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Zweites Kapitel

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1

Im Aprillicht erweckte das Terrain die Vorstellung eines großen Buddelkastens, über den ein Panzerangriff hinweggerollt war.

Auf der gesamten Fläche standen weder Baum noch Strauch. Zwischen den von Planierraupen aufgehäuften Erdwällen ragten noch vereinzelt Hausruinen empor; sie erinnerten an das Dorf Theerberg, das sich mit seinen Ausbauten bis hierher erstreckt hatte. Der lehmgelbe Boden zeigte die Abdrücke von Ketten und die Reifenprofile hochachsiger Transportfahrzeuge. Über die Ebene verteilten sich Bagger, Raupen und Kräne.

Menschen gab es, verglichen mit diesem Aufwand an Maschinen, nur wenig, aber die Vorstellung drängte sich auf, daß der Angriff irgendwo strategisch geleitet wurde. Planlos lief das Unternehmen nicht ab. Das Fehlen von Menschen irritierte, ließ Fragen aufkommen. Wozu diente diese Flurbereinigung? Hinzu kamen die Stille und das Fehlen intensiven Sonnenlichtes. Das blasse Aprilwetter mit dem trügerisch glasigen Himmel verhieß Regen oder Graupelschauer. Die Atmosphäre schien wie elektrisch geladen, und es war schwer, die Temperatur zu bestimmen. Von Zeit zu Zeit strich ein eisiger Wind über das Land. Fehlte er, so herrschte eine ermüdende Schwüle.

Begrenzt wurde das Feld von einem flachen Streifen Wald; was sich an den Seiten befinden mochte, verbarg der Frühdunst. Eine Bahnlinie berührte die Ebene. Hin und wieder rollte ein Zug auf den Geleisen in diese oder in die andere Richtung.

Auf einer mit Schlaglöchern übersäten Straße arbeitete sich eine Lastwagenkolonne in Richtung der Ebene vor. Rechts des Weges fiel die Böschung steil ab. Sie gab den Blick auf eine große Geländesenke frei, die von einem breiten Wassergraben durchschnitten wurde. Er erweiterte sich an zwei Stellen seenartig. Längs der Straße standen schiefe Lichtmaste mit durchhängenden Leitungen; etwa auf der Mitte der Senke zweigte ein Fahrweg zur Mülldeponie ab. Diese schob sich zwanzig Meter hoch von der Böschung aus zum Graben vor, sie hatte den Graben fast erreicht.

An den Straßenbäumen lösten sich die Rinden. Darunter glänzte das Holz gelblich wie Elfenbein. Durch dieses Spalier vergifteter Bäume wand sich die Autoschlange. In dem leeren schwarzen Geäst der toten Bäume hockten Tausende von Krähen und Möwen. Über der ganzen Deponie hoben und senkten sich Schwärme krächzender Aasvögel.

Weiter oben, wo der Wind stärker die Luft bewegte, brannte es. Fetter schwarzer Qualm lagerte über der städtischen Mülldeponie. Hinter dem Graben stieg das Gelände wieder an. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, wo die Kippe einmal enden würde. In nicht sehr ferner Zukunft mußte sie den gegenüberliegenden Rand der Senke erreicht haben und diese samt dem Graben zu einer Fläche vereinen. Noch weiter jenseits des Grabens zog sich ein flacher Höhenzug hin mit einem Aussichtsturm, der trotz des Dunstes gut zu erkennen war. Wie zum Hohn hatte sich ein Holzschild erhalten, Naturschutzgebiet, die Eule als Wahrzeichen darüber; es verschwand allmählich unter dem Müll der Zivilisation. Die Luft war mit dem Pesthauch verwesender organischer Stoffe erfüllt. Hin und wieder hatten die Räder der Wagen Ratten erfaßt. Ihre Kadaver bildeten einen schlüpfrigen Belag auf der Straße.

Dicht gedrängt saßen die Männer auf den Pritschen der Lastwagen. Einige rauchten und warfen die Kippen durch die hinten geöffnete Plane. Mit großem Sicherheitsabstand quälten sich die Wagen durch die Schlaglöcher. Es wäre zwecklos gewesen, den Aufbrüchen auszuweichen. Schon der Versuch führte die Wagen in ein anderes Loch, das vielleicht noch schlimmer war. Die Fahrer, die den Weg schon kannten, fuhren mit niedrigen Gängen. Ihre Hände umklammerten die Lenkräder, bereit herunter- oder heraufzuschalten.

Nicht alle Wagen transportierten Menschen, sogar die Mehrzahl nicht. Der größte Teil war mit Zelten und Ausrüstungsgegenständen beladen. Auf einem, am Schluß der Kolonne fahrenden, Tieflader war ein Kran festgekeilt. Das gelbe Warnlicht, das auf dem Dach des Transportfahrzeuges rotierte, zeigte auch das Ende der Kolonne an.

Nur schwer kam die Vorausabteilung voran. Der an der Spitze rollende Personenwagen, der leichter bewegt werden konnte, hielt alle Augenblicke an dem abschüssigen Rand der Deponie, um die Kolonne aufrücken zu lassen. Ein letztes Mal hielt der Pkw am Ende der Müllkippe. Von dort führte die Straße weiter über eine Brücke, hinter der sich die wuchtigen Tore einer alten Schleuse befanden, ins Dorf. Es war kein großes Dorf. Neben der Schleuse stand ein Gasthof, der folgerichtig «Zur Schleuse» hieß.

Die Leute in dem Pkw ließen die übrigen Fahrzeuge herankommen. Dann wies jemand die Lkws ein. Sie verließen die Straße und rollten auf einen ziemlich großen Parkplatz um sich in fast militärischer Ordnung nebeneinander aufzureihen. Als die Männer in den Gastraum gingen, begann es zu regnen.

2

Fünfzehn Menschen verteilten sich an die für sie reservierten Tische. Mindestens zwei Wochen lang sollten die Leute der Vorausabteilung in den Gästezimmern der «Schleuse» wohnen. Noch war unklar, ob sie dann in Zelte übersiedelten oder in eine der Baracken. Gallas vermutete, daß der vorhandene Platz in den Baracken kaum für die Stäbe reichen würde. Auch in einer anderen Runde als unter Bauarbeitern wäre der vierunddreißigjährige Gallas aufgefallen, ein entschlossener Alleingänger, widersprüchlich bis in die Fingerspitzen. Es gab nur wenige, denen Gallas nicht mißtraute, und noch weniger, die er nicht angegriffen hatte. Gallas, grauäugig, mit kurz geschnittenem, fast blondem Haar, ließ nie einen Zweifel an seiner Unfehlbarkeit zu. Er war der geborene Herausforderer; wenn er nachdachte, kniff er die Augenlider zusammen und hob die Mundwinkel leicht an. Deshalb erschien er ewig im Zorn, und dieser starken, nach außen gerichteten Natur entsprach auch sein Körper. Gallas war wie geschaffen für Strapazen. Er suchte sie beinahe.

Die Ankunft im Dorf besserte seine Laune nicht gerade. Jetzt hätte er einen gebraucht, an dem er sich reiben konnte, aber erstens waren die anderen mit Essen beschäftigt, und zweitens kannten sie ihn. Um einer Kleinigkeit willen mit Gallas in Streit zu geraten lohnte nicht, der würde den Krach bis auf die Spitze treiben. Gallas schob die Suppe beiseite und zog sich das Hauptgericht heran, Fleisch und junge Erbsen. An dem Essen war nichts auszusetzen, und so schwieg er.

Sie würden für Monate in der «Schleuse» essen, und aus Erfahrung setzten sie keine hohen Erwartungen in die Küche der «Schleuse». Später würde in der Kantine gekocht werden, was unter Umständen nicht besser war.

Weichand, der älteste in der Vorausabteilung, fünfzig vielleicht, ein fleischiger Mann, der an Freßsucht litt, zog seinen Rucksack heran, öffnete ihn und entnahm ihm ein Eßbesteck. Außerdem legte er ein kleines Weißbrot heraus, das noch nicht angeschnitten war. Er brach es in der Mitte wie ein Stück Holz und begann genußreich Suppe und Brot zu essen.

Verdrossen über die Ruhe Weichands, nervös vom Stillsitzen und der Tatsache, daß nichts geschah, sagte Gallas: «Wetten, daß der Dicke das ganze Brot auffrißt?»

Friedlich grinsend aß Weichand weiter, sein Bauch stieß gegen die Tischkante. Er schob den Stuhl zurück und setzte sich bequemer.

«Den bring mal aus der Ruhe», brummte Gallas.

«Laß ihn in Frieden», sagte Fouché. «Die könnten uns unsere Zimmerschlüssel geben. Ich will mich hinhauen, heute spielt sich ja doch nichts mehr ab.»

Fouché kannte Gallas von anderen Baustellen. Fouché saß steif auf seinem Stuhl und hob den Löffel an den Mund, als müsse er die Suppe schluckweise prüfen. Er sprach altmärkische Mundart, G wie J: «Sieh mal, Jallas, die janze Jejend is een Dreck.»

Kachulla, der beste Beobachter in der Gallas-Gruppe, hatte daraus einen Spitznamen für Fouché geformt, Jewiejot. Gerufen wurde Fouché meist Futsch.

Alles Aufziehen ließ Fouché indessen kühl. In dieser Gruppe galt er als der erste Mann nach Gallas. Übrigens hielt er selbst viel von sich und auf sich. Sein Geld trug er in Exquisitläden, von deren Kleiderständern er sich sein Aussehen borgte. Was unnötig war, denn Fouché, jung, schwarzbärtig, wirkte auf Frauen und pflegte eine philosophische Veranlagung: «Sieh mal, Jallas, wie eener arbeitet, das siehste meistens daran, wie er anjezojen jeht.» Er hob den Zeigefinger bis in Augenhöhe.

Gallas schob die Hand Fouchés weg und sagte nachsichtig: «Leck mich mit deinen Theorien, euch bring ich schon auf Trab, meinetwegen nackt.»

Kachulla sperrte, lautlos lachend, seinen Rachen auf: «Galli-Galli.»

Kachulla war ein kleiner fuchsartiger Mann, der sich ständig umsah, als erwarte er einen überraschenden Angriff. In seinem spitzen Gesicht lagen braune Augen dicht beieinander. Mit Kachulla gab es oft Ärger, ein unbeständiger Charakter, der sie schon einmal verlassen hatte, um freilich bald wiederzukommen. Kachulla hatte wegen eines Totschlages gesessen. Er genierte sich wegen seiner Gefängnisstrafe und antwortete, nach den Gründen befragt, mürrisch: «Wegen Alkohol.»

Mit Ausnahme Weichands standen die Männer an diesem Tisch ungefähr im gleichen Alter, und Gallas sagte sich, daß diese Gruppe wahrscheinlich den Kern bilden werde. Er empfand etwas wie freundliche Nachsicht gegenüber den anderen und rätselte beim Essen darüber, wie er sie einsetzen würde. Er hätte sie aufteilen können, zur Aufmunterung für die Schlappschwänze und Marschhinker. Das wäre die eine Möglichkeit gewesen, aber Gallas, der sich selbst und andere mit den Worten: «Na los, dalli, dalli» in Atem hielt, woraus der findige Kachulla galli-galli gemacht hatte, dachte weiter. Sie stellen hier die Elite dar. Der Gallas-Clan bestimmte die Norm, die durchschnittliche Höhe des Einkommens. Sie galten als Querköpfe, standen auf keiner Bestenliste, aber sie wurden dringend gebraucht. Alle Gallas-Leute arbeiteten ungewöhnlich gut, nach alten Vorstellungen von Qualität. Das machte sie bei manchen Bauten unentbehrlich. Sie wußten von ihrem Ruf und von seiner Kehrseite; daß sie nie genannt wurden, machte ihnen nichts aus. Dieser Trupp hatte eine Geschichte und ein großes Selbstbewußtsein.

Als Gallas jetzt die Möglichkeit andeutete, sie aufzuteilen - eine Frage, nichts weiter, zumindest für Gallas -, sprang ihn Fouché an: «Du hast sie wohl nicht alle? Denkst du, ich bin hier zum Spaß? Soll jeder sehen, wo er bleibt.»

«Immer sachte.» Innerlich stimmte Gallas Fouché zu. Es ging natürlich um Geld. Denn weshalb drückte man sich draußen in Dreck und Speck herum, während die Arschlöcher sich in den Büros die Hände an der Heizung wärmten? Na also.

An den übrigen Tischen herrschte Schweigen. Es wurde gegessen. Dann bestellten die Leute Bier und Schnäpse. Alle blieben sitzen, in Erwartung, wie sich der Rest des Tages gestalten würde.

3

Obgleich ihnen in der «Schleuse» sechs Tische vorbehalten waren, hatten die Männer nur vier davon besetzt. Zwei Vierertische waren zusammengeschoben worden, so daß jetzt acht Mann zusammensitzen konnten. An dem dritten Tisch saßen die restlichen drei der fünfzehn. Was auf den ersten Blick wie zufällig aussah, war der Anfang eines Zusammengehörigkeitsgefühls, oder anders ausgedrückt, der Cliquenbildung. Die Männer kannten sich noch nicht gut genug. Freundschaften bestanden noch nicht, aber instinktiv nickten die am Achtertisch zusammen, spürend, daß sie sich irgendwie ähnelten.

An den Wänden der Gaststätte waren Gepäckstücke aufgereiht, Rucksäcke mit aufgeschnallten weißen Helmen, Luftkoffer, Reiselords oder einfach Taschen und Koffer.

An dem Achtertisch saßen vorwiegend jüngere Männer, einige mochten Romantik und Abenteuerlust bewogen haben, Vertrag für die Baustelle zu nehmen. Bleuel, ein kräftiger Bursche, den der Bart älter machte, drückte es für Neumann und Ernst so aus: «Ich hab ja schon manches gemacht, Männer; 'n Bus hab ich gefahren, bei der Verkehrspolizei war ich auch. Hab also schon allerhand gesehen. Hier mach ich Geld, mein Traum wär'n Büsching und internationale Tour, die große Tour und das große Geld» Er nahm sich eine Zigarette und warf die angebrochene Packung großspurig auf den Tisch. «Bedient euch, Männer.»

«Die große Tour, das große Geld», vorsichtig polkte sich Ernst eine Zigarette aus der Schachtel, ehe er sie weiterreichte. «Ehe du da hinkommst, Mann, bist du dreihundert Jahre alt», sagte er. «Wahrscheinlich hat keiner von uns die richtige Kaderakte. Denkst du, die schicken dich auf'ner teuren Chaise nach Hamburg, ohne Sicherheit? Überhaupt kannst du so einen Zug fahren?»

Ernst war ein drahtiger kleiner Kerl mit frauenhaft geschwungenem Mund und bartlosem Kinn. Selbst die Koteletten, die er sich stehen ließ, kräuselten sich nur in dünnem Flaum, was Ernst bekümmerte. Er wirkte noch unfertig, während Bleuel mit seinen fünfundzwanzig Jahren wie dreißig erschien.

«Hast du nicht mal einen Unfall gebaut?», fragte Ernst.

«Na, Mann, ich werde doch wenigstens noch mal auf was hoffen dürfen.» Bleuel wich zurück. «Willst du so werden wie die alten Säcke da drüben?»

Hier formten sich Träume und zerrannen Hoffnungen und Neumann sagte: «Erst mal werden wir schuften, daß uns die Schwarte knackt. Was nach der Baustelle kommt, wird sich schon finden.»

Neumann verschmähte es, sich aus Bleuels Zigarettenpackung zu bedienen, seine knochigen Finger fischten Pfeife und Tabak aus den Taschen. Neumann war lang wie ein Pfahl und hatte ein unsymmetrisches Gesicht. Der eine Mundwinkel senkte sich, dafür hob sich das gegenüberstehende Auge. Diese drei Jungen bildeten schon eine Gruppe für sich an dem Achtertisch, sie waren auf dem Bahnhof und im Lkw auch die Wortführer gewesen. Die übrigen fünf, Franseg, Becker, Vogt, John und Herold, glichen einander sehr, was vielleicht daran lag, daß sie, eben aus der Armee entlassen, noch die Zeichen militärischer Gleichheit trugen. Haarschnitt, Gesichter und Haltungen drückten wenig Individualität aus. Alle fünf hatten eine gemeinsame Bindung an disziplinierende Lebensformen und fügten sich im Übrigen auch rasch unter die Autorität Bleuels, obgleich Vogt leise sagte: «Der haut ganz schön auf den Käse, Männer.»

Der wachsame Bleuel fing den Satz auf und fragte herausfordernd: «Was Interessantes an mir entdeckt?»

Der lange Neumann beugte sich so weit vor, daß er von allen fünf gesehen werden konnte, und sagte aggressiv: «Haltet man lieber eure Schnauzen, ja?»

«Schon gut», sagte Vogt, und es war offensichtlich, daß er weder Bleuel noch Neumann fürchtete, sich aber auch auf keinen Krach einlassen wollte.

In dem Gefühl, daß sie über einige Jahre zusammen leben mußten, verwischten sie die aufgekommene Mißstimmung, rauchten, tranken Bier und begannen sich leise zu unterhalten.

4

An dem schrägstehenden Tisch saßen drei ältere Männer. Bewußt hielten sich Schulz, Hermann und Pauli abseits von den Bauarbeitern. Schulz leitete die Mechanik oder sollte sie leiten. Pauli und Hermann waren Schlosser, die ihm unterstanden, strukturmäßig, wie Schulz sagte. Diese Drei waren gelassene Grauköpfe, die lieber zu Hause geblieben wären.

Hermann, der Keks aß und aus einer Thermosflasche Tee trank, weil er an einer Gastritis litt, stellte sich eine Prognose: «Ich werde das nicht durchhalten. Meine Alte hat mich für verrückt erklärt, als ich ihr sagte, ich geh mit meinem kaputten Magen rauf in das Kaff hier, und sie hat ja recht. Ich muß ja wirklich nicht alle beisammen haben», er schluckte den säuerlichen Speichel hinunter, «wenn man wenigstens was Ordentliches essen könnte.»

«Was hast du eigentlich», fragte Pauli.

«'ne Entzündung inwendig im Magen, wenn du was merkst, ist es schon zu spät.»

«Vielleicht ist das Krebs», sagte Pauli.

Schulz bestellte Kaffee und einen Weinbrand, von dem Weinbrand trank er zuerst, schüttete den Rest in den Kaffee und bemerkte: «Wenn deine Magengeschichte nicht besser wird, fährste nach Hause.»

«Wann?»

Diese Frage war bedeutend heikler als die noble Anordnung. Diplomatisch sagte Schulz: «Zu einem langen Wochenende.»

«Sicher hängt es mit den Nerven zusammen», überlegte Pauli, «reg dich nicht soviel auf, dann wird es schon besser.»

Hermann nickte zustimmend, sah hinüber zur Schleuse, dann zu den Männern an den Tischen. «Die haben sich schon fein säuberlich getrennt. Es ist ja immer dasselbe, kennen wir nun schon seit vielen Jahren. Die wollen was erleben, vor allem wollen sie Geld verdienen. Hier ist zum Wochenende Mord und Totschlag, in diesem Nest mit einer einzigen Kneipe. Eins weiß ich, Freitag bin ich weg wie Schmidts Katze.»

Schulz lachte meckernd. «Waren wir anders? Galli wird die schon einspannen.»

Er kannte Gallas recht gut, denn sie arbeiteten seit Langem im selben Baubetrieb, der auch hier als Auftragnehmer fungierte. Schulz, mit rundem Gesicht, hinter faltenreichen Lidern liegenden grauen Augen, von behäbiger Statur, suchte immer nach einem Ausgleich. Pauli, vielleicht Mitte Fünfzig, war klein, wendig und besaß als hervorstechende Eigenschaft eine durch nichts zu stillende Neugier. Hermann war groß, hager, und hatte ein langes Gesicht von kränklichem Aussehen.

«Die ältesten Dackel schicken sie hierher», sagte Pauli. «Deine Alte hat dich ohne Weiteres gehen lassen?»

Diese an Schulz gerichtete. Frage interessierte auch Hermann. «Meine hat mich glatt für verrückt erklärt», wiederholte er.

«Was brauchen wir denn? Ums Geld? Das verdien ich auch so daheim.» Mit beiden Händen winkte Schulz ab.

«Ohne Parteiauftrag wärst du doch auch nicht gegangen», stichelte Pauli weiter.

«Schon wieder ein Grund für mich, nicht drin zu sein», bemerkte Hermann, übersehend, daß er selbst auch ohne Auftrag gekommen war.

Seiner Aktentasche entnahm Schulz ein Bündel Papiere, eine Mappe und die Telefonkartei, was bedeutete, er gehe jetzt zur Tagesordnung über. Vorher winkte er noch den Wirt heran und bestellte eine Runde Schnaps.

«Für mich nicht», sagte Hermann, «dann kannste mich schon jetzt begraben. Was haben wir denn für Technik?»

«'ne ganze Menge.» Schulz stellte Teller und Tassen zusammen, brachte sie zum Nebentisch, um Platz für seine Listen zu haben, und setzte sich wieder auf den Stuhl am Fenster: «Wir werden die erste Zeit wahrscheinlich bloß hin und her fahren und Ersatzteile ranschaffen müssen. Dafür haben wir zwei Fahrzeuge, damit müssen wir auskommen. Ich hab gleich gesagt, mit drei Mann hier raufzugehen hat keinen Zweck, aber ihr kennt ja unseren Saftladen. Nicht mal 'ne Grube ist da.»

«Ich denke», sagte Pauli, «die wollen hier ein mächtiges Kraftwerk bauen? Es sollte ja auch eine unheimliche Ehre sein, hier raufzugehen. Die Besten in die vorderste Linie?»

«Nun will ich euch mal meine Meinung sagen», Hermann schaltete sich wieder ein, «wenn sich das hier nicht einigermaßen einspielt und bald einspielt, dann hau ich ein den Sack. Ich bin ja nicht verrückt, daß ich meine Gesundheit ganz ruiniere. Was ist das überhaupt für eine Scheißgegend? Habt ihr den Mülldreck gesehen? Und die Baustelle? Seht euch mal die Kneipe hier an, könnt ihr euch vorstellen, was hier übers Wochenende los ist?»

«Null», sagte Schulz bedrückt, «wir müssen eben sehen, daß wir bald in die Wohnbaracke kommen.»

«Ist auch nicht besser.»

«Seid mal still», sagte Pauli «der Alte will was erzählen.»

5

Der Leitertisch bot gleichsam einen Altersquerschnitt vom jüngsten Sprinter bis zum abgebrühten Profi. Doktor Koblenz, Oberbauleiter, hatte noch vor dem Essen seine Armbanduhr abgenommen und auf den Tisch vor sich gelegt. Pünktlich um halb zwölf, wie mit dem Wirt der «Schleuse» vereinbart, stand das Mittagessen auf dem Tisch. Jetzt ging es auf halb eins. Mit einem Blick rundum stellte Koblenz fest, daß die Leute der Vorausabteilung vom Essen zum Trinken übergegangen waren.

Koblenz war keine stattliche Erscheinung, selbst hinter seinem Schreibtisch wirkte er meist wie ein kleiner Referent, übergenau in der Arbeit und lächerlich korrekt in Kleinigkeiten. Im Gehen zog er den linken Fuß etwas nach. Freilich sah man Koblenz selten gehen, er bevorzugte selbst für ganz kurze Strecken das Auto, fuhr stets die neuesten Modelle und schreckte vor keiner Geldausgabe zurück, falls ein schnellerer Wagen auf den Markt kam. «Machen Sie sich mal klar, daß Treibstoff fast so teuer wie Kaffee ist», mit diesem Satz überraschte er seinen Zuhörer, der sich dann auch häufig in düstere Berechnungen vertiefte.

Hinter der randlosen Brille funkelten blaue Augen, über der Stirn war der Haarwuchs so spärlich, daß die rosige Kopfhaut hindurchschimmerte. Feste, energische Lippen schlossen sich über vorstehende Zähne.

«Wir wollen in fünf Minuten anfangen»

Koblenz band sich seine Uhr um das Handgelenk, und gehorsam wie Automaten standen Gablenz und Alters auf.

Gablenz war ein mächtiger, kompakter Fleischberg, ganz Ruhe. Alters wirkte dagegen beweglicher, seine Gestalt war nur mittelgroß. Gablenz benötigte seine Brille nur zum Lesen und Schreiben, aber Alters brauchte dauernd eine Brille.

«Wer hat die Dias?»

«Sie sind im Wagen», sagte Alters.

«Dann hol sie», Doktor Koblenz reichte ihm die Wagenschlüssel. «Ihr könntet mal die Kinoleinwand aufstellen.»

Das Ihr richtete sich an Gablenz und Kisko, einen jungen Mann von höchstens dreißig Jahren, der mit am Tisch gesessen hatte, jetzt aber aufgestanden war. Kisko, Gablenz und Alters bildeten den Stab der Vorausabteilung, Gablenz und Alters kannte der Oberbauleiter, Kisko war noch ein unbeschriebenes Blatt. Koblenz empfand einen heftigen Widerwillen gegen den jungen Mann, er hatte überhaupt etwas gegen Absolventen. Diese Abneigung beruhte allerdings auf Gegenseitigkeit. Jetzt erwartete Koblenz Einspruch von dem jungen Bauingenieur, der Oberbauleiter wußte natürlich genau, daß der Ton, in dem er seine Anordnung gegeben hatte, ihrem Verhältnis nicht angemessen war.

«Kann ich erst mal telefonieren», fragte der junge Mann. «Nachmittags hast du genügend Zeit.» Koblenz spürte den Versuch Kiskos, sich aufzulehnen. Der glaubte sich in seiner Würde als Bauingenieur verletzt, in seiner Würde als Sohn eines berühmten Mannes; ein Karrierist, ein Mann ohne Biografie war Kisko. Hier würde er eine Geschichte bekommen, oder er würde untergehen. «Wir wollen jetzt keine Zeit mehr vertrödeln, ich will später noch auf die Baustelle raus.» Er wandte sich direkt an Kisko. «Du kannst ein Teilobjekt übernehmen, bis Pilgramer kommt.»

Er ließ sich Zeit, er ließ dem Anderen Zeit. Kisko verstand, daß er ein Ersatzmann war.

Gablenz fragte: «Hast du den jungen Pilgramer aufgerissen?»

Doktor Koblenz bildete sich nicht wenig darauf ein, Kader zu finden. Es war so etwas wie ein Gesellschaftsspiel für ihn. Fähige Leute sind rar, meinte er, und wer einen guten Kader auftrieb, der war selbst ein fähiger Kopf.

Allein zurückgeblieben lehnte der 0berbauleiter den Rücken an die Stuhllehne und ließ seinen Blick von Tisch zu Tisch wandern. Da saßen die drei Maschinentechniker, unentbehrliche Leute, die Koblenz kannte und die ihn kannten, die wußten, daß er alles durchschaute, jedes Manöver, jede Manipulation. An dem großen Achtertisch saß das junge Gemüse, das sich in ein Pionierleben hineinträumte. Die wollten etwas erleben, Ungebundenheit, Freiheit. Sie sollten was erleben, sagte sich Koblenz. Viel wert waren diese acht Jungen sicherlich nicht, zumindest nicht in der ersten Zeit, in der schweren Periode des Anfangs. Auf der Suche nach Unterstützung, nach Rückhalt geriet Koblenz Blick an den Gallas-Tisch. Die alten Leute hatten sich sofort wiedergefunden, sie zeigten durch die Tischordnung deutlich, wie ungefähr die künftigen Autoritätsstrukturen verlaufen würden, Gallas, Weichand, Fouché, Kachulla; Koblenz entsann sich sofort gemeinsamer Arbeit. Die wußten, was sie erwartete, die ließen sich zwar nicht widerspruchslos hin und her schieben, schon gar nicht Gallas, dafür brauchte man aber auch nicht dahinter zu stehen und jeden Handgriff zu kontrollieren. Betonfacharbeiter, Eisenflechter, Maurer, die noch gelernt hatten eine Mauer tadellos hochzuziehen, eine Wand zu putzen, ohne daß sie Wellblech glich. Manches korrigierten sie ohne Aufhebens und Gallas ersetzte zwei Bauleiter. Namentlich Gallas liebte Koblenz. Gallas schien ihm beinahe verwandt, und so winkte er auch jetzt zum Tisch hinüber, und seine scharfe Stimme klang durch die Gaststube: «Gallas, kommen Sie doch mal auf einen Moment rüber, ja?» Er beobachtete, wie Gallas in Ruhe sein Bier austrank, etwas zu Kachulla sagte, Weichand die Hand auf die Schulter legte und aufstand. Gallas hatte einen federnden athletischen Gang. Ein kurzer Rumpf bewegte sich auf langen kräftigen Beinen, ein Seemann, Soldat oder Akrobat hätte Gallas sein können, und er vereinigte wahrscheinlich alle die Eigenschaften in sich die Soldaten, Seeleute und Akrobaten ausmachten. Sein hartes, kantiges Gesicht mit den leicht angehobenen Mundwinkeln und den zusammengekniffenen Augenlidern, dieses Mißtrauen und Suchen ausdrückende Gesicht eines stahlharten Burschen gefiel Koblenz außerordentlich.

Wärme überflutete ihn, als er Gallas aufforderte, sich zu setzen, und ihn zu einem Glas einlud; sichtbar für alle zeichnete er den Bauarbeiter Gallas aus. Alle beobachteten den Vorgang, und Gallas sowohl als auch Koblenz waren sich der Wirkung dieser Szene bewußt. Koblenz bekräftigte es noch, indem er sagte: «Ja, Gallas, das wird eine harte Nuß werden mit diesen aufgeregten Schneiderlein dort drüben, was meinen Sie?»

«Sicher», erwiderte Gallas, «darüber haben wir eben auch gesprochen.»

«Ich will Ihnen erst mal sagen, daß ich froh bin, Sie hier zu haben, ich rechne auf Sie, wir paar Mann sind nur ein elend kleiner Haufen, was, Gallas? Ich will den Leuten jetzt das Vorhaben erläutern, und hören Sie, wie wollen wir die Trupps einsetzen? Wir müssen unbedingt ganz kurzfristig eine leidliche Baracke zusammenbauen. Telefon brauchen wir auch sobald als möglich. Ich bin jetzt ganz Ohr?» Koblenz lächelte und winkte den drei Bauleitern zu, die Leinwand und Bildwerfer aufstellten. Dazu mußten die Tische geräumt werden, es gab ein Durcheinander und eine angenehme Unterbrechung, geschah doch jetzt endlich was.

Das Gerenne beobachtend, sagte Gallas: «Kann sein, wir vier gehen in den Gruppen unter. Wir haben uns überlegt, daß es besser ist, wir bleiben auf jeden Fall erst mal zusammen. Die Jungen ziehen wir uns nach Bedarf ran. Kann der Bauleiter drüber verfügen.»

«Wissen Sie was?» Koblenz wandte sich Gallas ganz zu. «Ich möchte Ihnen diesen ganzen Quark aufhalsen. Ich werde in den ersten Wochen wenig Zeit haben, ich werde überhaupt wenig Zeit dafür haben. Gründen Sie eine Brigade oder ein Damenkränzchen. Sie wissen wahrscheinlich am ehesten, wie man so etwas auf die Beine stellt.»

Gallas, der begriff, was ihm angeboten wurde, sagte vorsichtig zu, aber er war stolz. Diese Auszeichnung entsprach seinen Erwartungen. Er sagte sich auch, daß Koblenz gute Gründe hatte, in diesem schwachen Trupp nach kräftiger Unterstützung zu suchen. Bald, in einem Jahr, sah es schon wieder anders aus. Gallas wußte gut, daß die Baustelle sich rasch verändern, ein Gewirr von Kolonnenwagen, Baracken, Fahrzeugen und Menschen darstellen würde, für den Außenstehenden kaum überschaubar. Andererseits wunderte sich Gallas, daß Koblenz diese wichtige Sache scheinbar auf die leichte Schulter nahm. Wich ihm der Alte aus? Wer war zum Beispiel sein, Gallas, Bauleiter und unmittelbarer Vorgesetzter? Vier Mann ließen sich als eine Brigade kaum zusammenhalten.

Daß sich Koblenz mit diesen Problemen beschäftigte, bewies er durch die anschließende Frage. «Weshalb haben sich übrigens nur so wenige für Theerberg gemeldet?»

Gallas hob die Schultern. «Familie, Alter, Krankheit; hatten alle ihre Gründe.»

«Ja natürlich», sagte Koblenz, «wir müssen halt auskommen. Na, das sind wir gewohnt. Ich seh Sie nachher noch.»

Damit war Gallas verabschiedet. Er trank den Schnaps aus und ging an seinen Tisch zurück.

«Was wollte der Olle denn?», fragte Kachulla.

«Hat Schiß», sagte Gallas. «Ruhe mal jetzt. Er will dem jungen Gemüse einen Vortrag halten.»

Und Koblenz sagte mit seiner scharfen Stimme: «Stellen Sie bitte das Rauchen ein, Getränke werden jetzt auch nicht ausgegeben.»

Am Achtertisch wurde gemurrt, und Gallas schickte einen wütenden Blick hinüber, der Blick traf Bleuel, der sich umwandte und verstummte.

6

In das glatt und kahl gewalzte Gelände, auf dem die Planierschilde der Raupen eine bearbeitbare Großfläche herstellten, sollte ein mächtiger Kraftwerkkomplex gebaut werden. Für die Wahl des Standortes waren von den Geologen ermittelte Braunkohlelager maßgebend gewesen. Schwere Turbinen sollten später Energie liefern, ein halbes Dutzend Kühltürme um das Komplexgebäude, das Maschinenhaus, herum gruppiert werden. Dutzende Baulichkeiten für verschiedene Zwecke mußten zusätzlich entstehen.

Koblenz redete klar und zusammenhängend, er vermochte die komplizierte Planung faßlich darzustellen, verlor sich nicht in Zahlen, gab aber dennoch einen Begriff von den Aufwendungen. Neu war, daß an dem Großprojekt mehrere Nationen zusammenwirken sollten, sowjetische Energiefachleute, polnische Kühlturmbauer, ungarische Elektroniker. Einige Dutzend in- und ausländischer Betriebe mit verschiedenen Direktionen zählte Koblenz auf. Dann ging er, nach einer Pause, zu den dringendsten Teilaufgaben über. Der Rest des Nachmittags wurde mit dem Puzzlespiel der notwendigen Kleinigkeiten vertan, der Einteilung der Zimmer in der «Schleuse», den Versorgungsproblemen, Transportproblemen. –

Spät am Nachmittag fuhren Gallas, Koblenz und Kisko hinaus auf den Bauplatz. Koblenz hielt, sich an der Lageskizze orientierend, vor einer flachen Grube. An vier Ecken standen die Stangen der Geometer; eine Ziffer auf einem Schild bezeichnete das Bauwerk, das entstehen sollte.

«Hier führt die Haupttrasse vorbei», bemerkte Koblenz, «prägen Sie es sich ein, Gallas.»

Gallas, der ein gutes Gedächtnis für Gelände besaß, konnte sich ohne Mühe die künftigen Wege vorstellen, eine Sache, die Koblenz besonders an Gallas schätzte.

«Hier müßt ihr morgen beginnen.»

Gallas nickte. «Geht in Ordnung, wir fangen morgen an.» Er überlegte, suchte nach Worten und erklärte: «Für die Arbeit reichen wir vier.»

«Gut», Koblenz ging zum Wagen, «Kisko ist Ihr Bauleiter.» Überrascht sah Gallas auf. Er hätte Gablenz den Vorzug gegeben, dessen Leitungsstil er kannte.

«Was heißt das, wir vier», fragte Kisko.

«Wir Alten. Bei uns sitzt jeder Griff, in zehn Tagen steht die Baracke, ach was, kann sie bezogen werden»

Gallas überschlug die Fristen, bis jetzt lagen noch nicht einmal die Fundamente, standen die Montageteile noch im Werk oder auf dem Bahnhof. Ein paar Hände mehr hätte er gut brauchen können.

«Nimmst du den Mund nicht etwas zu voll, Kollege Gallas?»

Nach dieser Frage konnte Gallas nicht mehr zurück. Er wollte sich behaupten. «Teilen Sie anders ein, Sie sind der Bauleiter», erwiderte er scharf.

«Es ist nicht nötig, daß Sie sich aufregen. Es war nur eine Frage, knapp genug sind wir mit Leuten»

Unsicher geworden, sah sich Gallas nach Koblenz um. Der hatte die Kühlerhaube seines Autos geöffnet und kontrollierte den Ölstand.

«Ich glaube, wir sollten hier eng zusammenarbeiten.» Kisko suchte tastend nach Grund, überall fand er Widerstände, selbst ein Bauarbeiter, wenn auch ein erfahrener, glaubte ihn übergehen zu können, und Koblenz sprang ihm nicht bei.

Mit dem Ausdruck einer trägen, sich eben entwickelnden Feindschaft bemerkte Gallas: «Keine Frage, Kollege Kisko.»

Koblenz klappte die Kühlerhaube zu, wischte sich die Hände an einem Lappen sauber und wirbelte den Autoschlüssel spielerisch herum. Ihn amüsierte die Lage Kiskos. Koblenz hatte sich längst für Gallas entschieden. Nach diesem Geplänkel würde die Baracke in spätestens drei Wochen beziehbar sein, eine akzeptable Frist. Die Lösung ging auf Kosten Kiskos. Kisko hatte, wie unter Bauarbeitern üblich, den Brigadier erst einmal geduzt. Auf dieses Du war Gallas nicht eingegangen, der doch all und jeden duzte und nichts dabei fand, wenn ihn wildfremde Menschen mit Du ansprachen. Aber hier drückte sich mehr als ein Versehen aus. Das freundschaftliche Du hatte im Laufe dreier Jahrzehnte allerlei Wandlungen durchlaufen. Es war gut, die Unterschiede zu kennen, das Zeremoniell zu beherrschen. Koblenz wäre nie auf den Einfall gekommen, den Brigadier zu duzen, nachdem dieser selbst eine Respektschranke errichtet hatte. Gallas hätte das als einen Anbiederungsversuch gewertet. Andererseits duzte Gallas Alters und auch Gablenz. Übrigens würde Koblenz, wie er sich gestand, im Falle Kiskos auch die förmlichere Anrede vorgezogen haben, wären nicht er und der junge Mann Genossen gewesen.

«Laß Gallas machen, wie er es wünscht. Die Leute haben das untereinander ausgekaspert, greif da nicht ein.»

Kisko wollte sagen, dann bin ich ja überflüssig, aber er schwieg, wissend, daß Koblenz ihm nicht vertraute und ihm scharf auf die Finger sah.

«So ein Schiff wollte ich immer mal steuern», sagte Gallas mit einem begehrlichen Blick auf das Auto des Doktors.

«Na, man los», Koblenz drückte ihm die Schlüssel in die Hand, «dann steuern Sie uns mal nach Hause. Was haben Sie denn für eins.»

«'n alten P70», sagte Gallas, «vielleicht kriege ich hier ein neues Auto zusammengespart.»

Koblenz ließ selten einen Fremden ans Steuer, jetzt machte er eine Ausnahme.

Biografie

Bernhard Gallas - ein Mann werden

Das Dorf, Geburtsort und engere Heimat liegt zwischen einem Fluß und einer Landstraße, mehr einem ausgefahrenen Sandweg; Fluß, Busch, Sumpf, Niederung. Saure und sandige Böden im Flurplan, der im Bürgermeisteramt aushängt. Rund achthundert Einwohner werden immerhin verwaltet. Es ist ein elendes Dorf, die Wohnhäuser gleichen einander; an der Längsseite der Häuser befindet sich der Eingang, eine kurze Treppe, überdacht, links und rechts Leistenspalier mit immergrünem Efeu oder wildem Wein. Neben dem Eingang jeweils zwei Fenster. In den Vorgärten Bauernrosen. Wacholder oder anderes Ziergehölz. An den Garten grenzt ein geschlossener Bretterzaun mit einer Durchfahrt zum Hof. Auf dem Hof immer die Schwengelpumpe, gleich gegenüber dem Eingang zur Küche, einem großen, meist gefliesten Raum. Der hintere Teil des Hofes wird von einer Scheune begrenzt und von kleineren Stallungen für Rinder, zwei höchstens, für ein Rudel Schweine. Eine Zuchtsau wird behalten, die Läufer verkauft, ein oder zwei Tiere sind dem eigenen Verbrauch vorbehalten. Das Fleisch wird gesalzen und gepökelt, Topfwurst läßt sich lange halten, Speck, Schinken, Rauchfleisch. Neben der Küche Hundehütte und ein struppiger Hund, mittelgroß, von unbestimmter Rasse, bissig, tückisch, feige, ein Leben lang an der Kette liegend. Zwei oder drei Katzen, sich selbst überlassen, hausen in geschützten Ecken der Scheune oder der Ställe. Zweimal jährlich werfen sie, zweimal jährlich nimmt man ihnen die Jungen fort.

Die Höfe ernähren keine Familie, auf den leichten Böden sind nur schlechte Erträge zu erzielen, Roggen, Kartoffeln, Gerste, mit Weizen hat man hier kaum Glück. Die wenigen größeren Bauern behelfen sich bei Mißernten durch Holzverkauf, ein Bauer ohne Wald kann hier nichts werden. Bauern gibt es auch nur wenige, es sind meist Nebenstellen, die Besitzer gehen über Tag zu «Schwarzkopff» arbeiten, als Handlanger,'Transportarbeiter. Anfang der dreißiger Jahre wird es üblich, die Söhne bei «Schwarzkopff» einen Industrieberuf lernen zu lassen, zur Sicherheit. Sie bleiben aber trotzdem so etwas wie Bauern. Allmählich verändert sich die Dorfstruktur. Es gibt schon Familien, die nur noch kleine Flächen für den Eigenbedarf bewirtschaften, aber das Schwein, Geflügel, Kaninchen, manchmal die Kuh werden weiter gehalten. Auch Gemüse und Kartoffeln werden selbst gezogen. In den zwanziger Jahren geschieht etwas Wichtiges, die Stadt Berlin schiebt sich weiter in die Randgebiete vor. Auf kleinen Parzellen entsteht eine Siedlung von stadtmüden Leuten. Der Fluß, die umliegenden Seen sind fischreich, man kann angeln, und es lohnt sich auch für einige kleinere Handwerker, Betriebe zu eröffnen. Tischler oder Schreiner, Maurer, Brunnenbauer, ein Bootsbauer siedeln sich an, finden ein Auskommen.

Auch die nahe Kleinstadt hat an dem Aufschwung teil, zwei ältere Baubetriebe erweitern Personalstand und Leistungen. In einem davon arbeiten der alte Gallas und zwei seiner Söhne. Während der Saison schultern Vater und die Söhne ihre Rucksäcke, Bauberufe sind Rucksackberufe, setzen sich auf die Räder und fahren die zwölf Kilometer in die Kreisstadt, oder sie fahren gleich zu den umliegenden Baustellen, Siedlungshäuser werden gebaut. Während des Winters sind die Männer zu Hause, haben auch so zu tun, ein Schlag Getreide, ein Schlag Kartoffeln, das Vieh, Schwein, Hühner, paar Schafe, Kaninchen, sind zu versorgen. Feuerholz muß geschnitten werden, Reparaturen am Haus fallen an. Geräte müssen durchgesehen werden, aber es ist doch eine Ruhezeit. Man ist übrigens sicher, zu Saisonbeginn wieder Arbeit zu haben.

Bernhard Gallas, der jüngste, ein Nachkömmling, verwöhnt von Mutter, Vater und den beiden erwachsenen Brüdern, hat eine gute Zeit. Trotzdem: Hier herrscht Ordnung, hier wird aufs Wort pariert. Vater Gallas ist ein harter Mann, für ihn gibt es nur Pflichten. 1933 wird Bernhard geboren, er erinnert sich an seine Brüder als an ausgewachsene Burschen in Soldatenuniform, der alte Gallas ist auch dienstverpflichtet, alle drei Männer sind kaum noch zu Hause. Die Mutter ist da. Haus, Ställe, Scheune, eine Masse Arbeit für anderthalb Menschen, denn Vieh will die Mutter nicht abgeben, Lebensmittelkarten bekommen sie nicht, Selbstversorger nennt man sie wegen ihres Landbesitzes, wegen des Viehs. In seiner Freizeit kümmert sich der alte Gallas um die Felder, aus der Nachbarschaft hilft dieser oder jener mit Pferd und Pflug aus, nicht für Geld, sondern im Austausch gegen Arbeitskraft, Bernhard und die Mutter helfen zur Erntezeit bei den richtigen Bauern aus. Alles in allem, reichlich Essen und Trinken ist da, Freundschaften gibt es auch und natürlich Feindschaften, das Leben spielt sich in den Küchen der gleichförmigen Häuser ab. Was der kleine Bernhard noch nicht sieht, ist, daß sich die Gestalt des alten Gallas von Jahr zu Jahr mehr krümmt. Er klagt nicht, aber es gibt Augenblicke, wo sich der alte Gallas stöhnend aus der gebeugten Haltung aufrichtet: Los, Junge, nimm du mal die Hacke. Und der Achtjährige buddelt Kartoffeln. Wenn ich groß bin, werde ich auch Maurer. - Jaja, Maurer. Mach mal hinne, wir müssen fertig werden, ich muß abends wieder weg.

Das Angebot an Berufen ist nicht groß.

Selbstverständlich besteht das Leben nicht nur aus Arbeit. Bernhard, sich bewußt werdend, daß zwei Brüder und ein Vater eine mächtige Kraft im Rücken sind, ist der Anführer beim Jungenspiel, und die Spiele verändern sich schnell. Mit dem abgeketteten Hund geht Bernhard los. Ich habe dir hundertmal gesagt, du sollst den Hund dalassen, der vertrottelt bloß. Ein Wachhund gehört an die Kette. Aber der Hund gehört zum Jungen, wenn der herumstreift, Hasen jagend, fischend, von großartigen Taten träumend, Stecken und Messer in den Händen.

Aus Spiel wird Ernst. Wenn dir der Berni zum Angeln geht, der fängt dir immer was, letztens brachte er einen Hecht, nicht zu reden von dem Kleinzeug. Der Hecht war vielleicht nicht so groß, wie die Mutter zeigt, aber der Junge schweigt, immer ist er der Größte. Der Bruder: Der Kleene hat dir doch neulich mit dem Maurerhammer gespielt, ich sag dir, Vater, der schlägt jetzt schon einen Daumenbreit glatt ab. Ganz so glatt war der Schlag wohl nicht, aber Bernhard gewöhnt sich an seine Rolle, überall der Erste, der Beste zu sein. Die Mutter: Du ersetzt mir jetzt den Mann. Du mußt ein Mann werden.

Das alles geht so über die ersten Kriegsjahre weg, da spüren sie keine Not, zumindest der kleine Bernhard spürt nichts davon, nichts von der Sorge um das Leben der älteren Jungen, nichts von der abnehmenden Kraft des Vaters. Der eine der älteren Söhne gerät in Gefangenschaft, für den ist der Krieg zu Ende, ist jetzt in Amerika. Der andere verliert einen Arm und wird entlassen. Der Krieg nähert sich. Die wasser- und sumpfreiche Gegend, im Südosten Berlins gelegen, eignet sich nicht für den Krieg. Größere Truppenverbände können sich hier nicht entfalten. Zwar müssen Vater und der einarmige Bruder zum Volkssturm in die Kreisstadt, da sind die Würfel jedoch längst gefallen. Die Schlacht auf den Seelower Höhen ist geschlagen, der Kessel bei Halbe südwärts geschlossen. Die Stadt Berlin ist kapitulationsreif.

Der zwölfjährige Bernhard entdeckt die fremden Soldaten zuerst: Die Russen kommen. Eine Panzerpatrouille rollt durch das Dorf, kein Schuß fällt, obschon sich die Leute in Keller und Verstecke geflüchtet haben. Auf den Panzern hocken die fremden Soldaten, die Dorfjugend betrachtet sie. Noch ist Krieg, die Panzer rollen weiter. Neue Züge kommen, Infanterie zieht durch das Dorf zwischen dem Fluß und der Landstraße. Jetzt ist der Krieg zu Ende.

In der Bürgermeisterei liegt ein Kommando Soldaten, ein flacher Zaun wird gebaut, rote Fahne aufgezogen, ein Wachtposten steht vor dem Eingang zur Kommandantur. Manchmal setzt sich der Soldat auf eine Holzbank, manchmal radebrechen er und die Dorfjungen in Russisch und Deutsch ein Kauderwelsch zusammen, aus dem niemand klug werden kann, dann helfen die Hände. Lungere mir nicht so viel bei den Iwans rum, Junge.

Die Schule beginnt wieder. Nach gar nicht langer Zeit verschwindet die Kommandantur, ein Bürgermeister wird eingesetzt. Es folgt eine Zeit der äußeren Not, jedes Stück Vieh wird erfaßt, jedes Ei wird gezählt. Ein schlimmes Ereignis, der Bürgermeister wird eines Nachts, es ist eine Dezembernacht, in einem Waldstück ermordet. Dieser Bürgermeister faßte die Leute hart an, es wurde gesagt, ein Russenknecht. Die Untersuchung des Falles verläuft ergebnislos, keiner hat etwas gesehen. Ein neuer Bürgermeister kommt. Vorher noch wird das Dorf von einer Invasion heimgesucht, Aussiedler, Umsiedler, Flüchtlinge, sie liegen im Saal des «Kruges», in den Scheunen, müssen zwangsweise eingewiesen werden, sie hungern. Das Dorf steht gegen die Fremden zusammen. Weiter, aus den Gerüchten um eine Landreform wird eine Verordnung. Junkerland ist nicht da, nur zwei größere Höfe, die sollen aufgeteilt werden, aber die Hofbesitzer handeln rasch, aus einer Hofstelle werden zwei, die Anteile auf Familienangehörige übertragen. Das Dorf, das vom Krieg wenig erlebt hat, gerät erst jetzt in den, Strudel von Kämpfen, Kämpfe, die bis in die Familien hineingetragen werden. Der einarmige Bruder sieht eine Gelegenheit, Bauer zu werden. Immer schwankte das zwischen Handwerk und Landwirtschaft, Eigentümerdenken. Der alte Gallas: Vergreif dich man an fremdes Eigentum, das mach mal, und wenn es anders kommt? Aber der Bruder nimmt doch eine Siedlerstelle, heiratet. Das muß man sich vorstellen, ein einarmiger Bauer auf Sandböden, ohne Wald, ohne Vieh, ohne Gerät, ohne Maschinen. Gallas und die beiden Söhne, Bernhard nun schon dreizehn, bauen ein Haus, gedeckt wird es mit Schilfrohr, Schilf schneiden sie selbst. Täglich wird das Dorf von notleidenden Städtern heimgesucht, täglich wird getauscht und gehandelt.

In diesen Jahren prägt sich der Charakter Bernhards weiter aus. Bernhard kann alles, weiß alles, braucht nichts mehr zu lernen. Der sehnige kräftige Junge erträgt keinen Widerspruch, und der alte Gallas bestärkt seinen Jüngsten noch: Laß dir nischt gefallen, Junge, schlag zurück oder schlag zuerst. In der Schule lernt Bernhard schlecht, schuld sind die neuen Lehrer: Die wissen ja auch nicht viel mehr als die Bengels.

Unter den Jungen gilt Bernhard unumstritten als Anführer. Anfang 1948 kehrt der älteste Bruder zurück, in olivgrünen Sachen, mit einem amerikanischen Seesack. Er sitzt in Vaters Küche, pellt einen Kaugummi aus dem bunten Papier, schiebt ihn in den Mund, reißt eine Packung Camel an, raucht, sieht sich in der Küche um. Sein Kopf ist bis auf einige Zentimeter geschoren, ein Ami.

Ja, mein Junge, an deiner Stelle wär ich gar nicht mehr hergekommen. Es sieht nicht so aus, als ob die Iwans bald abhauen. Die haben hier abmontiert, was nicht niet- und nagelfest war. Macht einer das Maul auf, wandert er nach Sibirien. Den Krieg hätten wir nicht anfangen sollen, oder wir hätten ihn gewinnen müssen. Ach, Scheiße.

Der Sohn, vier Jahre Arizona: Schlecht ist es uns nicht gegangen, wir hatten genug zu fressen, aber vier Jahre, die machen einen fertig.

Was willst du denn nun anfangen? Dein Bruder hat sich einwickeln lassen mit der Neubauernstelle - wenn es mal anders kommt.

Erst mal hierbleiben, Vater.

Diese Hunde bluten uns weiß, mein Junge. Alles. Schwindel von den Lagern und den Juden, das haben die nachher aufgebaut.

Na, na, wir haben ja auch was gesehen, nicht?

Dieser Sohn kommt nicht nur aus einer anderen Welt, er ist auch anders geworden. Zunächst tut er nichts, gibt sich aber viel mit dem jüngeren Bruder ab, geht auch zu dem Einarmigen, hört sich das an, sieht sich das an, sagt nichts dagegen, schweigt. Schließlich sagt er: Laß dich nicht scheu machen, Boy. That's so. Und zu Bernhard: Hör mal, Kleener, noch ist Zeit zum Lernen. Maurer willst du werden, gut, ist nicht schlechter als anderes. Der Alte, er meint den alten Gallas, setzt dir mit seinem Rochus auf die Iwans einen verdammten Floh ins Ohr, fürchte ich. Vielleicht ist hier nicht alles schlecht, vielleicht doch. Jedenfalls mußt du hier leben.

Wie ist das denn nun mit den Cowboys?

Alles Quatsch, Kleener, ich will dir mal was sagen, so was hat es vielleicht mal gegeben, jetzt nicht mehr. Was ist überhaupt mit dieser verdammten Kuhbläke hier los? Sind die alle verrückt geworden?

Gallas Ältester bleibt nicht lange, er zieht nach Magdeburg, wieder als Bauarbeiter.

Bernhard beendet die Schule mit vierzehn. Der alte Gallas arbeitet längst nicht mehr. Eines Tages fährt er mit seinem Jüngsten in die Kreisstadt, um Bernhard dem Besitzer des alten Baubetriebes vorzustellen: Du antwortest nur, wenn du gefragt bist, verstehst du? Herr Willich ist ein alter Bekannter von mir. Deine Zeugnisse sind nicht gerade die besten. Aber er wird dich nehmen.

Herr Willich sitzt in einer kleinen Bude mit zwei Schreibtischen, einem Telefon; eine Schreibmaschine steht auf einem Tisch, an der Wand ein Aktenschrank. Auf dem Hof tuckert ein Lanz-Bulldog, lagert Baumaterial.

Ja, Gallas, schön, Sie mal wiederzusehen. Nehmen Sie eine Zigarre? Das ist also der Bernhard. Tag, mein Junge.

Herr Willich, der Bernhard ist jetzt soweit, er will Maurer lernen.

Und da kommen Sie zu mir? Haben Sie eine Ahnung, wie lange ich den Betrieb noch behalten darf? Einem anderen was wegnehmen ist noch immer die leichteste Art, zu was zu kommen. Geben Sie den Jungen lieber in so einen volkseigenen Saftladen.

Wenn es mal anders kommt, Herr Willich?

Ja, wenn. Es kann lange, sehr lange dauern, bis es soweit ist.

Da können wir alt und grau werden. Man hofft ja immer. Die ruinieren ja alles. Wenn es wirklich mal anders kommt, Gallas, soviel Bäume gibt es gar nicht und soviel Stricke. Da will ich dabei sein, da mach ich mit.

Wird auch nötig sein. Was mach ich denn nun? Die Zeugnisse von dem Jungen sind nicht gerade besonders, Herr Willich.

Ach, Zeugnisse, arbeiten soll er, ein tüchtiger Kerl werden, ein Fachmann. Haben wir denn all die Jahre schlecht gebaut? Sagen Sie, Gallas, sind unsere Häuser schlecht? Na, sehen Sie. Ich habe ja keine Lehrlinge mehr, ich bau hier ein bißchen ab; ich kann es Ihnen nicht so erklären. Nicht auffallen, denke ich. Hier lernt er was, hier lernt er noch einen sauberen Verband mauern, Fugen, eine wie die andere. Sehen Sie sich doch mal an, was die heute hochklatschen. Wird ein Brettchen gebraucht, zerschneidet man eben eine Bohle, kostet ja nischt. - Na gut, um mal zum Ende zu kommen, ich werde Ihren Jungen nehmen. Ich mache Ihnen den Lehrvertrag fertig, kommen Sie bei Gelegenheit vorbei.

Bernhard Gallas beginnt zu lernen, aber sein soziales Erbe macht sich bemerkbar; wie gute und schlechte Maurerarbeit aussieht, hat Bernhard vom Vater und den Brüdern schon vor Jahren abgeguckt. Er schwankte auch nie, ein anderer Beruf kam nicht in Betracht. Kurz vor Ende der Lehrzeit gibt der Lehrherr seinen Betrieb auf, das heißt, er setzt sich ab. Ein Treuhänder übernimmt den Baubetrieb. Für Bernhard ändert sich nichts, er legt ordentlich die Gesellenprüfung ab, besteht sie mit sehr gut. Danach kündigt er. Manchmal treffen sich die drei Brüder im Hause des alten Gallas. Da brechen die Gegensätze auf.

Herr Willich hat drüben in Westberlin wieder einen Baubetrieb, ich soll zu ihm, was soll ich machen?

Hör mal, Boy, mach das nicht. Ich kann dir nicht mal sagen, warum du es nicht machen sollst, ich bin bloß der Meinung, man geht irgendwie vor die Hunde, mich erinnert das immer ein bißchen an Amerika, aufgeblasen, großschnauzig, immer ein großes leeres Haus, ich weiß nicht.

Bernhard ahnt wohl, daß der Große, den er stets bewunderte, eine Menge erlebt hat, aber er will seinen eigenen Weg gehen. Quatsch mir nicht rein, ich mach, was ich will.

Der Einarmige: Du, mir gefällst du schon lange nicht mehr, Kleener. Ich kenne doch Willich, wir haben doch alle da gelernt. Du bist nichts Besonderes, Kleener, bloß ein einfacher Maurer, vielleicht ein guter, aber in deinem Kopf sieht es schlimm aus, du siehst nur Geld, kennst nur den Augenblick.

Der alte Gallas: Wenn es mal anders kommt?

Der Einarmige: Mensch, Vater, es kommt nicht anders, und ich frage dich, was willst du denn? Willst du die Nazis wiederhaben? Und was heißt, es kommt anders? Anders kommen heißt Krieg. Ich hab einen Arm verloren, mir reicht das. Mach den Kleenen nicht verrückt.

Richtig, Boy. Vater, überleg mal, war das früher wirklich so schön? Wir sind einfache Leute, uns geht es überall beschissen, mit uns machen sie immer, was sie wollen.

Der alte Gallas: Nun will ich euch mal was sagen, ihr Schlauberger, ich weiß längst, was die Glocke geschlagen hat. Du, zu dem Einarmigen, kriechst den Iwans hinten rein, mit deiner Neubauernstelle. Jetzt machen sie ihre Kolchosen. Paß nur auf, dich kriegen sie auch noch, dann war alles Schindern umsonst, dann stehst du da. Dann komm nicht zu mir und jammre. Und du, zu dem Ami, du spielst dich auf als Brigadier. Brigadier, russische Moden, wenn ich das schon höre. Du fällst auch noch auf die Schnauze, immer schrubbe, du kriegst die Quittung.

Ungewiß ist die Zukunft, sie spüren es.

Denkt mal an letzten Sommer, sagt der alte Gallas, da hat es doch an einem Haar gehangen, nicht wahr, dreiundfuffzich, beinahe. Was wär denn passiert, wenn die Iwans nicht mit den Panzern nach Berlin gekommen wären? Nee, noch weiß keiner, wie das ausgehen wird, Jungens. Und ich will euch noch was sagen, es waren Bauarbeiter, die gestreikt haben. Darauf bin ich stolz.

Du, stolz? Du bist doch nie organisiert gewesen, Gewerkschafter sind für dich immer so was wie Zuchthäusler gewesen. Jetzt spielst du dich auf? Daß ich nicht lache. Herr Willich vorne, Herr Willich hinten, den hast du am Arsch geleckt, nee, Boy.

Nu reicht es.

Mir auch, Vater, hören wir auf.

Der Bauarbeiter Bernhard Gallas fährt ab vierundfünfzig täglich mit dem Rad bis zur Kreisstadt. Dort beginnt die Vorortbahn, er fährt zu Willich. Er verdient viel, sehr viel, wechselt den Anteil Westmark seines Lohnes in einer Wechselstube in Ostmark um, er kauft Sachen, kauft ein Motorrad, kauft ein Auto, gebraucht, ein Vorkriegsmodell, Adler Junior, denkt noch nicht daran, ein eigenes Haus zu bauen, denkt noch nicht ans Heiraten, wechselt oft die Freundin. Das Leben ist so bequem, er wohnt zu Hause. Mit den Brüdern trifft er sich kaum noch. Dann überrascht ihn der 13. August, ein Sonntag, an dem er spät aufsteht, im Garten herumläuft, frühstückt, schließlich das Radio anstellt. Die Grenzen sind geschlossen. Der junge Gallas packt seinen Rucksack: Ich werde schon noch durchkommen.

Der alte Gallas, schwer in Sorge: Die Hunde schießen, mein Junge, paß auf dich auf, komm lieber zurück, falls alles dicht ist. Schreib sofort, wenn es geklappt hat, vielleicht sehen wir uns nicht mehr wieder. Was für ein Leben!

Auf dem Bahnhof der Vorortbahn stehen Soldaten und Kampfgruppenleute.

Sie da, kommen Sie mal näher. Ihren Ausweis.

Was ist denn los?

Stellen Sie sich nicht dumm, Sie wissen doch Bescheid. Wohin wollen Sie fahren?

Das geht Sie einen feuchten Dreck an. In Richtung Stadt geht kein Zug für Sie.

Ich will einen Besuch machen. Wo gibt es denn so was, die Leute festhalten.

Wir halten Sie nicht fest, wir schicken Sie zurück, Herr Gallas. Wir schützen das Leben der Bürger, das ist eine Vorsorgemaßnahme.

Gallas dreht wortlos um, er versucht es an diesem Tage noch zweimal, mit der Vorortbahn wegzukommen, es mißlingt. Am Abend besucht ihn der Einarmige, redet ihm zu. Beide verschweigen, daß sie sich auf dem Bahnhof auf verschiedenen Seiten gesehen haben. Es ist ihre letzte Begegnung überhaupt.

Der alte Gallas stirbt eine Woche später. Von seinen Söhnen kommen nur zwei zur Beerdigung. Der Einarmige fehlt.

Bernhard wird als ehemaliger Grenzgänger zwangsvermittelt, er arbeitet als Betriebshandwerker in einem großen Industriebetrieb, nicht mehr «Schwarzkopff», sondern «Heinrich Rau», fühlbar weniger Geld verdient er, ist einsam und isoliert. Niemand möchte sich öffentlich mit ihm zeigen. Und die sich mit ihm zeigen wollen, weist er zurück. Er zieht Zwischenwände, macht Reparaturen, und es fällt auf, daß der Maurer Bernhard Gallas eine Arbeit zu liefern versteht, die sich sehen lassen kann. Seine neuen Kollegen: Gallas, wir sind 'ne Komplexbrigade, das heißt, wir ... Gallas: Drüben hättet ihr nicht mal als Hucker gehen können. Drüben? Det kannste vergessen.

1962 fährt Gallas nach Zinnowitz in Urlaub. Der sehnige starke Kerl liegt in seinem Strandkorb, neben dem sich zwei Mädchen in einer Sandburg aalen. Mit dem einen kommt Gallas ins Gespräch. Es ergibt sich eine Gemeinsamkeit, sie ist Sachbearbeiterin in einem Industriebaubetrieb in Karl-Marx-Stadt. Gallas hat was gegen die Sachsen. Das Mädchen: Ich bin aus Luckenwalde. Frag mich nicht, wie ich dahin gekommen bin. Aber die Arbeit ist nicht schlecht. Wo steckst du denn?

Gallas erzählt ihr seine Geschichte und Rita spöttisch: Das ist ja kolossal, aber in der Bude kommst du auf keinen grünen Zweig.

Rita ist achtundzwanzig, ein Jahr jünger als er, groß, schlank; sie macht einen starken Eindruck auf ihn.

Bist du allein hier?

Ich erhole mich gerade von meiner Scheidung. Das Übrige vollzieht sich rasch, er bewirbt sich bei ihrem Betrieb, er wird genommen, er wechselt über nach Karl-Marx-Stadt und heiratet. Zwei Kinder. - Gallas hat das Gefühl, die Zeit laufe jetzt schneller. Die Kinder wachsen heran, Rita bleibt für Gallas das Zentrum seines Lebens, ihr vertraut er sich rückhaltlos an.

Rita: Eigentlich haben wir beide eine Masse Glück gehabt, wenn ich mich so umsehe, bei der einen stimmt es da, bei der anderen hier nicht.

Gallas, unter einem Ansturm von Liebe, Furcht, Rita zu verlieren: Mädel, wenn du irgendeinen Mist baust, ich mach dich fertig, daß du in keine Hose paßt.

Das ist der Gallas zur Zeit der Großbaustelle, er ist jetzt vierunddreißig. Irgendwas müßte mit ihm geschehen, soll er nicht nur zufrieden sein, soll er sich nicht nur auf den letzten Abschnitt seines Lebens bis zur Rente vorbereiten. Er kann was, er weiß was, er ist ein Mann geworden.

7

In wenigen Wochen hatte sich die Ebene in ein riesiges Lager verwandelt. Von der etwas höher gelegenen Straße aus gesehen, die an der Mülldeponie vorbeiführte, war das Gelände von oft benutzten Fahrwegen kreuz und quer aufgeraut. Pausenlos rollten überschwere Wagen mit ihren Lasten über diese Wege, Kräne entluden sie an den dafür bestimmten Plätzen. Es war vorauszusehen, daß bei einsetzendem Schlechtwetter in Herbst und Winter die jetzt schon ausgefahrenen Wege unüberwindliche Hindernisse bilden würden.

Zunächst sollten provisorische Trassen entstehen, die an den zuerst fertigzustellenden Bauobjekten vorbeiführten. Ein Gewirr von Schildern mit Ziffern und Buchstaben leiteten die Fahrer der Wagen zu den Plätzen. Oft genug verirrten sich die Anlieferer trotzdem, fanden erst nach langem Suchen die Bestimmungsorte, obgleich eine Einweisungsstelle geschaffen worden war. Sie lag in der ersten aus Fertigteilen errichteten Baracke, vor der eine große Schilderwand die wichtigsten Daten und Informationen enthielt.

Am Rande der Bahnlinie war das Zeltlager entstanden. Schon in der dritten Woche kamen ununterbrochen neue Leute aus einem Dutzend anderer Baubetriebe an. Niemand hatte immer einen genauen Überblick, wie viel Menschen überhaupt schon die Baustelle bevölkerten. Die Neuankömmlinge bezogen die großen Hauszelte, es mangelte an Unterbringungsmöglichkeiten. An mehreren Stellen der Zeltstadt gab es Wasch- und Trinkwasser, es lief aus zahlreichen Hähnen in hölzerne Auffangrinnen, die das Wasser in einen rasch aufgeworfenen Graben ableiteten. Ein besonderes Zelt blieb der Küche und Kantine vorbehalten. Nur die Leute der Vorausabteilung aßen noch in der «Schleuse», sie bildeten schon so etwas wie eine Stammbesatzung, kannten sie doch die meisten Punkte, Wege und Anlaufstellen aus den ersten Wochen. In der Regel waren sie zuerst damit beschäftigt, den neuen Leuten Ortskenntnis beizubringen. Gekocht wurde in der Zeltküche an mehreren Gulaschkanonen, die Vorräte lagerten jedoch in festen Baracken. Übrigens hatte die Küche auch noch sämtliche Kaltverpflegung zu beschaffen, eingeschlossen die Getränke, Kaffee, Bier, Brause, Tee. Zu gewissen Zeiten wimmelte das Zelt von verärgerten, herumbrüllenden Leuten. Am geschlossensten arbeiteten in diesen Wochen noch die ausgeborgten Einheiten der Armee. Sie rückten auf ihren Mannschaftswagen pünktlich an, übernahmen die dringendsten Arbeiten, verlegten provisorische Leitungen für Strom und Telefon. Die Leere des Geländes, wie sie sich noch vor drei Wochen geboten, war urplötzlich in eine unübersichtliche, drängende Fülle umgeschlagen.

An verschiedenen Stellen war mit Ausschachtungsarbeiten begonnen worden. Bagger arbeiteten an Baugruben; in langer Reihe standen die Transportfahrzeuge, nahmen die Erdladungen auf und fuhren sie ab. Fieberhaft wurde auch an einigen weiter entfernt gelegenen Stellen gebaut. Hier entstanden mehrere Wohnblöcke für die ausländischen Arbeiter, denen ein gewisser Komfort geboten werden sollte. Irgendein örtlicher Wohnungsbaubetrieb kam damit ganz gut voran, er unterstand der Oberbauleitung. Später sollte das Kraftwerk die Wohnsiedlung für sein Stammpersonal übernehmen. Über dem ganzen riesigen Areal lagerte ständig eine Dunstwolke stinkender Abgase.

Der Frühling mit mildem Wetter, leichtem Regen und wärmendem Sonnenschein war gekommen. Gesträuch und die wenigen Bäume, die mehr aus Zufall stehen geblieben waren, zeigten Triebe und Knospen, der Geruch von Frühling mischte sich mit dem Dieselgestank. Der Waldstreifen, der das Gelände begrenzte, lag näher, als bei dunstigem Wetter anzunehmen. Ein Teil der Zeltstadt lehnte sich an dieses Waldstück an, das eine geringe Ausdehnung besaß, aber immerhin ein Stück Natur bot. Was aus größerer Entfernung für Sandboden gehalten werden konnte, erwies sich als tiefer Lehm von verschiedener Färbung. Helles Ocker wechselte mit Rostbraun. Bei länger anhaltendem Regen konnte das Wasser nicht versickern, es stand in mächtigen glitschigen Tümpeln auf den Fahrwegen, oder es bildete einen zähen Schlamm in den schon ausgehobenen Baugruben. Da alle bewegten Lasten ein hohes Gewicht hatten, da die Fahrzeuge selbst ein tonnenschweres Gewicht darstellten, sank die Fahrspur von Fahrt zu Fahrt tiefer. Die Profile der Räder griffen nur noch schlecht. Mehr als einmal mußte nachgeholfen werden, ein Traktor oder eine Raupe schleppten dann die steckengebliebenen Wagen an, bis sie wieder auf befahrbaren Wegen standen.

Nach Normen oder überhaupt nach Kennziffern zu arbeiten, war in dieser Zeit nicht möglich. Häufig verdoppelten sich die geplanten Zeiten, in schlimmeren Fällen verdreifachten sie sich. Außerdem litt der gesamte Maschinenpark unter hohem Verschleiß. Obgleich der Oberbauleitung besondere Bedingungen eingeräumt worden waren, zum Beispiel bei dem Einsatz der örtlichen Transportmittel - es handelte sich um ein Schwerpunktobjekt -, besserte sich die Lage vorderhand nicht. So gab es bei fast allen Tiefbauarbeiten schon erhebliche Zeitverluste, die kaum aufgeholt werden konnten. Es lag nicht so sehr an menschlichem Versagen als an den Schwierigkeiten, die nicht zu beherrschen waren. Bis jetzt erschien die Baustelle als ein Chaos, das kein menschlicher Wille in eine bestimmte Ordnung auflösen konnte.

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Im Zentrum dieses scheinbaren Durcheinanders stand eine lange, wetterfeste Baracke, um die sich andere Baulichkeiten, mehr oder minder provisorisch errichtet, gruppierten. Eine große, an den Giebelseiten offene Halle, mit Platten gedeckt, diente als vorläufiger Abstellraum für die Maschinen. Fertigzellen, kastenartig ineinandergeschachtelt, Zelte und primitive Verschläge aus Holz beherbergten Abteilungen, Werkstätten und Lager, die nicht in einer der festen Baulichkeiten untergekommen waren.

Die Baracke stand auf einem Betonfundament. Ein langer Mittelgang, von dem links und rechts die Zimmer abgingen, führte durch sie hindurch. Auch eine Warmwasserheizung war montiert, die bis zum Herbst an das Verteilernetz eines kleinen, für den Übergang von einigen Jahren gedachten Heizwerkes angeschlossen werden sollte. Wenigstens gab es schon elektrischen Strom und Telefon, ohne Fernsprechverbindung hätte sich dieser Organismus auch nicht mehr in Gang halten lassen.

Die Zimmer waren einfach geweißt, sie hatten Latexanstriche, die Böden waren mit Kunststoffbahnen belegt oder beklebt, und alles in allem erweckte die Baracke den Eindruck, als sei das Provisorium für eine lange Zeit vorgesehen. Sonst enthielt die Baracke einfach alles, was schnell erreichbar sein mußte, die Telefonzentrale, alle wichtigen Leitungsbereiche, eine Küche, Toiletten, Waschräume. Gleich vorn neben der Telefonzentrale und den Waschräumen lag das Küchenzimmer mit einem Heißwasserspeicher, einer Anrichte, Kühlschrank und Abwaschtisch. Tagsüber stapelte sich hier schmutziges Geschirr, Tassen, Teller und Kännchen. Sekretärinnen wanderten über den langen Mittelgang, um Chefs und Gäste, deren es täglich einige Dutzend gab, mit Kaffee zu versorgen.

Auf der anderen Seite des Mittelganges mußten sich die Abteilungen Kader und Sicherheit ein winziges Zimmer teilen. Allerdings stand noch ein weiterer Raum für die Personalkartei zur Verfügung. Weiter lag hier neben diesen beiden Räumen die Wirtschaftsabteilung. Damit war das erste Viertel der Baracke ausgefüllt, auf engstem Raum arbeiteten acht bis zehn Menschen, die freilich selten in ihren Zimmern anzutreffen waren. Alle Räume wurden abends versiegelt.

Im zweiten Viertel lagen Planung, Investition, Ökonomie und gegenüberliegend Technik mit der Zeichenabteilung. Das vorletzte Viertel der Baracke war den Bauleitern mit der Oberbauleitung vorbehalten, während das letzte Viertel die gesellschaftlichen Leitungen aufnahm, Parteileitung, Gewerkschaftsleitung und FDJ-Leitung.

Koblenz verfügte über ein Sekretariat und ein Doppelzimmer, dort standen ein Sitzungstisch mit acht Stühlen, sein Schreibtisch, Telefone, eines mit Direktleitung nach Berlin und eine Wechselsprechanlage. Auf einem kleinen Tisch stand noch ein Aufzeichnungsgerät, Koblenz pflegte seine Anweisungen und Berichte abends oder nachts auf den Datenspeicher zu sprechen. Frühmorgens übertrug seine Sekretärin Gesprochenes in Geschriebenes und brachte alles, wenn nötig, in die Vervielfältigung. Hinter dem Schreibtisch, die Wand überspannend, hingen ein Generalplan und eine Magnettafel.

Ruhe gab es in dieser Baracke nie. Ab sieben Uhr rasselten die Telefone, hackten Schreibmaschinen, wurde über den Mittelgang geschrien. Ständig mußte irgendwer gesucht werden, und ebenso regelmäßig wurde der Betreffende nicht gefunden, oder er kam erst, wenn die Verbindung längst zusammengebrochen war. Vor der Baracke reihten sich die Autos auf. Jeder, der kam, stellte seinen Wagen mit der größten Selbstverständlichkeit vor der Zentrale ab. Namentlich morgens, gegen sieben Uhr, wenn Koblenz seine Stabsbesprechung abhielt, zu denen alle Leiter erscheinen mußten, drängten sich die Wagen vor dem niedrigen Haus.

Diese Besprechungen vereinigten wenigstens einmal täglich alle wichtigen Leute, jeder gab einen Kurzbericht über die Situation in seinem Teilbereich. Es wurden die nächsten Maßnahmen getroffen. Gewöhnlich entschied Koblenz alles selbst, oder er delegierte jemand aus dem Stab, bestimmte Vorhaben anzukurbeln und bis zum Ende zu verfolgen. Der Oberbauleiter hatte die Lage der einzelnen Teilobjekte gut im Kopf, er hätte die Symbole auf der Karte wohl nicht nötig gehabt.

Jeder Tag verlief so oder so ähnlich. Die Situation früh verglich Koblenz gern mit dem Punkt Null, dann begann er die Figuren zu rücken, bis der ganze Bauplatz durch ihn gleichsam in Bewegung versetzt worden war. An vielen Objekten wurde in dieser Phase durchgehend gearbeitet, Koblenz oder einer seiner Stellvertreter fungierten dann als Chef vom Dienst, denn auch während der Nacht riß das Kommen und Gehen selten ab. Mit Spannung wurde die folgende Frühsitzung erwartet, wo Koblenz wiederum den Punkt Null herstellte.

Er arbeitete nach einem Schema, nach einem Modell, besser gesagt, vielleicht war er der Einzige, der wirklich ständig Überblick besaß. Indessen hatte dieser von ihm organisierte Informationsfluß von unten nach oben auch Nachteile. Koblenz bezog alles auf seine Person, keine Arbeit, die er nicht zu kontrollieren wünschte, kein Teilplan, den nicht er selbst entworfen, den er nicht dirigierte, kontrollierte. Wie ein Schachspieler oder Feldherr genoß er die Vorzüge seiner Stellung, seines Ranges, und zweifellos - bezog er ein gut Teil seiner Entscheidungsfreude aus dieser Position, er hatte Spaß an der Sache. Die anderen mußten seine Ideen, seine Pläne und Vorhaben ausgestalten. Es kam häufig vor, daß sie ihn schlecht verstanden oder eigene Ideen in die Pläne Koblenz hineinmogelten. In dieser Periode brachte fast jeder Tag solche Teilaufgaben und war es auch nur die Frage, wo was künftig zu lagern sei.

Was Koblenz vorwärts trieb, das Bewußtsein, Herr über alles zu sein, dämpfte den Eifer der anderen. Der Alte machte es ja doch anders, als sie vorschlugen, dem war ja nie etwas recht zu machen, der dachte für sie alle, der entschied für sie alle.

Es war längst nicht mehr Kisko allein, der von Koblenz schief angesehen wurde. Mit den stürmischen Veränderungen auf der Großbaustelle zogen täglich neue Leute ein, stellten sich vor, wurden von Koblenz freundlich empfangen und eingewiesen. Mit einem Paket Unterlagen, ihrer Teilaufgabe entsprechend, zogen sie sich zurück, erschienen zum Rapport mit fix und fertigen Gedanken, aber Koblenz hatte meist seine eigenen Vorstellungen über die jeweilige Sache. Regelmäßig verwarf er, was ihm unterbreitet wurde, gab mit seiner scharfen Stimme neue Anweisungen. Wer sich nicht fügte, der wurde im Handumdrehen seine Arbeit wieder los. Immer lag Konzeptpapier auf dem Schreibtisch des Oberbauleiters, immer war er bereit, mit raschen Strichen aufs Papier zu werfen, was andere in Szene setzen mußten.

Alters und mehr noch Gablenz kannten diesen Stil des Oberbauleiters. Ihre Stellung als seine Stellvertreter verdankten sie ihrer Ideenlosigkeit. Anpassungsfähig, waren sie der verlängerte Arm des Oberbauleiters, erledigten sie prompt und termingerecht, was er wünschte und wie er es wünschte.

Im Leitungsstab kam es dennoch selten zu Reibereien, sie lagen zwar in der Luft, aber diese Periode erlaubte nicht, Feindschaften zu entwickeln, wechselte doch täglich die Szene, und mit Lob war Koblenz nicht sparsam, jedoch auch mit Tadel nicht. Er selbst durfte von keinem kritisiert werden. Ging etwas schief, so war die Verantwortlichkeit sicher schon vorher von Koblenz von sich auf einen anderen verlagert worden. So stand er immer gut da, niemand konnte ihm etwas am Zeug flicken. In ihren Zimmern unter vier oder sechs Augen redeten die Leiter offener, bezeichneten den Chef als Verrückten, als hinterhältigen Intriganten, hüteten sich aber, ihm in den Arm zu fallen. Die Stimmung war nicht besonders gut nach einigen Wochen Arbeit; sie war auch deshalb nicht gut, weil sich trotz großer Anstrengungen keine Plantreue herstellen ließ.

Koblenz tröstete: «Das ist in der ersten Zeit immer so, ihr dürft euch nicht kopfscheu machen lassen. Bei solchen Großprojekten differieren die Planungsgrößen oft erheblich. Später kann man mit einer anderen Qualität rechnen. Plötzlich schlägt der Rückstand in Vorlauf um.»

Die einen oder anderen, die schon Erfahrung mit großen Bauvorhaben hatten, sahen wohl das Unsichere dieser Kalkulation. Solange Koblenz antrieb, alles auf sich vereinigte, solange diese Ein-Mann-Methode überhaupt noch möglich war, so lange mochte es wirklich nach dem Kopf des Oberbauleiters gehen.

Anders benahm sich der Oberbauleiter draußen bei seinen Männern. Der Mann, der keinen Widerspruch ertrug, ohne zurückzuschlagen, ließ sich von irgendeinem Bauarbeiter ganz gern rüffeln.

«Ja, Gallas, Sie haben ja völlig recht, es ist eine bodenlose Schlamperei, daß wir keine kontinuierliche Betonzulieferung haben. Ich stimme Ihnen auch völlig zu, wenn Sie meinen, wir müßten ein eigenes Betonwerk haben. Das ist eine gute Idee. Ich werde mich dafür verwenden. Und sonst, wie kommen Sie sonst zurecht?»

Das Betonwerk stand längst im Plan. Es war nicht nur zum Munde reden oder Manipulation, wenn Koblenz zustimmte. Ohne Ingenieure wäre er schon ein paar Monate ausgekommen; ohne Leute vom Schlage eines Gallas hätte er einpacken müssen. Deshalb hörte Koblenz immer auf Gallas Ratschläge. Schon in der Vorplanungsphase hatte Koblenz ein Betonwerk an Ort und Stelle für das wichtigste gehalten. Daß ihm der Baupraktiker Gallas, ohne es zu wissen, auf diesem Weg seiner Gedankenkette gefolgt war, bestärkte ihn nur in seiner Meinung, alles müsse operativ, also weniger umständlich gelöst werden. Hinzu kam noch, daß Koblenz sich auf Baustellen auskannte, er haßte Schlamperei, und er sah bei Gallas die Arbeit, die er selbst für vorbildlich hielt.

9

Gallas arbeitete mit der Gruppe an einem der wichtigen Objekte, dem Komplexgebäude, das später die stromerzeugenden Maschinen und Steueranlagen aufnehmen sollte. Noch waren sie mit dem Legen des Fundamentes beschäftigt. Überall ragte Armierungseisen aus schon gegossenem Beton. Ein dichter Wald oben umgebogener Eisenstangen erhob sich; gerade, kreisförmig, alles noch unterhalb der Erdoberfläche. Um den Bau herum zog sich ein breiter Plattenweg, auf dem sie jetzt die Schienen für den Turmdrehkran befestigten. Der Kran stand noch umgelegt in Nähe des Objektes. Ein kleinerer Mobilkran, von einem Tieflader mit Betonplatten gefolgt, verlegte immer noch andere Platten, rollte auf der von ihm selbst verlegten Grundlage weiter vor. Weichand und einer von den neuen Leuten, Bleuel, arbeiteten daran. Es ging zügig voran. Hinter ihnen montierten Vogt und zwei andere Schienen, auf denen der Turmdrehkran später laufen sollte.

Gallas, Fouché und Kachulla verflochten die Armierungseisen, warteten auf die nächste Betonlieferung. Der Bau fraß eine ungeheure Menge Beton, der, naß geschüttet, mit dem elektrischen Rüttler verdichtet wurde. Die Männer trugen hohe Gummistiefel, deren obere Ränder umgekrempelt waren und einen breiten hellen Streifen sehen ließen. In die Gummistiefel steckten sie die Hosenbeine. Die blauen Wattejacken schützten vor der Witterung, der weiße Helm den Kopf. Überall war der Boden um den Komplexbau herum zu glitschigem Lehm geworden. Zeigten sich irgendwo ein Streifen Sand oder noch Mutterboden, so sproß an diesen Stellen helles Grün, Melde, Gras, Unkraut. Auf dem festen Boden am Rande des Bauwerkes standen mehrere Biege- und Schneidegeräte, mit denen sie die Armierungsrohlinge in die für den Augenblick richtige Form schnitten und bogen. Dort hielten sich jetzt Gallas, Fouché und Kachulla auf. Sie schätzten die Zeit, bis mit der Montage der Fertigteile begonnen werden konnte. Fouché meinte, daß sie noch drei Wochen Fundament schütten würden. Kachulla hielt diese Spanne für zu kurz. «Im Jejenteil», Fouché erläuterte, wie sich die Arbeit entwickeln müsse, aber Gallas unterbrach ihn trocken: «Sechs Wochen.»

«Wer kommt auf den Kran?»

Kachulla hatte den Berechtigungsschein, aber auch Weichand und Gallas hatten ihn.

Fouché sagte, Kisko wolle Bleuel auf den Turmdrehkran setzen. Gallas zündete sich die Zigarette an, die er schon eine Weile in der Hand hielt, schickte einen höhnischen Blick in Richtung Bleuel und sagte: «Wenn diese Pfeife auf den Kran kommt, dann werdet ihr nicht das Salz aufs Brot verdienen.»

Über den Weg, eine aufwärts führende Rampe, rollten zwei Betonfahrzeuge.

«Da kommen die Kipper», sagte Gallas rasch. Er warf die eben angerauchte Zigarette weg. «Los, dalli, dalli.»

Bis zur Pause hatten sie zu tun, dann gab Gallas das Zeichen, und sie gingen zum Verpflegungszelt, empfingen in Plastbeutel abgepackte Rationen und Tee. Die gesamte Brigade, zwölf Mann, blieb, auch während der Frühstückszeit zusammen. Gallas riß den Beutel auf, entnahm ihm eine Knackwurst und Brot, er begann zu essen. Sie saßen auf Holzbänken an langen Tischen, die von Zimmerleuten grob zusammengefügt waren. Gallas gegenüber saß Bleuel, er redete mit Neumann. Gallas hörte zu.

«'ne verrückte Schinderei», sagte Bleuel, «und ganz nutzlos. Der Boden ist nicht fest genug. Ich will dir mal was sagen, ich habe oben bei den Fischköppen schon mal solche Straßen gebaut, die haben kein Jahr gehalten. Das Zeug rutschte einfach weg.»

Neumann zerschnitt einen Apfel in vier Teile, mit einem Blick zu Gallas sagte er: «Beton kommt auch nicht genug ran.»

Gallas sagte bloß: «Seht mal zu, daß ihr heute fertig werdet mit euren Platten: Ich brauche euch morgen am Fundament.» Antwort wartete er nicht ab, er stieg über die Holzbank, und mit einem kurzen «Mahlzeit» ging er rasch in Richtung Baracke. So hörte er auch nicht, wie Bleuel fragte: «Wer hat den denn Galli getauft? Gut gesehen, muß ich sagen, solange ich hier bin, hat der noch nie gelacht.»

Die Jüngeren grinsten, und Kachulla sagte stolz: «Das war ich. Und was das Lachen betrifft, sehn dich nicht danach, daß Gallas mal lacht.»

Leicht gereizt war die Stimmung. Der friedfertige Weichand bemerkte: «So'n miesen Verein haben wir noch nie gehabt.»

Eine Weile schwiegen sie, mit Essen beschäftigt.

«Kann schon sein, daß euch früher die Wunderkinder nur so ins Haus flogen», sagte Bleuel gelassen, der Zustimmung durch die Jüngeren sicher, «Ich Idiot habe geglaubt, in so'ner Mannschaft geht es nicht ohne Kameradschaft. Die haben uns ja auch erzählt, was für Helden sich hier einfinden werden. Damit ihr Mal klar seht, ich laß mich von keinem rumkommandieren, auch nicht von Gallas.

«Jetzt hast du die große Schnauze», Fouché schaltete sich ein, «wo Gallas nicht da ist. Hier kommandiert ja auch keiner, wir haben was zu verlieren, ihr nicht.»

«Sollte mich wundern, was ihr zu verlieren habt», sagte Bleuel herabgestimmt.

Sie saßen noch eine Weile, steckten sich Zigaretten an und gingen in Gruppen zum Fundament zurück.

10

Gallas holte sein Rad, prüfte mit dem Daumen den Reifendruck und schwang sich in den Sattel. Die Entfernungen waren groß genug, daß sich Räder bezahlt machten. Mit einem Rad kam man überall durch, zur Not konnte es über besonders unpassierbare Stellen getragen werden. Mopeds oder Motorräder hätten den Aufwand nicht gelohnt. Ein paar Minuten lang folgte Gallas den Fahrspuren, dann umrundete er die Standplätze der Kühltürme. Bis jetzt war hier noch nicht begonnen worden. Auch am Schornsteinfundament - wie es hieß, sollte er der höchste Europas werden - war Totentanz. Gallas fand sich ausgezeichnet zurecht in dem Gewirr von Wegen, Baugruben und begonnenen Bauwerken. Den Plan der gesamten Kraftwerkanlage hatte er im Kopf, die Größe des Vorhabens imponierte ihm. Hier war endlich mal eine Chance, was Sichtbares hinzustellen, nicht bloß Gräben auszuheben, Trassen zu legen und Ähnliches, sondern ein mächtiges Werk. Es war auch eine persönliche Chance. Gallas trat instinktiv in eine Beziehung zu diesem Giganten. Es hätte ruhig etwas passieren können, etwas Aufrüttelndes, in dem verschlafenen Einerlei der Tage. Gallas haßte diese Arbeit plötzlich, haßte dieses im Entstehen begriffene Werk, das ihn eines Tages wieder ausspucken würde, wenn er das Seine dazu getan hatte,

Vor der Baracke stieg er ab, schloß das Rad an, nicht weil besonders viel geklaut wurde, sondern aus dem eingefleischten Mißtrauen heraus. Dann ging er in die Baracke, um seinen Bauleiter zu sprechen, Kisko redete er noch immer nicht mit dem kameradschaftlichen Du an, wie unter Bauarbeitern üblich. Aus seinen Beobachtungen zog Gallas den Schluß, daß der junge Bauleiter etwas Besseres sein wollte. Er kam auch schwer darüber hinweg, daß ihm ausgerechnet der jüngste Bauleiter vor die Nase gesetzt worden war. Er hätte jetzt nicht einmal einen Grund nennen können, weshalb er Kisko aufsuchte, aber als er dem Bauleiter gegenübersaß, fiel ihm der Grund ein. Kisko selbst lieferte ihn, indem er fragte, ob sie genügend mit Schweißarbeiten vertraute Leute hätten.

Herablassend nickte Gallas. «Bei der Gelegenheit wollte ich mal fragen, wann die Träger geliefert werden. Was ist mit den Standsäulen?»

«Ihr seid ja noch nicht soweit», erwiderte Kisko.

«Und wenn wir soweit sind, dann fehlen die Träger, kenne ich doch.» Gallas beobachtete den jungen Mann; der sich kühl und überlegen gab. «Denkt auch an die Säulenkränze», fuhr er fort, «bei dem Typ werden die Wandelemente an die Säulen über Kränze verbolzt. Da seh ich doch voraus, daß wir auf die Kränze oder auf die Steckbolzen warten, selbst wenn die Säulen schon da sind.»

Auf Kiskos Schreibtisch stand ein Tablett mit Brötchen und einem Kännchen Kaffee oder Tee. Gallas sagte sich, der lebte genauso wie die anderen aus dem Beutel, dem geht es nicht besser als uns, aber Gallas suchte Reibung.

«Und wir stehen rum.»

Endlich ging auch Kisko auf den Ton ein. «Haben Sie hier schon mal rumgestanden, Kollege Gallas?»

Gallas zuckte die Schultern.

«Ich verlange, daß Sie mir jetzt eine klare Antwort geben. Haben Sie schon mal rumgestanden, solange ich Ihr Bauleiter bin?»

«Wir haben mehr als einmal rumgestanden», erwiderte Gallas der Wahrheit gemäß. Zwar hatten sie rumgestanden, aber Gallas wußte genau, daß an den Fehlzeiten nicht allein Kisko schuld war. Es lag ganz einfach an der allgemeinen Lage zu diesem Zeitpunkt.

Der junge Bauleiter errötete. Auch ihm war natürlich bewußt, daß nicht alles wie am Schnürchen lief. «Wenn», sagte er, «dann hatte das Gründe, auf die ich auch keinen Einfluß habe.»

«Richtig», sagte Gallas. «Wir sind schuld, wir haben Mist gemacht. Ihnen krümmt ja keiner ein Haar»

«Sie hatten von Anfang an was gegen mich», Kisko nickte. In Gallas Ohren klang das weinerlich. Ein Mann hätte jetzt auf den Tisch gehauen. Alters zum Beispiel hätte ihn, Gallas, bloß rausgeschmissen. Der hier hatte Angst vor ihm, den konnte er in die Tasche stecken. Er wurde kühner. «Wenn die Säulen mitsamt den Kränzen und natürlich auch den Platten nicht auf die Minute genau da sind, Kollege Bauleiter, dann reist meine Mannschaft ab nach Hause. Sie können uns ja ein Telegramm schicken, wenn Sie alles beisammenhaben.»

Gallas wußte, so ging es nicht, war aus vielen Gründen undenkbar. Er dachte auch gar nicht daran, abzufahren. Dafür waren sie ja nicht hier. Außerdem würde keiner mitgemacht haben, ausgenommen vielleicht Kacho. Ein erfahrener Chef hätte Gallas sicherlich nur ausgelacht oder gefragt, ob er alle fünf Sinne beisammen habe. Nicht Kisko, der nahm auch das für bare Münze.

«Sie werden Ihre Kränze und Säulen zur rechten Zeit haben, und wenn ich sie selbst ranfahren muß.»

«Nehmen Sie die Sackkarre», riet Gallas bissig.

Kisko sagte, er habe jetzt zu tun, deutlich gab er seine Verachtung kund. Dazu war es zu spät, der Auftritt zwischen ihm und Gallas war zu dessen Gunsten entschieden.

Der Brigadier hätte gehen können. In ihm steckte die Lust, sich weiter zu kabbeln, bloß um zu sehen, wie weit er es treiben könne. Kisko war ja eigentlich unmöglich auf dem Bau, sagte er sich. Wer ist denn bloß auf den Einfall gekommen, den hierher zuschicken. Den legte doch rein, wer wollte. Der hielt das hier schon für Krach, der würde staunen, wenn die wirklichen Fragen auf den Tisch kamen, wenn es um harte Rubel ging.

Das Komplexgebäude sollte über einem mächtigen Stahlgerippe entstehen. Gallas betrachtete den Riß in der Rückwand des Zimmers, dann wanderten seine Blicke wieder zu seinem Bauleiter, einem Mann, jünger als er und schon Bauingenieur, mit glattem Gesicht, glatten Händen, weißem Kittel, der wurde geschoben, dem wurde alles leicht gemacht, der verdiente sich hier die Sporen.

«Was wollen Sie denn noch?»

«Da ist noch was», sagte Gallas nach einer Weile, «ich habe gehört, Sie wollen Bleuel auf den Kran setzen.»

«Darüber reden wir, wenn es soweit ist», Kisko stand auf, um Gallas zu verabschieden, «ich komme heute Nachmittag mal raus.»

Als Gallas draußen an seinem Rad fummelte, wurde das Fenster aufgestoßen. Koblenz neigte sich heraus und reichte Gallas die Hand. «Kommen Sie auf einen Sprung rein, ich habe gerade mal fünf Minuten Zeit.»

Erst im Zimmer des Oberbauleiters kam Gallas der Gedanke, sich bei Koblenz Rückendeckung zu suchen. Er berichtete die Sache mit dem Kran. «Das ist natürlich 'ne Bagatelle für Herrn Kollegen Kisko, und natürlich kann er darüber entscheiden, wie er will, aber korrekt wäre es doch wohl, mit uns über so was zu sprechen.» Die Hand Gallas spielte mit dem Helm, zuckte, ballte sich zur Faust, die Erregung des Mannes verratend.

Koblenz schwieg eine Weile, dann, während er Kaffee in zwei Tassen goß, bemerkte er: «Sagen Sie mal, Gallas, die Brigadeleitung, das sind ja wohl Sie allein?»

Mißtrauisch schwieg Gallas, der Oberbauleiter würde sich wohl mit seinem Bauleiter nicht seinetwegen überwerfen, eine Krähe hackte der anderen noch immer kein Auge aus, andererseits kannte er die Sympathie des Alten für sich.

«Ich will Sie nicht aushorchen», sagte Koblenz freundlich, für mich ist die Arbeit das Wichtigste, aber was ist eigentlich gegen die neuen Leute zu sagen?»

«Nichts, sie machen sich ganz gut.» «Also dann, warum nicht Bleuel, Gallas? Wen würden Sie denn auf den Kran setzen?»

«Weichand», Gallas entschied aus dem Augenblick heraus.

«Mann», sagte Koblenz, «Weichand ist immerhin fünfzig. Der Kran macht einen ja kaputt, das wissen Sie so gut wie ich.»

Langsam sagte Gallas: «Bei Gallas geht kein Mann unter einem Tausender nach Hause, das ist ein Gesetz. Hier in Theerberg muß eine Menge mehr rausspringen.»

«Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß bei Ihnen alle gleich gut sind. Das kann nicht sein, das gibt es nicht, ich habe schließlich auch mal als Maurer angefangen.»

Gallas verwünschte den Einfall, die Sache mit Bleuel aufs Tapet gebracht zu haben, jetzt konnte er aber nicht zurück.

«Stimmt schon», sagte er kühl. «Wir ziehen schon mal einen mit, oder sogar zwei, wenn es sein muß. Hin und wieder schlägt ja mal einer über die Stränge. Das machen wir.»

«Meinen Sie, ich weiß nicht, daß ihr Reserven habt?»

«Auf die Knochen arbeite ich nicht, arbeitet keiner von uns», sagte Gallas hitzig.

«Das habe ich nicht verlangt», Koblenz lächelte.

«Gallas hat einen Daumen», der Brigadier nahm das Lächeln auf, er hob die Hand und bewegte den Daumen, «den kennen die Jungens. Das viele Gerede führt zu gar nichts. Wer bei Gallas bleiben darf, der steht sich nicht schlecht. Diese jungen Sprinter glauben, Arbeit ist Spaß. Der olle Weichand ist noch immer dreimal besser als Bleuel.»

Koblenz trank seinen Kaffee aus. «Passen Sie auf, Ihnen ist wohl auch klar, daß ich die Anordnung Kiskos, mag er sie nun gegeben haben oder nicht, nicht einfach rückgängig machen kann. Das würde ihn verunsichern, hier gibt es auch so was wie einen Verhaltenskodex», er winkte nachlässig ab. «Es ist einfach eine Dummheit, über die Köpfe der Brigadiere hinweg Entscheidungen zu treffen, ich werde Kisko bitten, seine Entscheidung zu überprüfen.»

«Er soll sich um die Träger kümmern», sagte Gallas, zufrieden mit dem Ausgang des Gesprächs, «das ist überhaupt so eine Scheiße, daß wir immer mit dem Nachschub so knapp sind.»

Koblenz zog die Schultern hoch. «Wenn man nicht alles selbst macht, Gallas. Vielleicht habe ich für die nächste Phase einen guten Mann. Den kennen Sie übrigens, es ist Pilgramer.»

Gallas überlegte. «Der muß doch bald achtzig sein.»

«Nicht der Alte, sondern der Enkel.»

Gallas sagte: «Der Alte hat damals viel bei uns gebaut»

«Schön.» Koblenz erhob sich. «Mal sehen; wie sich die Angelegenheit entwickelt. Ich habe den jungen Pilgramer fest im Wort. Dann nehme ich Kisko zu mir rein.»

Gallas fuhr zurück.

Spät am Nachmittag kam Kisko heraus, gab vor, irgendwas kontrollieren zu wollen, stellte Gallas ein paar Fragen und sagte zum Schluß: «Es war doch wohl klar, daß ich nicht über Ihren Kopf hinweg entschieden hätte. Aus einer Bemerkung sollte keiner den Schluß ziehen, ich hätte eine Anweisung, erteilt.»

«Ist gut, Kollege Kisko», sagte Gallas. Er dachte, dessen Tage sind jedenfalls gezählt, auch der Alte hat ihn gefressen. Jetzt biedert sich der Junge an, nicht bei mir, nicht bei Gallas. Was soll überhaupt das gespreizte Gequatsche, unter Bauarbeitern.

«Was die Träger betrifft», sagte Kisko, «die rollen in den nächsten Tagen an.»

Biografie

Wolfgang Kisko - Theorie und Praxis in Übereinstimmung bringen

Randsiedlung einer Großstadt, eine Straßenbahn verbindet viele solcher Siedlungen zu einem zusammenhängenden Revier, später wird das ein industrielles Ballungsgebiet genannt. 1940, in Kiskos Geburtsjahr, trägt die Siedlung, trägt das ganze Gebiet noch die Spuren des Frühkapitalismus; dann entstanden aus Werkstätten, Handwerksbetrieben, bäuerlichen Wirtschaften in einem schnell verlaufenden Prozeß große Industrien, Chemie, Spinnereien, Gießereien, Großschmieden. Früh auch polarisierte sich die Bevölkerung in Arm und Reich, der Mittelstand verschwand mehr und mehr.

Der Vater Kiskos ist Werkmeister in einem Chemiebetrieb. Als Wolfgang Kisko geboren wird, ist er reklamiert, er wird immer reklamiert bleiben. In den kleinen Gärten der Siedlungshäuser ist das Grün grau eingepudert, ein Wunder, daß hier überhaupt noch etwas gedeiht. Man kann hier nicht leben, man muß aber hier leben. Kein Fluß, kein Rinnsal, das nicht stinkt, jeder Wasserlauf ist ein Transportmittel für gelöste Chemikalien. Die Halden drohen schwarz am Horizont, ein dichtes Gleisnetz durchschneidet das Gebiet.

Auch die Mutter Kiskos ist dienstverpflichtet, Spülfrau in diesem Labor des Konzerns, solange der Krieg andauert. Im Hause des Werkmeisters lebt dessen ältere Schwester, sie versorgt den Jungen, sie kümmert sich um das Haus, den Garten, das Essen. Erst kommen die Amerikaner, rücken wieder ab, dann kommen die Russen, sie bleiben. Aus dem Chemiegiganten wird eine SAG, und Vater Kisko nimmt ein Studium auf, er wird Techniker, rückt, weil Mangel an Chemikern, auf in eine Forschungsabteilung, rückt immer weiter auf, durchläuft eine späte Karriere. 1945, noch vor dem Parteienzusammenschluß, tritt er in die Kommunistische Partei ein, arbeitet nicht mehr in der Praxis, sondern ist Mitarbeiter in der Parteileitung. Den Rest seines Lebens verbringt er auf Schulen, er wird Diplomchemiker. Alles, was unter Mühen erarbeitet, bricht zusammen, als Vater Kisko nach einem Infarkt 1964 Rentner wird. Sie ziehen weg aus der ungesunden Gegend, bekommen eine Wohnung in einer Großstadt. Wolfgang, 1946 eingeschult, lernt gut, lernt schnell. Diese ganze Familie lernt immerfort, auch die Mutter hat sich noch zur Laborantin heraufgearbeitet. Wolfgang wird Freundschaftsratsvorsitzender: Junge Pioniere lernen gut, junge Pioniere achten ihre Eltern.

Der Vater: Die Kinderorganisation der Kommunistischen Partei hat eine lange Tradition, Wolfgang. Aus ihr gehen die künftigen Kader hervor, treue Söhne der Klasse, unsere stärkste Waffe ist die Organisation, wie Bebel sagt. Als damals die Reichswehr bei dem Leuna-Aufstand ... aber das wollte ich gar nicht sagen. Ich wollte sagen, daß selbst die Kleinsten beim Aufbau des Sozialismus mithelfen können, Altstoffe sammeln zum Beispiel. Theorie und Praxis müssen übereinstimmen.

Für Wolfgang ist das Leben eine einfache, nach Regeln verlaufende Sache; konzentriert lernen, konzentriert spielen, konzentriert kämpfen. In einem Pionierferienlager während des Sommers werden westdeutsche Spione und imperialistische Diversanten dingfest gemacht. Pionierauftrag erfüllt: Die junge DDR ist eine Sache, die uns mit ganzer Liebe erfüllt, unsere ganze Kraft geben wir dem Arbeiter-und-Bauern-Staat, dem ersten auf deutschem Boden.

Der Vater: Du bist nun schon etwas größer, man kann mit dir schon über mancherlei sprechen, dir erklären. Die Menschheit steht also in einem jahrtausendelangen Befreiungskampf, es gab Teilerfolge, es gab frühkommunistische Träumer, aber Gestalt bekamen diese Träume erst durch Karl Marx, Friedrich Engels, durch Lenin und Stalin. Jetzt also beginnt das Menschenglück, wenn wir auch noch schwere Kämpfe mit den Bonner Ultras, dem westdeutschen und amerikanischen Imperialismus zu bestehen haben werden. Die Uhr läuft jedenfalls nicht gegen uns.

Geradlinig verläuft der weitere Weg Wolfgangs, 1954 Freie Deutsche Jugend, Sekretär seiner Gruppe: Wir kämpfen darum, daß jeder Angehörige unseres Jugendverbandes das Blauhemd trägt, das ist eine Ehrenpflicht. Die großen Erschütterungen, der Tod Stalins, der 17. Juni, der xx. Parteitag der KPdSU, alles wird von dem Jungen noch leicht absorbiert.

Der Vater: Die kommunistische Weltbewegung, mein Junge, besitzt eben wie keine andere Bewegung - sie ist ja überhaupt die einzige, die heute eine Massenbasis hat - die Fähigkeit, Widersprüche auszutragen. Das geht bis in die Familien, natürlich. Nicht bei uns, selbstverständlich. Ich meine nur im Prinzip.

Dann die Frage, was willst du werden? Zum ersten Mal kann Wolfgang keine klare Antwort geben. Er kann nicht sagen, dies oder das würde ich zu gern lernen. Aber er kann leicht Gründe für diesen oder jenen Beruf aufzählen. Die Volkswirtschaft braucht ... Er beginnt eine Maurerlehre; er absolviert die Lehre nicht auf dem Bau, sondern in einer Sondereinrichtung, allgemeinbildende Schule - Abitur - Ausbildungsstätte - Maurer.

Mit Bauarbeitern kommt er nicht viel in Berührung, andere Erfahrungen prägen sein Leben. 1958 kommen Offiziere der Nationalen Volksarmee in den Betrieb. Sie suchen Kader. Wolfgang verpflichtet sich zum Soldat auf Zeit, tritt in die Sozialistische Einheitspartei ein, sichert die Grenze am 13. August.

Der Vater: Ich habe aufgeatmet, mein Junge, als ich davon hörte. Na ja, ich bin ja leider zu nichts mehr zu gebrauchen, aber ich habe einen Stellvertreter in meinem Sohn. Wir haben gezeigt, daß wir sehr wohl imstande sind, unsere Errungenschaften mit der Waffe in der Hand zu schützen und zu verteidigen. Es wird nie wieder einen deutschen Faschismus geben, nicht hier auf unserem Boden. Gewiß, es ist schwer, das Leben ist schwer, alle unsere Entscheidungen sind es. Immerhin, deinen Ehrendienst hast du geleistet. Maurer. Soldat? Willst du das? Ich könnte mir vorstellen, daß du Architekt wirst oder Bauingenieur.

Bauingenieur?

Nach vierjähriger Dienstzeit geht Wolfgang mit einem Unteroffiziersgrad ab, er bewirbt sich an einer technischen Universität. Seine Taten räumen ihm Vorrang bei der Berücksichtigung ein. 1962 beginnt er sein Studium.

Aber im Laufe des Studiums geschieht etwas. Zu Anfang verläuft noch alles glatt und ohne Hindernis, da scheinen noch alle einfachen Regeln zu gelten. In den Fächern Philosophie und Gesellschaftswissenschaft kommen jedoch plötzlich heikle Fragen auf den Tisch, Fragen der Revolutionstheorie, Fragen der Determinierung, Fragen ... die Zeit ist weitergegangen, sie unterscheidet sich von der Aufbruchstunde, die der Vater Kiskos mitbestimmte.

Der Vater: Was meinen wir? Es ist durchaus nicht entschieden, ob unter diesen Bedingungen der Evolution nicht auch der revolutionäre Zug innewohnt.

Ist das nicht ein pragmatischer, ein taktischer Zungenschlag, Vater? Der Marxismus determiniert doch deutlich ...

Der Vater: Ja, unter klassenantagonistischen Bedingungen, bei uns sind diese Widersprüche aber aufgehoben. Ich nehme an, du kommst zum ersten Mal mit der exakt wissenschaftlichen Fragestellung unter heutigen gesellschaftlichen Gegebenheiten in Berührung. Vielleicht läßt sich unser gesellschaftliches Ideal am ehesten in straff organisierten Gruppen verwirklichen, ich meine, die Volksarmee hat dich natürlich vorgeprägt.

Ich wollte auf etwas ganz anderes zu sprechen kommen, Vater. Die aufgehobenen Widersprüche ...

Der Vater: Widersprüche kann man nicht aufheben, sie stellen eine unlösbare Verknüpfung dar, lehrt unsere marxistische Theorie.

Vater, ich denke manchmal, daß ich gar nichts weiß. Philosophie, Gesellschaftswissenschaft, Soziologie, was sich vom Katheder vermitteln läßt, das wurde mir doch vermittelt? Aber sonst stehe ich hilflos da. Du hattest einen riesigen Vorteil, du hattest die Lebensschule schon hinter dir, als du mit der Theorie in Berührung kamst. Ich soll aus der Theorie auf die gesellschaftliche Praxis schließen. Die Leute sind nicht alle gleich, nicht mal in Bezug auf die Theorie. Jeder hat seinen eigenen Sozialismus, kann man vielleicht sagen, das ist Unsinn. Natürlich.

Hättest du nicht lieber Philosophie studieren sollen, Wolfgang? Bauingenieur, was verstehst du denn vom Bau? Eilig ausgebildet, vielleicht zu eilig. Ich hatte es mir anders vorgestellt. Wir sollten es überlegen. Ich mache mir Sorgen um dich, mein Junge.

Während eines Studentensommers, eines Einsatzes in Schwedt an der Oder, trifft Wolfgang Kisko auf eine Gruppe junger Leute. Die Sache hat eine bemerkenswerte Vorgeschichte. Wochenlang war an der Universität geworben worden, bis sich eine Schar von hundertfünfzig Studenten für einen Einsatz in Kasachstan gebildet hatte. Kasachstan fiel ins Wasser, aus irgendeinem Grund, dafür wurde in aller Eile Schwedt eingesetzt. Die Organisatoren verschickten Telegramme an die Kasachstan-Studenten, es waren Ferien, teilten den neuen Einsatzort mit. Statt der erwarteten hundertfünfzig erschienen nur ein paar Dutzend. Die fuhren nach Schwedt, meldeten sich an einem Montag bei einem Bauleiter, dreißig bis vierzig junge Männer und Frauen aller möglichen Studienrichtungen, wenig Bauleute.

Der künftige Bauingenieur Kisko wird zum Sprecher gewählt.

Der Bauleiter: Ich habe gestern erst das Telegramm bekommen, daß ihr hier aufkreuzt, wie viel? Ungefähr vierzig. Paßt mal auf, ich habe überhaupt keine Arbeit für euch. Na, die Sache ist die, bis zum Oktober ist ein Trakt an das Fernheizwerk anzuschließen. Die Wohnungen stehen, die Mieter können einziehen, irgendwo ist das mit der Trasse versaubeutelt worden, solche Scheiße habe ich hier jeden Tag am Halse. Wir haben zwei Bagger angefordert, die sind auch da, in ein paar Tagen hätten wir die Gräben fertig. Da kommt ihr mir dazwischen. Außerdem hab ich mehr zu tun, als auf euch aufzupassen. Stell deine Leute mit Hacke und Spaten ran, ich weiß, das ist lachhaft, aber was soll ich machen? Ich bin für euch abgestellt, als hätte ich keine anderen Sorgen. Erklär es deinen Jungens, die so was ausdenken, müssen ja wohl Sägespäne im Kopp haben. Ihr könnt ja nicht mal 'ne Kelle halten.

Die Studenten liegen in einem fertigen Wohnhaus, verteilt auf die einzelnen Wohnungen. Sie gründen eine Brigade, und sie haben einen glänzenden Einfall. Sie werden die Probe aufs Exempel machen, gemeinsame Arbeit, gemeinsames Leben. Was sie verdienen, soll zu gleichen Teilen verteilt werden, kommunistisch leben wird geprobt. Tagsüber stehen sie in den Gräben, hacken, schaufeln, beträchtliche Unterschiede in der Leistung zeigen sich. Es gibt Wühler und Drückeberger, bald reißt sich alles nach den Aufträgen, die von der Handarbeit befreien. Abends sitzen sie in einem großen Zimmer, reden über ihre Erfahrungen. Es wird geraucht, Tee oder Kaffee getrunken.

Ich denke Folgendes, bei Handarbeit, ich meine, auf solcher Produktionsstufe läßt sich Kommunismus überhaupt nicht verwirklichen. Hier spielen andere Probleme mit hinein.

Auf mechanistische Weise läßt sich das nicht erklären, du vergißt die Rolle des Bewußtseins.

Du unterstellst mir Mangel an Bewußtsein, aber ich sage dir, du hast in den letzten drei Tagen kaum zwei Stunden auf der Baustelle wirkliche Arbeit geleistet. Sieh dir mal meine Pfoten an.

Sollen wir nun dieses System wieder aufgeben, wie ist eure Meinung?

Wir haben nen schönen Reinfall erlebt. Die sollen die Bagger einsetzen.

Der Bauleiter: Hör mal, Wolfgang, ich frage mich wirklich, wo ihr lebt. Die Arbeiter lachen euch aus, und die leisten das Zehnfache. Ihr solltet bloß ein paar hundert Meter Graben ausheben. Jetzt sitzt du da und verlangst von mir, daß ich die Bagger einsetze? Ich mach es auch, mir bleibt gar nichts übrig, ich habe Termine. Von deinen vierzig Mann sind kaum noch fünfundzwanzig da, ich mach drei Kreuze, wenn der Rest weg ist. Und solche Jungens sollen eines Tages mal das Kommando übernehmen?

Im zweiten Studienjahr lernt Kisko Linda kennen. Sie studiert Medizin, Zahnmedizin.

Mann, nimm doch nicht alles so schwer. Ich fühle mich rundherum wohl, sag ich dir. Wir sind noch jung, das Leben liegt vor uns. Wenn du fertig bist, gehst du in ein Institut, es wird sich schon was finden. Ich? Für mich ist auch gesorgt.

Sie heiraten.

Die Familien befreunden sich, die Väter besorgen eine Neubauwohnung und lassen die Kinder wählen, einen Trabant oder …; da gibt es kein Oder. Kisko macht Diplom, geht aber an kein Institut, sondern zum Kraftwerkbau. Er will etwas leisten.

Koblenz: Schön, etwas leisten, ich nehme mit Kußhand, wer etwas leisten will. Lieber ist mir einer, der etwas leisten kann. Ich mache dir nichts vor, wir haben ein heikles Projekt übernommen, im RGW-Rahmen, das sind natürlich tastende erste Schritte. Es gibt überall traditionell bestimmte Methoden, ich rechne sogar mit einer freundschaftlichen Rivalität. Da kommen also die Polen, gute Schornstein- und Kühlturmbauer, da ist Moskabel mit seinen Hochleistungskabeln, die Turbinen kommen aus Leningrad, aus Ungarn die Elektrofilter. Alles zusammen ergibt ein paar Dutzend Leiter mit ihren Stäben, mit genauen, national geprägten Vorstellungen. Wir sind Teilauftragnehmer vom Kraftwerkbau, bis jetzt kenn nicht mal ich mich in diesem Leitungswirrwarr aus. Es wäre mir lieber, du würdest hier im Stammbetrieb bleiben. Ich spreche aus Erfahrung.

Kisko will etwas leisten.

Mach es dir nicht zu schwer. Spätestens nach einem Vierteljahr rasseln wir zusammen, mit der Gewißheit, wie sich zwei Magneten anziehen, wie rotierende Kreissägen, die aufeinander zufahren. Mir nutzen deine vielen Empfehlungsschreiben nichts, und dir nutzen sie noch weniger. Jeder gewiefte Maurer steckt dich in den Sack. Arbeiterklasse aus der Nähe betrachtet ist anders, als du denkst. Wenn du das Gefühl hast, du müßtest dir die Sporen verdienen, gut, aber nicht hier, nicht auf dieser Baustelle.

Ich möchte es versuchen, Genosse Doktor Koblenz. Jedenfalls werde ich mein Bestes geben.

Junger Mann, Bilderbuchkarrieren sind gut für die Zeitung, Geschrei, keine Wolle. - Du hast noch keine Biografie, das ist es.

Das Erbe

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