch ungläubig von sich weg, unfähig zu objektiver Beurteilung der Geschichte und sich selbst beruhigend; der Klassenkampf erforderte eben ungewöhnliche Mittel, etwas werde schon dran sein an den Beschuldigungen, und die Befreiung der Menschheit vom faschistischen Joch rechtfertigte inzwischen ohnehin alle Mittel.

"Vergessen Sie nicht", sagte der Mentor, sich unterbrechend, "dass diese Spaltung des Gewissens wie auch das spätere Wortgerümpel rechtfertigender Erklärungen entweder für den Terror oder für die angebliche Unwissenheit miterlebender Zeitgenossen typisch werden sollte. Was uns als Angehörige eines Volkes, das gar nicht existiert, angeht, so sollten wir die reine Lehre empfangen. Das erinnert an die Taufrituale, wie sie an den Kariben vollzogen wurden, denen christliche Missionare ihr Heidentum als eine Art Vergehen dargestellt haben mögen, aber sehen wir, wie es weiterging."

Im Großen Vaterländischen Krieg fand unser Mann eine neue, ihn ganz ausfüllende Aufgabe, als er vom Lautsprecherwagen einer Politabteilung der Roten Armee, Reden an die deutschen Soldaten der Ostfront hielt, sie über den Klassencharakter dieses Krieges aufklärend, und um sie zum desertieren zu bewegen. Bei der Gründung des oppositionellen Offizierskomitees im sowjetischen Gefangenenlager schrieb er Manifeste und beschwor die einstige deutsch-russische Waffenbrüderschaft. Für viele dieser gefangenen rat- und mutlosen Offiziere konnte er als der ehemalige Kamerad gelten, einer, der sie verstand und der weiter war als sie. Ihrer Ratlosigkeit setzte er die Vision eines freien demokratischen Deutschland entgegen, nach Bestrafung der Schuldigen. Zwar werde es nicht zu den Fehlern des Ersten Weltkrieges kommen, als die Sieger das Ziel, den deutschen Imperialismus zu bändigen, unverständlicherweise, vielmehr aus auf der Hand liegenden Gründen, preisgaben. Heute also müsse nach Beendigung der Kampfhandlungen mit einer längeren Besatzungszeit gerechnet werden, die ausreiche, neue Verhältnisse und Bewusstseinslagen in Deutschland dauerhaft anzulegen, eine konsequente und erbarmungslose Umerziehung dieses Volkes stehe auf der historischen Agenda; nie wieder käme eine Bewaffnung der Deutschen in Frage, allerdings auch keine Sowjetrepublik. Angestrebt werde ein im losen Verbund mit allen friedliebenden und fortschrittlichen Völkern stehendes, geläutertes deutsches Volk, sozusagen auf dem Reißbrett geplant, und weit hinten erhebe sich leuchtend das kommunistische Ideal. Noch in diesem Jahrhundert müsse sich der große Menschheitstraum erfüllen, das Geld abgeschafft sein, der bedürftige Mensch in einen bedürfnislosen umgewandelt und in seinen elementaren Ansprüchen aus staatlichen, vielmehr gesellschaftlichen Fonds versorgt werden. Bis dahin gelte es, umzuerziehen, das Wesen des Menschen, zumal des deutschen Menschen, auf eine höhere, bessere Stufe gehoben werden. Denn, die Geschichte entwickele sich gesetzmäßig und das heiße höher; aus dem historischen Chaos in die Ruhe der Harmonie. Anstatt Kriege und der Organisierung von wechselseitiger Ausbeutung, die erhabene Zukunft, die große Vermenschlichung ...

Unser Held zog predigend mit der Roten Armee gen Westen, auf die Heimkehr fiebernd. Seine Stunde schlug Anfang Mai 1945 mit den letzten Schüssen und der Kapitulation des Deutschen Reiches. Nunmehr sollte die neue Welt errichtet werden, aber mit welchem Personal? Das war eine zentrale, vielleicht die schwierigste Frage. Die Deutschen hatten verblendet bis zur letzten Patrone gekämpft. Von den bewährten alten Kämpfern, Genossen, Kommunisten, Sozialisten und von den bürgerlichen Oppositionellen lebten nur noch wenige; ihnen gegenüber war Misstrauen angebracht. Als Beisitzer an den Säuberungsgerichten suchte Beharrer verzweifelt, voller Ablehnung, Hass und echtem Bemühen nach der reinen Seele der Deutschen und fand nur die kleinen Leute mit dem ungepflegten Innenleben, sonderte, so gut es eben ging, die Spreu vom Weizen, filterte aus der amorphen Masse Schuldiger eine dünne Schicht Unbelasteter, Aufbauwilliger, schuf aus dem Bodensatz der Davongekommenen seine Neulehrer und Nachtwächter, Verwaltungsangestellte, Kasernierte Volkspolizisten, Parteisekretäre und alle gebrauchten Kader, ohne eigenen Anspruch. Allerdings, der neue Gottes- und Volksstaat würde ohne Staatsvolk gebildet werden müssen und einer geschlossenen Gesellschaft gleichen; dies wurde ihm klar. Für einen langen Übergang war die Diktatur des Apparates, der Arbeiterklasse, zu errichten, schrieb Beharrer, das nannte er: Die Mühen der Ebenen!, sich an ein Dichterwort anlehnend. Und er erkannte: Das erhabene Umerziehungsprojekt war längst an den historischen Bedingungen des Nachkrieges gescheitert; der neue Mensch, nach den Konzepten von Casablanca, Jalta und Potsdam, verfehlt. Was blieb? Der Rückzug auf den bekennenden Antifaschismus.

Was blieb noch? Die Jugend! Ihr allein brachte der alternde Propagandist jenes Vertrauen entgegen, das er anderen versagte. Straff führte er sie in der neuen Jugendorganisation, der Freien Deutschen Jugend zusammen, versprach ihr den sozialen Aufstieg, Studienplätze an der Arbeiter- und Bauernfakultät, die Führerschaft, baute an der Kaderreserve der Zukunft. - Es wechselten die Strategien, Beharrer wechselte mit, getreu einer Dialektik der austauschbaren Wahrheiten. Er war für den bündnisfreien, einigen deutschen Nationalstaat der Volkskongresse kurz vor Gründung der Bundesrepublik und der DDR, beschrieb ihn werbend in leuchtenden Farben als friedliebend und freundlich, als gerecht und internationalistisch-solidarisch; er schrieb gegen das aufrührerische Volk vom 17. Juni 1953 und ließ sich nur schwer dazu überreden, seine Kritik und Erbitterung über dieses erneute Versagen des Volkes dahin zu mildern, dass es vom Westen geblendet, verführt, getäuscht worden sei. Seine Nachrufe beim Tode Stalins klangen schon heuchlerisch, aber sie füllten die großen Zeitungen. Er fragte, wie es nach dem Tode des großen Führers denn nun weitergehen solle, erkundigte sich bei imaginären Instanzen, wieso nur der große Stalin alles habe wissen können, nicht aber der gewöhnliche Genosse, zu schweigen vom Mensch schlechthin?

Hatte er nach seiner Rückkehr aus der Emigration propagiert, dass kein Deutscher mehr ein Gewehr in die Hand nehmen dürfe, nach einem der Leitsprüche jener Tage, der sehr überzeugt vorgetragen worden war, so deutete er den Ostdeutschen die Gründung der Kasernierten Volkspolizei, frühe Organisationsform einer Volksarmee, als internationalistische Großtat und patriotisch friedenssichernde Handlung. Nach dem XX. Parteitag der KPdSU sinnierte Beharrer wiederum öffentlich über die Niedertracht des Personenkultes in der Stalin-Ära und sprach die Mehrheit aller hiesigen Stalin-Gläubigen von dem Verdacht frei, etwas gewusst zu haben. Zudem hätte er in der DDR keinerlei Verwerfungen festgestellt, alles könne also seinen ruhigen Gang gehen. Sein Jubel begleitete den Mauerbau, gern nahm er auch im Bewusstsein seiner Verdienste um den Antifaschismus staatliche Auszeichnungen und einen hohen militärischen Ehrenrang des Innenministeriums an, fühlte sich als eins mit dem Schwert und dem Schild, begann indessen in jenen Jahren weinerlich zu werden. Die Jahre zwischen 1961 bis zu seinem zeitlichen Ende waren seine erfülltesten. Eigentlich aber begriff er von dem, was wirklich um ihn herum geschah, nur noch wenig, wollte nichts sehen und hören und infrage stellen.

Zum inneren Zirkel der Parteiführung war er nie zugelassen, alle die fixen Laufjungen der Einheitspartei, die ihren Verein mit gelassenem Gestus und um etwas mehr als um acht Groschen alsbald verraten sollten, und von denen er manch einem in den Sattel geholfen, überrundeten ihn als komische Figur spielend leicht. Ein großer Beschwichtiger, wurde er schließlich geschwätzig, leierte immer den gleichen Sermon her, bis er gemieden wurde, ohne es zur Kenntnis zu nehmen. In seinen Vorstellungen war das große Ziel erreicht, nichts stand dem Kommunismus mehr im Wege, ein paar kleine Schritte, und das Werk durfte als vollbracht gelten. Gleich seinem obersten Chef lebte er in der Überzeugung, alle anderen seien Ochs und Esel, das Jahrhundert nehme seinen Lauf nach den persönlichen Einfällen von Parteiführern. Persönlich ging es ihm vortrefflich. Mit den knappen Gütern des Tagesbedarfes stets wohl versorgt, mit nobler Datscha, mit Dienst- und Privatauto lebte er, ohne dass ihm die Idee kam, es könne sich um Privilegien handeln, die mit der angestrebten Gleichheit nicht ganz vereinbar seien; dem Sozialismus hafteten eben noch Elemente von Ungerechtigkeit an, gleichwohl sei er gerechter, als andere Ordnungen, und erst der baldige Kommunismus gebe jedem nach seinen Bedürfnissen. Die Zukunft verhandelte der alternde Propagandist wie ein dramatisches Theaterstück; in seinen Reden und Aufsätzen beschwor er noch immer und immer dieselben Lehrstücke; man näherte sich gesetzmäßig, zwangsläufig dem Zustand der Vollkommenheit und des Glückes. Ihn störte es nicht, dass die jesuitisch gehandhabte Lehre mit der Lebenswirklichkeit längst auseinanderlief, dass die Widersprüche unübersehbar anwuchsen. Wohl hörte er gelegentlich munkeln, dass sich eine Clique des Staates bemächtigt habe, hörte von enormen Wirtschaftsverlusten, unbeherrschten ökonomischen Problemen, dem nahen Zusammenbruch der Volkswirtschaft. Allein er schob alles weit von sich und stand Beifall klatschend, in Selbstmitleid Tränen vergießend, unter den Delegierten des jeweiligen Parteitages. Zuletzt sah er mit Unverständnis einen neuen Stern am sozialistischen Himmel aufgehen, der Gorbatschow hieß, erlebte die Jahrhundertniederlage des Kommunismus jedoch nicht mehr, ward in seinem Glashaus hinweggenommen und hinterließ eine Generation Umerzogener im Zwiespalt. Seine Schüler wurden von der Katharsis einer gescheiterten Inszenierung auf dem Welttheater getroffen; der die Zukunft regelnde mechanische Gott des historischen Materialismus, die Verkörperung angeblicher Gesetzmäßigkeit jeder Entwicklung, erwies sich als bloßes Hirngespinst, angesichts der Wendungen und Sprünge, welche die Geschichte sichtbar vollführte.

Es hatten all die Glaubenspädagogen, die Anbeter des Fortschrittes, soweit sie Intellektuelle waren, mit Anleihen an frühere Epochen nicht gespart, vom freien Volk auf freiem Grund war die Rede im Zusammenhang mit der sowjetischen Bodenreform; von den Siegern der Geschichte beim doch eigentlich unterlegenen Volk der Deutschen war viel geschwärmt, der Nationalsozialismus als Menschheitsfeind und einmaliger Fall, außerhalb jeder Geschichtsbeobachtung stehend, beschrieben worden. Sieger waren allerdings nicht mehr recht auszumachen; so erschien es wenigstens den Umerzogenen bei der Totenfeier ihres Lehrers. Man begrub den alten Kämpfer unter Anteilnahme seiner geprellten Eleven, hinausgeworfenen Hochschullehrern, ehemaligen Offizieren der Volksarmee, Statthalter der Macht des gestürzten Ministeriums für das Innere.

Menschlich wird man Beharrer das Verständnis nicht versagen wollen, zieht man die Epoche in die Betrachtung mit ein, in der er lebte. Ohne Krieg und Revolution wäre er ein braver Mensch geworden, mit ein paar schrulligen Neigungen. Vielleicht hätte er Gemälde gesammelt und würde gescheit über seine Erwerbungen in der Fachpresse geschrieben haben. Im Vorstand eines Vereins zur Pflege und Züchtung von Rosen mit revolutionären Eigenschaften ist er vorstellbar. - Seine noch junge Frau und die aus einer spät geschlossenen Ehe hervorgegangenen Söhne traten nach seinem Tode in die antifaschistische Erbfolge ein. Bis zur Wende genossen sie alle Privilegien des Heimgegangenen, und sie stellten neue Ansprüche unter Hinweis auf die Verdienste ihres Vaters. Der hinterließ eine verlogene Autobiografie, die Geschichte seines Weges zum Sieger der Geschichte. Dieses Buch, bei einem großen Verlag gut vermarktet, was eine Nase für den Geruch des Geldes verrät, ernährt sie nun alle. Die Sippe fühlt sich heute, im bürgerlichen Alltag angekommen und um einige ihrer Vorrechte beraubt, höchst ungerecht behandelt. Das Haus mit Grundstück konnte zwar noch schnell zum Vorzugspreis erworben werden, als die Staatsstreichregierung weit vorausschauend und quer durch alle Parteien ein Gesetz für ihre Lieben zur Sicherung aller fraglichen Besitzstände durch die Volkskammer peitschte. Allein es ergaben sich Komplikationen wegen vorhandener Altansprüche auf die Liegenschaft. Aus vielen Gründen sind also Beharrers auf die Einigung der Deutschen schlecht zu sprechen. Was aus dem Zusammenbruch gerettet wurde, ist die Hoffnung auf einen Neubeginn mit dem aufrecht dastehenden Antifaschisten; den wahren Sozialismus will man noch vor sich haben, weil dem untergegangenen Staat DDR leider manch eines der demokratischen Elemente, wie sie der marxistischen Lehrauffassung eigen, ermangelt hätte.

"Betrachten Sie doch bitte dieses Jugendbild unseres Helden, ein Ölgemälde, wie man sie seinerzeit noch anzufertigen verstand. Prachtvoll steht er da, nicht wahr? Im bürgerlichen Salon, das Klavier im Hintergrund deutet die Beziehungen des jungen Mannes zur Musik an! Solche Darstellungen nannte man seinerzeit Genrebilder. Auf dieses Stück bin ich stolz. - Und weiter: hier sehen wir Beharrer in der kaiserlichen Uniform als jungen Frontoffiziers, dort, 1945, nach der Heimkehr in Zivil inmitten einer Oberschulklasse; unter jungen Menschen fühlte er sich immer ausgesprochen wohl. Von ihnen vertrug er in bescheidenem Maße sogar Widerspruch. Ist das nicht seltsam?"

"Auf mich wirkt dieses monströse Denkmal eher leblos", wagte der Eleve zu bemerken.

"Unzweifelhaft", räumte der Mentor ein. "Alle unsere Plastiken wurden nach Fotografien vermittels eines Computers erstellt; vielleicht kein sehr elegantes, aber ein zeitgemäßes Verfahren. Vor einigen Jahren verfügte das Institut unseres Museums noch über einen sogenannten Bildhauer, einen uralten Herren; er starb uns leider weg und wir müssen uns behelfen, so gut wir es vermögen. Sie werden übrigens leicht einige Varianten des heimkehrenden Emigranten unter unseren Schaustücken entdecken; alle leisteten voller Überzeugung ihre volkspädagogische Aufgabe, manchmal, nach einem internen Gezänk mit der jeweils führenden Clique, wechselten sie verstimmt das Lager, blieben aber natürlich Antifaschisten."

"Sie haben es mit Ihrer Auswahl zeitgenössischer Protagonisten sicherlich getroffen," sagte der Eleve nach einem Blick in den Saal mehr zweifelnd als zustimmend. "Was aber bedeutet dieses Zitat: Gegen dünkelhafte Verhunzung der deutschen Sprache. Für die Pflege des kostbarsten Gutes unseres Volkes!"

"Ah, es ist Ihnen unbekannt? Nun, so lautete eine der Thesen aus Anlass der sogenannten Bücherverbrennung an jenem 10. Mai 1933 schrecklichen Angedenkens; das Datum sollten Sie immerhin kennen."

"Es deckt sich mit Ihrem Privatissimum über den Verfall Ihrer Sprache als dem Beginn der Kulturzerstörung", sagte der Eleve schüchtern. "Wie passt das zusammen, da Sie sich doch andererseits zum Pluralismus bekennen?"

"Offenbar muss ich Ihnen meine Bemerkungen erläutern. - Der Zusammenhang zwischen Sprache und nationaler Kultur, wie er sich am schönsten in der Literatur ausdrückt, ist zunächst einmal unstrittig. Wir hätten ihr also, wollten wir unsere literarische Kultur bewahrt haben, staatlicherseits Förderung angedeihen lassen müssen, etwa in Form eines Staatspreises, wie ihn sogar das Heilige Römische Reich kannte, um Ihnen nur ein Beispiel zu nennen. Aus vernünftigen Gründen haben wir dies unterlassen. Sie werden in der fraglichen Periode auch vergebens nach einem Kulturministerium suchen. Kultur wurde gegen Ende der vergangenen Jahrtausend zum reinen, steuerbegünstigten Privatvergnügen sogenannter Sponsoren. Kulturpolitik fiel ehrgeizigen Parteischranzen in die Hände, Bücher wurden der Regie des Marktes und Literatur den mächtigen Bonzen des Feuilletons überlassen, was eine Menge Literatengezänk ergab, nicht mehr. Sie verstehen, was es bedeutet hätte, einerseits die Nationalkultur zu fördern, aber ihr ihren Nährboden, die Nation, zu entziehen. Folgerichtig förderten wir die buntscheckigsten Vorhaben, sogenannte Projekte, was doch immerhin die Absicherung unseres liberalen Wählerpotenzials bedeutete. Sie sehen also, dass wir die von Ihnen aufgespürte These nicht nur verstanden, sondern sie auch neuartig umzusetzen gewusst haben. Freiwillig entschlugen wir uns unserer Kultur zugunsten dessen, was ich als kulturellen Universalismus bezeichne, entsprechend den Gegebenheiten in unserer Region und einer pluralistischen Gesellschaft aus unterschiedlichen Kulturen, der natürlich ein größerer Zusammenhang ermangelt, ein unumkehrbarer Prozess. - Da haben Sie den zweiten Leitbegriff, wir wenden ihn an, wenn wir unsere Entschlossenheit ausdrücken wollen, eine als bessere Möglichkeit sichtbar gewordene Veränderung zu verhindern. Für die geringe Zahl Intellektueller wurde eine Formel erfunden und eingeführt: Ermangelung einer Alternative, oder simpler, dazu gibt es keine Alternativen!, und wenn sie noch so zahlreich wären. Ich konnte Ihnen in der Eile nur einige Aspekte dieses komplexen Gegenstandes erläutern, um das Bild abzurunden, müsste ich Ihnen mehr von der Masse der Pressebengel reden, die an diesem von uns angerichteten Brei vortrefflich schmarotzen, innerhalb eines handverlesenen Zirkels geistig bedeutungsloser, wiewohl artistischer Modeliteraten, ihr eigenes Lob posaunen und den abgewelkten Lorbeer des Ruhmes reihum wandern lassen. Ich müsste Ihnen von der Vereinsmeierei reden, genannt: Kulturhoheit deutscher Länder, als es sie noch gab, also vor unserer Verwandlung in Regionen; allein wir wollen es dabei bewenden lassen und uns einer der nächsten Gestalten zuwenden, falls es Ihnen, als meinem Gast angenehm ist", schloss der Mentor mit der wichtigtuerischen Überlegenheit des Aufgeklärten.

"Ich kann das alles noch nicht ganz fassen", gestand der Schüler kleinlaut ein, "daher kommt mir Ihr Angebot sehr gelegen."

"Ich wollte Ihnen gerade einen Protagonisten des freiheitlich-demokratischen Typs vorführen ", erklärte der Mentor. "Erwarten Sie keine der holden Erscheinungen in Gestalt von Märchentanten und Sagenonkels, wie Sie Ihnen in einer der irdischen Fibeln für Erwachsene, den Autobiografien, vielleicht schon unter die Hände kamen. In der Regel handelt es sich um völlig freie Schöpfungen leiderfahrener Kämpfer; man ahnt allerdings etwas von der Wahrheit, wenn man zu lesen versteht. - Nun, in diesem Sinne gehört unser Ausstellungsstück in eine Sonderklasse, ich nenne es meinen liberalistischen Anarchisten, was mir meine Mitarbeiter als ein Unding ständig ausreden wollen."

"Das wäre", sagte der Schüler lebhaft, "ein fabelhaftes Gespenst."

"Er stellt das Prinzip der unendlichen Kreisbewegung dar", sagte der Lehrer. "Auf ihn passen viele Metapher ... Reden wir von ihm, als von einem der auszog, das Fürchten zu lehren."

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